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Liupinschan, 18. August 1227
Batu, der Enkel des großen Dschingis Khan, der gerade seinen letzten Atemzug getan hatte, traute seinen Augen kaum. Eine Gestalt hatte das Zelt des größten Feldherren, den die Welt je gesehen hatte, ohne Aufforderung betreten. Es handelte sich aber weder um ein Familienmitglied noch einen Angehörigen der Leibgarde. Batu war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Mensch war.
Doch wer auch immer die Frechheit besaß, hier einzudringen, würde den Entschluss bitter bereuen.
Batu ließ die Hand seines toten Großvaters los und zog das Schwert, um der Gestalt in der goldenen Rüstung den gehörnten Kopf vom Rumpf zu schlagen ...
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Jäger des verfluchten Grabes
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Impressum
Jäger des verfluchten Grabes
(Teil 3)
von Ian Rolf Hill
Liupinschan, 18. August 1227
Batu, der Enkel des großen Dschingis Khan, der gerade seinen letzten Atemzug getan hatte, traute seinen Augen kaum. Eine Gestalt hatte das Zelt des größten Feldherren, den die Welt je gesehen hatte, ohne Aufforderung betreten. Es handelte sich aber weder um ein Familienmitglied noch einen Angehörigen der Leibgarde. Batu war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Mensch war.
Doch wer auch immer die Frechheit besaß, hier einzudringen, würde den Entschluss bitter bereuen.
Batu ließ die Hand seines toten Großvaters los und zog das Schwert, um der Gestalt in der goldenen Rüstung den gehörnten Kopf vom Rumpf zu schlagen.
Der junge Mann stieß einen wilden Schrei aus, als er vom Podest sprang und auf den Fremden losging. Der schien erst jetzt Notiz von dem Angreifer zu nehmen, bislang waren seine Augen einzig und allein auf die sterblichen Überreste des Khans gerichtet gewesen.
Batu kannte die Gestalt aus den Erzählungen seines Großvaters. Er hatte sie immer für Fantasterei gehalten. Für eines jener Märchen, die ihm Dschingis Khan oft vor dem Schlafengehen erzählt hatte. Er hatte behauptet, es wären die Götter selbst gewesen, die ihn dazu auserkoren hatten, Großfürst der Mongolen zu werden.
Als Kind hatte Batu den Geschichten mit offenem Munde gelauscht und jedes Wort aufgesogen wie ein Schwamm. Nie hatte er sie infrage gestellt. Erst Jahre später waren ihm Zweifel gekommen. Und jetzt stand die Gestalt aus den Erzählungen des Khans vor ihm.
Statt jedoch vor Ehrfurcht zu erstarren, griff Batu an.
Keine Sekunde glaubte er daran, einem leibhaftigen Gott gegenüberzustehen.
Weshalb sollten sich die Götter einem Sterblichen offenbaren? Und wenn es so war, warum hatten sie den Khan dann nicht vor dem Tod bewahrt? War es nicht wahrscheinlicher, dass es sich um eine List der Chinesen handelte, die von den Legenden Wind bekommen hatten und die Chance ergriffen, den Leichnam des Khans zu rauben, um ihn öffentlich zur Schau zu stellen?
Vielleicht lauerten ihre Armeen bereits im Umland, um das Heer und die Familie des Khans auszulöschen?
Das würde Batu niemals zulassen.
Als er auf den Fremden eindrang, konnte der ihn nicht länger ignorieren. Er hob den rechten Arm, in dessen Hand er einen seltsam geformten Gegenstand hielt, wie ihn Batu noch nie zuvor gesehen hatte. Er schimmerte metallisch und endete in einer Art Dorn, der eine Handspanne weit aus dem Konstrukt hervorragte und von einem dünnen spiralförmigen Gebilde umgeben war.
Ein trockenes Knacken erklang, und einen Herzschlag später zuckte ein blauer Blitz aus dem Dorn. Er schlug in die Klinge des Säbels und raste darüber hinweg in Arm und Körper des jungen Kriegers.
Wie vom Schlag getroffen taumelte Batu rückwärts. Greller Schmerz explodierte in seinem Schädel. Die Gestalt des Goldenen verschwand hinter einer gleißenden Farbkaskade. Die Pein wich einer nie gekannten Mattheit.
Ohne es zu wollen, ließ Batu den Arm mit dem Schwert sinken. Die Klinge entglitt seinen gefühllosen Fingern, die Knie gaben nach. Batu stürzte, verlor jedoch nicht die Besinnung. Deutlich konnte er die Schritte des Goldenen hören, spürte die Erschütterungen im Boden.
