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Seit einem Jahr wissen die Menschen von der Existenz der Schatten — jener körperlosen Aliens, die in die Menschen schlüpfen und sich in ihnen einnisten können. Seitdem kämpft Michael Sorenson an vorderster Front gegen die Invasoren. Eine geheime Sondereinheit forscht an einer effektiven Waffe gegen die Aliens. Denn bisher können diese nur in Schach gehalten, nicht aber getötet werden. Michaels Aufgabe ist es, den Prototypen zu testen - und zwar mitten im vom Feind okkupierten Gebiet. Doch auch in den eigenen Reihen lauert das Böse ...
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Seitenzahl: 783
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
An Bord der SBS Retribution Flaggschiff der Ersten Admiralin der Sternenbundflotte
PHASE EINS
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An Bord der SBS Arandora Colt-Crawler-Schiff auf dem Weg zu einem geheimen Ziel
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An Bord der persönlichen Raumstation Solaria Heim des Vorsitzenden des Sternenbunds
PHASE ZWEI
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An Bord der Schwebestation Epsilon-065 Geheime Forschungsbasis von Division sieben
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An Bord der persönlichen Raumstation Solaria Heim des Vorsitzenden des Sternenbunds
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An Bord der SBS Retribution Flaggschiff der Ersten Admiralin der Sternenbundflotte
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An Bord der Schwebestation Epsilon-065 Geheime Forschungsbasis von Division sieben
PHASE DREI
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An Bord der Schwebestation Epsilon-065 Geheime Forschungsbasis von Division sieben
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An Bord der persönlichen Raumstation Solaria Heim des Vorsitzenden des Sternenbunds
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An Bord der Orbitalplattform N Kommandoplattform des Orbitalnetzwerks auf Prisma
PHASE VIER
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An Bord der SBS Retribution Flaggschiff der Ersten Admiralin der Sternenbundflotte
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Dank
Margaret Fortune schrieb ihre erste Geschichte mit sechs Jahren, seitdem ist das Schreiben ihre absolute Leidenschaft. Sie hat bereits diverse Kurzgeschichten in Magazinen veröffentlicht, darunter im NEO-OPSIS SCIENCE FICTION MAGAZINE und im SPACE AND TIME MAGAZINE. Die Autorin lebt in Wisconsin.
Margaret Fortune
PRISMA
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch vonKerstin Fricke
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2017 by Margaret FortuneTitel der amerikanischen Originalausgabe:»Archangel. Book Two of the Spectre War«Originalverlag: DAW Books IncBy arrangement with DAW Books, New YorkDieses Werk wurde vermittelt durch Interpill Media GmbH, Hamburg
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, Limburg a.d. LahnTitelillustration: © Anke Koopmann, Guter PunktUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-4957-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Heiliger Erzengel Michael,verteidige uns im Kampfe;gegen die Bosheit und die Nachstellungendes Teufels, sei unser Schutz.›Gott gebiete ihm‹, so bitten wir flehentlich;du aber, Fürst der himmlischen Heerscharen,stoße den Satan und die anderen bösen Geister,die in der Welt umherschleichen,um die Seelen zu verderben,durch die Kraft Gottes in die Hölle.Amen.
– Gebet an den Heiligen Erzengel Michael,Papst Leo XIII.
Der Planet füllte den Sichtschirm völlig aus und war von blauen und weißen Wirbeln bedeckt. Er funkelte wie ein Edelstein inmitten seiner Korona aus Licht und Luft, und seine dokumentierte Schönheit bildete einen starken Gegensatz zu dem kalten, harten Metall, aus dem der Schreibtisch, der Stuhl, die Wandtafeln und der Schirm bestanden. Die Erste Intergalaktische Admiralin der Sternenbundflotte saß neben dem aktivierten Feed und verschränkte die Arme vor der Brust, als zwei Gestalten auf der digitalisierten Wand ihr gegenüber erschienen.
»Admiralin«, begrüßte der Vorsitzende sie. Er materialisierte sich in einem Bildausschnitt, der ihn vor dem Hintergrund eines luxuriös ausgestatteten Büros voller Leder, Hartholz und weinroter Polster zeigte. Als Mitglied der kleinen Oligarchie des Sternenbunds und des Direktoriums, gleichzeitig aber auch als dessen wahrer Herrscher, umwehte ihn die befehlsgewohnte Aura eines Mannes, dem man gewöhnlich gehorchte. Sein hochgeschlossener Anzug, maßgeschneidert und im mit Goldborte eingefassten Schwarz des Sternenbunds gehalten, wies außerdem das halbsternförmige Abzeichen auf, das ihn als Angehörigen des PsyCorp auswies.
In einem anderen Ausschnitt zu seiner Rechten war ein schlanker weißhaariger Mann in einem Orbitallabor zu sehen. Auch er war ein Anführer der Menschheit, jedoch auf andere Weise. Der Arzt nickte zur Begrüßung, und seine eisblauen Augen schienen leicht missbilligend dreinzublicken.
Wann sieht er mal nicht so aus?, dachte die Admiralin säuerlich.
Sie betrachtete die beiden Männer kritisch. Vorsitzender. Arzt. Admiralin. Zusammen stellten sie die drei Eckpfeiler des Fundaments dar, auf dem der ganze Sternenbund nun ruhte. Und nicht nur dieser, sondern …
Auch die menschliche Rasse.
Der Vorsitzende räusperte sich ungeduldig, woraufhin die Admiralin auf den Planeten hinter sich deutete. »Meine Herren, diese Bilder wurden vor nur wenigen Stunden tief im tellurianischen Territorium aufgenommen. Sie erkennen den Ort zweifellos wieder.«
Die beiden Männer nickten. Die Tellurianische Allianz stellte die andere Großmacht innerhalb des bewohnten Universums dar und war im Verlauf der Geschichte sowohl Verbündeter als auch Feind gewesen. Die zahlreichen Kolonien und Planeten, die innerhalb dieser Allianz vereint waren, wurden von diesem Planeten aus beherrscht, den sie gerade vor sich auf dem Schirm sahen. Noch vor wenigen Jahren war die Allianz ebenso mächtig gewesen wie der Sternenbund und hatte einen ernst zu nehmenden Gegner dargestellt. Aber das war vorher gewesen.
»Seltsam«, murmelte der Arzt. »Selbst nach der Invasion sieht er noch genauso aus wie vorher. Gut, die Schiffe sind nicht mehr da, aber der Planet …«
»Ja, natürlich. Wir haben so etwas doch alle schon früher gesehen«, unterbrach ihn der Vorsitzende, dessen gesenkte Stimme klang, als würden sich zwei Schlangen immer wieder in einer endlosen Spirale umeinander winden. »Das erklärt aber noch lange nicht, warum wir hier sind. Wenn Sie das vielleicht näher erläutern würden?«
Die Admiralin zuckte nur mit einer Schulter. »Sehen Sie genau hin.«
Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Bildes, durch die sie den Feed beschleunigte, sodass Stunden innerhalb von Minuten und Minuten innerhalb von Sekunden verstrichen. Gemeinsam sahen sie schweigend mit an, wie der Tag zu Ende ging, die Sonne hinter dem Rand der Welt verschwand und es Nacht wurde. Der Feed lief weiter, und nur das bewegte Bild an der Wand regte sich. Schließlich schüttelte der Vorsitzende den Kopf.
»Es ist so dunkel. Müssten wir inzwischen nicht längst die Lichter der Städte sehen? Das vor uns ist der Westrand des Pazifiks. Da liegen Tokio, Jakarta, Seoul …«
»Genau darauf will ich doch hinaus, meine Herren«, fiel ihm die Admiralin ins Wort. Sie hielt den Feed an, senkte den Kopf – weil sie betete, trauerte oder einfach nachdachte – und blickte auf die dunkle weite Fläche vor ihnen.
»Sämtliche Lichter sind erloschen … weil keiner mehr da ist, der das Licht einschalten kann.«
»Na los! Kommt schon, Leute! Bewegung!«
Schritte hallen über das harte Deck, und ich bleibe stehen, um eine Gruppe Wissenschaftler anzutreiben. »Geht etwas schneller!«, fordere ich sie erneut auf. »Die Andockrampe ist noch eine halbe Station entfernt!«
Im hinteren Teil der Gruppe kümmert sich Madison um die Nachzügler, während Tabs vorausgeht, den Aero-Werfer einsatzbereit hält und auf den Geruch des Feindes achtet. Zwar ist sie nicht besonders schnell – ich würde ihr Tempo als langsames Trotten einstufen –, aber für die Wissenschaftler, die sich zwischen uns befinden, scheint es einem schnellen Lauf gleichzukommen. Schon jetzt keuchen mehrere von ihnen stark und sind offensichtlich außer Atem, dabei haben wir noch nicht mal einen halben Kilometer hinter uns gebracht. Schlimmer noch: Einige von ihnen werden bereits langsamer. Sie mögen ja einige der klügsten Köpfe des Jahrhunderts sein, Athleten sind sie jedoch nicht. Und auch nicht gerade junge Küken.
