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Lucia Nowak schlug die Lider auf!
Es war so finster, dass sie nicht mal die Hand vor Augen sah. Nur unter der Tür malte sich ein schwacher Lichtstreifen ab. Den Atem anhaltend lauschte sie in die Dunkelheit. Bis auf die regelmäßigen Atemzüge ihrer Mitpatientin war es totenstill.
Selbst draußen auf dem Flur rührte sich nichts.
"Lucia!"
Sie schrak zusammen. Die Stimme war direkt in ihrem Kopf erklungen, dennoch erkannte sie sie auf Anhieb. Es war die Stimme ihrer Mutter.
Aber das war doch nicht möglich.
Ihre Mutter war tot!
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Was einen nicht umbringt
Leserseite
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Inked Pixels/Ironika/shutterstock
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7517-0521-9
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Was einen nicht umbringt
von Ian Rolf Hill
Lucia Nowak schlug die Lider auf!
Es war so finster, dass sie nicht mal die Hand vor Augen sehen konnte. Nur unter der Tür malte sich ein schwacher Lichtstreifen ab. Den Atem anhaltend, lauschte sie in die Dunkelheit. Bis auf die regelmäßigen Atemzüge ihrer Mitpatientin war es totenstill.
Selbst draußen auf dem Flur rührte sich nichts.
»Lucia!«
Sie schrak zusammen. Die Stimme war direkt in ihrem Kopf erklungen, dennoch erkannte sie sie auf Anhieb. Es war die Stimme ihrer Mutter.
Aber das war doch nicht möglich.
Ihre Mutter war tot!
Professor Zamorra war ratlos.
Der Parapsychologe saß auf der Bank vor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und wusste nicht weiter. Eigentlich war er hierhergekommen, um Lucia Nowak beizustehen. Der jungen Frau, gerade mal siebzehn Jahre alt, hatte das Schicksal arg zugesetzt. Mehrfach missbraucht, hatte sie schließlich ein Kind zur Welt gebracht, das im Zorn vom Kindsvater, ihrem eigenen Onkel, erschlagen worden war. Bartosz war zu einem Nachzehrer geworden, der seine Mutter zu sich ins Grab gerufen hatte.
Doch Lucia Nowak war kein gewöhnliches Mädchen. Die schwere Traumatisierung hatte ein Parapotenzial in ihr geweckt, das seinesgleichen suchte. Sie hatte die todbringenden Rufe ihres untoten Kindes unbewusst auf ihre Peiniger umgelenkt und sie nacheinander getötet.
Professor Zamorra und seine Gefährtin Nicole Duval hatten dem Spuk schlussendlich ein Ende bereitet. Der Parapsychologe hatte durch Hypnose eine Blockade in Lucias Unterbewusstsein errichtet. Anschließend hatten sie sie nach Berlin gebracht, damit Lucia eine vernünftige Traumatherapie erhielt1). Aber selbst hier, über zweihundert Kilometer von ihrem Heimatdorf Pechern im Landekreis Görlitz entfernt, fand Lucia keinen Frieden.
Untote schlichen auf dem Klinikgelände herum und hatten es augenscheinlich auf das Mädchen abgesehen. Zamorra wusste weder warum, noch wer dahintersteckte, und das wurmte ihn. Er wusste nur, dass es jemand sein musste, der über Lucias besondere Kräfte informiert war.
Es lag keine zwei Stunden zurück, dass er vor einer Kneipe am Rande des Bäkeparks gestanden hatte, in der man die Leiche einer jungen Frau gefunden hatte, die angeblich von Ratten angefallen worden war!
Bei der Toten handelte es sich um Serena Nägele, Lucias Zimmerkameradin. Sie hatte keine Gelegenheit ausgelassen, das Mädchen zu drangsalieren und zu mobben. Mit anderen Worten, es gab wohl niemanden hier auf dem Gelände, den Lucia mehr verachtet oder gehasst hatte. Doch wie war es möglich gewesen, dass Lucia sie getötet hatte? Ihr Sohn Bartosz, der Nachzehrer, war von Nicole vernichtet worden, und die hypnotische Blockade sollte verhindern, dass sie die negativen Energien gezielt auf eine Person projizierte.
Und hier kamen die Vampire ins Spiel.