Seine Lider flatterten, das Blut rauschte ihm in den Ohren. Ein dumpfes Gefühl breitete sich im Schädel aus. Eine Art pochender Schmerz, als würde das Innere kochen und den Schädelknochen jeden Moment zum Bersten bringen. Die gesamte rechte Körperhälfte war taub und gefühllos.
Plötzlich konnte Batu die Beine nicht mehr spüren. Eine Empfindung, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte, ergriff von ihm Besitz: Angst.
Die Sicht klärte sich langsam, sodass Batu beobachten konnte, wie sich der Goldene über den Körper des toten Khans beugte. Ein Grunzen drang unter dem Helm hervor. Dann richtete sich der Fremde auf. Ein Flirren glitt über die Rüstung, die von einer Sekunde auf die andere verschwand.
Zum Vorschein kam ein hagerer Mann mit eingefallenen Gesichtszügen, kaum jünger als Dschingis Khan. Das eisgraue Haar war so kurz geschnitten, dass es auf den ersten Blick aussah, als wäre der Fremde kahlköpfig. Er trug eine eng anliegende, golden glänzende Kleidung.
Das sollte ein Gott sein?
Vor wenigen Herzschlägen hätte Batu daran gezweifelt, jetzt dachte er anders darüber. Kein Mensch besaß solch eine Macht.
Der Fremde heftete das metallisch schimmernde Ding, aus dem der blaue Blitz geschossen war, an eine spiegelnde Fläche am Gürtel. Danach öffnete er eine Tasche und entnahm ihr einen Gegenstand, den Batu nicht genau erkannte.
Er sah lediglich eine dünne Spitze aus Metall.
Batus Angst wich heiligem Zorn, als sich der fremde Mann an dem Leichnam seines toten Großvaters zu schaffen machte. Was für ein Frevel!
Schließlich richtete sich der vermeintliche Gott auf und hielt sich den Gegenstand dicht vor das Gesicht. Batu versuchte, die Augen zu verdrehen, schaffte es jedoch nicht. Dafür spürte er, wie das taube Gefühl in seiner Zunge einem schmerzhaften Prickeln wich. Der Fremde murmelte etwas vor sich hin, dass Batu nicht verstand.
»As ... irssu ... reuen«, stammelte er und ärgerte sich über sich selbst. Das war eines Kriegers unwürdig. Außerdem bezweifelte er, dass der Mann in der sonderbaren Kleidung auch nur ein Wort verstanden hatte. Immerhin hatte Batu die Aufmerksamkeit des Fremden erregt.
Der trat zurück und ließ die Hand mit dem seltsamen Gegenstand sinken, der schmal, und eckig war und anscheinend aus Metall bestand. Der vermeintliche Gott richtete den Blick der unergründlichen Augen auf den gelähmten Krieger.
»Wer bist du?«
Batu wollte lachen, doch es drang nur ein Krächzen aus seiner Kehle, während seine Brust von Krämpfen geschüttelt wurde. »Olles u issen, ennu ein Ottis!«
Der Fremde neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Hm, du bist kräftig und gesund. Jeder andere hätte das Bewusstsein verloren.« Er ging vor Batu in die Hocke. »Vielleicht hat deine Rüstung einen Teil der Energie abgeleitet. Wie auch immer, deine Anwesenheit ist ein Zeichen dafür, dass du kein gewöhnlicher Soldat bist. Möglicherweise der Enkel des Khans?« Die Augen des Fremden weiteten sich. »Ja, so muss es sein. Du bist Batu!« Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, bei dessen Anblick der junge Mann erschauerte.
»Weißt du, eigentlich hätte dein Großvater gar nicht sterben dürfen. Offenbar war er doch nicht so stark und unbesiegbar, wie er gedacht hatte. Wollen doch mal sehen, wie es um dich steht.«
Der Fremde entnahm dem eckigen Gegenstand ein durchsichtiges Röhrchen, in dem eine dunkelrote, sirupartige Flüssigkeit schwappte und verstaute es in der Tasche. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie ein weiteres Röhrchen, dieses Mal gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit.
Das durch die obere Öffnung der Jurte fallende Licht ließ sie auf eine Weise funkeln, die Batu verriet, dass es sich nicht um Wasser handelte. Der Mann schob das Röhrchen in das merkwürdige Ding in seiner Hand und beugte sich zu dem Gelähmten vor.
