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Der Kopf der Kreatur
Frankreich, Lyon, 17. Oktober 1793
"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!"
Unter dem Geschrei der tobenden Menge wurde der Marquis Jean St. Clair aufs Schafott geführt.
Der in Lumpen gehüllte Körper des Hexers wies Spuren schwerer Folter und Misshandlungen auf. Nässende, schlecht verheilte Brandwunden übersäten den Rumpf, mehrere Fingerglieder fehlten.
Nur sein Kopf und das dazugehörige Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen schienen völlig unberührt zu sein.
Dabei waren sie das häufigste Ziel der Fäuste, Gerten, Brandeisen und Zangen gewesen.
Dass das Antlitz des Schönen Jean dennoch aussah, wie das eines frisch gepuderten Engels, konnte nur eine Erklärung haben.
Er war mit dem Teufel im Bunde.
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Der Kopf der Kreatur
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Joe Therasakdhi/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8405-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Kopf der Kreatur
von Ian Rolf Hill
Frankreich, Lyon, 17. Oktober 1793
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!«
Unter dem Geschrei der tobenden Menge wurde der Marquis Jean St. Clair aufs Schafott geführt. Er war nur einer von vielen, die der Terrorherrschaft von Maximilien de Robespierre und seinen Anhängern zum Opfer fiel.
Wobei es in seinem Falle keinen Unschuldigen traf.
Denn er war einen Pakt mit dem Teufel eingegangen!
Das wussten auch der Scharfrichter und seine Knechte, die nicht gerade sanft mit ihm umsprangen. Der in Lumpen gehüllte Körper des Hexers wies Spuren schwerer Folter und Misshandlungen auf. Nässende, schlecht verheilte Brandwunden übersäten den Rumpf, mehrere Fingerglieder fehlten.
Nur der Kopf und das dazugehörige Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen schienen völlig unberührt zu sein.
Dabei waren sie das häufigste Ziel der Fäuste, Gerten, Brandeisen und Zangen gewesen.
Dass das Antlitz des Schönen Jean dennoch aussah wie das eines frisch gepuderten Engels, konnte nur eine Erklärung haben.
Er war mit dem Teufel im Bunde.
☆
Allerdings schien der ihn nun verlassen zu haben.
Jean St. Clair wusste, dass es nichts gab, womit er den Henker und seine Knechte hätte bestechen können. Sie würden sich ohnehin nehmen, was sein gewesen war.
Zum Teufel auch, darum ging es schließlich bei dieser Farce.
Nach tagelanger Folter ertappte sich der Marquis, wie er den Tod herbeisehnte. Gewiss, der Satan hatte ihm die ewige Jugend versprochen, und er hatte sein Versprechen gehalten. Keinen Tag war er seit jener verhängnisvollen Nacht vor knapp zwanzig Jahren, als er den Pakt mit dem Leibhaftigen geschlossen hatte, gealtert.
Der Preis dafür war im Vergleich spottbillig gewesen.
Seine eigene Seele und einmal monatlich zum Neumond eine bis aufs Blut gefolterte Jungfrau.
Ein geringes Opfer, wenn Jean St. Clair bedachte, dass er praktisch unsterblich war.
In seiner grenzenlosen Überheblichkeit hatte er angenommen, dass Asmodis verdammt lange auf seine Seele warten musste.
Rückblickend betrachtet, hätte er vielleicht doch das Kleingedruckte in dem Kontrakt lesen sollen. Schließlich war der Teufel nicht für Ehrlichkeit und Zuvorkommenheit bekannt.
Von Unverwundbarkeit war nie die Rede gewesen.
»Wo ist dein Herr und Meister jetzt, St. Clair?«, erklang es dumpf hinter der Maske eines der Henkersknechte.
Das fragte sich Jean St. Clair schon geraume Zeit, und da er nicht wusste, was er darauf antworten sollte, schwieg er besser. Das hämische Gelächter, in das der Scharfrichter und seine Schergen daraufhin ausbrachen, brachte dem Marquis die Erkenntnis, dass seine Mörder ohnehin keine erwartet hatten.
Sie gewährten ihm auch keine letzten Worte, aber er hatte sowieso nichts mehr zu sagen.
Was brachte es, den Pöbel zu beschimpfen oder seine Henker zu verfluchen?
Asmodis hatte ihn verlassen und rieb sich vermutlich schon die Hände in Vorfreude auf die Seele des Marquis.
