1,99 €
So grauenerregend der Anblick des mongolischen Todeswurms, der seine Klauen in das Gesicht der Leiche gegraben hatte und etwas in deren Schlund zu pumpen schien, auch sein mochte, er war nichts gegen den Fund, den sie zwischen den Wüstenbäumen gemacht hatten.
Es waren Fährten!
Trittsiegel eines gigantischen Raubtieres, das seit 70 Millionen Jahren als ausgestorben galt.
Da hatte Nicole gewusst, dass sie buchstäblich auf der richtigen Spur waren ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Die Chimäre aus der Urzeit
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Fortuna777/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9720-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Chimäre aus der Urzeit
von Ian Rolf Hill
Aus der Ferne sah es so aus, als würde der Leichnam winken.
Doch je näher Nicole Duval und ihre Begleiter kamen, desto deutlicher sahen sie, dass diese Bewegungen nicht von menschlichen Gliedmaßen herrührten.
Ein armdicker, blutroter Wurm wand sich auf dem aufgeblähten Bauch des Toten. So grauenerregend der Anblick des mongolischen Todeswurms auch sein mochte, er war nichts gegen den Fund, den sie zwischen den Wüstenbäumen gemacht hatten.
Es waren Fährten!
Trittsiegel eines gigantischen Raubtieres, das seit 70 Millionen Jahren als ausgestorben galt!
Der Transporthubschrauber mit Professor Zamorra an Bord setzte mit einem Ruck auf dem Landefeld des Chinggis Khaan International Airport auf. Er befand sich in Begleitung des Zoologen Akai und sieben Söldnern aus Bahadur Khans Privatarmee.
Ebenfalls mit an Bord waren elf in Leinentücher gewickelte Tote. Der Parapsychologe argwöhnte, dass man Verluste eingeplant und deshalb entsprechende Vorkehrungen getroffen hatte.
Die Gestorbenen waren jedoch nicht der eigentliche Grund für die Rückkehr in die mongolische Hauptstadt Ulaanbaatar. Zamorra erhoffte sich von dem Rohstoffmagnaten Antworten. Nicht bezüglich der Todeswürmer Allghoi Khorkhoi, von denen sie ein Exemplar, eingeschlossen in einem gläsernen Block, mitgenommen hatten. Vielmehr ging es dem Dämonenjäger um den Mega-Organismus, der in der Gobi sein Unwesen trieb.
Es war Mittag, als Professor Zamorra dem Hubschrauber russischen Fabrikats entstieg. Bahadur Khan war zuvor von seiner Assistentin Noémi Mészáros über die vorzeitige Rückkehr eines Teils der Expedition informiert worden.
Die junge Ungarin war zusammen mit Zamorras Gefährtin Nicole Duval und zweieinhalb Dutzend Söldnern in der Gobi geblieben, um sich auf die Suche nach dem Mega-Organismus zu machen. Ob es sich wirklich um einen wiederweckten Saurier handelte, musste sich erst noch herausstellen. Angeblich besaß Bahadur Khan nämlich ein Privatmuseum, in dem sich unter anderem ein handschriftliches Dokument aus dem 12. Jahrhundert befand, in dem von einem Magier sowie einem archaischen Götzen die Rede war.
Tsat-hogguah!
Einer jener sagenumwobenen Blutgötzen aus Atlantis, die der Schwarzmagier Amun-Re vor Jahren in diese Welt hatte holen wollen. Das hatten Professor Zamorra und seine Freunde zum Glück vereiteln können, was aber nicht bedeutete, dass sie nicht in irgendeiner Form zurückkehren konnten.
Es ist nicht tot, was ewig liegt, bis das der Tod die Zeit besiegt!
An die Worte des Schriftstellers Howard Phillips Lovecraft musste Zamorra danken, als er dabei zusah, wie die Soldaten den gläsernen Block mit dem eingeschlossen Allghoi Khorkhoi aus dem Hubschrauber auf die Ladefläche eines Sprinters hievten.
Mit Gurten wurde das Exponat fixiert, damit es während der Fahrt nicht hin und her schlitterte und womöglich noch Schaden anrichtete. Auch wenn Zamorra davon ausging, dass der Todeswurm seinem Namen alle Ehre machte und das Zeitliche gesegnet hatte, so war dennoch Vorsicht geboten. Man konnte schließlich nie wissen …
Zamorra und Akai enterten die bereitstehende Limousine, die ebenso wie der Transporter bereits am Flughafen auf sie wartete. Die Söldner begleiteten sie nicht auf ihrem Weg in die Stadt. Offenbar hatten sie ihre Pflicht und Schuldigkeit damit getan, dass sie den Allghoi Khorkhoi und die beiden Wissenschaftler den Leibwächtern übergaben, die zugleich auch als Fahrer fungierten.