Wir erreichen das Ende des Ganges, und Tabs bleibt stehen, um die Tür zu öffnen. Ich laufe auf der Stelle, während sie den Universalschlossknacker auf das Schloss aufsetzt. Einem der Besetzer ist es gelungen, die Stationsschlösser auszulösen und alle Türen auf einmal zu verriegeln. Tabs kann sie zwar mit ihrem Gerät wieder öffnen, allerdings muss sich noch zeigen, wie lange sie dafür braucht.
Und wer uns in der Zwischenzeit vielleicht erwischt.
Ich blicke in den Gang hinter uns, auch wenn ich weiß, dass es nichts bringt. Unser Feind kann nicht gesehen, berührt oder gehört werden. Die Schatten gleichen schrecklichen Geistern und sind körperlose Aliens, die die Macht besitzen, den Körper eines Menschen zu übernehmen und als Wirt zu nutzen. Sobald sie sich mit einem Menschen verbunden und sich darin festgesetzt haben, wird man sie nicht mehr los.
Es sei denn, man bringt den Wirt um. Das ist nun wirklich kein sinnvolles Heilmittel.
»Corporal?«, frage ich per Helmmikrofon.
»Ich arbeite daran, Sorenson«, antwortet Tabs. »Wie halten sich die Zivilisten, Madison?«
»Bisher ganz gut.«
»Schön! Behalten Sie für mich die Zäune im Auge, Sorenson.«
»Geht klar.«
Ich rufe auf meinem Helmdisplay die Karte auf und betrachte die Projektion auf der linken Seite meines Gesichtsschirms, während sie langsam größer wird. Eine Miniaturansicht der Station erscheint vor meinen Augen, auf der rote Punkte die Positionen aller Energiezäune im Habitat anzeigen. Die Hälfte von ihnen blinkt, was mir verrät, dass sie von den Ghulen – den Schatten, die sich noch nicht mit einem Menschen verbunden haben – ausgelöst wurden. Ich zähle die intakten Zäune zwischen uns und ihnen.
»Vier Zäune«, melde ich angespannt und hole danach tief Luft. Vier, das ist gut. Wir können es noch schaffen. Während ich hinsehe, fängt der hinterste Zaun auf einmal an zu blinken. Schlacke!
»Drei Zäune, Corporal!«
»Ich hab’s«, ruft sie mir zu, während die Tür vor ihr aufgeht. »Übernehmen Sie die Spitze, Sorenson. Ich schließe hinter uns ab, falls wir von Besetzern verfolgt werden.«
Daraufhin setze ich mich an die Spitze der Gruppe, damit Tabs zurückbleiben und die Tür sichern kann. »Los geht’s, Leute! Es stehen nur noch drei Zäune zwischen euch und der Infektion! Setzt euch in Bewegung!«
Ich schlage ein etwas schnelleres Tempo an als Tabs zuvor. Entweder hat ihnen die kurze Rast gutgetan oder die Gefahr einer dauerhaften Versklavung treibt sie an, denn auf einmal können sie alle rennen. Wir sprinten durch den Korridor, biegen in den nächsten ein und gelangen durch einen Torbogen auf den großen Platz.
Sofort halte ich auf den Ausgang am anderen Ende zu und renne um die Kübel voller Bäume und Blumen herum, die hier überall aufgestellt wurden. Wir haben zwei Drittel des Weges geschafft, als mehrere Sicherheitsoffiziere der Station aus einem anderen Eingang herausgerannt kommen. Sie leuchten purpurfarben im Licht des untergehenden roten Zwergsterns, der durch die hohe Kuppel über uns zu sehen ist. Weitere Flüchtlinge?, frage ich mich und renne um eine Parkbank herum in Richtung Ausgang.
Weißes Licht saust an meinem linken Ohr vorbei, als einer von ihnen mit seiner Pistole auf mich schießt.
Nein.
Ich schiebe mir den Aero-Werfer unter den Arm, ziehe meine Betäubungspistole und erwidere das Feuer. »Corporal, hier sind Besetzer.«
»Ich sehe sie!«
Als ich kurz einen Blick über die Schulter werfe, kann ich Tabs auch schon sehen, die vom hinteren Ende der Gruppe an die Seite läuft, an der uns Madison bereits aus der Mitte heraus Deckung gibt. Sie feuern mit ihren Pistolen mehrere schnelle Salven auf unsere Angreifer ab. Ich sehe einen Besetzer zu Boden gehen und zucke zusammen. Dieser Mann hat zwar auf uns geschossen, aber er wusste eigentlich gar nicht, was er da tat. Der Schatten in seinem Kopf hat ihm garantiert eingeredet, wir wären die Infizierten. Es ist bedauerlich, dass wir ihn erschießen mussten.
Doch diese Tatsache bedeutet nicht, dass er oder die anderen an seiner Seite eine geringere Gefahr für uns darstellen würden.
Weitere Schüsse hallen durch die Luft. Ein Licht blinkt in meinem Augenwinkel, aber ich ignoriere es und konzentriere mich darauf, meine Schützlinge trotz des Feuergefechts an ihr Ziel zu bringen, während uns Tabs und Madison Deckung geben. Ein Wissenschaftler direkt hinter mir schreit auf, als er getroffen wird, umklammert seine Schulter und verliert das Gleichgewicht. Ohne stehen zu bleiben, drücke ich ihn an mich und schirme ihn mit meinem Körper ab, während wir weiterrennen.
Am anderen Torbogen angekommen, drücke ich ihn zwei seiner Kameraden in die Arme. Dann renne ich auch schon zurück auf den Platz, winke den anderen Wissenschaftlern zu, damit sie sich beeilen, und laufe zu einigen Nachzüglern weiter. Eine junge Frau steht hinter einem Baum und kommt nicht weg; als ich den Schützen mit einem gezielten Schuss ausschalte, rennt sie sofort zur Tür. Ein verängstigter Labortechniker steht wie erstarrt hinter einem Rosenbusch und rührt sich nicht vom Fleck, bis ich ihn mit Gewalt hinter mir her und zum Bogen zerre. Ich bleibe unterwegs nur einmal kurz stehen, um mir eine kreischende blonde Ärztin über die Schulter zu werfen.
Zurück im sicheren Gang lasse ich meinen Schützling los und beuge mich um die Ecke vor, um den letzten Wissenschaftlern Feuerschutz zu geben. Madison ist bereits hier und leistet einem verletzten Zivilisten Erste Hilfe. Während die letzten Versprengten in die Sicherheit des Korridors flüchten, mache ich einen schnellen Helmscan und zähle durch. Zwei, sechs, elf, achtzehn. Dreiundzwanzig.
Schlacke! Wir haben einen verloren!
»Sorenson! Madison! Sofort hierher!«
Ich wirble schon herum, bevor Tabs den Satz beendet hat. Sie steht mitten auf dem Platz und hat hinter einer Parkbank Deckung gesucht. Mehrere dunkle Flecken auf ihrer Weste lassen erkennen, dass sie getroffen wurde, aber sie ist noch immer in Topform und schaltet einen Besetzer durch einen Schuss in den Oberschenkel aus. Dann sieht sie mir in die Augen und nickt mit dem Kinn kurz hinter sich. Ich starre hinüber und erstarre. Jetzt weiß ich, wo mein verschwundener Wissenschaftler steckt.
Er muss in dem Chaos umgedreht sein, denn er ist gar nicht mehr auf unserer Seite des Platzes, sondern schon fast bei den Besetzern. Ich kann Blut sehen, das durch den Stoff seines Kittels sickert, er liegt reglos am Boden.
»Ich sehe ihn, Tabs«, erwidere ich. »Kommen Sie an ihn ran, wenn ich Ihnen Deckung gebe?«
»Negativ. Zwischen mir und ihm ist zu viel Freifläche.«
Sie hat recht. Es gibt nicht genug Deckung, und da sie das Feuer auf sich gezogen hat, kann sie den Verletzten jetzt nicht erreichen, ohne dabei selbst niedergeschossen zu werden. Da Madison mit der Versorgung der Verletzten beschäftigt ist, bleibe nur noch ich übrig. Rasch blicke ich mich um und nicke.
Während ich ein neues Magazin in meine Waffe schiebe, erkläre ich: »Ich glaube, ich komme an ihn ran. Beschäftigen Sie sie einfach weiter, Tabs. Madison, passen Sie gut auf die Zivilisten auf.«
»Geht klar.«
»Verstanden.«
Ich gebe einige Schüsse ab, damit meine Gegner sich ducken müssen, dann laufe ich auf den Platz. Ich husche von Baum zu Busch zu Bank und versuche, so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten, während ich mit großen Schritten zu dem Verletzten renne. Mehrmals streifen mich Schüsse, aber ich nehme es kaum zur Kenntnis. Ich bin noch etwa fünfzehn Meter entfernt, als zwei Besetzer nur wenige Meter von meinem Ziel entfernt aus den Büschen treten. Bevor ich etwas unternehmen kann, gehen sie nach links und verschwinden hinter einigen Palmen, die etwa auf halbem Weg zwischen mir und ihnen aufragen.