Wozu hätte er ihm also helfen sollen?
Unter dem Johlen der blutrünstigen Menge wurde Jean St. Clair bäuchlings auf das vertikale Brett gespannt und sein Hals in die halbmondförmige Ausbuchtung der Lunette gepresst. Einer der Henkersknechte schob das Gegenstück nach unten, damit der Schädel in Position gehalten wurde und der Schnitt möglichst sauber war.
Sein Blick war abwärts gerichtet, geradewegs in die hohe Weidenkiepe, aus der ihm die starren Augen seiner Vorgänger aus wächsernen, blutverschmierten Antlitzen entgegen glotzten. Ein süßlich-fauliger Gestank drang ihm in die Nase.
Das war der Moment, in dem St. Clair begriff, dass es kein Zurück mehr gab.
Er würde heute sterben!
Hier in Lyon, an diesem kalten Herbstnachmittag, der von einer dicken bleigrauen Wolkendecke verdunkelt wurde. Der Name Jean St. Clair würde bald vergessen sein. Nur einer unter vielen Girondisten, die der Revolution zum Opfer fielen.
Ohne es eigentlich zu wollen, riss der Marquis den Mund auf, um seine Angst und Enttäuschung hinauszuschreien.
Ein trockenes Schaben erklang, ehe er dazu kam.
Jean St. Clair erhielt einen Schlag in den Nacken. Die Welt begann sich zu drehen, und plötzlich war ihm, als läge eine eiserne Garotte um seinen Hals. Kein Laut drang ihm aus dem Mund, als er zwischen den bleichen Gesichtern seiner Vorgänger zu liegen kam.
Auge in Auge mit einem feisten Schweinsgesicht, dessen Babyspeck von einem struppigen Bart umwuchert wurde.
Vergeblich versuchte er, den Kopf zu drehen.
Nur die Augen vermochte er zu verdrehen, um einen letzten Blick in den Himmel zu erhaschen, dessen Zugang ihm auf ewig verwehrt bleiben würde.
Sein Sichtfeld trübte schlagartig ein. Ihm wurde schwindelig.
Das Letzte, was er hörte, war das Kreischen und Jubeln der Gaffer.
Dann starb der Schöne Jean – vorerst!
☆
Gegenwart
»Das ist wahrhaft eine Tragödie!«, sagte Pater Ralph und trank einen Schluck Wein.
»Wie meinst’n du das?«, fragte Gerard Fronton, genannt Malteser-Joe. Der Name war ein Überbleibsel aus seiner Zeit als Fremdenlegionär.
»Das würde ich auch brennend gern wissen«, sagte Professor Zamorra mit schwerer Zunge.
Der betagte Geistliche schaute seinen Gastgeber mit listig funkelnden Augen an. »Na, dass du als Gelehrter und Geisterjäger nichts Besseres zu tun hast, als dir an diesem Freitagabend mit uns die Hucke volllaufen zu lassen.«
Charlotte Mostache kicherte. Sie war die Wirtin des Etablissements »Zum Teufel«, deren Namen durch einen geschnitzten Teufelskopf gerechtfertigt wurde, der über dem Türsturz auf die eintretenden Zecher herabgrinste.
»Geleert hat er heute nur die Weinflaschen, auf deren Böden die einzigen Geister zu finden sind, die er heute gejagt hat.«
»Außerdem heißt es Dämonenjäger«, korrigierte Zamorra. »Geisterjäger nennen sich nur die Kollegen in England.«
»Ich dachte, das wären Dämonenkiller!«, gab jetzt auch Pierre Mostache, seines Zeichens staatlich beglaubigter Lebensgefährte von Charlotte, seinen Senf dazu.
»Geister werden gejagt, Dämonen werden gekillt. Das sind zwei völlig verschiedene Berufsgruppen«, erklärte Fronton mit todernster Miene. »Nicht wahr, Pater?«
Pater Ralph riss die Augen. »Woher soll ich das wissen? Ich bin ein Mann der Kirche. Wir treiben nur Teufel aus. Sorry, Pierre.« Er grinste und deutete auf Zamorra. »Dort sitzt der Experte.«
»Mit der Betonung auf ex«, rief dieser und leerte den Humpen in einem Zug.
»Und das alles nur, weil der Herr nicht wissen, was er mit seiner Zeit anfangen soll, wenn ihm keine Finsterlinge das Leben schwer machen und die Ungetraute auf Abwegen wandelt«, kommentierte Pater Ralph traurig und schüttelte den Kopf.
