Professor Zamorra 1253 - Ian Rolf Hill - E-Book

Professor Zamorra 1253 E-Book

Ian Rolf Hill

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Ist da jemand?"
Louis Thomas richtete sich hinter dem Motorrad auf, an dem er seit fast zwei Stunden werkelte. Vergebens wartete er auf eine Antwort. Dabei war er überzeugt, sich nicht getäuscht zu haben.
Das Rasseln war so laut gewesen, dass es sogar das Gedudel des Radios übertönte.
Mit zwei Schritten war Louis bei dem altmodischen Gerät und schaltete es aus. Die einsetzende Stille war bedrückend. Unwillkürlich hielt der Lehrer den Atem an. Gespannt darauf, ob sich das Geräusch wiederholte ...


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 141

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Personenliste

Der steinerne Blick

Leserseite

Vorschau

Impressum

Die Hauptpersonen des Romans sind

Professor Zamorra: Der Meister des Übersinnlichen

Nicole Duval: Zamorras Partnerin und Kampfgefährtin

Noah Moréll: Waisenjunge mit hohem Parapotenzial

Dalius Laertes: außerirdischer Uskuge und ehemaliger Vampir

Erzsébet Báthory: die legendäre Blutgräfin

Der steinerne Blick

von Ian Rolf Hill

»Ist da jemand?«

Louis Thomas richtete sich hinter dem Motorrad auf, an dem er seit fast zwei Stunden werkelte. Vergebens wartete er auf eine Antwort. Dabei war er überzeugt, sich nicht getäuscht zu haben.

Das Rasseln war so laut gewesen, dass es sogar das Gedudel des Radios übertönte.

Mit zwei Schritten war Louis bei dem altmodischen Gerät und schaltete es aus. Die einsetzende Stille war bedrückend. Unwillkürlich hielt der Lehrer den Atem an. Gespannt darauf, ob sich das Geräusch wiederholte ...

Zunächst geschah nichts. Langsam stieß Louis die angehaltene Luft aus. Vielleicht doch nur das Rascheln von Laub oder ein Störgeräusch aus dem Radio. Das Ding hatte vermutlich Museumswert und verfügte sogar noch über ein Kassettendeck, dessen Klappe längst abgebrochen war.

Daher kam es nicht selten vor, dass sich eine fremde Funkwelle in das Gerät verirrte. Vor allem, wenn ein anderes Fahrzeug vor dem Haus entlangfuhr.

Das wird es gewesen sein, dachte Louis. Vielleicht bist du auch übermüdet. Wird Zeit, dass du ins Bett kommst.

Er ließ den Blick über das Motorrad schweifen, das im Licht der Leuchtstoffröhre funkelte und glänzte wie ein Ausstellungsstück auf der Messe. Ein Lächeln huschte über seine Lippen.

Die rote MV Agusta F4 750 S war sein ganzer Stolz. Entsprechend viel Zeit und Geld investierte der Lehrer in sein Hobby, das ihn nicht nur eine Ehe, sondern auch zwei Partnerschaften gekostet hatte. Das war zumindest seine Ansicht.

Dass das Scheitern der Beziehungen einen anderen Grund haben könnte, der Gedanke kam ihm nicht. Immerhin brauchte er sich dadurch aber auch nicht das Genöle anzuhören, dass er die Abende lieber in der Garage bei seinem Motorrad verbrachte, statt vor dem Fernseher oder auf langweiligen Pärchenabenden.

Louis Thomas liebte den Geruch von Benzin, Kettenfett und Motorenöl wie andere Menschen den Duft von Rosen, Lavendel oder frisch gemähtem Gras. Und nirgendwo sonst konnte er die Seele so baumeln lassen wie bei einem Ritt auf der Maschine.

Sobald er mit Agusta das Stadtgebiet von Lyon hinter sich gelassen hatte und durch die malerischen Täler der Loire fuhr, vorbei an ihren prunkvollen Schlössern, den üppigen Weinhängen und den dichten Wäldern, da perlte der Stress des Alltags von ihm ab.

Das war auch nötig, denn der Beruf des Lehrers war kein Zuckerschlecken. Besonders nicht, wenn man es mit Jugendlichen zu tun hatte, die sich mitten in der Pubertät befanden. Spaß machte ihm die Arbeit dennoch. So viel Spaß, dass er es sogar zum leitenden Direktor der Gesamtschule gebracht hatte. Einen Posten, den er seit nunmehr fünfzehn Jahren bekleidete und den er auch die letzten acht, die ihm bis zur Pension fehlten, ausüben wollte.

