Professor Zamorra 1255 - Christian Schwarz - E-Book

Professor Zamorra 1255 E-Book

Christian Schwarz

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Beschreibung

Julien Fréminet träumte furchtbare Dinge. Etwas unglaublich Böses war im nächtlichen Haus unterwegs. Es geisterte durch die stillen Räume. Ein Schemen, das er nicht sehen, nicht greifen konnte. Keine Tür, keine Wand konnte es aufhalten. Und es kam, um ihn zu holen.
Der von kaltem blauem Licht umflossene Geist erschien aus dem Nichts. Dämonisch grinsend stand er auf dem kleinen Balkon vor dem Fenster. Und im nächsten Augenblick direkt am Bett! Eisige Kälte erfüllte das Schlafzimmer. Fréminet fühlte sie nicht mehr. Das schlanke Schwert, das sich in seine Brust senkte, tötete ihn schlagartig.


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Inhalt

Cover

Der mordende Geisterritter

Leserseite

Vorschau

Impressum

Der mordendeGeisterritter

von Christian Schwarz

Paris

Julien Fréminet träumte furchtbare Dinge. Etwas unglaublich Böses war im nächtlichen Haus unterwegs. Es geisterte durch die stillen Räume. Ein Schemen, den er nicht sehen, nicht greifen konnte. Keine Tür, keine Wand konnte es aufhalten. Und es kam, um ihn zu holen.

Mit weit aufgerissenen Augen stierte Julien in das Schlafzimmer. Der von kaltem blauem Licht umflossene Geist erschien aus dem Nichts. Dämonisch grinsend stand er auf dem kleinen Balkon vor dem Fenster. Und im nächsten Augenblick direkt am Bett! Eisige Kälte erfüllte das Schlafzimmer. Julian fühlte sie nicht mehr. Das schlanke Schwert, das sich in seine Brust senkte, tötete ihn schlagartig.

Hongkong, eine Woche zuvor

»Komm ... nicht nachlassen jetzt ... das ... ist ja unglaublich«, stieß die junge Chinesin keuchend hervor, während sie mit den schlanken Beinen das Gesäß ihres Liebhabers umklammerte.

»Wie kommst du darauf, dass ich nachlassen könnte?«, erwiderte der Mann grinsend und verlangsamte seine Bewegungen. Das Grinsen nahm ihm etwas von seinem düsteren, majestätischen Aussehen, das Mai-Lin einerseits unglaublich anzog, vor dem sie sich andererseits aber auch fürchtete. Eine unbewusste Furcht allerdings, die sie an nichts festmachen konnte.

»Wir machen's jetzt seit ... über drei Stunden«, murmelte sie, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. »Zum fünften Mal«, schob sie hinterher. »Wirst du denn gar nicht müde, Alvaro? Du bist ein ... ein wahrer Teufelskerl.«

»Wie recht du doch hast, meine Liebe«, gab Alvaro alias Asmodis kichernd zurück und nahm langsam wieder Fahrt auf.

Im selben Moment explodierte ein Blitz in seinem Kopf. Der hatte mit seinem kleinen nebensächlichen Zeitvertreib in etwa so viel zu tun wie ein Irrwisch mit der Macht in der Hölle. Asmodis erstarrte.

»Was ist?«, fragte Mai-Lin irritiert. »Hast du einen Hexenschuss bekommen?«

Die Sperre! Obwohl es über sechshundert Jahre her war, wusste der Erzdämon trotzdem sofort, was sich da bei ihm meldete. Schließlich hatte er die Sperre höchstselbst installiert. Nun gab es sie nicht mehr. Irgendjemand oder irgendetwas hatte sie zerstört.

Mit dieser Erkenntnis kam eisige Furcht über Asmodis. Er wusste, wie fragil die Sperre war. Er wusste, dass sie brechen konnte, auch wenn es großer magischer Kraft bedurfte. Nun war es anscheinend passiert. Oder doch nicht? Handelte es sich möglicherweise nur um einen Irrtum?

Ich muss mich vergewissern, schoss es ihm durch den Kopf, auch wenn er tief in seinem Innern wusste, dass seine Hoffnung wohl eher das Pfeifen auf den Seelenhalden war.

Asmodis löste den Druck von Mai-Lins Beinen mit brachialer Gewalt, rollte sich von ihr und ging drei Schritte in das riesige Schlafzimmer hinein. Hinter ihm begann die junge Chinesin hysterisch zu schreien. Als er sich erstaunt zu ihr umdrehte, sah er, wie sie mit panikverzerrten Gesichtszügen die Bettdecke nach hinten strampelte, an die Wand zurückwich und sich dagegen drückte.

Aus dem Augenwinkel sah der Erzdämon die Panoramascheibe, hinter der die nächtlichen Hochhäuser Hongkongs in einem fantastischen Panorama glitzerten und leuchteten. Vor dem Lichtermeer spiegelte sich das indirekt erleuchtete Schlafzimmer. Er sah das Bett mit Mai-Lin und dahinter eine etwa drei Meter große Teufelsgestalt mit dreieckigem Ziegengesicht, mächtigen Hörnern, die aus der Stirn wuchsen, schwarzer ledriger Haut und grellroten Augen. Ein langer Quastenschwanz peitschte aufgeregt durch den Raum. Unbewusst hatte er sein wahres Aussehen angenommen. Ein derartiger Kontrollverlust passierte Asmodis nicht oft. Er drehte sich blitzschnell drei Mal um die eigene Achse und verschwand schwefelstinkend in einer Paraspur.

