Professor Zamorra 1232 - Ian Rolf Hill - E-Book

Professor Zamorra 1232 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Der Krieger umklammerte den Griff des Schwertes fester, während er sich rücklings an die steinerne Säule presste.
Die Hände fühlten sich feucht und klamm an. Die Leinenbandagen, mit denen der Schwertgriff umwickelt war, sorgten dafür, dass die Waffe dennoch sicher in der Faust des Kriegers ruhte.
Und das war wichtig, denn er würde nur einen einzigen Schlag haben.
Versagte er, war das sein Tod!
Dann würde er ebenfalls zu einer Statue werden, die bald das Innere der Tempelhalle zierte, wie so viele Krieger vor ihm.


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Seitenzahl: 148

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Personenliste

Ein Wiegenlied für den Titanen

Leserseite

Vorschau

Impressum

Die Hauptpersonen des Romans sind

Professor Zamorra: Der Meister des Übersinnlichen

Nicole Duval: Zamorras Partnerin und Kampfgefährtin

Dalius Laertes: außerirdischer Uskuge und ehemaliger Vampir

Emeric Rifaud: alias Onyx – Agent bei der Section Spéciale

Noah Moréll: Träumender Komapatient

Ein Wiegenlied für den Titanen

von Ian Rolf Hill

Der Krieger umklammerte den Schwertgriff fester, während er sich rücklings an die steinerne Säule presste.

Schweiß perlte auf seiner Stirn und rann in dicken Bahnen über den Oberkörper. Er würde nur einen einzigen Schlag haben.

Versagte er, war das sein Tod!

Dann würde er ebenfalls zu einer Statue werden, die bald das Innere der Tempelhalle zierte, wie so viele Krieger vor ihm.

Schon hörte er hinter sich das Zischen seiner Gegnerin. Ein Rasseln und das trockene Schaben, mit dem sich der geschuppte Schlangenleib über den steinernen Boden schob ...

Das Herz hämmerte mit solcher Wucht in ihrer Brust, dass sie fürchtete, es könne jeden Augenblick zerreißen. Die ohnehin schon viel zu dünne Kleidung klebte ihr klatschnass auf der Haut, das Blut rauschte ihr in den Ohren, und jeder Atemzug wurde zur Qual.

Heftige Seitenstiche zwangen sie stehen zu bleiben.

Ihre Knie schienen aus Wackelpudding zu bestehen. Schwindel erfasste sie, sodass sie sich mit beiden Händen auf den Oberschenkeln abstützen musste. Sie schnaufte wie eine alte Dampflokomotive. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

»He, he, he, nicht schlappmachen!«, bellte es schräg hinter ihr. »Weiter, weiter, weiter!«

»K-kann ... nicht ...«, keuchte sie.

Ein Schatten trat neben sie und verdunkelte die Sonne, die sich anschickte, den Südhang zu erobern. Nicht mehr lange, und sie würde das gesamte Gelände in einen Backofen verwandeln.

Und da sie jetzt schon das Gefühl hatte, ihr Blut würde kochen, verstärkte jedes noch so winzige Quäntchen Wärme ihre Qualen um ein Vielfaches.

»Mir scheißegal, ob du kannst oder nicht. Beweg dich!«

Sie hob den Kopf und starrte den hochgewachsenen Mann aus blutunterlaufenen Augen an. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, was er sie konnte. Nämlich am Arsch lecken!

Herrgott, sie war doch keine verschissene Rekrutin in irgendeinem bescheuerten Kriegsfilm. Und sie war auch nicht bei Ninja Warrior oder Die strengsten Eltern der Welt.

Sie war vor ein paar Monaten volljährig geworden und hatte es eigentlich nicht nötig, sich auf eine derartige Weise herumkommandieren und erniedrigen zu lassen.

Warum also tue ich mir das an?

Weil es zu deinem Besten ist!, erklang die Stimme eines alten Mannes in ihrem Geiste. Natürlich nicht wirklich. Aber vermutlich hätte er so etwas Ähnliches zu ihr gesagt, hätte er an ihrer Seite gestanden.

