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Eine knochige Klaue legte sich auf Lucias Schulter und schob sie sanft aber bestimmt in Biancas Richtung, die vor einer offen stehenden Tür stand, aus der das geheimnisvolle Licht drang.
Lucia wusste nicht, womit sie gerechnet hatte, doch gewiss nicht mit dem, was sich ihren überraschten Blicken jetzt offenbarte. Es war weder ein Kerker noch eine Folterkammer, die hinter der Tür lag. Auch keine Gruft, in der irgendwelche Vampire schlummerten.
Der Raum war vollgestopft mit medizinischen Apparaten ...
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Die Blutschule der Madame Esced
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Impressum
Die Blutschuleder Madame Esced
(Teil 2)
von Ian Rolf Hill
Eine knochige Klaue legte sich auf Lucias Schulter und schob sie sanft aber bestimmt in Biancas Richtung, die vor einer offen stehenden Tür stand, aus der das geheimnisvolle Licht drang.
Lucia wusste nicht, womit sie gerechnet hatte, doch gewiss nicht mit dem, was sich ihren überraschten Blicken jetzt offenbarte. Es war weder ein Kerker noch eine Folterkammer, die hinter der Tür lag. Auch keine Gruft, in der irgendwelche Vampire schlummerten.
Der Raum war vollgestopft mit medizinischen Apparaten ...
Burchan Chaldun, am Oberlauf des Flusses Onon, Mongolei, 1165
Der Atem des Mannes ging schnell und schwach. Kalter Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Yesügai, Häuptling eines stolzen Klans vom Stamme der Monghol, lag im Sterben. Es waren die Tataren, die ihn vergiftet hatten, daran bestand für ihn kein Zweifel.
Yesügai fürchtete sich nicht vor dem Tod. Er hatte ein langes und erfülltes Leben geführt und sechs stattliche Knaben gezeugt. Und einer von ihnen, Temudschin, war dazu bestimmt, Großes zu vollbringen. Daher schickte er Munglik, den Sohn seines treuen Freundes Tscharacha, aus, um Temudschin an das Sterbelager des Vaters zu holen. Er musste das Versäumnis nachholen und ihm von seinem vorherbestimmten Schicksal in Kenntnis setzen.
Kaum hatte Munglik die Jurte des Häuptlings jedoch verlassen, tat Yesügai seinen letzten Atemzug.
✰
»Diese feigen Hunde!«, rief Temudschin außer sich und ballte die kleinen Hände zu Fäusten. »Dafür sollen sie büßen.«
Der Zehnjährige kniete am Lager seines Vaters und griff nach dessen kalter Hand. Tränen der Trauer und der Wut rannen ihm über das kindliche Gesicht. Seine Mutter Hoelun musterte ihren Sohn besorgt. Jetzt war es an ihr, das zu erzählen, wozu Yesügai nicht mehr imstande war.
Sie schickte die Diener und Temudschines Brüder aus dem Zelt und kniete sich neben den Knaben, der vor wenigen Tagen erst zum Klan Dei Setchens gebracht worden war. Vor einem Jahr hatte Temudschin dort das Mädchen Börte kennengelernt und seinen Vater darum gebeten, sie zum Weibe nehmen zu dürfen. Yesügai hatte nichts dagegen gehabt. Durch diese Verbindung würden ihre Klans vereint und ihre Macht und ihr Einfluss erheblich vergrößert werden.
Also hatte Yesügai mit Börtes Vater, Dei Setchen, ein Abkommen getroffen und seinen Sohn in die Obhut des Schwiegervaters gegeben, so wie es bei den Mongolen seit jeher Brauch ist. Auf dem Rückweg in das eigene Lager aber begegnete er einigen Tataren, die den Häuptling zu einem Mahl einluden, angeblich, um alte Feindschaften zu begraben.