Wie es anschließend weiterging, stand in den Sternen. Viele Gedanken hatte er sich darüber noch nicht gemacht. Kommt Zeit, kommt Rat, war sein Motto. Pläne waren okay, allerdings sollte man sich genügend Freiräume für Spontaneität lassen.

Das versuchte er auch seinen Schülern stets zu vermitteln.

Wer allzu detaillierte Vorstellungen von der Zukunft hatte, wurde fast immer enttäuscht, und das führte schnell in eine Abwärtsspirale aus Verbitterung und Depression.

Er konnte davon ein Lied singen.

Hätte sein dreißig Jahre jüngeres Ich ihn jetzt so sehen können, allein mit einem Motorrad in der Garage, ohne Frau, ohne Kinder, nur mit einem kleinen Häuschen in der Rue Jean Vallier, es hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Louis Thomas spürte, wie er sich in trüben Gedanken zu verlieren drohte, und traf eine Entscheidung. Er würde für heute Schluss machen und sich ein Gläschen Wein gönnen, bevor er sich ins Bett legte.

Er war ohnehin fast fertig. Öl und Vergaser waren gewechselt, die Kette geschmiert, die Verkleidung auf Hochglanz poliert. Eigentlich war er schon lange durch gewesen, hatte aber einfach nicht den Arsch hochgekriegt. Von daher hatte die Unterbrechung auch ihr Gutes gehabt.

Louis Thomas nickte zufrieden, wischte die Hände an der Hose ab und zog gewohnheitsmäßig den Stecker des Radios aus der Dose.

In dem Augenblick erklang das Rasseln von Neuem. Dieses Mal gefolgt von einem trockenen Schaben draußen an der Querwand. Also genau dort, wo der schmale Plattenweg zwischen Garage und Nachbargrundstück zu dem winzigen Garten führte.

Thomas versteifte sich. Er konnte sich beim besten Willen keinen Reim auf die Geräusche machen. Das Schaben hörte sich an, als würde etwas Großes, Massiges an der Wand vorbeigeschleift werden.

Das Rasseln dagegen ... Thomas schüttelte den Kopf. Nein, das war absurd.

Wieder ertönte das rhythmische Scheppern, das sich genauso anhörte wie die Rassel einer Klapperschlange.

»Unsinn«, tadelte sich der Lehrer selbst. »Mach dich nicht verrückt, wo soll denn hier eine Klapperschlange herkommen?«

Zumal das Rasseln so laut war, dass es unmöglich von einer verhältnismäßig kleinen Schlange stammen konnte. Obwohl sich das trockene Schaben, das sich dem Geklapper anschloss, tatsächlich nach einem Schlangenkörper anhörte.

Louis schnaubte. Wahrscheinlich waren es irgendwelche halbstarken Kids aus der Schule, die sich draußen herumtrieben und sich einen Schabernack mit ihm erlaubten.

So etwas kam immer mal wieder vor, wenn auch nicht so oft, wie man sich das vielleicht als Außenstehender vorstellte. Normalerweise besaß Louis Thomas dahingehend eine ziemlich hohe Toleranzschwelle.

Allerdings endete die spätestens nach Feierabend und auf dem privaten Grundstück.

Anscheinend hatten das noch nicht alle verinnerlicht.

Wieder vernahm er das Schaben und Rasseln. Gleichzeitig bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Dort wo sich die Fensterreihe in Form winziger Oberlichter unterhalb des Daches entlangzog.

Etwas kratzte von außen über die Scheibe.

Louis Thomas wendete den Kopf und sah gerade noch, wie jemand blitzschnell abtauchte, um nicht vorzeitig entdeckt zu werden. Der Lehrer blinzelte. Für einen kurzen Moment hatte es so ausgesehen, als würde sich vor der Fensterscheibe ein regelrechtes Bündel aus Schlangenleibern winden.

Thomas verstand die Welt nicht mehr. Sollte es sich tatsächlich um Schlangen handeln, dann wären sie viel zu klein, um ein solches Schaben und Rascheln zu verursachen.

Selbst wenn einer mit dem Verstärker neben der Garage stand.

Trotzdem war sich der Lehrer sicher, dass sich da jemand einen schlechten Scherz erlaubte. Ein grimmiges Lächeln kerbte seine Mundwinkel, als er sich nach einer geeigneten »Waffe« umschaute.