Der Parapsychologe war nicht besonders erstaunt darüber, dass sie den Blue Sky Tower ansteuerten. Bahadur Khan brachte dort offenbar nicht nur seine ausländischen Gäste unter, er schien auch selbst da zu wohnen. Vielleicht gehörte ihm der Bau sogar. Zuzutrauen war es ihm zumindest, und abermals stellte sich Zamorra die Frage, wie der Rohstoffmagnat so viel Macht und Einfluss hatte gewinnen können.
Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als seine Gedanken automatisch zu dem Dokument wanderten, das er sich unbedingt zeigen lassen wollte.
Er hätte es schon vor ihrem Abflug in die Wüste tun sollen, doch dazu war keine Zeit geblieben. Bahadur Khan hatte auf einen schnellstmöglichen Expeditionsbeginn bestanden. Dieses Mal würde sich Zamorra jedoch nicht abspeisen lassen, das schwor er sich.
Akai schwieg während der Fahrt, und auch der Dämonenjäger verspürte keinen Bedarf an zwangloser Plauderei oder bedeutungslosem Smalltalk. Was es zu sagen gab, war bereits in der Wüste gesagt worden. Und was den mongolischen Zoologen betraf, der hätte es vermutlich ohnehin lieber gesehen, wenn Nicole Duval anstelle des Parapsychologen mit zurückgeflogen wäre.
Die wurde jedoch in der Wüste dringender gebraucht als er, das musste Zamorra neidlos anerkennen. Nur dem beherzten Eingreifen seiner Gefährtin war es zu verdanken, dass die Zahl der Todesopfer überschaubar geblieben war.
Während ihres ersten Besuchs im einhundertfünf Meter hohen Blue Sky Tower waren sie von der Limousine vor dem Eingangsbereich abgesetzt worden. Jetzt fuhren sie auf die Rückseite des Gebäudes, wo sie an einer Schranke vorbei in die Tiefgarage rollten.
Durch die getönten Scheiben konnte Zamorra die restlichen Fahrzeuge nur schemenhaft erkennen. Der Wagen stoppte, und der Chauffeur öffnete die Tür.
Obwohl sie sich unterhalb des teuersten und modernsten Bauwerks von Ulaanbaatar aufhielten, unterschied sich der Geruch in keiner Weise von anderen Tiefgaragen auf der Welt. Der Gestank nach Abgasen, Motoröl und Gummi war eben überall der Gleiche.
Lange brauchte ihn Zamorra zudem auch nicht einzuatmen, denn kaum hatten sie einen Lift betreten, empfing ihn bereits ein leichter Hauch von Lavendel, der von dezenter Musik begleitet wurde.
Die Men in Black, wie Zamorra die persönlichen Leibwächter ihres Gastgebers im Stillen getauft hatten, sprachen kein Wort. Stumm gesellten sie sich zu dem Dämonenjäger und Akai und drückten auf den Knopf für das zweite Stockwerk.
Zamorra ahnte, wo sie hinfuhren, und kurz darauf erhielt er die Bestätigung.
Bahadur Khan thronte wieder einmal zwischen seinen Kissen und – aß. Er sah aus, als hätte er den Platz nach ihrem gemeinsamen Mahl vor zwei Tagen nicht verlassen. Nur mit dem Unterschied, dass er dieses Mal alleine speiste.
»Ah, Professor. Willkommen zurück! Ich muss gestehen, so schnell habe ich sie nicht erwartet. Wie ich hörte, gab es Schwierigkeiten?«
Er schob sich eine mit Fleisch gefüllte Teigtasche zwischen die Zähne und grinste den Parapsychologen mit fettigen Lippen an. Zamorra sah, dass die beiden Leibwächter am Eingang stehengeblieben waren.