Ich fluche leise. »Können Sie die Kerle sehen, Tabs?«
Kurze Pause. Dann: »Negativ. Sie nutzen den Pavillon als Deckung. Ich habe keine freie Schussbahn.«
Ich runzle die Stirn und blinzle viermal schnell. Die Infrarotsicht meiner Kampflinsen wird aktiviert, sodass ich die Position der Besetzer durch die schmalen Lücken zwischen den Baumstämmen ausmachen kann. Dummerweise sind die Palmen im Weg, und ich kann nicht auf sie schießen. Doch ich entdecke eine kleine Öffnung hoch oben zwischen den Palmwedeln, den Stämmen und den Blättern, die ansonsten eine Wand bilden. Da diese Neuankömmlinge auf der linken Seite und die Scharfschützen auf der rechten lauern, komme ich unmöglich an den Mann heran, ohne getroffen zu werden. Ich starre fassungslos zu ihm herüber und finde einfach keinen Ausweg aus diesem Dilemma.
»Wenn Sie nicht an ihn rankommen, dann geht es eben nicht, Sorenson«, erklärt mir Tabs’ Stimme nach einer Minute aus meinem Helminneren. »Es ist ja nicht so, als könnten Sie durch die Bäume fliegen.«
Fliegen! Es trifft mich wie ein Schlag, als ich mich an meine Gravball-Zeiten erinnere und eine Idee habe. Ich grinse breit. Das ist völlig verrückt. Nein, es ist Wahnsinn! Doch es könnte funktionieren …
»Madison, kommen Sie von da an die Stationssteuerung für den Platz ran?«, frage ich über einen privaten Kanal. Als er bestätigt, erkläre ich ihm schnell meinen Plan.
Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er den Kopf schüttelt. »Sie sind ja nicht bei Trost, Sorenson. Ist Ihnen das überhaupt klar?«
»Ja. Sind Sie dabei?«
»Sagen Sie einfach, wann es losgehen soll, Mann.«
Mit breitem Grinsen schalte ich zum Hauptkanal zurück. »Halten Sie sich irgendwo fest, Tabs!«
Bevor sie mich fragen kann, was ich vorhabe, umklammere ich meine Pistole und renne auf die Palmen zu. Schüsse peitschen mir um die Ohren, aber ich bin verdammt schnell, sodass sie mich nicht mal streifen. Ich muss nur das Timing hinbekommen. Als ich auf eine Parkbank direkt vor den Bäumen zusprinte, rufe ich: »Jetzt, Madison!«
Die künstliche Schwerkraft wird genau in dem Augenblick ausgeschaltet, in dem ich von der Bank abspringe. Ich fliege weit nach oben und bekomme dank der plötzlichen Schwerelosigkeit genug Schwung, um immer höher zu steigen. Sobald ich die Öffnung zwischen den Palmwedeln entdecke, mache ich mich ganz klein und fliege hindurch.
»Was zum …?«
Ich habe bereits die Pistole ausgerichtet und schieße, während die Besetzer, die mit einem Mal gewichtslos und desorientiert sind, noch gar nicht wissen, was überhaupt passiert ist. Schon sind sie beide am Boden, ausgeschaltet mit perfekten Schüssen in den Torso und den Kopf. Dann nehme ich Kurs auf den verletzten Zivilisten. Einen halben Meter von ihm entfernt schreie ich: »Fallen lassen, Madison!«
Die Schwerkraft wird augenblicklich wieder eingeschaltet. Mein Gewicht lastet wie eine Tonne Titanstreben auf mir, und ich komme am Boden auf. Nachdem ich jahrelang Gravball gespielt habe, bin ich dieses Gefühl gewöhnt. Im nächsten Augenblick lande ich auch schon in der Hocke direkt neben dem Zivilisten und kann ihn gerade noch rechtzeitig auffangen, bevor er auf dem Boden aufkommt. Bei dem plötzlichen Aufprall wird mir die Luft aus der Lunge gepresst, aber ich schaffe es, auf den Beinen zu bleiben. Ich ziehe den Verletzten zu den Bäumen und drücke rasch Kauterisierungspflaster auf seine Wunden. Er ist am Leben und atmet, das ist doch schon mal was. Madison kann ihn genauer untersuchen. Ganz vorsichtig lege ich mir den Mann über die Schulter.
»Ich hab ihn, Tabs!«
»In dreißig Sekunden am Brunnen?«
»Geht klar.«
Entweder ist es Tabs und mir gelungen, unsere Angreifer drastisch zu dezimieren, oder sie sind durch die Schwerkraftwechsel noch völlig durcheinander, denn ich höre nicht einen einzigen Schuss, als ich zum Brunnen laufe. Tabs stößt dort zu mir, und wir rennen gemeinsam zum Bogengang. Sobald wir hindurchgelaufen sind, übergebe ich den Verletzten an Madison und springe zum Tor hoch. Meine beim G-Ball erlernten Fähigkeiten kommen auch jetzt zum Tragen, als ich beim ersten Sprung den unteren Rand erwische. Tabs packt die andere Seite, als es nach unten kommt, sodass wir das schwere Tor gemeinsam auf den Boden zerren können. Der Riegel löst sich mit lautem Klicken, und Tabs bringt sofort eine Klemme daran an.
Wir grinsen, springen hoch und stoßen Brust an Brust zusammen, wobei wir die Seiten unserer Fäuste gegeneinander schlagen, alles in einer raschen, fließenden Bewegung.
Tabs nickt. »Pro libertate …
»… pro vita«, beende ich den Satz.
Für die Freiheit, für das Leben.
Wir lassen noch einmal die Fäuste gegeneinanderprallen und laufen dann zu unseren Schützlingen hinüber, die sich vor der nächsten verschlossenen Tür am Ende des Gangs versammelt haben. Tabs macht sich sofort an die Arbeit, um das Schloss zu öffnen, und ich sehe erneut auf meine Karte.
»Verdammt«, fluche ich leise. Fast drei Viertel der Energiezäune auf der Station blinken jetzt. Der Weg zum westlichen Shuttledock ist zwar noch frei, aber hinter uns sieht es schon ganz anders aus.
»Corporal«, sage ich ins Mikro. »Es ist nur noch ein Zaun übrig.«
Tabs schaut schnell auf ihr eigenes Visordisplay und dann zurück zu dem Tor, das wir gerade geschlossen haben. Sie stößt einen Fluch aus, in dem ihre Frustration zu hören ist, und ich weiß, dass wir beide dasselbe denken: Keine Tür in der Galaxie, und mag sie auch noch so dick sein, kann einen Ghul aufhalten. Sofort macht sie sich wieder am Schloss zu schaffen.
Die Sekunden verstreichen quälend langsam, bevor die Tür endlich aufgeht. Jetzt ist es nicht mehr weit; ich kann den Eingang zur Andockrampe nur wenige Meter weiter entfernt bereits sehen. Als hätten wir uns abgesprochen, werden wir alle schneller, sogar die Wissenschaftler. Auch wenn mir klar ist, dass wir die Sache noch längst nicht überstanden haben, seufze ich erleichtert auf, als wir durch den letzten Energiezaun auf die Shuttlerampe rennen.
»Hey, wo habt ihr Lahmärsche denn so lange gesteckt?«, begrüßt uns eine Stimme, als wir das Dock betreten.
Arlo, Cress und Reyes sind da und scheuchen eine Gruppe Zivilisten durch die Schleuse in den Transporter. Es ist ihnen zu dritt gelungen, etwa dreißig weitere Zivilisten zu retten.
Tabs zwinkert mir zu, bevor sie antwortet. »Ach, Sie kennen doch Sorenson. Er wollte natürlich den Weg mit der schönsten Aussicht nehmen.«
»Mussten Sie mal wieder an allen gentechnisch veränderten Blumen schnuppern, Mikey?«, fragt Arlo und grinst mich wie üblich breit an.
Früher einmal hätte ich auf dieselbe Weise geantwortet. Ich hätte ebenfalls gezwinkert und vielleicht einen Witz über unsere Flucht gemacht. Aber jetzt nehme ich den Kommentar nur mit einem schroffen Kopfschütteln zur Kenntnis und drehe mich wieder zum Eingang um. Über Kom kann ich hören, wie sich Tabs und Arlo leise unterhalten.
»Was ist mit Christos Triade?«
»Überrannt.« Arlo zögert. »Sie haben sich ins All gesprengt, um nicht auch noch Jagd auf ihre eigenen Leute machen zu müssen.«
Oder sie wollten nicht zu Werkzeugen der Ghule werden. Es ist zwar schon vorgekommen, dass infizierte Soldaten Selbstmord begangen haben, doch bei Arlos Worten schnürt sich mir dennoch die Brust zusammen. Ich höre über Kom, wie Cress leise etwas murmelt, das wie ein Gebet klingt, und weiß, dass sie dasselbe empfindet.
»Wie lauten Ihre Befehle, Corporal?«, fragt Arlo schließlich.
»Bringen Sie die Zivilisten einfach an Bord, Wächter«, antwortet Tabs angespannt. Nach Christos Tod ist sie jetzt der ranghöchste Offizier unseres Trupps.
Ein plötzliches Blinken auf einer Seite meines Visors bewirkt, dass ich der Unterhaltung nicht länger folge. Der vorletzte Energiezaun, der am Platz, ist gefallen. Ich umklammere meinen Aero-Werfer, als mir klar wird, dass jetzt nur noch der Zaun am Eingang der Shuttlerampe zwischen uns und ihnen steht. Und das ist nicht mal ein richtiger Zaun, der etwas drinnen oder draußen halten kann. Er wird uns bloß warnen, mehr nicht.