Nein, mit einer Axt wollte er nicht unbedingt auf die Kids losgehen. Das konnte nur allzu leicht ins Auge gehen. Kurz überlegte er, ob er das Altöl nehmen sollte, dass er in einen Kanister abgefüllt hatte. Nach dem Prinzip Teeren und Federn. Schlussendlich entschied er sich für einen Besen, an dessen Borsten, die dicken, lappigen Überreste alter Spinnennetze hingen.

Das Schaben hatte mittlerweile das geschlossene Garagentor erreicht, vor dem sein Peugeot in der Auffahrt parkte. Für den Kleinwagen war absolut kein Platz mehr in der Garage.

Abermals rasselte es, dann hörte Louis wieder das leise Kratzen, als würde sich jemand außen am Schloss des Garagentores zu schaffen machen.

Vielleicht sollte er das Licht ausmachen und durch die Seitentür ins Haus verschwinden. Den Geräuschen nach zu urteilen legten es die Scherzbolde ja geradezu darauf an, dass er nachschaute.

Klüger wäre es also gewesen, die Kids zu ignorieren, um sie nicht noch zu ermutigen. Aber die Wahrheit war, dass ihn die Neugier gepackt hatte.

Wer auch immer sich den Scherz ausgedacht hatte, musste einen enormen Aufwand betrieben haben. Als positiv denkender Mensch und Lehrer freute er sich über jegliche Kreativität seiner Schüler, die nichts mit Smartphones, TikTok, Instagram und gepimpten Videos oder aufgehübschten Fotos zu tun hatte.

Auch wenn er damit rechnen musste, dass dort draußen jemand stand und das Ganze filmte, um den Clip dann ins Netz zu stellen. Aber das war nichts, was er nicht mit ein paar Anrufen aus der Welt schaffen konnte.

Louis Thomas umklammerte den Besenstiel und marschierte an dem Motorrad vorbei auf das Garagentor zu, fest entschlossen, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Gleichzeitig bemühte er sich um Lautlosigkeit.

Der Lehrer bückte sich und tastete nach dem Griff des Schiebetors.

Er atmete ein letztes Mal tief ein, spitzte die Ohren und vernahm zum wiederholten Male das trockene Schaben sowie das Scheppern der Rassel. Seine Mundwinkel zuckten. Dann drückte er mit aller Kraft von innen gegen das Tor, das wie von selbst in die Höhe schwang.

Thomas sprang nach vorne, den Besen wie einen Speer stoßbereit in der linken Hand haltend. Noch in der Bewegung sah er den schwarzgrün geschuppten Schlangenkörper, fast so dick wie der Stamm des Apfelbaumes hinten im Garten.

Sein Gehirn war mit der Suche nach einer schlüssigen Erklärung für diesen bizarren Anblick völlig überfordert. Das Garagentor schwang weiter aufwärts und gab die Sicht frei auf einen gleichfalls geschuppten, menschlichen Torso.

Ein weiblicher Torso, wie Thomas unschwer an den Wölbungen in Brusthöhe erkannte.

Der Rumpf war ansatzlos mit dem sich ringelnden Schlangenleib verbunden, dessen Spitze tatsächlich in der übergroßen Rassel einer Klapperschlange endete, die im selben Atemzug anschlug. Ein Zischen erklang, wie man es von einer angriffslustigen Schlange erwartete.

Einen Herzschlag später erblickte der Lehrer Kopf und Antlitz des Scheusals.

Louis Thomas erstarrte vor Schreck.

Noah Moréll erwachte schweißgebadet. Um ihn herum herrschte tiefste Dunkelheit. Nur an einer Stelle schimmerte es heller. Dort, wo sich das Fenster befand und ein Streifen fahles Mondlicht zwischen den Vorhanghälften hindurch sickerte.

Seltsam war es dennoch. Das Fenster hätte sich auf der anderen Seite befinden und viel kleiner sein müssen. Wo zum Teufel war er?

Er lag in einem Bett, so viel stand, fest. Ein Bett, das viel größer und bequemer war als das in der elterlichen Wohnung in Lyon.

Langsam gewöhnten sich Noahs Augen an die schummerige Finsternis, sodass er Einzelheiten erkennen konnte. Der klobige Kleiderschrank, der noch aus dem letzten Jahrhundert stammte, das Regal mit den Büchern, Raumschiffmodellen und Actonfiguren. Der Schreibtisch, der so neu war, dass er einen frischen, holzigen Duft verströmte.

Noah Moréll erinnerte sich, dass er ihn erst am gestrigen Tag zusammengebaut hatte. Gemeinsam mit William.