Bahadurs Räumlichkeiten entsprachen gewiss nicht den Vorstellungen, die man sich landläufig über Luxussuiten einflussreicher Milliardäre machte. Der Meister des Übersinnlichen kam sich vor, als stünde er im Inneren einer Jurte. Felle von Yaks und Schneeleoparden hingen an den Wänden, der Boden war mit handgeknüpften Teppichen übersät. Ja, ihr Gastgeber war Traditionalist, das hatte er mehrfach betont. Nur mangelte es ihm in Zamorras Augen am Respekt vor der spartanischen Lebensweise der Nomaden, denn im Gegensatz zu deren Behausungen lebte Bahadur im Überfluss. Davon zeugte allein schon die üppig gedeckte Tafel.
Von den aufgetischten Speisen hätten mindestens zehn ausgewachsene Männer satt werden können. Beim Anblick der offen zur Schau gestellten Verschwendung verging Zamorra der Appetit.
Bahadur Khan hatte Zamorras Blick bemerkt und prompt fehlinterpretiert.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz, und langen Sie kräftig zu. Es ist genug da, und sollte es an etwas mangeln, lassen wir es einfach kommen.«
Obwohl der Khan ausschließlich Zamorra anschaute, fühlte sich Akai ebenfalls angesprochen. Im Gegensatz zu dem Dämonenjäger lehnte er nicht dankend ab, sondern stürzte sich wie ein Verhungernder auf die Speisen. Zamorra nahm es dem Zoologen nicht übel. Seit dem bescheidenen Frühstück hatte er nichts mehr zu sich genommen, doch er bezweifelte, dass er auch nur einen Bissen hinunterbekommen hätte.
»Danke, ich habe keinen Hunger, und ich möchte mich auch nicht setzen.«
Bahadur wischte sich mit einer Serviette die Lippen ab und lächelte huldvoll. »Ganz wie Sie wünschen.«
»Sie sind natürlich über das, was an der Fundstelle vorgefallen ist, informiert worden«, stellte der Parapsychologe fest.
»Selbstverständlich. Es tut mir um Jerschow und seine Männer leid, aber seien Sie gewiss, dass …«
Zamorra schnitt Bahadur mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Sparen Sie sich Ihre Plattitüden. Es ging Ihnen gar nicht um die Würmer, habe ich recht? Es ging Ihnen von Anfang an, um das Monster, den Mega-Organismus, stimmt’s?«
Bahadurs Blick glitt zu Akai, der jedoch vollkommen mit sich und dem Essen beschäftigt war und sich weder an dem Gespräch beteiligte noch ihm gedanklich zu folgen schien. Wahrscheinlich hatte Cihan ihn nur deshalb nach Ulaanbaatar zurückgeschickt, damit er ihm in der Gobi nicht im Weg stand und außer Gefahr war.
»Haben Sie ihn gesehen?«, fragte der Khan, ohne auf Zamorras provokante Fragen einzugehen. Aber das brauchte er auch gar nicht. Seine Reaktion sagte mehr als tausend Worte.
»Nein, das wissen Sie doch! Oder hat Ihnen das Ihre Assistentin etwa nicht mitgeteilt? Deshalb sind Miss Mészáros und meine Gefährtin Miss Duval mit Ihren Söldnern in der Wüste geblieben.«
»Ach ja, Ihre Gefährtin. Ich hörte, sie hat dort eine ganz schön beeindruckende Show geliefert.«
»Mister Khan!«
»Bahadur«, erinnerte der Rohstoffmagnat den Meister des Übersinnlichen daran, dass er ihm längst die vertraute Anrede angeboten hatte.
»Ich würde es vorziehen, wenn wir in Zukunft auf derlei Sperenzchen verzichten könnten. Wie wäre es, wenn wir Tacheles miteinander reden? Bahadur!«
Sein Gastgeber breitete in einer einladenden Geste die Arme aus. »Bitte!«
»Sie wussten von dem Mega-Organismus!«
»Schuldig im Sinne der Anklage!« Bahadur Khan grinste feist.
»Und woher, wenn ich fragen darf?«
»Mein lieber Zamorra, jetzt sind Sie es, der Spielchen spielt. Sie wissen genau, woher ich davon wusste.«
»Das Pergament, richtig?«
»Richtig!«
»Ich will es sehen!«
Bahadur klatschte so laut in die Hände, dass Akai zusammenzuckte und ihm fast noch die Schale mit vergorener Stutenmilch aus den Fingern gerutscht wäre.
Ruckartig erhob sich der Rohstoffmagnat und gab den beiden Leibwächtern an der Tür einen Wink. Zamorra wirbelte herum, halb mit einem Angriff rechnend. Stattdessen öffneten die zwei Men in Black lediglich die Tür. Bahadur Khan eilte an Zamorra vorbei. »Folgen Sie mir Professor! Und Sie auch, Akai!«
»Und wohin, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich der Parapsychologe.