Na toll, schoss es der jungen Frau durch den Kopf. Genau das hab ich jetzt gebraucht. Es ist zum Kotzen.

Gar keine schlechte Idee, fand sie und prompt drehte sich ihr der Magen um. Stöhnend sank sie in die Knie und schlang die Arme um den Bauch.

»Was ist los, Nowak?«, brüllte das Arschloch neben ihr. »Willst du etwa aufge...«

Der Rest des Satzes ging in dem Würgen unter, mit dem sich ihr Körper von all dem unnötigen Ballast befreite, der in Form ihres angedauten Frühstücks im Magen herumschwappte.

»Lucia!«

Der Schrei kam von weiter oben. Wahrscheinlich war Laura erst auf ihre Situation aufmerksam geworden, als Sam »Arschloch« McTaggart mit seinem Gezeter angefangen hatte. Stapfende Schritte kamen näher.

»Was hast du mit ihr gemacht?«, rief Laura empört.

»Ich habe überhaupt nichts gemacht«, erwiderte McTaggart ungerührt. »Sie ist untrainiert, das ist alles!«

»Das ist alles? Sie ist leichenblass. Wir müssen sie ins Château bringen!« Laura ging neben Lucia in die Hocke und legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Geht's wieder?«

Lucia nickte, zu mehr war sie noch nicht in der Lage. Jeder Atemzug brannte wie Feuer in ihren Lungen. Laura Magin legte sich Lucias Arm über die Schultern und versuchte, sie auf die Beine zu ziehen.

Lucia hätte ihr wirklich gerne geholfen, sofern die Muskeln und Knochen mitgespielt hätten.

»Hilf mir gefälligst, Sam McTaggart!«, schnauzte Laura.

»Sergeant McTaggart«, schnarrte der Ex-Militär aus Amerika.

»Mir egal«, keuchte Lucias sportlichere Mitschülerin mürrisch. »Tu es einfach!«

Er seufzte und brummelte irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart, befolgte aber Lauras Aufforderung, was Lucia überraschte, die seine kräftigen Finger an ihrem linken Handgelenk spürte. Kurz darauf schrie sie auf, als er sich ihren Arm über die Schulter legte und sie mit einem Ruck auf die Beine stellte.

»Scheiße, willst du mir den Arm brechen, oder was?«, pampte Lucia ihn an.

»Offenkundig geht's dir schon sehr viel besser, Re..., ähm, Lucia.«

»Lucia am Arsch.«

Wütend riss sie sich los. »Lass das, ich schaff das alleine!«

»Bist du sicher?«, erkundigte sich Laura skeptisch.

»Natürlich«, rief Lucia aufgebracht und stapfte demonstrativ den Hang hinauf. Sie kam genau drei Schritte weit, ehe sie stolperte und die immer noch wackeligen Knie erneut nachgaben. Der Länge nach schlug sie auf die weiche Erde. Die Arme knickten wie Streichhölzer unter dem Gewicht des Körpers ein.

Der Geruch von Humus und feuchtem Gras drang Lucia in die Nase.

Gott, wie sie das Leben hasste!

»Lucia, alles ...?«

»Ja, verdammt«, fauchte sie zornig und schüttelte Lauras Hand ab, die zurückzuckte, als hätte sie eine heiße Ofenplatte berührt.

»Tschuldigung«, murmelte sie pikiert. »Wollte bloß helfen.«

Scheiße, dachte Lucia. Genau das hatte sie vermeiden wollen. Laura konnte nun wirklich am allerwenigsten für ihre Lage. Allerdings ausgerechnet Laura! Mit ihr hatte sie sich in letzter Zeit meistens nur gestritten. Und jetzt war sie ihr zu Hilfe gekommen. Oder tat sie etwa nur so auf Freundin und machte sich in Wirklichkeit über sie lustig? Egal, selbst »Arschloch« Sam McTaggart traf keine Schuld. Er wollte lediglich dafür sorgen, dass die Mitglieder von Zamorras Zauberschule auch körperlich fit blieben und sich zumindest grundsätzlich im Nahkampf behaupten konnten.