Stattdessen vergifteten sie jedoch die Speisen, und als Yesügai zurückkehrte, konnte er sich kaum mehr im Sattel halten. Drei Tage und drei Nächte dauerte das Siechtum, ehe er die letzte Reise antrat. Ohne seinen Sohn Temudschin noch einmal gesehen zu haben. Schneller als erwartet, oblag es nun dem Erstgeborenen, für seine Familie und den Klan zu sorgen, und Hoelun war sich sicher, dass dies nur die erste Prüfung der Götter war, die ihrem Sohn auferlegt wurde.
»Mein Sohn«, begann Hoelun und legte Temudschin die Hand auf die Schulter. »Dein Vater war stolz auf dich, und er wollte, dass du erfährst, was an jenem Tag geschah, an dem du geboren wurdest. Der Himmel sandte uns seinen Boten in Gestalt eines Adlers, der über unserer Jurte seine Kreise zog. Und als du schließlich meinem Schoß entsprungen warst, hieltest du in deiner Hand einen Klumpen geronnenen Blutes. Unsere Schamanen waren überzeugt, dass es eine Botschaft der Götter war, die dich zu ihrem Werkzeug erkoren hatten. Du wirst ein großer Krieger werden, Temudschin, vielleicht der größte, den die Welt je gesehen hat.«
Während sie die Worte sprach, hielt Temudschin den Blick unverwandt auf seinen toten Vater gerichtet, dessen Antlitz maskenhaft starr aussah.
»Ich weiß, dass es der Brauch vorsieht, dass der Bräutigam im Lager seines Schwiegervaters verbleibt«, fuhr Hoelun fort. »Doch du bist nun das Oberhaupt unseres Klans. Du trägst jetzt die Verantwortung. Ich wünschte, du hättest mehr Zeit gehabt, dich auf diese Bürde vorzubereiten.«
Da hob Temudschin den Kopf und sprach: »Ich hatte mehr als genug Zeit, Mutter. Und ich bin bereit, das Erbe meines Vaters anzutreten und den Willen der Götter zu erfüllen.« Mit diesen Worten erhob er sich, erwies dem entseelten Leib die letzte Ehre und verließ die Jurte. Draußen war längst die Nacht hereingebrochen, und das Licht des vollen Mondes ließ die schneebedeckten Gipfel und die Hänge des Burchan Chaldun schimmern, als wären sie mit flüssigem Silber übergossen worden.
Das Gurgeln des Onon, der sich als glitzerndes Band durch sein Bett wälzte, war das einzige Geräusch. Temudschin trat an das Ufer und betrachtete sein Spiegelbild, während er die Gedanken schweifen ließ. Tief in seinem Inneren war er keineswegs so selbstbewusst, wie er es seiner Mutter hatte weismachen wollen.
Doch was hätte er ihr sagen sollen? Dass er befürchtete, seine Halbbrüder Belgutai und Bektat könnten geeigneter sein, den Klan zu beschützen? Diese aufgeblasenen Angeber, die sich für was Besseres hielten und Hoelun wie eine Leibeigene behandelten? Niemals!
Temudschin ballte die Hände zu Fäusten und legte einen heiligen Schwur ab. Er würde lieber sterben, als die Schande auf sich zu nehmen, das Andenken seines Vaters durch Feigheit zu beschmutzen.
Da blitzte am Fuße des Burchan Chaldun ein Licht auf. Nur für die Dauer eines Herzschlags, aber so grell, als wäre eine winzige Sonne aufgegangen.
Temudschin sattelte eines der Pferde und ritt zu der Stelle, an der er das Licht gesehen zu haben glaubte. Dort fand er zwischen den Felsen am Fuße des Berges den Zugang zu einer Höhle, nicht mehr als ein schmaler Einschnitt im karstigen Geröll.
Er band das Pferd an einen knorrigen Baum und schob sich in die Kaverne hinein, in der es so finster war, dass er nicht mal die Hand vor Augen sehen konnte. Sein kindliches Herz schlug ihm bis zum Halse, und der Angstschweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Tapfer kämpfte er gegen den Drang an, auf dem Absatz kehrtzumachen und ins Lager zurückzureiten.