Zamorra wusste, dass es zahlreiche Abarten der Blutsauger gab, und gerade in Osteuropa kursierten Legenden von Untoten, die allein durch ihre todbringenden Blicke ganze Landstriche entvölkern konnten. Ein solcher Vampir schien auch hier sein Unwesen zu treiben. Dank der posthypnotischen Barriere war es auf Lucias Station lediglich zu einer Reihe von Magen-Darm-Erkrankungen gekommen.
Aber dann war etwas geschehen, das Lucia einen solch emotionalen Schock versetzt hatte, dass die Blockade aufgebrochen worden war. Antonia Nowak, Lucias Mutter, war in Pechern von einer Soucouyant, einer karibischen Vampirhexe, getötet worden. Lucia hatte den Tod ihrer Mutter im Traum miterlebt; vermutlich standen die Vampire untereinander in telepathischem Kontakt.
Lucia war daraufhin ausgerastet und auf die geschlossene Akut- und Aufnahmestation verlegt worden. Die behandelnde Ärztin vermutete eine Psychose und hatte ihr Psychopharmaka verordnet2).
Blieb die Frage, was die Vampire vorhatten? Wollten sie Lucia entführen?
Das hätten sie auf der offenen Station deutlich leichter haben können.
Und welche Rolle spielte Simon Kovac, der Sozialarbeiter, der Zamorra darum gebeten hatte, die Kosten für einen mehrtägigen Besuch von Lucias Mutter zu übernehmen? War es Zufall, dass sie ausgerechnet in der Nacht vor ihrer Abreise nach Berlin von der Soucouyant getötet worden war?
Möglich, aber unwahrscheinlich.
Der Dämonenjäger ging davon aus, dass es mindestens zwei Untote gab. Die Vampirhexe und den Blutsauger mit dem tödlichen Blick, den Lucia als spindeldürre, nackte Kreatur mit brennenden Augen und fingerlangen Hauern beschrieben hatte.
Waren sie und Kovac möglicherweise identisch?
Auch das musste Zamorra in Betracht ziehen. Weswegen er Kovac vor wenigen Stunden in seinem Büro aufgesucht hatte. Anzeichen dafür, dass er ein Vampir war, hatte er zwar keine entdeckt, doch das wusch den Sozialarbeiter nicht von jeglichem Verdacht rein.
Der Parapsychologe würde jedenfalls in der Nähe bleiben, um Lucia zu beschützen.
Die Geschichte der jungen Frau rührte ihn und machte ihn auf eigentümliche Weise betroffen. Mehr als sonst. Würde er zulassen, dass ihn das Schicksal jedes einzelnen Opfers der Schwarzblütler emotional berührte, wäre er längst selbst ein Fall für die Psychiatrie.
Womöglich lag es daran, dass Lucia alleine war und sie locker seine Tochter oder gar Enkelin sein konnte.
Unwillkürlich musste Zamorra lächeln.
»Sagen Sie, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Professor Zamorra hob den Blick und sah einen dunkel gekleideten Mann von kräftiger Statur mit kahlgeschorenem Schädel vor sich, Typ: Privater Sicherheitsdienst. Den Deutschen Schäferhund hielt er an der kurzen Leine, dicht an seinem rechten Bein. Das Tier reckte die Schnauze und witterte in Zamorras Richtung, während es ihn aus sanften braunen Hundeaugen neugierig musterte.
»Wie bitte? O nein, ich … genieße bloß die frische Nachtluft.«
»Nun gut, ich frage nur, weil sie schon eine ganze Weile hier sitzen und …«
»Keine Sorge, ich tue niemandem etwas.«
Der Kahlköpfige blickte Zamorra ernst an. »Das habe ich damit nicht sagen wollen.« Er deutete mit dem Kinn auf seinen vierbeinigen Begleiter. »Smilla hier hat ein gutes Näschen für Menschen. Ich habe gelernt, ihrem Urteil zu vertrauen.«
Zamorra beugte sich vor und ließ Smilla an seiner Hand schnuppern, ehe er sachte durch ihr Fell strich. »Gute Entscheidung.«
»Die Beste. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte Smilla gekannt, bevor ich geheiratet habe.« Er grinste über seinen eigenen Witz und kraulte der Schäferhündin den Nacken. »Aber es passiert immer wieder, dass Leute herkommen, um sich aufnehmen zu lassen und kalte Füße bekommen, sobald sie vor dem Klinikgebäude stehen.«
Zamorra legte die Stirn in Falten. Im Reflex wollte er schon verneinen, als er kurz innehielt. Lucia befand sich auf einer geschlossenen Station, wo sie schutzlos den Attacken der Blutsauger ausgeliefert war. Zamorra war sich sicher, dass es den Vampiren irgendwie gelingen würde, dort einzudringen, auch wenn es sich zumindest bei der Soucouyant um eine Blutsaugerin vom alten Schlag handelte, was nichts anderes bedeutete, dass sie jemanden benötigte, der sie einlud, das Haus zu betreten.