Hinter mir sind alle wieder ruhig und ernst, und sie versuchen panisch, die Zivilisten noch rechtzeitig auf den Transporter zu schaffen. Der Letzte aus Arlos Gruppe geht gerade an Bord und wird dabei von Rufen angetrieben. Ich zähle rasch durch, wie viele Leute noch einsteigen müssen, und schüttle den Kopf. Wir werden es nicht schaffen.
Tabs denkt anscheinend dasselbe. »Reyes, sorgen Sie dafür, dass die Leute in den Transporter kommen!«, sagt sie über den Gruppenkanal. »Madison, helfen Sie ihm dabei. Arlo und Cress, geben Sie ihnen Deckung. Sorenson und ich gehen an die Tür.«
Cress und Arlo drehen sich sofort zu den Zivilisten um, während ich mich ebenso wie Tabs am Eingang der Shuttlerampe postiere. Wir bleiben Schulter an Schulter und mit einsatzbereiten Werfern direkt hinter dem Zaun stehen. Mir steht der Schweiß auf der Stirn, und ich kämpfe gegen den Drang an, meinen Visor hochzuklappen, um ihn wegzuwischen. Ich hole tief Luft, und dann rieche ich ihn, diesen leicht säuerlich-süßen Geruch, der an den einer verdorbenen Zitrone vermischt mit Honig erinnert.
Tabs und ich sehen uns an. »Sie kommen.«
Gegen meinen Willen sehe ich auf die Uhr in der rechten oberen Ecke meines Visors. Sechzig Sekunden. So lange dauert es, bis der Pilot den Transporter von der Station runtergebracht hat, nachdem die Shuttletür geschlossen wurde. Sobald wir gestartet sind, können wir den Schatten problemlos entkommen. Doch wenn sie uns vorher erwischen …
Ich sagte ja bereits, dass sie keine Tür in der Galaxis aufhalten kann.
Der Geruch wird intensiver. Ich kann ihn jetzt auch schmecken, er liegt mir wie ein saurer Film auf der Zunge. Der Schweiß läuft mir in die Augen, die Tropfen fallen herunter, kaum dass sie entstanden sind. Ich ignoriere es und wackle mit den Nasenflügeln, während ich meine Nase – die speziell verändert worden ist, damit ich die Ghule riechen kann – einsetze und zähle. Sieben, vielleicht acht?
»Acht oder neun Ghule in etwa zweihundert Metern Entfernung«, sagt Tabs gerade über Kom. »Wie lange noch?«
»Zwei Minuten«, erwidert Madison.
»Sie und Reyes steigen direkt nach den Zivilisten ein, gefolgt von Arlo und Cress. Sorenson und ich werden versuchen, sie so lange wie möglich vom Andockring fernzuhalten, bevor wir nachkommen. Sorenson!«
»Bereit!«, melde ich. Der Geruch pulsiert jetzt durch meine Nase und dringt mir direkt ins Gehirn, auch wenn ich unseren unsichtbaren Feind nicht sehen kann. Tabs hat recht, es sind eindeutig neun. Ich kann ihre unterschiedlichen Gerüche auffangen, da sie uns schon so nahe sind. Unwillkürlich verkrampfe ich mich. Es wird nicht mehr lange dauern.
»Auf mein Zeichen«, sagt Tabs. »Drei.«
Ich hebe den Werfer hoch.
»Zwei.«
Der Gestank scheint bereits direkt vor uns zu sein.
»Eins …«
Ich verharre mit einem Finger auf dem Abzug.
»Los!«
Komprimierte Luft dringt aus dem Lauf meines Aero-Werfers. Der Rückstoß kugelt mir beinahe die Schulter aus, aber ich lade sofort die nächste Gaspatrone nach. Dabei schnüffle ich hektisch, ob ich den Feind riechen kann. Zu meiner Erleichterung verrät mir meine Nase, dass sie jetzt etwa fünfzehn Meter entfernt sind. Ich gestatte mir ein angespanntes Grinsen. Diese Ghule sind sehr empfindlich, was die Luftbeschaffenheit angeht, daher ist die Gasmischung, die wir mit diesen Werfern abschießen, eine der mächtigsten Waffen, die wir gegen sie haben. Ein Schuss kann einen Ghul eine ganze Minute lang abwehren.
»Sie starten den zweiten Versuch!«, ruft Tabs.
Oder auch nur dreißig Sekunden …
»Fast geschafft!«, meldet Reyes über Kom.
Ich hebe den Werfer hoch, um erneut zu feuern, aber als ich gerade den Abzug drücken will, ist der Geruch des Feindes auf einmal verschwunden. Ich lockere die Finger, sehe mich panisch um und schnüffle wie ein Irrer. Was zum Henker …?
Doch dann dringt mir ein intensiver säuerlich-süßer Geruch in die Nase, als neun Ghule hinter uns durch die Decke kommen. Sirenen gehen los, als die Deckenzäune ausgelöst werden, und ich wirbele herum und stelle mich der neuen Bedrohung. Verdammt! Sie müssen sich durch die Wartungsebene geschlichen haben, um dem Gas aus dem Weg zu gehen.
»Achtung!«, schreie ich, als die Schatten durch den Hangar direkt auf die letzten Zivilisten zurennen, aber Arlo und Cress sind schon da und wehren die Ghule durch simultane Schüsse aus ihren Werfern ab, woraufhin diese bis in die Raummitte fliegen.
»Wir müssen verhindern, dass sie ins Shuttle gelangen!«, ordnet Tabs an. »Madison, Granaten!«
Gaswolken quellen neben der Luftschleuse auf, während Madison eine Granate nach der anderen wirft und eine Wand aus Rauch zwischen den Zivilisten und dem Feind aufwallen lässt. Reyes schießt wider und wieder seinen Werfer ab und zielt auf das ganze Dock, die Decke und die hintere Wand. Auf jede Stelle, an der er einen Ghul vermutet. Wir anderen schwärmen derweil aus und versuchen, die Ghule zu umringen, während wir immer weiter schießen: über sie, unter sie, um sie herum, damit sie in der Mitte des Docks festsitzen, von wo sie nicht entkommen können. Es macht ganz den Anschein, als hätten wir die Situation unter Kontrolle, als aus dem Korridor hinter mir eine saure Woge hereinwallt, die so intensiv ist, dass mir Tränen in die Augen steigen.
»Sie kriegen Verstärkung!«, ruft Tabs, die offenbar dasselbe riecht. »Es sind wenigstens fünfzig, und sie kommen schnell näher.«
Verdammte Schlacke! Mit neun werden wir vielleicht fertig, aber fünfzig können uns einfach überrennen.
»Die Zivilisten sind drin!«, meldet Reyes, und Tabs ordnet sofort an: »Rückzug!«
Ich lasse noch eine Salve los und ziehe mich dann in Richtung Transporter zurück. Tabs ist mir direkt auf den Fersen, als wir die Gruppe aus Besetzern umgehen, die in der Mitte des Raums festsitzen. Arlo und Cress feuern mit ihren Werfern weiterhin eine Salve nach der anderen ab und geben uns Feuerschutz, damit wir den Andockring überqueren können. Die Luft ist derart gasgeschwängert, dass ich kaum zwei Meter weit sehen kann, aber unsere Taktik scheint aufzugehen und die Ghule in Schach zu halten, während wir zur Luftschleuse rennen. Wenn wir sie nur noch eine weitere Minute aufhalten können, haben wir vielleicht eine Chance.
Wir haben die anderen gerade erreicht, die am Zugang zum Transporter Wache halten, als die Verstärkung hereinkommt. Auf Tabs’ Signal hin rennen Madison und Reyes in den Transporter, dicht gefolgt von Cress und Arlo. Sie gibt mir ein Zeichen, dass ich als Nächstes gehen soll, und ich bleibe hinter der Tür stehen und drehe mich um, weil ich ihr mit meinem Werfer Deckung geben will …
Da geht die Luke leise zu.
Mir bleibt beinahe das Herz stehen. »Pilot!«, brülle ich und schlage mit einer Faust gegen den Öffnungsmechanismus. »Sie haben die Tür zu früh geschlossen! Tabs ist noch da draußen!« Auch bei meinem zweiten Versuch geht die Tür nicht auf. »Pilot!«
»Es ist schon okay, Michael.« Tabs’ Stimme dringt aus meinem Headset und übertönt das Geräusch ihres Aero-Werfers.
Nein!
»Es sind zu viele«, fährt sie fort. »Sie würden uns überrennen, wenn niemand zurückbleibt und sie ablenkt. Ich halte sie vom Shuttle fern. Sechzig Sekunden, okay? So viel Zeit kann ich uns verschaffen.«
Nein! Nein, nein, nein! Nicht schon wieder!
Aber es ist zu spät. Wie zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort ist sie auf der anderen Seite der Tür, und ich bin auf dieser. Und genau wie damals wird sie sterben, und ich kann rein gar nichts dagegen unternehmen.