Auch wenn er es in ihrem Fall etwas übertrieben hatte, was konnte er dazu, dass sie so fett und schlaff war wie eine alte Seekuh auf einer Sandbank?

Hinter Lucias Augen sammelte sich ein stärker werdender Druck. Vergeblich versuchte sie, den Kloß im Hals herunterzuschlucken.

Da waren sie wieder, die Selbstvorwürfe und die Scham, die sie ihr Leben lang begleitet hatten. Der Wunsch, sich selbst zu verletzten und sich das aufgeschwemmte Fleisch in dicken Batzen vom Körper zu schneiden, wuchs mit jeder Sekunde. Und dabei hatte sie gedacht, dass sie das längst hinter sich gelassen hatte.

Doch es wird immer ein Teil von dir sein. Wieder glaubte sie, die Stimme des alten Mannes, des tibetanischen Mönches Gyungo, im Geiste zu hören. Du musst lernen, deine Gefühle wahrzunehmen, erst dann kannst du sie kontrollieren.

Ein sonderbares Geräusch erklang am Rande ihres Bewusstseins, ohne dass es in der Lage gewesen wäre, ihr Gedankenkarussell zu stoppen. Es war wie ein leiser, dumpfer Schlag, als wäre ein schwerer Gegenstand aus größer Höhe zu Boden gefallen. Nur spürte Lucia keinerlei Erschütterung unter den Füßen. Dafür traf sie ein Windstoß, der ihr durch das kurzgeschnittene Haar fegte und sie frösteln ließ.

»Wer zum Henker sind Sie?«, rief McTaggart.

Lauras erschrockenes Keuchen mischte sich mit dem schmerzerfüllten Stöhnen einer weiteren jungen Frau, die neben der hageren Erscheinung eines seltsam alterslosen Manne stand, mit dem sie buchstäblich wie aus dem Nichts erschienen war.

»Das würde ich auch gerne wissen«, murmelte Laura Magin.

Lucia hätte ihnen eine Antwort geben können, doch das Mädchen mit den mongolischen Gesichtszügen kam ihr zuvor.

Ein Lächeln huschte über das breitflächige Gesicht, als sie erstaunlich flink den Hang hinunter und auf Lucia zuhüpfte. Bevor die wusste, wie ihr geschah, schlang die Asiatin die Arme um sie.

»Wie schön, dich wiederzusehen!«

Die Freude lag ganz auf Lucias Seite, auch wenn sie momentan nicht dazu imstande war, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Zu tief steckte ihr die Überraschung über das unerwartete Erscheinen der beiden Personen in den Knochen. Mit ihrem Auftauchen hätte Lucia im Leben nicht gerechnet.

Jetzt setzte sich auch der hagere Mann in Bewegung. Seine Mundwinkel zuckten, und ein kaum erkennbares Lächeln huschte über die strichdünnen Lippen.

»Lucia«, begrüßte er sie mit einem Nicken.

»Ich wiederhole mich nicht gern, Freundchen«, rief McTaggart zornig und stapfte mit geballten Fäusten auf den Neuankömmling zu. »Scheint so, als müsste man Ihnen Manieren beibringen!«

Die dunklen Augen des Hageren zuckten kurz in Richtung des Ex-Militärs. Eine knappe Bewegung mit den Fingern, und einen Wimpernschlag später wurde McTaggart von einem schwarzen Blitz getroffen und sank ächzend zu Boden.

»Sergeant McTaggart, ich meine Sam«, sagte Lucia Nowak trocken. »Darf ich dir meine Freundin Elayna vorstellen? Und der Herr, der dich gerade auf die Bretter geschickt hat, ist kein Geringerer als Dalius Laertes.«

»Dalius!«, rief Professor Zamorra erfreut und ergriff die Hand des Uskugen. »Ich hätte nicht erwartet, dass wir uns so schnell wiedersehen.«

»Ich hatte versprochen, dass ich wiederkomme«, entgegnete der ehemalige Vampir, der trotz des heißen Sommertages wie immer komplett in Schwarz gekleidet war. »Es gibt schließlich noch eine Menge zu bereden, nicht wahr?«

Er wandte sich Nicole Duval zu, um sie ebenfalls zu begrüßen. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte den Besucher misstrauisch. Mühelos hielt er ihrem Blick stand. Und plötzlich tat die Französin etwas, das nicht nur Dalius überraschte, sondern auch Zamorra.