Temudschin spürte, dass dieses Licht ihm allein galt. Die Götter stellten ihn erneut auf die Probe, und er würde sie nicht enttäuschen. Blind tastete er sich tiefer in den Berg hinein, der von einem regelrechten Labyrinth durchzogen schien.
Er musste behutsam vorgehen, denn der Boden war uneben und von Rissen und Spalten durchwirkt. Die Gefahr, mit dem Fuß dort hineinzugeraten und steckenzubleiben, war groß. Sollte das geschehen, würde er elendig verhungern und verdursten.
Und dann erschien das Licht von Neuem.
Temudschin erschrak so sehr, dass er auf der Stelle stehenblieb, als wäre er zu Stein erstarrt. Das Herz hämmerte so laut, dass er glaubte, die Schläge müssten meilenweit zu hören sein. Sein Magen zog sich vor Furcht zusammen. Jede Faser seines Körpers drängte ihn zur Flucht, und nur der Gedanke an seinen Vater verlieh ihm die Kraft, standzuhalten.
Das Licht wurde größer und formte sich zu einer Gestalt, die sich vor ihm aus der Finsternis schälte. Ihre Schritte wurden von klirrenden Echos begleitet. Metall schlug gegen Stein. Temudschin stockte der Atem, als er erkannte, dass es sich um eine Art Rüstung handelte, wie er sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte.
Sie schien aus purem Gold zu bestehen und umgab den darin steckenden Körper wie eine zweite Haut. Für Temudschin war es ein Rätsel, wie sich jemand in einer solchen Rüstung überhaupt bewegen konnte. Auf dem Kopf saß ein geschlossener Helm, sodass er das Gesicht des Mannes nicht zu erkennen vermochte, worüber er insgeheim erleichtert war. Es war den Sterblichen nicht gestattet, den Göttern ins Antlitz zu blicken. Hätte er es getan, er wäre wohl auf der Stelle tot umgefallen.
Und dass es sich um einen Gott handelte, stand für Temudschin außer Frage.
Zwei ebenfalls goldene Hörner ragten zu beiden Seiten aus dem Helm. Hätte Temudschin sie einem Tier zuordnen müssen, so wäre seine Wahl am ehesten auf ein Yak gefallen.
Dicht vor dem Jungen blieb der Goldene stehen, dessen Rüstung von innen heraus leuchtete. Temudschin hielt den Blick gesenkt und atmete stoßweise. Irgendetwas ging von dieser Rüstung aus, das sich heiß auf seine Haut legte und durch sie hindurch in den Körper sickerte.
»Du bist meinem Ruf gefolgt, Temudschin. Damit hast du den ersten Schritt in eine glorreiche Zukunft getan. Wir stehen an einem historischen Scheideweg, und du bist dazu auserkoren, die Welt zu verändern. Bist du dazu bereit?«
Temudschin schluckte. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Trotzdem musste er sich mehrfach räuspern, ehe er einen Ton herausbekam.
»Ja!«, sagte er, so laut er konnte.
»Und bist du auch bereit zu tun, was immer ich von dir verlange, um dieses Ziel zu erreichen?«
»Das bin ich!«
»Selbst wenn das bedeutet, dass du Blut von deinem Blut vergießen musst?«
Da zögerte Temudschin und hob den Kopf. Das goldene Licht, das aus der Rüstung strömte, schmerzte ihm in den Augen. Doch er wandte den Blick nicht ab und nickte.
»Auch dazu bin ich bereit!«
»Dann geh und bringe mir ein Blutopfer, um mir deine Treue zu beweisen!«
Und Temudschin ging, um den Willen der Götter zu erfüllen.