Ihr süßes Lächeln, der Duft ihres Haars, der an die Blumen erinnert, die am Spielplatz auf Aurora wuchsen.
Ich höre ein Klappern, als die Andockklemmen vom Shuttle gelöst werden, dann das Summen des hochgefahrenen Antriebs. Unwillkürlich sehe ich auf die Uhr auf meinem Visor. Sechsunddreißig Sekunden, fünfunddreißig, vierunddreißig.
War es am Ende für dich genauso, Lia?, frage ich mich, während die Sekunden vergehen.
Wieder höre ich Tabs’ Schüsse, danach ein leises Zischen. Ihr Injektor. Die darin enthaltene Medizin wird die psionischen Kräfte jedes Ghuls, der sich mit ihr verbinden will, unterdrücken – jedenfalls sechzig Sekunden lang. Gerade lange genug, um uns Deckung zu geben, damit wir entkommen können.
Vierzehn.
Dreizehn.
Zwölf.
Ich warte darauf, dass Tabs noch einmal etwas sagt, dass sie ihre letzten Worte als freier Mensch von sich gibt, doch es passiert nicht. Sie bleibt bis zum Ende eine Kämpferin, und das Letzte, was ich höre, ist das Geräusch ihres Werfers. Dann hebt der Transporter dröhnend ab. Ich hole ein letztes Mal tief Luft.
Nichts. Tabs hat es geschafft.
Rasch renne ich zur Beobachtungslounge und starre zu der Hülle dessen hinüber, was einst ScyLab 185g gewesen ist. Silbriges Metall, eingebettet in eine Leinwand aus Sternen und Dunkelheit. Ein Licht in einer Welt der Finsternis, ein Ort, an dem einst über fünfhundert Menschen gelebt und gearbeitet haben. Menschen, die sich nicht sehr von Tabs unterschieden haben.
Ich kann den Augenblick nicht riechen, in dem sie infiziert wird, da ich schon weit draußen im Weltall bin. Ich nehme den Augenblick auch nicht wahr, in dem aus sechzig Ghulen neunundfünfzig werden.
Aber ich kann es mir vorstellen.
Wir docken nur wenige Minuten später an der SBS Triumphant an. Arlo und Cress halten nach möglichen Besetzern Ausschau, die uns in der Aufregung vielleicht entgangen sind, während Madison, Reyes und ich die Zivilisten auf das Aussteigen vorbereiten. Von einer mit fünfhundertzwanzig Mann besetzten Station haben wir gerade mal dreiundfünfzig retten können. Wir können nur hoffen, dass es den anderen Trupps besser ergangen ist.
Ich denke an Evadne6 zurück, die Station, die jetzt unter Quarantäne steht. Ein halbes Dutzend Triaden wurde reingeschickt, aber nach dreißig Minuten waren sie alle tot. Es konnte niemand evakuiert werden.
Dreiundfünfzig ist besser als keiner.
Ich helfe einer kleinen Frau, die einen Streifschuss abbekommen hat, als mir auf einmal die Haare im Nacken zu Berge stehen. Augenblicklich bin ich wie erstarrt und habe das eindeutige Gefühl, beobachtet zu werden. Natürlich denke ich sofort an Besetzer und atme mehrmals tief ein. Der Geruch der Ghule ist immer leicht aufzufangen, aber das ist bei den Besetzern anders. Anfangs waren sie so leicht zu riechen wie jeder Ghul, doch im Laufe der Zeit haben sie gelernt, ihren Eigengeruch mit dem ihrer Wirte zu tarnen. Daher ist es jetzt nahezu unmöglich, einen Besetzer zu riechen. Während die Besetzer ihren Wirt langsam von innen heraus zerfressen, um sich fortzupflanzen, weisen diese nach und nach äußerliche Merkmale auf – Gewichtsverlust, gelbliche Hautfarbe, eingesunkene Augen –, doch das geschieht erst nach Monaten oder gar einem Jahr und ist daher nicht besonders hilfreich, um neu infizierte Besetzer zu erkennen. Solange das PsyCorp nicht jede Person individuell gescannt hat, müssen wir alle an Bord als potenziellen Feind ansehen, der nur darauf wartet, zuzuschlagen. Jede verdächtige Aktivität muss sofort gemeldet werden, damit derjenige einer genaueren Beobachtung unterzogen werden kann.
Da ich nichts riechen kann, drehe ich mich zu beiden Seiten um und bemerke einen Mann, der zu meiner Linken steht. Er rührt sich nicht und trägt eine schlichte Tunika mit einer Hose, die genauso schneeweiß ist wie sein Haar. Obwohl er nichts Merkwürdiges macht – er wartet nur genau wie die anderen darauf, dass er den Transporter verlassen kann – hat er etwas an sich, das mich beunruhigt.
Ich aktiviere mein Mikro. »Potenzieller Besetzer auf drei Uhr. Ein älterer Mann ganz in Weiß…« Ich halte nach einem Namensschild oder Abzeichen Ausschau, kann jedoch nichts entdecken. »Mittlere Größe, schlank, weißes Haar«, füge ich noch hinzu.
Einige Sekunden herrscht Stille.
»Ich sehe ihn«, erwidert Cress. »Ich behalte ihn im Auge.«
Ich nicke. Besetzer sind unberechenbar, wenn sie plötzlich enttarnt werden. Aus diesem Grund ist es ratsam, sie zu beobachten, bis man sie bei passender Gelegenheit rasch isolieren und genauer unter die Lupe nehmen kann. »Verstanden. Sorenson Ende.«
Ich führe die verletzte Frau an den Anfang der Schlange und fahre damit fort, die Verwundeten aus der Menge herauszusuchen. Eine Labortechnikerin in einem grauen Kittel rempelt mich von hinten an, da sie in dem Gedränge offenbar gestolpert ist, doch auf einmal spüre ich eine Hand an meinem Hintern. Ich zucke zurück, reiße entsetzt die Augen auf und erröte, als mir klar wird, dass mich gerade eine Wissenschaftlerin begrapscht hat, die dreimal so alt ist wie ich. Während ich versuche, nicht die Fassung zu verlieren, führe ich sie zu einer Stelle an der Wand, damit sie nicht noch aufdringlicher werden kann. Tja, und ich hatte gedacht, ich hätte in diesem Job schon alles erlebt.
Als Nächstes gehe ich zu einem Ingenieur mit einer nässenden Kopfwunde und bleibe gerade lange genug bei ihm stehen, um ihn mit einem kauterisierenden Pflaster auf der Stirn notdürftig zu verarzten, bevor ich mich den anderen Verwundeten zuwende. Kurz darauf trifft auch schon das medizinische Personal ein und bringt drei Personen auf Tragen weg. Einer von ihnen ist der Mann, den ich auf dem Hof gerettet habe. Ist er überhaupt noch am Leben?
Mit einem Schulterzucken verdränge ich die Frage aus meinem Kopf. Ich kenne die Antwort nicht, und sie ist mir eigentlich auch egal. Ich habe meinen Job gemacht, der Rest fällt nicht in meinen Aufgabenbereich.
Die nicht so schwer Verletzten werden danach abgeholt. Das PsyCorp wird sie scannen und auf Besetzer untersuchen, bevor sie auf die Krankenstation geschickt werden. Sobald sie weg sind, können auch wir anderen aussteigen. Mein Trupp und ich mischen uns unter die Zivilisten und achten auf verdächtige Aktivitäten sowie alle, die wir als potenzielle Besetzer eingestuft haben.
Ich befinde mich im hinteren Teil der Gruppe, als wir den Andockring passieren, und seufze innerlich auf, da der Energiezaun keinen Alarm schlägt und somit bestätigt, was mir meine Nase bereits verraten hat: keine Ghule. Ich folge den Zivilisten durch einen kurzen Korridor in einen mittelgroßen Frachtraum, in dem wir alle darauf warten, zum PsyCorp geführt zu werden und die Freigabe zu erhalten. An den Wänden stehen Soldaten, die Pistolen locker in der Hand, und halten Wache.
Einer der Soldaten nickt mir zu, als ich an ihm vorbeigehe. »Sorenson.«
Ich nicke ebenfalls. »Anders. Wie sieht es aus?«
»So weit, so gut.« Er legt die Finger fester um seine Waffe. Es ist eine Betäubungspistole, keine tödliche Waffe. Schließlich wissen wir ja alle, was passiert, wenn man einen Besetzer tötet. Dennoch ist offensichtlich, dass Anders nervös ist.
»Bleiben Sie ruhig, Anders«, sage ich zu ihm. »Es ist bald vorbei.«
Er nickt, seine Hand bleibt allerdings verkrampft. Ich schüttle kaum merklich den Kopf, kommentiere es jedoch nicht weiter. Schließlich war ich auch mal ein Anfänger, und das ist noch gar nicht so lange her. Ich weiß daher viel zu gut, dass die Warterei auf etwas, das passieren könnte, fast noch schlimmer ist als das eigentliche Ereignis.