»Nici wandelt nicht auf Abwegen, sie verbringt mit April ein langes Wochenende in Lyon.«
»Zu schade«, murrte Fronton. »Für die April hätten wir auch noch ein Plätzchen gehabt. Zur Not hätte ich sie auf den Schoß genommen.«
»Lüstling«, rief Charlotte und schleuderte das Tuch, das sie über die Schulter gelegt hatte, auf den ehemaligen Fremdenlegionär.
»He, ich wollte doch bloß freundlich sein.«
Zamorra grinste und gähnte ausgiebig. Er fühlte sich pudelwohl inmitten seiner Freunde aus dem Dörfchen, knapp zwei Kilometer unterhalb des Château Montagne, in dem er gemeinsam mit seiner Lebens- und Kampfgefährtin Nicole Duval lebte. Die war tatsächlich spontan mit April Hedgeson aufgebrochen, um Lyon im Allgemeinen und die Boutiquen im Speziellen unsicher zu machen.
Die beide Freundinnen sahen sich viel zu selten und nutzen daher jede Gelegenheit, um Zeit miteinander zu verbringen. April war die Firmenchefin der Grym-Werft mit Sitz in Italien. Genauer gesagt am Gardasee. Aber sie war auch oft irgendwo im Ausland unterwegs, so wie Professor Zamorra und Nicole Duval, wenngleich aus gänzlich unterschiedlichen Gründen.
Zamorra wiederum kam seinerseits selten genug dazu, den Montagne-Stammtisch in der Gaststätte »Zum Teufel« zu nutzen.
»Du kannst dir die Freundlichkeit für dein Bett aufsparen«, meinte Charlotte. »Die letzte Runde geht aufs Haus, und danach schmeiß ich euch raus!«
»Jetzt fängt sie auch noch an zu reimen. Ich glaub, das halt ich nicht aus!«
Zamorra erschrak beim Blick auf die Uhr. Es wurde wirklich Zeit, um an der Matratze zu horchen, denn der von Pater Ralph erwähnte Freitagabend war lange vorbei. Mittlerweile war es schon längst Samstagmorgen, zwei Uhr in der Früh.
Der Parapsychologe und Dämonenjäger hatte gar nicht mitbekommen, wie schnell die Zeit verflogen war. Vor knapp sechs Stunden war die Kneipe noch brechend voll gewesen, jetzt war die Schankstube bis auf Pater Ralph, Malteser-Joe und seine Wenigkeit leer. Deshalb hatte es sich das Wirtsehepaar auch leisten können, sich kurzerhand zu den Gästen zu gesellen und selbst ein oder zwei Humpen Wein zu leeren.
»Wird auch Zeit«, murmelte er. »Bis ich im Bett liege, dauert es noch ein Weilchen.«
»Holt William dich nicht ab?«, fragte Charlotte verwundert.
Zamorra schüttelte den Kopf. »Er ist zwar unser Butler, aber nicht unser Leibeigener. Er hat sich seinen Feierabend redlich verdient.«
»Du kannst auch hier schlafen, wenn du willst«, bot die Wirtin an.
»Danke, aber ich komme schon zurecht. Die knapp zwei Kilometer hinauf zum Château schaffe ich gerade noch. Die ideale Gelegenheit, mir ein wenig Nachtluft um die Nase wehen zu lassen.«
»Du bist ja auch noch jung«, mischte sich Malteser-Joe ein. »Als ich noch in der Legion war, da …«
»Okay, das reicht«, rief Charlotte dazwischen. »Wenn du erst mit deinen alten Kriegsgeschichten anfängst, kommen wir heute überhaupt nicht mehr ins Bett. Und mit heute meine ich Samstag.«
Der Abschied fiel herzlich aus und endete, wie eigentlich immer bei solchen Zusammenkünften, mit dem gegenseitigen Versprechen, so etwas bald mal wieder zu machen, in der Hoffnung, dass es dann genauso feuchtfröhlich werden würde.
Dabei vergaß man nur zu gerne, dass solche Treffen am schönsten waren, wenn sie spontan erfolgten und man keine großen Erwartungen hegte.