Der Dämonenjäger hatte Lucia zunächst Merlins Stern überlassen wollen. Doch das Personal hätte ihr das Amulett umgehend abgenommen, aus Furcht, sie könne sich damit verletzen oder gar umbringen. Von hier draußen aber konnte Zamorra nicht das gesamte Gebäude im Blick behalten. Am effektivsten wäre tatsächlich, er würde sich in Lucias unmittelbarer Nähe aufhalten. Und was wäre einfacher, als sich kurzerhand aufnehmen zu lassen?
Merlins Stern hätte er jederzeit rufen können, das wäre nicht das Problem. Die Schwierigkeit bestand darin, dass er nicht mit absoluter Sicherheit sagen konnte, ob die Untoten mittlerweile wussten, dass Lucia verlegt worden war.
Was, wenn sie in der Zwischenzeit auf ihrer alten Station zuschlugen und er auf der Geschlossenen festsaß? Oder wenn Lucia am kommenden Morgen auf die Psychotherapie zurückverlegt wurde?
Das kam also nicht infrage, so nett die auf den ersten Blick auch erscheinen mochte.
Daher entschloss er sich zu einer kleinen Notlüge. Zamorra setzte sein freundlichstes Lächeln auf und sagte: »Tut mir leid, ich will Ihnen wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten, aber mein Patenkind wurde auf die geschlossene Station verlegt, und die Besuchszeit ist leider vorbei. Ich traue mich aber noch nicht, ins Hotel zu gehen. Vielleicht braucht sie ja etwas.«
Es fiel ihm nicht schwer, seiner Stimme einen verunsicherten Klang zu verleihen, und so wie es aussah, hatte er bei dem Wachmann den richtigen Ton angeschlagen.
»Das kann ich verstehen. Wie gesagt, wenn Sie etwas im Schilde führen würden, hätte Smilla das erkannt. Aber machen Sie nicht mehr allzu lange, die Nächte werden schon deutlich kühler, und Sie sind ziemlich luftig angezogen, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«
Zamorra war so perplex über die ungewöhnlich gestelzte Ausdrucksweise, dass er glatt vergaß zu antworten. Der Wachmann tippte sich an den imaginären Mützenschirm und setzte dann seinen Rundgang fort. Der Parapsychologe aber blieb sitzen und kam nicht umhin, dem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes beizupflichten. Es war wirklich kühl geworden.
Außerdem wurden ihm langsam die Augen schwer. Die Müdigkeit trug ihr Übriges dazu bei, dass er zu frieren anfing. Zamorra stand auf, um sich die Beine zu vertreten. Er wollte sich mal auf der Rückseite des Gebäudes umsehen.
Der Eingang zur Klinik wurde von Platanen gesäumt, auf den Rasenflächen links und rechts davon wucherten Rhododendron-Sträucher, und selbst die Grünstreifen zwischen den einzelnen Reihen des Parkplatzes waren üppig bewachsen. Überhaupt lag die Klinik, auch dank des Bäkeparks, inmitten einer kleinen grünen Oase. Für die Stabilisierung psychisch erkrankter Menschen sicherlich von Vorteil, Zamorra indes sah darin Dutzende von Versteckmöglichkeiten für Vampire.
Der Dämonenjäger ließ noch einmal den Blick über die Fassade schweifen. Die geschlossene Station lag auf der ersten Etage. Sie besaß keinen eigenen Garten, dafür freien Zugang zur Dachterrasse, über die sich ein stabiler Maschendrahtzaun spannte, sodass der Eindruck einer riesigen Vogelvoliere entstand.
Zamorra erkannte die Schatten mehrerer Personen, Patienten und Personal, die rauchten. Lucia befand sich offenbar nicht darunter. Der Parapsychologe wandte sich ab und setzte seinen Spaziergang fort. Bevor er das Gebäude umrundete, machte er sich unsichtbar, allerdings nicht im wörtlichen Sinne. Es handelte sich dabei schlicht und ergreifend um eine Form der Meditation, mit deren Hilfe Zamorra seine körpereigene Aura nicht über die Begrenzungen seines Leibes hinausfließen ließ.