✰
Heute
Professor Zamorra rief das Amulett, zögerte jedoch, den grün flirrenden Schutzschirm zu aktivieren oder die Silberscheibe gar zum Angriff zu verleiten. Der erst kürzlich zurückliegende Unfall und der Kampf gegen die untoten Mongolenkrieger hatte ihm so viel Kraft gekostet, dass allein schon das Rufen von Merlins Stern ihn kurzzeitig schwindelig machte.
Er vertraute Nicoles Urteil blind. Wenn sie behauptete, dass es sich bei Madame Esced um eine Blutsaugerin handelte, dann war dem auch so. Seit sie selbst mit dem Vampirkeim infiziert gewesen war, besaß Nicole Duval nicht nur schwach ausgeprägte telepathische Fähigkeiten, sie verfügte darüber hinaus über eine Art sechsten Sinn für die Blutsäufer, eine Art Vampir-Radar.
Der Umstand, dass Merlins Stern nicht von allein aktiv geworden war, beruhigte Zamorra nur wenig. Andererseits, hätte Madame Esced es darauf angelegt, sie in eine Falle zu locken, so hätte sie das deutlich leichter haben können.
Nein, hinter dieser Zusammenkunft musste etwas anderes stecken. Und es hatte nur am Rande mit Lucia Nowak zu tun. Der eigentliche Grund besaß einen anderen Namen, und der lautete Dschingis Khan. Beziehungsweise Bahadur Khan, denn so nannte sich der ehemalige Eroberer und Mongolenfürst heute.
Bis auf ihr wutverzerrtes Gesicht zeigte Nicole rein äußerlich keinerlei Regung, Zamorra war jedoch überzeugt davon, dass sie den Dhyarra-Kristall, der an einer Kette vor ihrer Brust hing, längst aktiviert hatte. Es bedurfte lediglich eines einzigen bildhaften Gedankens, um Madame Esced in Flammen aufgehen zu lassen.
Dagegen hatte ihre Assistentin Noémi Mészáros verständlicherweise etwas. Wie ein Schatten huschte die zierliche Frau nach vorne und stellte sich zwischen die Dämonenjäger und ihre Herrin, die im obersten Stockwerk eines Hochhauses im Herzen von Wien residierte wie eine Königin.
Noémis Hand glitt unter das Revers ihres Blazers, umfasste dort vermutlich den Griff einer Waffe, ohne sie jedoch hervorzuziehen. Die scharfe Stimme ihrer Vorgesetzten hielt sie davon ab.
»STOP!«
Der Befehl peitschte durch den spärlich eingerichteten Raum von der Größe eines Tanzsaales. Entsprechend laut war das Echo. Aus dem Augenwinkel sah Zamorra, wie sich zwei Türen im Hintergrund öffneten und mehrere Gestalten in den Saal huschten. Lautlos und grazil. Sie trugen knöchellange, hauchdünne Gewänder und offenbar nur wenig darunter. Die Füße waren nackt, und ihre Bewegungen von solcher Anmut, dass es aussah, als würden die Frauen über den schwarzen Marmor hinwegschweben.
Glatte, zumeist dunkle Haare hingen lang bis auf die kleinen Brüste hinunter. Die Augen lagen so tief in den Höhlen, dass die Gesichter im Zwielicht aussahen wie Totenschädel. Der Eindruck wurde durch die eingefallenen Wangen und die hochstehenden Jochbögen noch verstärkt.
Keine der dutzend Frauen trug eine Waffe, dennoch war der Hauch der Bedrohung körperlich spürbar. Zamorra benötigte keinen sechsten Sinn, er sah auf den ersten Blick, dass es sich um Vampirinnen handelte. Madame Esceds Leibwache?
Zumindest gehorchten sie ihrer Herrin aufs Wort und verharrten wenige Schritte von den Dämonenjägern entfernt.