»Glaub mir, mein Freund«, flüsterte der Fremde, griff nach Batus Kopf und drehte ihn zur Seite, damit sich die Haut über der Schlagader straffte, »hierfür wirst du mir noch einmal dankbar sein.«
Dann rammte er Batu die Spitze in den Hals.
✰
Heute
Der Pfeil durchschlug Noémis Schulter in dem Augenblick, als sie Elayna erreichte und das Mädchen auf die Beine ziehen wollte. Die Ungarin spürte zunächst lediglich einen harten Schlag, doch der Schmerz ließ nicht lange auf sich warten. Und er war grausam.
Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Noémi schwarz vor Augen. Sie taumelte zurück, ihre Hand glitt von Elaynas Schulter. Sie wollte den Arm mit der Waffe heben, aber er gehorchte ihr nicht mehr. Sie hörte Nicole Duval schreien, während Lisa unter den untoten Mongolenkriegern wütete wie eine Berserkerin.
Sie hatte ihre zweite Gestalt angenommen, die einer bizarren Mischung aus Fledermaus, Eule und Wolf ähnelte, und riss die Zombies regelrecht auseinander. Die Wut über den feigen Angriff, dem Helena und Dorothea zum Opfer gefallen waren, machte sie blind für jedwede Gefahr.
Noémi hatte schnell begriffen, dass sie den Kampf nicht gewinnen konnten, doch sie würde nicht ohne Elayna verschwinden. Das Mädchen aus der Mongolei mochte sich als Verräterin entpuppt haben, aber sie war die Einzige, die ihnen verraten konnte, wohin Dalius Laertes mit Lucia Nowak verschwunden war.
Noémi Mészáros ließ sich in die Knie sacken, wechselte die Waffe in die linke Hand und war doch nicht schnell genug.
Die Zeit schien mit einem Mal langsamer abzulaufen. Im Licht des anbrechenden Tages, das durch das dicht belaubte Kronendach sickerte, sah sie die Phalanx der Untoten näher rücken. Der Zombie, der ihr den Pfeil durch die Schulter geschossen hatte, war gerade dabei, einen weiteren auf die Sehne zu legen, als die nächsten Krieger ihre Bolzen auf die Reise schickten.
Noémi spürte ein Zupfen am linken Ohr, genau in dem Augenblick, als sie der mörderische Schlag vor die Brust traf. Noch bevor sie überhaupt dazu kam, einen der Gegner anzuvisieren, geschweige denn, abzudrücken.
Sie glaubte, in der Mitte auseinandergerissen zu werden. Irrsinnige Qualen pulsierten durch ihre Brust. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Ihre Pistole, eine Spezialanfertigung, die mit Glaser-Geschossen geladen war, entglitt ihren gefühllosen Fingern. Eine warme, salzig schmeckende Flüssigkeit füllte ihre Lungen. Erst wurde ihr schwindelig, dann brach sie zusammen.
Im Reflex hob sie die Hand, tastete nach dem Pfeil und fühlte nur ein blutiges Loch in der Brust.
Ein Kreischen wie von tausend Furien gellte durch den Wald unweit des Mädchen-Internats, in das sie Lucia Nowak gebracht hatte, um sie aus dem Einflussbereich von Bahadur Khan zu bringen.
Hat ja prima geklappt, dachte sie, ehe ihr die Sinne schwanden.
Das Letzte, was sie sah, war Lisa, die mit ausgebreiteten Schwingen auf sie und Elayna zuflog, dann versank die Welt um sie herum in vollkommener Schwärze.
✰
»Teri!«
Nicole Duval ließ den Blaster fallen und fing die Freundin auf. Blut verschmierte nicht nur die rechte Halsseite, einiges davon war der Französin auch ins Gesicht gespritzt, der Rest versickerte im Stoff des Pullovers.
Nebenbei nahm Nicole wahr, dass Teri sie nicht in das Domizil der Blutgräfin gebracht hatte, sondern zurück in jenes Hotelzimmer, das sie sich mit Zamorra teilte. Der trieb sich zur Zeit in der Vergangenheit herum. Auch von Lisa Esced, wie sich Erzsébet Báthory jetzt nannte, und ihrer Assistentin Noémi Mészáros fehlte jede Spur. Ebenso wie von Elayna, Lucia und Dalius Laertes.