Zamorra winkte Pater Ralph und Malteser-Joe hinterher, die sich gegenseitig stützend gen Ortskern wankten. Er selbst begab sich in die entgegengesetzte Richtung und war froh, dass es längere Zeit nicht geregnet hatte und er nicht durch die mostache’sche Seenplatte waten musste. Die Ansammlung aus Schlaglöchern und Rissen, die sich nach heftigem Niederschlag in riesige Pfützen verwandelten, denen der Eingangsbereich der Kneipe seinen Namen zu verdanken hatte, existierte schon so lange, wie Zamorra denken konnte.
Bislang waren die Mostaches zwar durchaus auf den Gedanken gekommen, sie ausbessern zu lassen, hatten es aber nie in die Tat umgesetzt. In Deutschland hätte man das Wirtsehepaar unter dem Deckmantel der Unfallverhütung und Androhung drakonischer Strafen längst gerichtlich dazu gezwungen, die Schlaglöcher auszubessern.
In den USA dagegen wären beide vermutlich in Millionenhöhe verklagt worden, weil irgendein Depp nicht in der Lage war, aufzupassen, wo er hintrat.
Zamorra argwöhnte, dass sich die Gäste des Etablissements, bei denen es sich ohnehin stets um dieselben Gesichter handelte, bereits so an die Unebenheiten gewöhnt hatten, dass sie unweigerlich auf die Schnauze fliegen würden, sollte der Vorplatz plötzlich eben sein.
Auch Zamorra stapfte wie eine Bergziege im Seemannsgang durch die Schluchten und Klüfte, bis er die Serpentinen erreichte, die hinauf zum Schloss führten.
Der Wind fuhr angenehm mild von den üppigen Weinhängen hinunter ins Tal, in dem das kleine Dreihundert-Seelen-Dorf lag, deren Bewohner von den Ländereien der Montagnes durchaus profitierten. Der Wein, den er und seine Gäste in den letzten Stunden verkonsumiert hatten, stammte samt und sonders aus den Keltereien von André Goadec, dem größten Weinbergpächter der Umgebung.
Ab und zu lugte der abnehmende Mond hinter den Wolken hervor und beleuchtete Zamorras Weg, der diesen aber auch im Stockdunklen mühelos gefunden hätte.
Es war schließlich der Einzige, der hinauf zum Schloss führte.
Obwohl es nur knapp zwei Kilometer waren, würde es nicht mehr lange dauern, bis es hell wurde, sobald er das Château erst erreicht hatte. Daher überlegte Zamorra ernsthaft, ob er nicht gleich wach bleiben und das Frühstück im Arbeitszimmer einnehmen sollte, von wo er einen wunderbaren Ausblick auf das Loire-Tal genießen und den Sonnenaufgang betrachten konnte.
Die abschließende Entscheidung vertagte er auf seine Ankunft. Und während er darüber nachgrübelte, ob sich in den Vorratsschränken noch ein paar Croissants zum Aufbacken finden ließen, vernahm er ein leises Surren hinter sich.
Zamorra blieb stehen und lauschte.
Das Geräusch schwoll an, und der Dämonenjäger wirbelte herum.
Er streckte den Arm aus und öffnete die Hand, bereit, das magische Amulett zu rufen, das an einer Kette um seinen Hals hing, sollte sich das Surren als Auftakt eines schwarzmagischen Angriffs entpuppen.
Umso überraschte war er, als er den Schatten sah, der über ihm in der Luft schwebte.
Im ersten Augenblick dachte er an einen Vogel.
Doch Käuze oder Eulen pflegten in der Regel nicht wie Falken auf der Stelle zu flattern. Abgesehen davon, dass dieses Exemplar selbst zum Flattern zu faul war und sich stattdessen auf vier kleine Rotoren verließ.
Nur war das gar kein Vogel, begriff Zamorra schlagartig, sondern eine Drohne.
Sein in zahllosen Gefahren geschulter Instinkt schlug Alarm, nur leider zu spät. Er sah noch aus den Augenwinkeln die Bewegungen, hörte die Schritte mehrerer Personen, als vor ihm die Scheinwerfer eines Autos aufflammten und den Parapsychologen blendeten.
Trotzdem duckte er sich und wirbelte herum.
Er schaffte es noch, den ersten Angreifer über sich hinwegzuhebeln, wobei er selbst jedoch das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Zamorra kassierte einen schmerzhaften Tritt in die Magengrube, der ihn den üppigen Weinkonsum umgehend bereuen ließ.