»Hinfort mit euch!«, rief die Frau, derentwegen Zamorra und Nicole überhaupt erst gekommen waren. Ohne Proteste oder das geringste Zögern wichen die Blutsaugerinnen zurück. Sie verzogen nicht einmal die Miene oder fletschten die Zähne. Und trotzdem hatte Professor Zamorra nicht den Eindruck, dass sie unter Einfluss des Blutzwangs parierten, wie bei Vampiren häufig üblich. Ihr Gehorsam schien eine Folge des Respekts zu sein.
»Bitte stecken Sie die Waffen weg. Wir sind hier unter Freunden!«
Madame Esced glitt hinter ihrem Schreibtisch hervor. Sie bewegte sich mit derselben spielerischen Eleganz wie ihre Dienerinnen. Auch sie war barfuß, das schwarze Haar trug sie dagegen straff zurückgebunden, was ihre aristokratischen Züge deutlicher zur Geltung brachte.
Eine Aura dominanter Weiblichkeit ging von ihr aus, der sich Zamorra nicht entziehen konnte. Der Meister des Übersinnlichen wurde von seiner eigenen Reaktion überrascht, als er der Bitte widerstandslos Folge leistete.
Im Gegensatz zu Nicole, die nur abfällig schnaubte, ehe sie ein Knurren ausstieß, das jeden Werwolf vor Neid hätte erbleichen lassen.
»Nennen Sie mir einen Grund, weshalb ich das tun sollte.«
Madame Esced blieb neben Noémi Mészáros stehen und lächelte. »Ich nenne Ihnen zwei: Bahadur Khan und Lucia Nowak. Bitte fassen Sie Letzteren nicht als Drohung auf. Lucia befindet sich zwar in meiner Obhut, allerdings zu ihrem eigenen Schutz, das versichere ich Ihnen.«
»Ja, klar.«
»Ich denke, wir sollten uns anhören, was sie zu sagen hat, Nici«, raunte Zamorra seiner Gefährtin zu, ohne ihre Gastgeberin dabei aus den Augen zu lassen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Nicole ihn entgeistert anstarrte.
»Verstehe«, murmelte sie.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Madame Esced. »Zumindest noch nicht.«
»Bitte, Nicole«, mischte sich Noémi ein. »Hör dir an, was sie zu sagen hat. Denk daran, was wir gemeinsam in der Gobi erlebt haben.«
»Ich denke vor allem daran, was du mir verschwiegen hast.«
»Hätte das etwas geändert? Ich musste vorsichtig sein. Immerhin bist du bekannt dafür, dass du den Kindern der Nacht gegenüber nur wenig Toleranz zeigst.«
»Ach tatsächlich? Mich würde interessieren, woher du das weißt. Vielleicht von Tan Morano? Oder gar von Sarkana persönlich?«
»Keinem von beiden.« Noémi warf ihrer Chefin einen knappen Blick zu. »Aber ich möchte auch nicht vorgreifen. Die Frage bleibt, ob du in der Lage bist, deine feindschaftlichen Gefühle lange genug im Zaum zu halten, damit wir in einen Dialog treten können.«
»Also gut. Aber bestimmt nicht der alten Zeiten wegen. Mir geht es allein um Lucia, verstanden?«
»Vollkommen«, entgegnete Madame Esced anstelle ihrer Assistentin und deutete auf ein halbrundes Sofa, das in der Ecke auf einem Podest stand, zwischen zwei Türen, durch die die Vampirinnen verschwunden waren. Das Möbel war mit dem gleichen blutroten Stoff bezogen, aus dem auch der Wandvorhang hinter dem pompösen Schreibtisch bestand.
Professor Zamorra und Nicole nahmen nebeneinander Platz, das Angebot zu trinken lehnten sie höflich aber bestimmt ab. Madame Esced setzte sich neben Noémi, die sicherlich nicht zufällig zwischen ihrer Herrin und den Dämonenjägern saß.
Dem Meister des Übersinnlichen fiel auf, dass die Vampirin unangemessen dicht neben ihrer Assistentin saß. Sie hatte die schlanken Beine übereinandergeschlagen und wippte mit dem nackten Fuß auf Höhe des gläsernen Tisches, der vor dem Sofa stand.