Nicole ignorierte die ausgestreckte Hand und umarmte den Uskugen.

Zwar nur kurz, aber immerhin.

»Wie schön, dass ihr euch alle prächtig miteinander versteht. Scheint mir ja ein richtiges Familientreffen zu sein«, kommentierte Sam McTaggart, die Fäuste in die Hüften gestützt. Er trug eine Camouflage-Uniform, ein Käppi und Kampfstiefel. Manchmal fragte sich Zamorra, ob er diese Ausbildergeschichte nicht ein wenig zu verbissen sah. Aber er wollte ihm auch keine Vorschriften machen. Der Parapsychologe war froh, den eigenbrötlerischen Dämonenjäger überhaupt für seine Sache gewonnen zu haben. Und ab und zu hatte er sich ja schon als unentbehrlicher Helfer in der Not entpuppt.

»Wir kennen uns ja auch schon geraume Zeit«, erwiderte Zamorra und unterdrückte ein Gähnen. Im Gegensatz zu dem Ex-Militär und seinen Schützlingen, die sich zum Duschen zurückgezogen hatten, waren der Parapsychologe und seine Gefährtin gerade erst aus dem Bett gefallen. Genau genommen hatte Lucia sie geweckt, um sie von dem unerwarteten Besuch in Kenntnis zu setzen, ehe sie gemeinsam mit Laura und Elayna in Richtung Dusche verschwunden war.

Als passionierte Dämonenjäger hatten sich Zamorra und Nicole im Laufe der Zeit dem Tag-Nacht-Rhythmus ihrer Gegner angepasst. Was nichts anderes bedeutete, dass sie sich oft die Nächte um die Ohren schlugen und dafür manchmal den halben Tag verschliefen.

»Dann muss ich mir ja wohl keine Sorgen machen, wie?« Der scharfe Blick, mit dem McTaggart Dalius musterte, strafte seine Worte Lügen. Aber es wäre auch höchst ungewöhnlich, wäre das Misstrauen des Ex-Militärs so schnell aus der Welt geräumt gewesen. »Was war das eigentlich für ein Trick, mit dem Sie mich außer Gefecht gesetzt haben, Mister Laertes?«

»Magie«, lautete die lakonische Antwort.

»Ach was?«, ätzte Sam.

»Uskugische Magie, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Usku-was?«

»Das erklären wir dir später, Sam.« Nicole nickte Dalius zu. »Hast du Hunger? Wenn ich mich recht entsinne, bist du seit geraumer Zeit wieder auf herkömmliche Nahrung angewiesen.«

»Und was hat das nun schon wieder zu bedeuten?«, verlangte McTaggart zu wissen.

»Das ...«, hob Zamorra an.

».... erklärst du mir später«, knurrte der Sergeant. »Ja, hab schon verstanden. Dann will ich dem trauten Wiedersehen mal nicht im Wege stehen.« Er nickte Dalius zu. »Das nächste Mal melden Sie sich bitte vorher an. Das erspart uns beiden eine Menge Ärger.« Er tippte sich an den Mützenschirm und verließ die Eingangshalle des Châteaus, wo McTaggart mit ihrem Gast auf die Ankunft der Hausherren gewartet hatte.

»Warum bist du eigentlich nicht direkt ins Château gesprungen?«, erkundigte sich Zamorra.

Dalius zuckte in einer erfrischend menschlichen Geste mit den Achseln. »Weil Elayna mich gebeten hat, sie mitzunehmen.« Er lächelte schmallippig. »Sie mag Lucia sehr.«

»Was auf Gegenseitigkeit beruht«, bemerkte Nicole.