Ich gehe weiter in den Raum hinein und beziehe in der Nähe des weißhaarigen Mannes, der mir zuvor aufgefallen ist, Position. Er hält sich eine Hand an die Wange und spricht leise in den in seine Handfläche eingelassenen Chip. Ich beuge mich vor und versuche zu verstehen, was er sagt, aber er ist leider zu weit weg. Zu wem nimmt er denn ausgerechnet jetzt Kontakt auf? Ist er ein Besetzer, der sich unauffällig mit seinen Freunden kurzschließen will, weil er damit rechnet, bald erwischt zu werden?
Na super, jetzt grüble ich hier schon über Verschwörungstheorien! Was immer er auch ist, irgendetwas an ihm kommt mir sehr verdächtig vor, sei es seine heimlichtuerische Art oder die Uniform, an der weder Insignien, Abzeichen noch sonst etwas zu erkennen sind, an denen man ihn identifizieren könnte. Mir wird es definitiv besser gehen, sobald er dem PsyCorp vorgestellt wurde.
Ich bleibe wachsam, während die Wachen einen Passagier nach dem anderen wegführen, damit er getestet werden kann. Aus vierzig Zivilisten werden neununddreißig, dann achtunddreißig.
Meine Finger zucken, als es immer weniger werden, und kurz darauf sind es nur noch fünfundzwanzig. Falls sich unter ihnen ein Besetzer befindet, dann wird er bald etwas unternehmen müssen. Ich schaue mich weiter um und achte auf jede verdächtige Bewegung, wobei ich höre, wie sich zwei Offiziere, die ein paar Meter zu meiner Rechten stehen, leise über die Evakuierung unterhalten.
»… ohne die offiziellen Zahlen zu kennen ist bereits klar, dass die Evakuierungsrate dieser Station weit unter dem bisher gewohnten Prozentsatz liegt.«
»Aber das ist nicht unsere Schuld«, wendet der andere ein. »Dieses ScyLab stand nicht mal auf der langen Liste der möglichen Ziele, erst recht nicht auf der kurzen. Es ist fast so, als hätte der Feind über einhundert wahrscheinlichere Ziele übersprungen, um dieses anzugreifen. Dass wir überhaupt schnell genug mobilisieren konnten, um auch nur einen kleinen Prozentsatz der Stationsbewohner zu evakuieren, grenzt bereits an ein Wunder.«
»Das mögen wir beide ja so sehen, aber ich bezweifle, dass das auch für die ganz oben gilt«, meinte der Erste.
»Die sind doch nie zufrieden.«
Ihre Unterhaltung endet abrupt, als es auf der anderen Seite des Frachtraums zu einem kleinen Aufruhr kommt. Einer der Passagiere, den Arlo zuvor schon markiert hatte, macht Ärger. Ich spanne die Muskeln an und mache mich einsatzbereit, aber Cress kümmert sich bereits darum, hat den Besetzer in den Schwitzkasten genommen und übergibt ihn an einen Wachmann, der ihn abführt.
Siebzehn, sechzehn, fünfzehn.
Es ist fast schon eine Erleichterung, als es endlich passiert. Die Labortechnikerin, die mich zuvor angerempelt hat, erwischt einen Soldaten auf dem falschen Fuß, schlägt ihm gegen den Solarplexus und schnappt sich seine Waffe. Sie wirbelt herum und richtet die Pistole auf die Menge. Ich ziehe meine Waffe, aber bevor ich den Arm auch nur gehoben habe, ist Anders bereits zur Stelle. Er zielt und visiert das Gesicht der Frau an.
»Nein, Anders! Nicht ins Ge …«
Ein Blitz zuckt aus dem Lauf der Pistole …
… und der Schuss geht direkt durch das rechte Auge der Frau.
Sie geht zu Boden, ausgeschaltet von dem einzigen Schuss aus dieser Waffe, der tatsächlich tödlich ist. Ein stechender, süßlich-saurer Geruch steigt mir in die Nase, als der Schatten, der sich von seinem Wirt gelöst hat, in die Luft schwebt. Meine Nase verrät mir, dass er nach oben fliegt und dann direkt auf einen Wissenschaftler in einem goldenen Laborkittel zuhält.
Sofort werfe ich mich vor den Mann, lasse die Pistole fallen und nehme den Aero-Werfer vom Rücken. »Alle runter!«
Doch noch während ich an der Waffe herumfummle, weiß ich, dass es zu spät ist. Ich kann den Schatten bestenfalls aufhalten, aber nicht töten. Also geht es nicht darum, ob der Ghul einen neuen Wirt findet, sondern nur um das Wann. Als der Ghul direkt auf mich zukommt, lade ich den Werfer durch und drücke den Abzug.
Das Klicken der leeren Kammer hallt durch den ganzen Frachtraum. Ich lache freudlos auf. So wird mein Leben also enden, mit einer Infektion, der Quarantäne und dem langsamen Tod. Das ist ein schreckliches Schicksal. Aber hatte ich es denn wirklich verdient, etwas …
Wuuusch!
Der Ghul ist nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, als er vom Schuss aus Madisons Werfer weggeschossen wird. Er fliegt über die Köpfe der auf dem Boden liegenden Menschen direkt auf Anders zu.
Auf einen Schlag ist der Geruch verschwunden.
Arlo schießt ihm sofort mit seiner Betäubungspistole in die Brust, und dann ist es vorbei. Jetzt, da der Schatten einen neuen Wirt hat, kann er nur durch Anders’ Tod wieder aus diesem herauskommen. Keiner sagt ein Wort, als mehrere Soldaten seinen erschlafften Körper hinaustragen.
Die letzten Wartenden werden abgefertigt, und ich spüre erneut, dass ich beobachtet werde. Doch jetzt ist es anders, nicht wie zuvor im Shuttle. Dieses Mal starren mich alle an.
Der Mann in Weiß geht als Letzter hinaus.
***
Da unsere Mission nun endlich abgeschlossen ist, folge ich meinen Teamkameraden in die Waffenkammer, wo PsyEnsign Dwaller schon auf uns wartet. Arlo wird als Erster durchgecheckt, während wir anderen unsere Ausrüstung verstauen. Als ich an der Reihe bin, nicke ich Dwaller zur Begrüßung zu und ergreife die Hand, die er mir reicht. Der PsyCorp-Spezialist dringt in meinen Geist ein und ist nach nicht einmal einer Minute wieder daraus verschwunden, nachdem er nach den auffälligen Hinweisen auf einen Besetzer gesucht hat. Er nickt mir zu, da er nichts finden konnte, und ich bin beeindruckt, denn der Mann ist so gut, dass selbst ich nicht gemerkt habe, dass er in meinem Kopf gewesen ist.
Danach gehen wir durch den Korridor zur Missionsnachbesprechung mit dem ranghöchsten Offizier des Zugs. Zum Glück sorgt Watch Sergeant Morgan dafür, dass es nicht lange dauert. Die Anzahl der Evakuierten, die vor dem Fall der Station runtergeholt werden konnten? Zweihundertzwölf. Weniger als die Hälfte des Stationspersonals. Tatsächlich werden es aber nur einhundertneunundneunzig sein, nachdem die Besetzer aussortiert wurden. Ich beneide sie nicht um ihr Schicksal. Sie werden offiziell als Kriegsgefangene eingestuft und in eine Quarantänekolonie gebracht, in der sie bleiben müssen, bis wir ein Heilmittel gegen die Infektion gefunden haben.
Oder bis sie sterben.
Drei Jahre. So lange halten die meisten Besetzer durch, bevor der Schatten in ihrem Kopf ihnen den Rest gibt und sie von innen heraus verzehrt hat, während er einen Ghul nach dem anderen gebärt. Eine weitere tickende Bombe, ein Countdown bis zu ihrem Tod.
Ich hasse Countdowns.
Die Besprechung ist schnell vorbei, und kurz darauf werden wir entlassen, damit wir etwas essen und uns ausruhen können. Jedenfalls die meisten von uns.
»Einen Moment noch, Sorenson«, sagt Morgan, als ich auf die Tür zugehe.
Ich bleibe stehen. »Sarge?«
Sie hebt ihre linke Hand, damit ich warte, während sie sich etwas über den in ihre rechte Hand eingelassenen Chip anhört. Schließlich nickt sie leicht. »Verstanden, Lieutenant. Morgan Ende.« Sie lässt die Hand sinken und mustert mich neugierig. »Das war der LT. Sie sollen sich morgen Nachmittag um dreizehnhundert im Rose Room melden. Der Firmencommander möchte Sie sehen.«
Mir klappt die Kinnlade herunter. Was habe ich denn angestellt, dass mich der Commander der Firma sehen will? »Captain Jessup will mich sprechen?«, frage ich unwillkürlich.
»Gibt es denn noch einen anderen Firmencommander, der sich momentan auf diesem Schiff aufhält, Wächter?«
»Nein, Watch Sergeant!«
Morgan schnaubt. »Dann sollten Sie Ihren Hintern morgen lieber in den Rose Room schwingen, um zu erfahren, was Captain Jessup von Ihnen will.« Ein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. »Machen Sie nicht so ein besorgtes Gesicht, Sorenson. Der LT und ich werden ebenfalls dort sein. Sie sind ein guter Soldat. Worum es auch gehen mag, so schlimm wird es schon nicht sein. Morgen, dreizehnhundert. Wegtreten.«
Noch immer verwirrt von diesem seltsamen Befehl stoße ich zu Arlo und Cress, die im Korridor auf mich warten. »Was war denn los?«, will Cress wissen, als wir uns auf den Rückweg zur Kaserne machen.