Gedankenverloren spielte Madame Esced mit einer Strähne von Noémis Haar. Zamorra versuchte zu ergründen, ob ihr Verhalten aus echter Zuneigung resultierte oder eher eine Demonstration ihrer Macht darstellte. Genauso gut hätte sie einen Schoßhund streicheln können.
Eines stand fest: Madame Esced und ihre Mädchen mochten Vampirinnen sein, Noémi Mészáros indes war es nicht. Das wäre Nicole bereits in der Mongolei aufgefallen. Oder unten in der Empfangshalle, für den Fall, dass sie erst später verwandelt worden wäre.
Doch es erklärte zumindest die latente Abneigung, die seine Gefährtin gegenüber der jungen Frau hegte und die sie sich selbst nicht so recht erklären konnte.
Nicole Duval verachtete Vampire. Ihr Hass mochte nicht so tief verwurzelt sein, wie es bei dem Silbermonddruiden Gryf ap Llandrysgryf der Fall war, doch allzu viel fehlte nicht. Allerdings hatte dieser Hass weniger etwas mit dem von der Waldhexe neutralisierten Vampirkeim zu tun, als vielmehr mit der Tatsache, dass Nicole sich einst von einem Blutsauger hatte verführen lassen.
Tan Moranao war das gelungen, was vor ihm noch keinem Mann geglückt war, weder Mensch noch Schwarzblütler: Er hatte Nicole dazu gebracht, Zamorra zu betrügen.
Und wenn Nici eines nicht ausstehen konnte, dann die Kontrolle zu verlieren. Daher war es kaum verwunderlich, dass sie das Gespräch begann, indem sie ihre erste Frage abschoss.
»Wo steckt Lucia?«
»Können Sie sich das nicht denken?«, entgegnete Madame Esced.
»Also in Ihrem, äh, Gynaeceum«, folgerte Nicole, und ihre Gastgeberin nickte.
»Warum?«
»Wie ich schon sagte, der Aufenthalt dient ihrem Schutz.«
»Schutz vor wem?«
»Vor Bahadur Khan natürlich. Ich nehme an, Sie wissen, wer sich hinter dem Namen verbirgt?«
Zamorra nickte. »Es handelt sich um Dschingis Khan. Ist er ebenfalls ein Vampir?«
»Meinen Sie nicht, Sie hätten das längst herausgefunden, wenn dem so wäre?«
»Auch wieder wahr. Bleibt die Frage, was er dann ist?«
»Zunächst einmal ein Unsterblicher.« Die Vampirin sagte es in einem Tonfall, als wollte sie hinzufügen: So wie Sie.
»Was für ein Interesse hat Bahadur Khan an Lucia?«
»Auch das sollten Sie sich denken können. Wegen ihrer besonderen Fähigkeiten. Haben Sie das Mädchen nicht deshalb bei sich aufgenommen?«
»Wir haben Lucia aufgenommen, weil sie eine Waise ist«, stellte Nicole richtig.
Madame Esced lächelte hintergründig. »Selbstverständlich.«
»Mich würde interessieren, woher Sie überhaupt von Lucia und ihrer besonderen Begabung wissen?«, mischte sich Zamorra ein.
»Sie fangen an, die richtigen Fragen zu stellen.«
»Fehlen nur noch die Antworten«, bemerkte Nicole trocken.
»Die sollen Sie bekommen. Wie ich Ihnen bereits sagte, lautet mein voller Name Lisa de Somlyó et Esced. Ich wurde im Jahre des Herrn 1560 geboren. Natürlich nicht als Vampirin. Dieses Privileg wurde mir erst ein halbes Jahrhundert später zuteil. Und seitdem bin ich dem guten Bahadur Khan ein Dorn im Auge, beziehungsweise das, was ich repräsentiere.«