Seitdem sein ehemaliger Lehrmeister, der tibetische Mönch Gyungo Tensöng, im Château wohnte, hatte Zamorra den Trick wieder öfter angewandt. Tensöng machte sich jedes Mal einen Spaß daraus, vor Zamorra quasi zu verschwinden. Umgekehrt konnte Zamorra dem Mönch zumindest in dieser Disziplin kaum das Wasser reichen. Umso mehr trainierte er eisern daran.
Aber natürlich profitierte er auch in anderer Hinsicht von Gyungo Tensöngs jahrtausendealten Wissen, und auch die anderen Bewohner des Schlosses hatten schon die eine oder andere Lehrstunde genossen.
Man konnte Zamorra jetzt zwar weiterhin sehen, aber man registrierte ihn nicht und vergaß seine Anwesenheit praktisch in derselben Sekunde. Sobald er jemanden gezielt ansprach, würde dieser ihn jedoch sofort erkennen. Smilla würde er mit dieser Form der Unsichtbarkeit ebenfalls nicht täuschen können, aber da sie ihn offenbar mochte, hoffte er einfach, dass sie ihn nicht verriet.
Und so schlich Zamorra um das Krankenhaus herum, um mit magischer Kreide Zeichen zur Abwehr von Dämonen und schwarzmagisch beeinflusster Menschen anzubringen. Da es nicht regnete und genügend Ecken im Dunkeln lagen, war Zamorra zuversichtlich, dass die provisorische M-Abwehr bis zum nächsten Morgen unentdeckt bleiben würde.
Er hatte ungefähr die Hälfte geschafft, als ein lautes Kläffen den Dämonenjäger aus seiner Konzentration riss. Smilla, dachte Zamorra und schaute sich um. Der Park des Krankenhauses lag weitestgehend im Dunkeln. Nur das Streulicht aus den Klinikfenstern und der Laternen am Wegesrand sorgten für ein gewisses Maß an Helligkeit.
Smillas Kläffen war eindeutig aus Richtung Park gekommen. Und es klang keineswegs freudig erregt, sondern eher ängstlich und alarmiert. Zamorra beschleunigte seine Schritte. Unvermittelt brach das Bellen ab, wurde zu einem aggressiven Knurren, das kurz darauf in panisches Winseln umschlug.
Zamorra sprintete los.
☆☆☆
Kurz zuvor
»Komm schon, Smilla, trödel nicht rum.«
Gernot Müller zog am Halsband der Schäferhündin, die heute besonders gründlich war und jedes Blatt genauestens inspizieren musste, ob sich darunter nicht vielleicht eine vorwitzige Maus versteckte, die hier nichts verloren hatte.
Wenn sie in diesem Tempo weitermachten, würde ihre erste Inspektionsrunde bis Mitternacht dauern, und da musste er bereits mit der zweiten beginnen.
Vier Rundgänge sah die Dienstvorschrift vor. Da sie zu viert waren, im Prinzip eine einfache Rechnung. Doch zwei Kollegen mussten im Gebäude bleiben, um bei eventuellen Übergriffen zur Stelle zu sein. Der vierte Mann kontrollierte derweil die Fahrzeuge.
Bereits mehrfach war es zu Vandalismus an geparkten Wagen gekommen.
Auch einen Stalker hatten sie schon in einem Auto sitzend vorgefunden. Der junge Mann hatte seine depressive »Freundin« im wahrsten Sinn des Wortes in den Wahnsinn getrieben und war ihr sogar bis zur Psychiatrie gefolgt. Soviel Gernot wusste, hatte es eine einstweilige Verfügung gegeben, wonach sich der Kerl mindestens tausend Meter von der betroffenen Person fernzuhalten hatte. Er hatte sich nicht daran gehalten und war mittlerweile selbst Patient. Allerdings nicht hier, sondern im Maßregelvollzug für psychisch kranke Straftäter.
Gernot war für das übrige Gelände zuständig. Hier trieb sich oft allerlei Gesindel herum. Meistens Junkies, die ihren Kumpels Stoff zukommen lassen wollten. Oder, im umgekehrten Fall, selbst etwas abzugreifen versuchten: In der Regel Benzos und Schlaftabletten.
An so was in der Art dachte Gernot auch jetzt, als Smilla unvermittelt an der Leine zu zerren begann und dabei anfing zu kläffen.