William!

Einer der beiden Butler von Château Montagne, seinem neuen Zuhause.

Noahs Hals schnürte sich zu, Tränen brannten in seinen Augen. Das Herz hämmerte so schnell, als wollte es zerspringen. Das T-Shirt klebte auf der Haut. Und nicht nur das, auch die Boxershorts war feucht.

Als er das erste Mal schweißgebadet aufgewacht war, hatte er gedacht, er hätte eingenässt. Zum Glück war das nicht der Fall, obwohl es nur ein schwacher Trost war. Seit über einem halben Jahr war er jetzt schon zu Gast im Château, und genau das war sein Problem.

Er fühlte sich hier nicht zu Hause!

Was nichts mit den anderen Bewohnern zu tun hatte. Er war Professor Zamorra und Nicole Duval unendlich dankbar, dass sie ihn aufgenommen hatten, aber er vermisste seine Familie, allen voran seine kleine Schwester Charlotte.

Dabei war Charlie schon lange tot. Ermordet von ihrem eigenen Vater, der auch Mama getötet hatte. Noah hatte dieses Trauma, wie es Zamorra und die Ärzte bezeichneten, verständlicherweise schwer zu schaffen gemacht. So sehr, dass er das Geschehen nicht nur verdrängt hatte, er hatte sich auch eine Scheinrealität erschaffen, in der seine Familie noch lebte.

Und in dieser Welt war sein Vater kein jähzorniger Trunkenbold gewesen, sondern ein echter Held. Ein wachsamer Beschützer, so wie Batman, der Dunkle Ritter.

Noah hatte sich das so sehr gewünscht, dass die Vision schlussendlich Wirklichkeit geworden war. Mit fatalen Folgen, denn der Dunkle Rächer hatte eine blutige Spur durch Lyon gezogen und dabei nicht nur Verbrecher umgebracht, sondern auch andere Menschen, von denen Noah enttäuscht gewesen war*.

Das alles hatte er erst sehr viel später erfahren. Als er aus dem künstlichen Koma, in das man ihn versetzt hatte, erwacht war.

Anderthalb Jahre lang hatten Professor Zamorra und Nicole nach einer Lösung für sein Dilemma gesucht. Gefunden hatte es schlussendlich ein Mann namens Dalius Laertes**.

Angeblich ein Außerirdischer, obwohl er rein äußerlich aussah wie ein normaler Mensch. Ein ziemlich hagerer und düsterer Mensch zugegeben, aber immerhin.

Anders als Faolan oder Kyra, die Vogeldämonin, die,im Gegensatz zu Dalius auch hier im Schloss lebten. Während der eine als Bibliothekar arbeitete, teilte Kyra ein ähnliches Schicksal wie er. Sie war ebenfalls eine Waise, die nicht gewusst hatte, wohin sie sollte.

Auf eine gewisse Weise fühlte er sich daher mit ihr verbunden. Zumal er auch ein echter Freak war, obwohl er im Vergleich zu Kyra äußerlich vollkommen normal aussah. Seine Andersartigkeit hing mit seiner Psyche zusammen. Und mit seinem Parapotenzial.

Damit bezeichnete man in der Parapsychologie, die genetische Disposition übernatürliche Fähigkeiten zu entwickeln und zu benutzen. Laut Zamorra sprengte Noahs Parapotenzial sämtliche Skalen, was ihn in gewisser Weise zu einer echten Bedrohung machte. Deshalb hatten sie ja auch keinen anderen Ausweg gesehen, als ihn ins Koma zu verfrachten.

Das Klopfen an die Tür ließ Noah aufschrecken.

»Her... herein«, krächzte er, nachdem er sich die Kehle freigeräuspert hatte.

Die Tür öffnete sich, und ein heller Spalt erschien in der Wand. Er zog sich über den Boden bis zu seinem Bett, lediglich unterbrochen von dem Schatten, der sich wie ein Scherenschnitt im Licht der Flurbeleuchtung abzeichnete.

»Wieder?«, fragte Elayna.

Es war das Mädchen aus der Mongolei, das in der offenen Tür stand und ihn besorgt musterte. Sie war ein halbes Jahr älter als Noah und würde schon bald ihren siebzehnten Geburtstag feiern.

Noah nickte nur, da Elayna seine Antwort vermutlich ohnehin nicht verstanden hätte.