»Ich bin nicht sicher.« Man hört mir die Fassungslosigkeit an, als ich ihnen von dem Befehl erzähle.
»Der Firmencommander? Wow! Jetzt hast du es wirklich geschafft, was, Mikey?« Arlo jauchzt und legt mir einen Arm um die Schultern.
Ich schiebe ihn gereizt weg. »Ich habe überhaupt nichts gemacht, Arlo.«
»Aber es muss doch einen Grund dafür geben, dass Jessup dich sehen will«, beharrt Arlo. »Was ist passiert? Hast du im Frühstücksraum des Admirals gefurzt oder was?«
»Du musst nicht gleich ausfallend werden, Arlo.« Cress dreht sich zu mir um. »Glaubst du, es geht um Anders?«
»Keine Ahnung. Könnte sein.«
Das war sogar sehr wahrscheinlich.
Cress mustert mich noch einen Augenblick, schüttelt dann den Kopf und wechselt das Thema. »Mike, einige von uns gehen heute um neunzehnhundert in der Cantina was trinken, um auf Tabs, Christo und die anderen anzustoßen. Bist du dabei?«
Bei ihren Worten zieht sich mein Brustkorb zusammen. Dabei kommt die Einladung nicht unerwartet; ich war schon häufiger bei diesen informellen Trauerfeiern. Normalerweise geht es dabei darum, sich zu betrinken oder sich ein neues Tattoo machen zu lassen. Oder beides. Dennoch tut mir schon der Gedanke, zu diesem Abschied gehen zu müssen, in der Seele weh, und ich spüre einen altbekannten Schmerz, den ich einfach nicht loswerde.
Ihre Lebensfreude, ihre Stimme; die Art, wie ihre Augen zu strahlen beginnen, sobald ich einen Raum betrete, als wäre ich der Mensch, den sie im ganzen Universum am liebsten sehen wollte.
»Natürlich kommt er«, wirft Arlo ein. »Es geht immerhin um Tabs.«
Ich schlucke schwer. Arlo hat recht. Es geht um Tabs, daher würde es komisch aussehen, wenn ich nicht auftauche. Ich zwinge mich zu einem Nicken. »Ja, klar. Ich werde da sein.«
Ob ich nun will oder nicht.
***
»… und da war ich nun, völlig durchnässt und splitterfasernackt. Ich hatte nicht mal meinen Werfer, um entscheidende Stellen zu verdecken, und der Sarge sagt: ›Wächter, Sie haben fünf Sekunden, um mir einen guten Grund zu nennen, warum ich Sie nicht auf der Stelle Ihrem LT melden soll.‹ Und so hab ich das Erste gesagt, was mir eingefallen ist.«
»Und was war das?«, hakt Evans neugierig nach. Ein frischer Schnitt reicht einmal um seinen Unterarm; ein dünnes Lasertattoo, das zu einem Dutzend anderer in unterschiedlicher Breite hinzugekommen ist. Ein Reif für jeden gefallenen Kameraden, schwarz für einen infizierten, rot für einen toten.
Arlo wackelt mit den Augenbrauen und schreit: »Weil ich gut bestückt bin, Sarge!«
Alle fangen an zu lachen. »Das hast du nicht wirklich gesagt«, ruft Cress.
»Doch, ganz im Ernst!«, behauptet Arlo. »Als Villas gerade den LT anlinken will, sagt Tabs: ›Tja, da haben Sie es, Sarge. Er leidet eindeutig unter Halluzinationen und kann für seine Taten nicht zur Rechenschaft gezogen werden.‹«
Sie lachen noch lauter, und auch ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Das klingt ganz nach Tabs.
»Und der Sarge hat Sie gehen lassen?«
»Ja, hat er. Und er hat mich nicht gemeldet. Aber ich habe einen Riesenanschiss bekommen und musste einen Haufen Deppenarbeit machen«, gibt Arlo zu. »Ja, so war Tabs. Clever, mutig und verdammt humorvoll. Eine wie sie finden wir so schnell nicht wieder.«
»Auf Tabs!«, ruft jemand, und alle heben die Gläser und wiederholen: »Auf Tabs!«
Ich spreche die Worte lautlos mit und nippe an meinem Drink. Die Kohlensäure prickelt zwar an meinem Gaumen, aber die Limo schmeckt fade und so, als hätte sie schon eine Woche und nicht erst zwanzig Minuten vor mir gestanden. Ich trommle mit den Fingern auf der Bar, schaue auf die Uhr und frage mich, wie lange ich noch ausharren muss, bevor ich mich unbemerkt rausschleichen kann. Wenigstens eine halbe Stunde muss ich noch durchhalten, beschließe ich widerwillig. Das sollte ausreichen, denn bis dahin haben sich die anderen einen ordentlichen Rausch angetrunken.
»Okay, jetzt ist jemand anderes an der Reihe. Mal sehen … Ja, Mikey! Sie sind dran. Erzählen Sie uns eine witzige Geschichte über Tabs.«
Na ja, sie hat mal Frischkäse in Alvarez’ Weste geschmiert, und sie hat Harrington gesagt, sie hätte ein Gesicht wie ein Mistkäfer …
Erzähl von dem Tag, an dem sie sich in die Luft gesprengt hat, um die Menschheit zu retten.
Es schnürt mir die Kehle zu. Aus genau diesem Grund hatte ich nicht herkommen wollen. Nicht, weil ich Tabs nicht respektiere, sondern weil ich wusste, dass mich das an sie erinnern würde. An Lia, die menschliche Bombe, die sich für die Menschheit geopfert hat. An Lia, die ich nicht vergessen kann, auch wenn ich noch so weit weggehe und mir noch so große Mühe gebe.
Meine Zehen zucken in meinem Stiefel, und ich schüttle schnell den Kopf. »Ne, mir fällt keine gute ein. Das soll jemand anderes machen.«
»Ihnen fällt keine gute ein? Im Ernst? Na los, strengen Sie sich an. Da muss es doch irgendwas geben.«
»Ich habe Nein gesagt, okay?« Inzwischen wackelt mein ganzer Fuß, und ich kann ihn einfach nicht stillhalten. »Und hören Sie endlich auf, mich Mikey zu nennen. Sie wissen ganz genau, dass ich das nicht leiden kann.«
»Wow, Sorenson, welche Laus ist Ihnen denn über die Leber …«
Da ist es mit meiner Ruhe vorbei, und mir brennt eine Sicherung durch. Ich drücke Arlo schon gegen die Bar, bevor mir überhaupt klar wird, dass ich mich bewegt habe. Getränke schwappen über, und Glas geht zu Bruch. Einige Gäste schreien auf. »Sie wollen was über Tabs hören? Sie hat sich von Ihnen nichts gefallen lassen, das ist es, woran ich mich erinnere.«
»Ach ja?!«
Madison und Evans zerren mich an den Armen von ihm weg, aber ich entziehe mich wütend ihrem Griff. »Beruhigt euch wieder, Leute! Kommt wieder runter!«, ruft Cress.
»Hey, er hat angefangen«, behauptet Arlo. Ich will mich erneut auf ihn stürzen, aber dieses Mal geht Cress dazwischen und schubst mich hart genug weg, dass ich hingefallen wäre, wenn mich Madison nicht am Arm festgehalten hätte.
»Jetzt hört beide auf damit«, faucht Cress, »bevor wir noch alle rausgeschmissen werden.«
Meine Hände zittern, aber dieses Mal bleibe ich, wo ich bin, während Cress den Barkeeper beruhigt und verspricht, dass die Gläser bezahlt werden und die Gäste neue Drinks bekommen. Innerhalb weniger Minuten ist alles geklärt, und sie packt mich am Arm und geht mit mir zu der Fensterfront. Da draußen ist ScyLab 185g zu sehen, eine kleine Kugel, die in der Ferne schimmert.
»Was zum Henker ist Ihr Problem, Sorenson?« Sie mustert mich besorgt, und irgendwie klingt die Frage aus ihrem Mund nicht wie ein Vorwurf.
Ich zucke mit den Schultern und starre aus dem Fenster. Rings um das ScyLab blinken Lichter, und auch wenn ich zu weit weg bin, um es richtig erkennen zu können, weiß ich doch, was das ist. Sie kommen von den Schweißschiffen, die sorgsam jeden Andockring, jedes Portal und jeden Notausgang verriegeln. ScyLab 185g ist jetzt offiziell unter Quarantäne. Niemand kommt rein, niemand kommt raus.
Cress schüttelt den Kopf. »Wir wissen alle, dass Sie manchmal ein richtiger Hitzkopf sind, aber das war selbst für Sie eine Schippe zu viel.«
Ich bin ein Hitzkopf? Beinahe hätte ich laut losgelacht. Wenn die wüssten … Früher war ich ganz anders. Noch vor einiger Zeit war ich wie Arlo, habe witzige Geschichten erzählt, Späße gemacht und nichts wirklich ernst genommen. Aber das war vorher. Jetzt tobt in mir dieser unbändige Zorn, der einfach nicht weggehen will. Weil ich stinksauer bin. Ich bin stinksauer, weil Lia tot ist, weil ich sie nicht retten konnte, weil alle anderen noch leben, sie aber nicht. Aber vor allem bin ich auf den einen Menschen sauer, der sie hätte retten können – der wusste, was mir Lia bedeutete, und von dem ich erwartet hatte, dass er auf meiner Seite wäre – was jedoch nicht der Fall war.