»Sie dürfen. Wir besuchen mein Privatmuseum. Das wollten Sie doch von Anfang an, oder nicht?«
☆☆☆
Wenige Stunden zuvor
Elayna erwachte, als die Strahlen der Morgensonne die dünne Schicht aus Sand aufheizten, die sich wie ein Leichentuch über die Nomadin gelegt hatte. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war, geschweige denn, wie sie hierhergekommen war.
Ihre Kehle fühlte sich rau und trocken an, als wäre der feine Wüstenstaub durch sämtliche Körperöffnungen bis in ihr Innerstes vorgedrungen. Es gab keine Körperstelle, die nicht schmerzte. Das merkte Elayna, als sie sich zu regen begann.
Zuerst probierte sie, die Lider zu öffnen, doch das Sonnenlicht blendete sie zu sehr. Außerdem drohte ihr der Sand in die Augen zu rieseln, sodass sie zunächst den Kopf hob. Währenddessen versuchte sie krampfhaft, sich zu erinnern.
Es war wie vor knapp einem Jahr, als sie mit den Männern das erste Mal so richtig gezecht hatte. Ihre Eltern hatten das zwar nicht gerne gesehen, doch das hatte Yoldas nicht davon abgehalten, die Tochter seines besten Freundes Nirem mit vergorener Stutenmilch regelrecht abzufüllen.
Das Ergebnis waren die grässlichsten Kopfschmerzen gewesen, die sie jemals in ihrem jungen Leben gehabt hatte. Ihre Mutter hatte ihr daraufhin kühle Umschläge auf Stirn und Nacken gelegt, während Temudschin feixend danebengestanden und sich über sie lustig gemacht hatte.
Der Gedanke an ihren jüngeren Bruder und Mama weckte Elaynas Erinnerungen.
Vergessen waren die Schmerzen, der Sand und der brennende Durst. Wie an der Schnur gezogen fuhr sie hoch und schrie gepeinigt auf, als sie feststellte, dass sie halb unter dem Motorrad lag, an dem sie sich festgeklammert hatte, als der Sturm die Jurte davonwehte.
Und nicht nur die Jurte. Auch ihre Mutter und Temudschin waren von ihm förmlich verschlungen worden.
Elayna stutzte. Nein, das war nicht richtig. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrer Erinnerung. Ja, da war ein Sturm gewesen. Ein Sandsturm. Doch er war nicht allein gekommen. Etwas Riesiges hatte sich in ihm verborgen gehabt. Etwas, das die Erde zum Beben gebracht und ihre Familie samt dem Vieh gefressen hatte.
Die Nomadin schluchzte und ließ den Blick über die nähere Umgebung schweifen. Wenige Meter vor ihr befand sich eine Mulde, wo vorher keine gewesen war. Dicht daneben eine weitere und dahinter noch eine. Als wäre ein Kometenschauer in der Nacht auf die Erde niedergegangen. Ein Kometenschauer, der das Gatter, in dem die Schafe und Ziegen eingepfercht gewesen waren, in den Boden gestampft hatte.
In den Boden gestampft …
Ihr Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, was ihre Sinne ihr mitzuteilen versuchten. Eine Bewegung am Horizont lenkte Elayna von der Wirklichkeit ab. Sie verengte die Lider und beschattete ihre Augen mit der flachen Hand. Zuerst dachte sie an eine Sinnestäuschung. Eine Luftspiegelung, die durch das Flimmern der aufsteigenden Wärme entstand.
Doch die flatterhaften Bewegungen waren keine Sinnestäuschung, keine Fata Morgana. Es war auch kein Gespenst, das ihr aus der Ferne zuwinkte. Es war ein Stück Stoff, eine Plane, die sich zwischen vertrockneten Tamarisken verfangen hatte. Der klägliche Rest, der von der Jurte ihrer Familie übriggeblieben war.
Elayna wimmerte und fühlte, wie Trotz in ihr aufstieg. Das war unfair! Wieso war ausgerechnet ihre Familie dem Ungeheuer zum Opfer gefallen? Und wo war eigentlich Papa?
Er hätte doch längst zurück sein müssen!
Die Nomadin wollte sich herumwerfen und aufstehen, doch das Motorrad hinderte sie daran. Elayna schrie wütend auf und griff nach dem umgekippten Krad, stemmte es mit der Kraft der Verzweiflung und des Zorns in die Höhe.