Sie sprach fließend Mongolisch und ein holperiges Deutsch, das sie während ihrer Zeit in Wien, gelernt hatte, wo sie fast ein Jahr lang die Blutschule der Madame Esced besucht hatte. Nur mit Englisch und Französisch haperte es noch immer, die einzigen Sprachen, die Noah beherrschte.

Elayna betrat unaufgefordert sein Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und ergriff seine Hand.

»Das kann so nicht gehen weiter, Moréll«, erklang von der Tür her die Stimme von Lucia Nowak. Sie war vor zwei Monaten neunzehn geworden und damit die ältestes Schülerin im Château. Und das in doppelter Hinsicht, denn sie war diejenige, die am längsten hier wohnte, seit Zamorra und Nicole die Zauberakademie gegründet hatten.

Lucia hatte Französisch gesprochen beziehungsweise das, was sie dafür hielt. Aber zumindest konnten sie sich unterhalten. Unbekannte Vokabeln sagte sie auf Englisch, woraufhin Noah sie auf Französisch wiederholte oder sie korrigierte. Auf diese Weise lernte Lucia stets dazu.

»Ich weiß«, jammerte Noah. »Aber was soll ich denn tun?«

»Mit Zammy reden«, erwiderte sie.

Lucia ging um das Bett herum, schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich auf seinen ebenfalls neuen Schreibtischstuhl. Außer ihrem Nachthemd trug sie noch gestreifte Leggins.

Das war so ziemlich das Letzte, was er wollte.

»Was soll das bringen? Ich kann mich ja nicht mal an die Träume erinnern.«

»Er könnte dich hypnotisieren«, schlug sie vor. »Dann könnt ihr herausfinden, was dich quält. Das hilft, glaub mir. Und er ist wirklich gut darin.«

»Genau das befürchte ich«, murmelte er kaum hörbar, doch Lucia hatte ihn trotzdem verstanden.

»Hast du etwa Angst?«

Noah zuckte mit den Achseln. Ja, er hatte Angst, aber er schämte sich, das zuzugeben.

Er mochte Lucia. Sie hatte ihm die Eingewöhnung sehr viel leichter gemacht. Dank ihr hatte er sich nicht ganz so allein gefühlt.

Zamorra und Nicole waren die meiste Zeit ja unterwegs und die anderen Schlossbewohner deutlich älter. Laura war kurz nach seiner Ankunft gegangen und Henry und Kyra erst später dazugekommen.

Ja, vielleicht hatte er sich sogar ein wenig in sie verguckt. Sie mochte nicht so schlank sein wie Nicole, aber im Gegensatz zu ihnen hatte sie sich um ihn gekümmert. Zumindest bis Elayna gekommen war.

»Du glaubst doch wohl nicht, dass dich Zammy wieder wegschickt?«, bohrte Lucia weiter.

Auch auf diese Frage konnte Noah nur die Schultern heben.

»Gyungo!«, sagte Elayna bloß. Offenbar hatte sie von der Unterhaltung genug mitbekommen, um ihr folgen zu können.

Lucia schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Klar, dass ich nicht von alleine drauf gekommen bin. Der alte Zausel hat mir damals auch geholfen. Seitdem wir zusammen meditieren, hab ich mich kaum noch selbst verletzt.«

Noah nagte an der Unterlippe. Es war ihm unangenehm über seine Probleme zu sprechen.

»Weiß nicht«, murmelte er daher.

»Böse Träume gehabt?«, zwitscherte es aus Richtung der halb geöffneten Tür.

Ein gefiederter Kopf mit großen, seitlich liegenden, schwarz leuchtenden Augen schob sich ruckartig durch den Spalt.

Kyra, das Vogelmädchen, stakste auf seinen Katzenbeinen, die in gekrümmten Hühnerkrallen endeten, ins Zimmer. Es drehte sich, sodass eines ihrer Augen Noah und die Mädchen fixierte.

Hinter ihr schlüpfte Henry, der zwölfjährige Klugscheißer mit den drei Gehirnen durch die Tür.

Noah seufzte lautlos. Anscheinend hatte er das halbe Schloss aufgeweckt.

»Mhm«, machte Lucia nur. »War ja kaum zu überhören.«

»Das muss heute aber ein besonders bösartiger Traum gewesen sein«, zwitscherte Kyra. »Sonst hast du nie so laut geschrien.«

»O mein Gott.« Noah spürte, wie er rot wurde. »War es wirklich so schlimm?«

»Klar, sonst würden wir wohl kaum hier stehen«, sagte Henry. »Du hast geschrien wie ein Mädchen. Und das meine ich nicht im übertragenen Sinn.«