»Stimmt. Deshalb habe ich Lucia angepeilt.«

»Du kommst also direkt aus Wien?«

Er nickte knapp. »Natürlich.«

Nicoles Lippen bildeten einen Strich. Zamorra brauchte kein Telepath zu sein, um zu erkennen, woran seine Gefährtin dachte. In Wien residierte jene Frau namens Lisa de Somlyó et Esced, bei der es sich um eine mächtige Vampirin handelte, die als Blutgräfin Erzsébet Báthory in die Geschichte eingegangen war.

Sie unterhielt in der Nähe des Kahlenberges ein Mädcheninternat, in dem sie Waisenmädchen unterrichtete und erzog. Unter strenger Aufsicht ihrer beiden Helferinnen Helena und Dorothea.

Ebenfalls Blutsaugerinnen eines besonderen Schlags, wie Zamorra und Nicole vor gar nicht allzu langer Zeit herausgefunden hatten. Im Kampf gegen Bahadur Khan hatten sie ihr untotes Leben ausgehaucht und existierten dennoch.

Nur ein Mysterium unter vielen, von denen Zamorra hoffte, dass Dalius Laertes Licht hineinbringen konnte. Zwischen ihm und der Blutgräfin bestand eine starke Verbindung, die weit über ein pragmatisches Bündnis hinausging*.

Der Parapsychologe wollte nicht so weit gehen, so etwas wie Liebe oder Freundschaft in das Verhältnis zwischen Lisa und Dalius hineinzuinterpretieren, konnte es aber auch nicht vollkommen ausschließen.

Dabei war Laertes für sich schon ein Mysterium und die personifizierte Geheimniskrämerei. Von so jemanden Antworten zu erwarten, war ungefähr so, als würde man einem Vogel verbieten zu fliegen. Die Verschlossenheit war Teil von Dalius' Wesen und erfolgte beinahe instinktiv.

Umso überraschter war Zamorra, dass ausgerechnet er das Schweigen unterbrach, bevor es unangenehm werden konnte. »Vielleicht sollten wir das tatsächlich bei einem kleinen Frühstück besprechen.«

Charlotte wusste nicht genau, wie sie hierhergekommen war, sie wusste nur, dass sie Angst hatte. Furchtbare Angst. So große Angst wie nie zuvor in ihrem Leben.

Nicht weil ihr Gefahr drohte, sondern weil man sie alleingelassen hatte. Allein in einer fremden Umgebung, die überhaupt nicht nach Lyon passen wollte. Selbst in den Parks hatte es weder solches Gestrüpp noch derartige Ruinen gegeben. Von ihnen ging etwas Bedrohliches aus, das die aufkeimende Panik in Charlotte verstärkte.

Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie zu Bett gebracht worden war. Ausnahmsweise mal nicht von ihrem Bruder, sondern von ihrem Vater, der versprochen hatte, auf sie aufzupassen, damit keiner der bösen Männer sie holen würde.

Und jetzt war Papa verschwunden, ebenso wie ihr Bruder. Außerdem lag sie nicht länger im Bett, sondern irrte zitternd und frierend durch diese seltsame, fremde Landschaft. Obwohl sie sich sicher war, noch nie zuvor hier gewesen zu sein, kam sie ihr trotzdem auf eine merkwürdige Weise vertraut vor. Als ob sie das alles schon einmal gesehen hätte.

Charlottes Gedanken gerieten ins Stocken.

Sie hatte etwas gehört.

Ein leises Schaben, das Knacken eines Zweiges. Dort hinter dem dornigen Gestrüpp ... war da nicht eine große, dunkle Gestalt? Der pelzige Körper eines Raubtiers!

Charlottes Herz klopfte schneller. Ein Knurren ertönte, wie von einem riesigen Hund oder Wolf.

Das Mädchen erstarrte.

Das Knurren wurde lauter, also mussten es mindestens zwei Hunde sein.

Wie gebannt starrte Charlotte auf den spärlich bewachsenen Strauch, über den sich jetzt die riesigen Schädel zweier grimmig dreinblickender Wolfshunde schoben. Ihre untertassengroßen Augen rollten herum, das struppige Fell bewegte sich, obwohl Charlie keinen Windhauch spürte.