Sie rappelte sich auf die Knie und verharrte in der Position. Ihr Blick saugte sich am Horizont fest. Nicht dort, wo die Reste der Jurte zwischen den trockenen Wüstenbäumen flatterten, sondern links von ihr. Elayna klappte der Unterkiefer herunter. Hastig warf sie einen Blick über die Schulter.
Dort befand sich das felsige Hochland, das sich aus der Steppe erhob und in das sie die Ziegen und Schafe zum Äsen getrieben hatten. Elayna war sich absolut sicher: Der massige Berg, bestimmt fünfundzwanzig bis dreißig Meter hoch und doppelt so lang, war gestern noch nicht da gewesen.
Die Erkenntnis sickerte tröpfchenweise in ihr Hirn.
Idekh Uul! Der fressende Berg!
Er war keine Legende, er war Wirklichkeit, grauenhafte Realität.
Und was sie für Kuhlen gehalten hatte, waren in Wahrheit nichts anderes als Spuren! Gewaltige Fußabdrücke einer Kreatur, die es nicht hätte geben dürfen. Selbst hier draußen in der Gobi nicht.
Eine Bewegung aus dem Augenwinkel veranlasste Elayna, den Kopf zu drehen. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, wie sich die dünne Sandschicht bewegte. Dutzende von armlangen Würsten lagen um sie herum und erwachten von einer Sekunde zur anderen zu gespenstischem Leben.
Fleischige rote Haut, die wirkte, als sei sie mit Blut bestrichen, glänzte feucht zwischen den Sandkörnern, die auf den wurmartigen Gebilden klebten. Die stumpfen Enden hoben sich und schwangen suchend umher. Elayna drehte sich auf Knien um. Wo sie auch hinblickte, überall lagen die Würmer, deren Endstücke sich schlagartig auf sie einpendelten.
»Allghoi Khorkhoi«, stieß das Mädchen mit rauer Stimme hervor, die nicht ihre eigene zu sein schien. Panik ergriff von Elayna Besitz. Ohne drüber nachzudenken oder ihre Handlungen bewusst zu steuern, zog sie sich am Motorrad in die Höhe. Der Schlüssel steckte.
Hastig schwang sich die Nomadin in den Sattel und versuchte die Maschine zu starten. Der Anlasser orgelte mehrmals, während Elayna verzweifelt auf den Kickstarter eintrat, bis der Motor knatternd zum Leben erwachte und gleich darauf wieder erstarb.
Die aufkeimende Euphorie wich grenzenloser Enttäuschung. Schweiß quoll dem Mädchen aus sämtlichen Poren, brannte auf ihrer Stirn, auf der sich offenbar eine Schramme oder ein Riss befand. Wieder probierte Elayna, die Maschine zu starten. Die ersten Todeswürmer rollten auf sie zu. Die dünne Haut fing an, Blasen zu schlagen, und obwohl sie nie zuvor in ihrem Leben einen Allghoi Khorkhoi leibhaftig zu Gesicht bekommen hatte, so wusste Elayna dennoch, was das zu bedeuten hatte.
»Komm schon«, wimmerte sie. »Komm schon!«
Endlich sprang der Motor an. Elayna umklammert die Griffe des Lenkers so fest, dass ihre Knöchel weiß hervorsprangen. Die Finger der linken Hand ertasteten die Kupplung. Sie konzentrierte sich auf den Start. Nur ein Fehler, und der Motor würde absaufen, dann war sie geliefert.
Elayna ließ die Kupplung langsam kommen und drehte am Gas.
Das Motorrad machte einen Satz nach vorne, just in dem Moment, als zwei Todeswürmer ihr Gift in Elaynas Richtung verspritzten. Ein dritter, der sich gerade vor ihr aufbäumte, wurde von ihr einfach überrollt. Das Krad bockte und hüpfte über den Allghoi Khorkhoi, und fast hätte Elayna den Halt verloren.
Doch sie bekam die Maschine wieder in den Griff und konzentrierte sich auf das Ziel.
Die Felsen!
Dort würde sie vor den Würmern in Sicherheit sein. Elayna musste ausweichen, als sich ihr zwei Tiere in den Weg rollten. Die Nomadin fuhr in einem waghalsigen Manöver an den Viechern vorbei. Steine spritzten unter den Rädern hervor.