Zu behaupten, dass sich die Ereignisse überschlagen hätten, wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Allein der Angst um ihre Freundin Teri Rheken hatte es Nicole zu verdanken, dass sie überhaupt in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Die Silbermonddruidin war unter der sonnengebräunten Haut blass geworden. Ihre Lippen bewegten sich, sie stand unter Schock. Einige goldfarbene Haarsträhnen klebten in der Halswunde.
Behutsam ließ Nicole ihre Freundin aufs Bett sinken. Die Dämonenjägerin fürchtete sich davor, doch sie musste die Wunde untersuchen. Zum Glück war die Schlagader nicht getroffen worden, sonst wäre Teri vermutlich längst verblutet.
Die Französin hatte Mühe, die Verletzung zu begutachten, da die Silbermunddruidin immer wieder mechanisch nach Nicoles Hand griff. Sie stand völlig neben sich.
»Teri«, ermahnte die Dämonenjägerin sie. »Ich muss nach der Wunde sehen.«
Schlussendlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die Handgelenke der Freundin festzuhalten. »Verdammt, hör auf!«, brüllte sie schließlich vor lauter Verzweiflung. Doch sie hatte Erfolg.
Erschrocken starrte Teri sie an. Nicole nutzte die Verwirrung der Silbermonddruidin, um die Haare beiseite zu streichen. Der Hals klaffte auf einer Länge von gut sieben Zentimetern auf. Der Schnitt war ungefähr fünf Millimeter tief, vielleicht auch mehr. Das würde sie erst wissen, wenn sie die Verletzung gesäubert hatte.
Nicole ergriff das Erstbeste, was ihr zwischen die Finger kam: Ein Kopfkissen, von dem sie den Bezug herunterzerrte. Sie presste ihn auf die Wunde und hob Teris Hand, damit sie weiter Druck ausübte, während sich Nicole nach einem Verbandskasten umsah. Wenn sie sich recht entsann, hatte sie das entsprechende Symbol draußen auf dem Hotelflur gesehen.
Sie stürmte hinaus und wäre dabei fast gegen ein älteres Ehepaar gestoßen. Die über und über mit Schmuck behängte Frau schnappte erschrocken nach Luft, wobei sie sich die flache Hand auf den wogenden Busen legte. Der Mann dagegen rief Nicole noch hinterher, dass dies ein anständiges Haus sei und nicht der Ballermann.
Unter anderen Umständen hätte die Dämonenjägerin dem blasierten Kerl ordentlich die Meinung gegeigt, doch dazu fehlte ihr momentan die Zeit. Sie riss die Abdeckung auf, hinter der sich nicht nur ein Verbandskasten verbarg, sondern auch ein Defibrillator (schließlich war dies ein anständiges Haus) und eilte zurück ins Hotelzimmer.
Dort kippte sie den halben Flascheninhalt an Wunddesinfektion auf die Verletzung. Dass sie dabei das Bettzeug besudelte, kümmerte sie nicht. Nicole seufzte, als ihre Hoffnung, es handele sich bloß um eine Fleischwunde, bestätigt wurde.
»Sieht es sehr schlimm aus, Frau Doktor?«, krächzte Teri.
Nicole gönnte sich ein zaghaftes Lächeln. »Du wirst es überleben. Aber die Wunde muss genäht werden, und du wirst eine hübsche Narbe behalten.«
»Ich wünschte, ich wär tot.«
✰
Lucia Nowak hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen.
Jeder Muskel ihres Körpers, jede Nervenfaser badete in purer Agonie. Das Mädchen schrie, fiel auf die Knie und schlang die Arme um den Rumpf. Endeten diese Anfälle denn nie?
»Das ist völlig normal«, erklang eine Stimme neben ihr. »Das geht gleich vorüber.«
Der Unbekannte sollte recht behalten. Im selben Augenblick spürte Lucia, wie die Schmerzen abebbten und schließlich gänzlich verschwanden. Sie hob den Kopf und sah die Spitzen zweier Schuhe.
Langsam ließ sie den Blick an den dazugehörigen Beinen höher schweifen, bis hinauf zum Oberkörper des spindeldürren Mannes, der sie ungefragt aus dem Wiener Wald entführt hatte.
Die Frage war nur, wohin?
Lucia stellte sie zunächst hintenan und begnügte sich vorerst damit, geblendet die Augen zusammenzukneifen. Der Kerl stand mit dem Rücken zur Sonne, die hoch am wolkenlosen Himmel hing. Daher konnte sie auch sein Gesicht nicht erkennen.