»So war das doch gar nicht. Lia hat die eigentliche Entscheidung getroffen, und Lia hat sich dafür entschieden, zur No …«
»Hör auf damit! Du kannst nicht so tun, als wäre das alles Lias Schuld.«
»Warum nicht? So ist es nun mal. Gesteh es dir endlich ein, Michael. Eigentlich bist du gar nicht wütend auf mich, sondern auf sie.«
»Du bist eine Lügnerin! Warum sollte ich wütend auf Lia sein!«
»Weil ihr jeder andere im Universum wichtiger gewesen ist als du!«
Selbst jetzt treffen mich die Worte wie ein Schlag in die Magengrube, und die Wahrheit in ihnen ist nicht zu übersehen, auch wenn ich mir noch so große Mühe gebe, sie zu leugnen. Lia war der Meinung, dass alle anderen im Universum wichtiger wären als ich. Mein Verstand kann zwar verstehen, warum sie diese Entscheidung getroffen hat, doch mein Herz schafft das nicht.
Cress’ Schlag gegen meine Schulter holt mich in die Gegenwart zurück. »Sie fehlt mir auch, Michael«, sagt sie und berührt das breite schwarze Tattoo an ihrem Unterarm, »aber sie ist für etwas gestorben, an das sie glaubte. Können wir mehr verlangen?«
Ich brauche eine Sekunde, bis ich begreife, dass sie von Tabs redet, und dann ist Cress auch schon verschwunden. Ich bleibe am Fenster sitzen und sehe den Schweißern zu. ScyLab 185g ist jetzt ein eingedämmtes Habitat. Lebensmittel, Luft, Wasser, Energie – eine Zeitlang kann sich die Station selbst versorgen. Länger als drei Jahre mit Sicherheit. Ja, all diese Menschen werden sterben, aber das wird nicht daran liegen, dass es ihnen an etwas mangelt.
Was ist wohl schlimmer, denke ich, schnell in einer glorreichen Explosion aus Licht zu sterben oder langsam und über Jahre hinweg an einer Verseuchung dahinzusiechen?
Ich weiß beim besten Willen keine Antwort.
Da ich derart in Gedanken versunken bin, bekomme ich erst nach mehreren Minuten mit, dass mir die Haare im Nacken zu Berge stehen, als würde mich jemand beobachten. Ich erstarre. Da die Besetzer identifiziert und verhaftet worden sind, kann es sich bei dem Beobachter nur um einen Freund und nicht um einen Feind handeln. Cress vielleicht oder Madison? Wie von selbst wandert meine rechte Hand hinunter zu der Stelle, an der ich sonst immer meine Pistole an der Hüfte trage. Ich drehe mich schnell wie eine Katze um.
Die Trauerfeier ist noch in vollem Gang, und in der Cantina halten sich sehr viele Menschen auf, die dienstfrei haben. Falls mich wirklich jemand beobachtet hat, ist er inzwischen in der Menge untergetaucht.
Während einer kurzen Trainingspause am nächsten Tag treffen die neuesten Nachrichten ein. Wir haben den halben Morgen Fitnessübungen gemacht und bekommen zehn Minuten Zeit, um etwas zu trinken oder die Hygieneeinheiten aufzusuchen. Als ich gerade eine der Einheiten verlasse, umringen die anderen Madison. Er streckt eine Hand mit der Handfläche nach oben aus, und ein Holo wird aus seinem Chip projiziert.
»Was ist los?«, frage ich den nächsten Wächter.
»Pst. Schau einfach hin«, zischt Evans und deutet mit dem Kinn auf das Holo.
Ich runzle die Stirn und richte den Blick auf das Bild. Dann reiße ich vor Schreck den Mund auf, als mir die Schlagzeile am unteren Rand ins Auge fällt.
Everest Prime ist gefallen.
Ich kann es nicht fassen. Everest Prime, einer der größten, zentralsten und am schwersten bewachten Planeten des Sternenbunds, wurde von einer riesigen Horde Ghule infiziert.
Entsetzt sehe ich mir die Bilder an. Die der Infiltration am nächsten liegenden Gebiete wurden bereits abgeriegelt, und Barrikaden halten Menschen in Gemeinden und sogar Städten fest. Panische Mobs werfen sich gegen die Stahlwände und verlangen, rausgelassen zu werden, doch die planetaren Wachen wehren sie mit Betäubungsgewehren und anderen nicht tödlichen Waffen ab, während sie sich zurückziehen. Auch außerhalb der Wände ist es nicht ruhig, da alle, die von ihren Familien getrennt wurden, wieder reinwollen, nur um verhaftet und evakuiert zu werden.
Das Bild verändert sich, als Aufnahmen von weiter entfernt liegenden Gebieten eingeblendet werden. Dort evakuiert man die Bevölkerung so schnell wie möglich und holt sie vom Planeten runter. Flottentransportträger warten im Orbit, während ein Schiff nach dem anderen mit den gerade zu Flüchtlingen gewordenen Menschen eintrifft. Am Boden scheuchen Soldaten Menschen in die Schiffe und tun alles in ihrer Macht Stehende, um kein Chaos ausbrechen zu lassen.
In anderen Gegenden des Planeten sind bereits Unruhen in der verängstigten Bevölkerung ausgebrochen. Die Neuigkeiten über die Infiltration sind bis zu ihnen durchgedrungen, und nun geraten die Menschen in Panik, sehen Ghule, wo gar keine sind, und beschuldigen aus Furcht vor dem Unsichtbaren alles und jeden. Das Kriegsrecht wurde ausgerufen, und das Militär hat die Lage gerade so eben unter Kontrolle.
Ich schüttle den Kopf, während rings um mich herum gemurmelt wird.
»Verdammte Schlacke, ein ganzer Klasse-acht-Planet ist weg. Wenn sogar Ev Prime so was passiert, was kommt dann als Nächstes?«
»Glauben Sie, man schickt uns zur Evakuierung runter?«
»Haben Sie denn überhaupt keine Ahnung von der Raumgeografie, Sie Dummbot?«, erwidert ein anderer. »Bis wir da ankommen, liegen dort alle im Sterben.«
»Großer Gott! Meine Familie! Meine Familie lebt dort!«
»Beruhigen Sie sich, Guerrero. Sie sind bestimmt noch rechtzeitig rausgekommen!«
Ich sage nichts, weil mich die Nachricht derart schockiert, dass ich keinen Ton rausbekomme. Es ist viereinhalb Jahre her, dass wir den Schatten zum ersten Mal begegnet sind. Damals haben Späher vom Sternenbund und von unserem Erzrivalen, der Tellurianischen Allianz, einen neuen Planeten entdeckt, der der Erde so ähnlich war, dass er »New Terra« getauft wurde. Beide Gruppierungen wussten sofort, dass sie diesen Planeten in Besitz nehmen wollten. Tatsächlich brach deswegen sogar ein Krieg aus, während New Terra leer im All schwebte und nur darauf wartete, dass der Sieger landete und sie für sich beanspruchte. Alle haben sich befragt, warum ein solches Paradies unbewohnt war.
Wie sich herausstellte, war es das nicht.
Während sich der Sternenbund und die Tellurianische Allianz um das Recht, New Terra zu besiedeln, stritten, schlichen sich einige Schatten mit einem kleinen Spähtrupp der Tellurianischen Allianz vom Planeten herunter. Diese Wissenschaftler hatten nicht die geringste Ahnung, welche Schrecken sie in ihren Köpfen mit nach Hause brachten. Da sie noch nicht bemerkt worden waren, machten sich die Besetzer daran, das zu tun, was sie am besten können.
Sie vermehrten sich.
Und sie vermehrten sich immer weiter.
Schatten mögen zwar körperlos und unsichtbar sein, aber sie benötigen Wirtskörper, damit sie sich fortpflanzen können, und der Mensch hat sich als der beste Überträger herausgestellt. Da die meisten Menschen nicht einmal spürten, dass sich in ihnen ein Schatten eingenistet hatte, konnten die Ghule immer mehr Wirte übernehmen und sich weiter wie eine tödliche Seuche innerhalb der Tellurianischen Allianz ausbreiten, ohne dass jemand etwas mitbekam. Nur die psychisch Begabten konnten ihre Präsenz spüren, aber als sie endlich alle Puzzleteile zusammengesetzt und einen Widerstand auf die Beine gestellt hatten, war es bereits zu spät. Es war zu spät für die Allianz, aber nicht für uns. Die letzte Tat des tellurianischen Widerstands bestand darin, uns vor der Gefahr zu warnen. Dabei haben sie eine halbe Raumstation in die Luft gejagt.
Lia hatte eine halbe Raumstation in die Luft gejagt, um uns auf die Bedrohung aufmerksam zu machen.