»Ruhig, Mädchen. Was ist denn los?« Gernot versuchte, besänftigend auf Smilla einzuwirken, mit mäßigem Erfolg. Die Schäferhündin lief zielstrebig auf einige dichtstehende Büsche zu. Gernot musste sich fast mit seinem gesamten Gewicht an die straff gespannte Leine hängen, um Smilla wenigstens ein bisschen zu zügeln.
Sie bellte so laut, dass ihr der Geifer von den Lefzen flog. Die Hündin gebärdete sich wie toll, sodass Gernot Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Er taumelte vorwärts, und langsam wurde er wütend.
»Smilla! Das ist bestimmt nur irgendein Junkie, der nach dem letzten Schuss im Gebüsch eingepennt ist. Jetzt komme wieder runter, verdammt noch mal!«
Doch Smilla kam nicht runter. Im Gegenteil, je näher sie den Büschen kamen, desto wilder wurde sie. Gernot hatte längst seine Stabtaschenlampe gezückt, denn die Sträucher, auf die seine tierische Begleiterin zuhielt, lagen abseits der Park- und Straßenbeleuchtung. Selbst das aus den Fenstern der Klinik fallende Licht reichte nicht hierher, zumal die Kronen einiger dichtbelaubter Platanen und Linden für zusätzlichen Schatten sorgten.
Gernot schaltete die Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf den Busch, der Smillas Interesse geweckt hatte. Ein weißer Lappen hing zwischen den Ästen.
Vielleicht ein Nachthemd oder ein Bettlaken, dachte Gernot und schüttelte den Kopf.
Smilla warf sich vorwärts, schnappte mit den Zähnen nach dem Ding und bekam es auch zu packen. Ihr Gebell verkam zu einem kehligen Knurren. Der weiße Stoff dehnte sich wie Gummi, als die Hündin die Läufe in den Boden stemmte und mit aller Kraft daran zog.
Ruckartig löste sich das Ding, und Smilla schnellte zurück. Der Lappen klatschte Gernot geradewegs vor die Füße. Dem Wachmann quollen die Augen aus den Höhlen, als er auf die strähnigen Haare blickte, die aus dem gummiartigen Material wucherten. Direkt über den ausgeschnittenen Löchern eines Gesichts.
Winselnd wich Smilla zurück; im Gegensatz zu Gernot, der die Hündin geflissentlich ignorierte. Er hatte nur Augen für den Lappen, der frappierende Ähnlichkeit mit einem Stück Haut besaß. Sogar feine Äderchen waren darin zu erkennen.
Das muss ein Scherz sein, dachte Gernot schaudernd. Das Zeug besteht bestimmt aus Latex und stammt aus irgendeinem Scherzartikelgeschäft.
Es gab mittlerweile ja nichts, was man nicht im Internet erwerben konnte. Warum also nicht die abgeworfene Haut eines Schlangenmenschen?
Ein Zupfen an der rechten Hand, um dessen Gelenk er die Hundeleine gewickelt hatte, lenkte ihn ab. Gernot hob den Kopf und blickte Smilla verwundert an, die geduckt und winselnd vor ihm zurückwich.
»He, mein Mädchen, was ist denn? Das ist sicher bloß …«
Weiter kam Gernot nicht. Er hörte noch ein Rascheln über sich in der Baumkrone, aus der ihm etwas Warmes in den Nacken tropfte. Der Wachmann richtete sich auf und wollte sich umdrehen, als ihn zwei Klauen mit rasierklingenscharfe Krallen packten. Sie bohrten sich durch seine Kleidung, schnitten tief in die Haut und rissen ihn mit unbändiger Kraft in die Höhe.
Smilla, die immer noch an der Leine hing, wurde erbarmungslos mitgezerrt. Sie jaulte in blanker Panik, richtete den Blick ihrer braunen Augen in die Höhe, wo ihr Herrchen um sein Leben kämpfte. Ein feuchtes Reißen erklang, dann spritzte Smilla das warme Blut von Gernot Müller mitten ins Gesicht.
☆☆☆
Silke Merkant saß im Dienstzimmer der Aufnahmestation vor der Sichtscheibe, durch die sie den Eingangsbereich im Auge behalten konnte. Ein Patient war kurz nach Dienstantritt eingewiesen worden und wurde von dem diensthabenden Arzt und ihrem Kollegen Ulf im Behandlungszimmer untersucht. Sie selbst nutzte die Zeit, um die Daten des Neuankömmlings, sofern bekannt, in die Eingabemaske des Aufnahmeprogramms einzugeben.