Ihr lagen mindestens ein Dutzend Fragen auf der Zunge. Statt jedoch eine davon zu stellen, tat sie etwas, womit der Knilch bestimmt nicht gerechnet hatte. Lucia ballte die Faust und rammte sie ihm dorthin, wo es einem Mann so richtig wehtat.
Auch diesem Exemplar.
Mit einem ächzenden Laut auf den Lippen brach der Mann vor ihr in die Knie, presste sich die Hände zwischen die Beine und krümmte sich vor Schmerzen.
»Keine Bange«, keuchte Lucia wütend. »Das ist völlig normal, das geht gleich vorüber.« Dann fügte sie noch hinzu: »Du Arsch!«
Während ihr Entführer mit sich selbst beschäftigt war, richtete sie sich auf und schaute sich um. Ein warmer Wind fegte über eine endlos erscheinende Ebene, die sich aus sanft geschwungenen, grasbewachsenen Hügeln zusammensetzte, die am Horizont von einer Bergkette begrenzt wurde.
Der Boden unter ihr war weich und einigermaßen trocken. Einige Meter entfernt erstreckte sich eine niedrige Mauer, vor der Felsen standen, die aussahen wie riesige Schildkröten. Lucia schüttelte verständnislos den Kopf. Immer noch auf Knien drehte sie sich, um herauszufinden, was sich hinter ihr befand.
Nicht viel, wie sie feststellte. Ihr Blick glitt über ein mit Geröll übersätes Feld. In der Ferne glaubte sie, ein Zeltlager auszumachen.
»Wo zum Teufel sind wir hier?«
Ihr Entführer erhob sich langsam, und zum ersten Mal konnte sie ihn richtig erkennen. Er war nicht nur von hagerer Statur, auch sein Gesicht war schmal, fast asketisch. Die Haare trug er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengefunden. Die Augen waren dunkel, beinahe schwarz, die Lippen kaum erkennbar.
»Willkommen in Karakorum!«, würgte er hervor.
✰
Vergangenheit
Professor Zamorra verstand die Welt nicht mehr. Der Meister des Übersinnlichen kauerte im Schatten neben dem Eingang der prunkvollen Jurte und beobachtete das Geschehen wenige Meter vor ihm mit wachsender Ratlosigkeit.
Er kannte den Mann im silbernen Overall zwar nicht persönlich, doch die Rasse, zu der er gehörte, war ihm hinlänglich bekannt. Das Symbol für Unendlichkeit, eine auf der Seite liegende Acht, war der Beweis. Es war ein EWIGER, der dem am Boden kauernden Mongolen irgendetwas injizierte.
Der Parapsychologe wusste nicht, um was es sich dabei handelte, doch er ahnte, dass es ursächlich mit Bahadur Khans Langlebigkeit zu tun haben musste. Nur was bezweckte die DYNASTIE DER EWIGEN damit, einem Menschen die relative Unsterblichkeit zu schenken?
Die DYNASTIE war nicht gerade für ihre Humanität bekannt.
Und noch ein weiterer Umstand stimmte Zamorra nachdenklich. Trotz seiner unzähligen Begegnungen mit den Außerirdischen, die sich rein äußerlich kaum von den Menschen unterschieden und denen sie nicht nur die E-Blaster, sondern auch die Dhyarra-Kristalle verdankten, war nur wenig über diese Rasse bekannt.
Außer dass es sie seit Äonen gab und es sich um ein Volk von Eroberern handelte, die das All schon mit gigantischen Sternenschiffen durchkreuzt hatten, als die Menschheit sich noch mit blankem Stahl bekriegte.
Vor etlichen Jahren hatte die DYNASTIE den Versuch unternommen, die Erde zu erobern. Gemeinsam mit Asmodis, damals noch Fürst der Hölle, war es Zamorra gelungen, die Invasion zu stoppen und das Sternenschiff dank eines Computervirus zu zerstören. Trotz ihres Fortschrittes besaß die DYNASTIE nämlich eine Achillesferse, und das waren ihre antiquierten Computersysteme.
Bemerkenswert an der Invasion war jedoch gewesen, dass die DYNASTIE DER EWIGEN mit ihrem Angriff eine Jahrtausend währende Isolation beendet hatte. Eine Isolation, für die das geheimnisvolle Volk der Unsichtbaren verantwortlich war, wenngleich Zamorra und seine Gefährten das damals noch nicht gewusst hatten.
Im Vorfeld der Invasion hatte es Anzeichen dafür gegeben, dass die DYNASTIE nicht völlig in der Versenkung verschwunden war und sich vereinzelte Agenten unter das Volk gemischt hatten.