Zamorra keuchte, ignorierte Schmerz und Brechreiz und fing den abermals heranrasenden Fuß ab, den er blitzschnell herumdrehte. Doch sein Angreifer war nicht nur Profi, sondern auch äußerst gewandt.
Er machte die Bewegung mühelos mit und nutzte den Schwung, um mit dem freien Bein zuzutreten. Der Absatz des Kampfstiefels knallte gegen Zamorras Schläfe.
Plötzlich funkelten tausend Sterne am Himmelszelt, bevor sie von den Schatten einer Ohnmacht verschlungen wurden.
Zamorra verzichtete aufs Frühstück und legte sich schlafen.
☆
Frankreich, Lyon, Oktober 1793
»He, Jean! Wach auf! Nun mach schon, ich hab schließlich nicht ewig Zeit!«
Das meckernde Gelächter riss den Marquis aus tiefem Schlaf, von dem er ursprünglich angenommen hatte, er würde niemals enden.
Das Erste, was Jean St. Clair spürte, war der Druck, der seinen Kopf von allen Seiten umgab und sich als altes, schwammiges Gewebe entpuppte.
Seine Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings, der sich im Netz einer Spinne verfangen hatte. Dann öffnete er endlich die Augen.
Sehen konnte er trotzdem nichts.
Riechen dafür umso mehr, als er reflexartig nach Luft schnappte.
Ein ekelerregender Gestank drang ihm in die Nase und verursachte sofortige Übelkeit. Er öffnete den Mund und würgte.
Er trachtete danach, sich zu übergeben, doch auf seiner Kehle lastete ein immenser Druck, der sämtliche Empfindungen unterhalb des Adamsapfels unterband.
»Na endlich«, hörte Jean St. Clair von neuem die Stimme, die ihn geweckt hatte. »Willkommen unter den, äh, Toten. Aber keine Bange, ich habe unseren Pakt nicht vergessen, mein Freund.«
Panik wallte in dem Schönen Jean auf.
Er bekam keine Luft, er würde ersticken …
»Nein, das wirst du mit Sicherheit nicht! Aber ich kann verstehen, dass du irritiert bist. So eine Hinrichtung kann schwerwiegende Folge für das Gedächtnis haben. Gestatte mir, dass ich dir auf die Sprünge helfe.«
Endlich drang der Sinn der Worte in Jean St. Clairs Bewusstsein.
Obwohl er nichts gesagt hatte, hatte sein sonderbarer Gesprächspartner geantwortet, als könnte er seine Gedanken lesen. Und dann der Hinweis auf den Pakt.
Aber natürlich … es gab gar keine andere Möglichkeit.
»Ich merke, der Groschen fällt langsam. Oder sollte ich besser Sou sagen? Was du da übrigens riechst, ist der Odem des Todes. Verrottendes Fleisch, Schimmel und ein Hauch von Schwefel. Den musst du mir nachsehen, aber ich kann nun mal nicht aus meiner Haut. Im Gegensatz zu dir.«
Wieder vernahm der Marquis das meckernde Gelächter, und endlich lichtete sich die Finsternis um ihn herum.
Wo die Quelle des Lichtscheins lag, vermochte er nicht auszumachen.
Tatsächlich konnte er überhaupt nicht viel erkennen, außer dass er mit der Nase buchstäblich im Gesicht einer Leiche lag. Oder dem, was davon übrig war.
Jean St. Clair wollte schreien und um sich schlagen. Und wieder bekam er keinen Laut über die Lippen. Viel schlimmer war jedoch, dass er sich nicht bewegen konnte.
Tatsächlich spürte er seinen gesamten Körper nicht mehr.
Mein Gott, ich bin gelähmt.
»Unsinn! Aber ich muss schon sagen, dafür, dass du vor achtzehn Jahren so galant den Kontrakt unterschrieben hast und fortan alle vier Wochen ein Menschenleben für mich geopfert hast, nimmst du den Namen meines Widersacher sehr leichtfertig in den, äh, Kopf.«
Ein Rascheln in St. Clairs Nähe lenkte ihn ab. Etwas bewegte sich in seiner unmittelbaren Umgebung.
»Der ist übrigens das Einzige, was von dir noch übrig ist. Ich muss schon sagen, die Revoluzzer fackeln nicht lange. Seit der Pest hatte ich nicht mehr so viel Spaß.«
Und da dämmerte dem Schönen Jean, was passiert war und wo er sich befand.