Sie schrak zusammen, als sich die vier Raubtieraugen unvermittelt auf sie hefteten. Die Lefzen wichen zitternd von den gefährlichen Raubtiergebissen. Eine Sekunde später duckten sich die Tiere, um mit einem gewaltigen Satz über das Gestrüpp hinwegzusetzen.

Erschrocken stolperte das Mädchen rückwärts. Der Fuß stieß gegen einen Widerstand, unsanft fiel Charlotte auf die unterste Stufe einer kurzen Treppe, die zu der gemauerten Umrandung des Tempels gehörte. Dafür hatte Charlotte allerdings keinen Blick. Der galt einzig und allein den riesengroßen Wolfshunden.

Charlie hatte das Gefühl einen Schlag in den Magen zu bekommen.

Es waren nicht zwei Hunde, die vor ihr standen, sondern nur einer. Ein riesiger dunkelgrauer Wolfshund mit zwei Köpfen.

Knurrend und geifernd stürzte er sich auf Charlotte.

Sie deckten den Tisch im Garten ein.

Im Schatten des knorrigen Baumes, der möglicherweise sogar älter war als das Château selbst. Es war Foolys Lieblingsbaum gewesen, mit dem der Jungdrache stundenlange Zwiesprache gehalten hatte. Wie alle Drachen, so hatte auch Fooly die Fähigkeit besessen, mit Bäumen zu sprechen.

Seufzend stellte sie das Tablett mit den frisch aufgebackenen Baguettes und Croissants, der von Madame Claire selbstgemachten Marmelade, dem ebenfalls aus eigener Herstellung stammenden Traubengelee sowie den verschiedenen Käse- und Wurstspezialitäten aus Saint-Cyriac auf den Tisch.

»Hey, dürfen wir mitfrühstücken?«

Nicole schrak hoch und drehte sich um. Vor ihr standen Lucia Nowak, Laura Magin und Elayna. Lucia trug wieder ihr typisches Outfit: Rammstein-T-Shirt, Stulpen an den Unterarmen, eine schwarzweiß gestreifte Leggins sowie einen schwarzen Rock, der eine Handbreit über den Knien endete. Die Füße steckten in Doc Martens, um den Hals wand sich ein breites, nietenbesetztes Lederband.

Die kurzen Haare waren noch feucht von der Dusche, ebenso wie die von Laura. Nebenbei fiel Nicole auf, dass Lucia Elaynas Hand hielt.

»Ähm, habt ihr nicht schon längst gegessen?«

Lucia warf Laura einen knappen Blick zu und verdrehte die Augen. »Pfff, das kann man wohl kaum als Frühstück bezeichnen. Außerdem habe ich meines schon entsorgt.«

Nicole hatte keine Ahnung, wovon sie da eigentlich sprach und beschloss, es auch gar nicht wissen zu wollen. »Tut mir leid, Mädchen, aber wir müssen mit Dalius Laertes einige wichtige Dinge besprechen.«

»Bei denen ihr uns nicht dabeihaben wollt.« Laura schlussfolgerte messerscharf.

»Exakt!«, erwiderte Nicole unverblümt und konnte beobachten, wie sich Lucias Miene verfinsterte. Hätte in diesem Augenblick ein Schwarzmagier oder eine Hexe einen Fluch über sie gesprochen oder ein Dämonen sie mit Feuer und Blitzen attackiert, Nicole wäre wohl auf der Stelle zu Asche zerfallen.

Seitdem Lucias Parapotenzial durch mehrfachen Missbrauch geweckt worden war, konnten ihr magische Attacken nichts mehr anhaben. Allerdings verpufften die Energien nicht, stattdessen wurden sie mit voller Wucht reflektiert beziehungsweise abgelenkt. Und zwar auf die- oder denjenigen, dem Lucias momentaner Groll galt, was bei jemanden mit einer instabilen Persönlichkeit wie ihrer sich stündlich verändern konnte.

Vor einer Minute wäre wohl Sam McTaggart der Unglücksrabe gewesen.