In der Ecke eines riesigen, dreieckig angeordneten Gebäudeensembles fiel Asmodis in die Welt zurück. Wo bin ich hier?, dachte der Erzdämon verwirrt und starrte über den riesigen Hof, auf dem ein Dutzend Menschen unterwegs waren. Das Pariser Armeemuseum, hm. Hier dürfte ich aber gar nicht sein, der Impuls müsste von einer völlig anderen Stelle kommen. Das engelsgesegnete Ding hat sich also bewegt. Aber wie?

Durch den Zeitunterschied von sechs Stunden war es später Nachmittag. Bei den Leuten auf dem Hof handelte es sich um Museumsbesucher und zwei Angestellte, wie Asmodis beiläufig abcheckte. Es interessierte ihn aber eigentlich gar nicht. Seine dämonischen Sinne waren auf etwas völlig anderes ausgerichtet. Schlagartig kam es zum Kontakt! Der Erzdämon schrie leise auf. Es war tatsächlich hier, nicht weit von ihm. Nahe genug, um ihm gefährlich werden zu können.

Etwas Unheimliches griff nach Asmodis. Bevor es Besitz von ihm ergreifen konnte, floh er erneut in eine Paraspur. Blind, irgendwohin, egal wo, nur möglichst weit weg von hier. Er landete dieses Mal im australischen Outback und lauschte in sich hinein. Erleichtert atmete er auf. Der Kontakt war abgerissen.

Zunächst einmal bin ich sicher, dachte er, während er von einem Plateau des australischen Kings Canyons über eine weite rote, von spärlichem Gebüsch bewachsene Landschaft blickte. Aber wenn ich nichts dagegen unternehme, könnte sich der Zustand sehr schnell ändern ...

Er betrachtete seine Fingernägel. Ich selber kann nichts dagegen tun, das müssen andere für mich erledigen. Und ich weiß auch schon, wen ich dafür einspannen kann. Er lachte meckernd. Dieser Jemand hat ja schon eine gewisse Erfahrung darin, für mich die Schlange aus dem Paradiesgarten zu holen. Eine große Erfahrung sogar ...

Kneipe »Zum Teufel«, Saint-Cyriac

»Als ich neulich meine Milchpackungen geöffnet habe, war bei allen die Milch sauer«, sagte Gerard Fronton, von allen nur Malteser-Joe genannt. Dabei schickte er einen vorwurfsvollen Blick in Richtung Zamorra, der allerdings nur aus eineinhalb Augen kam, weil er das rechte halb zugekniffen hatte. »Könnte es unter Umständen sein, dass das was mit diesen kleinen Paramonstern zu tun hat, die ihr da neuerdings auf eurem Château oben ausbildet? Möglicherweise ist da ein magisches Experiment schiefgelaufen.« Er spielte mit den Fingern der linken Hand Klavier auf der massiven Holzplatte des Montagne-Tischs, um den sich der harte Kern der kampftrinkenden Dorfbewohner mal wieder versammelt hatte. »Wenn dem so sein sollte, dann müssten wir uns ernsthaft über Schadenersatz unterhalten.«

»Red hier keinen Bockmist, Joe«, fuhr ihn Nicole Duval an, die Seite an Seite mit Zamorra saß. »Ich will den Begriff Paramonster nie mehr hören. Verstehst du? Sonst würde ich mich genötigt sehen, dir die Eier abzubeißen. Und du weißt ja, dass ich die berüchtigtste Eierabbeißerin der ganzen Gegend bin.«

»Das kann ich nur bestätigen«, bestärkte Zamorra sie mit künstlich quiekender Stimme.

Das löste einen Lachsturm am Tisch aus und veranlasste Malteser-Joe, die Arme vor der Brust zu verschränken. Er gab noch nicht auf und musterte die Anwesenden mit finsterem Blick. »Einer von ... denen da oben soll ja sogar drei Gehirne haben, flüstert man sich zu.«

Nicole nickte. »Das ist unser Henry, ja. Er ist Opfer eines übersinnlichen Experiments geworden und hat wie die anderen auf dem Château, die wir zu Kämpfern des Lichts ausbilden wollen, ein schweres Schicksal zu tragen. Kein Grund also, so abfällig von ihnen zu sprechen. Sie alle sind wunderbare Menschen, das kann ich euch versichern.«

Malteser-Joe wand sich verlegen. »Also gut, das bezweifle ich ja gar nicht. Das wollte ich ja gar nicht damit sagen. Aber meine Milch ...«

»Ich glaube eher, dass das was mit einem weit überzogenen Ablaufdatum zu tun hat«, mischte sich nun Pater Ralph ein, nach Zamorra der bestaussehende Mann am Tisch. »Darin sollst du ja ein wahrer Spezialist sein.«

»Wer sagt das«, brauste Malteser-Joe auf.

»Das kann schon sein«, antwortete Dorfschmied Charles Goudon. »Als ich dich neulich mal besucht habe, hast du mir ein Bier vorgesetzt, das schon sieben Jahre abgelaufen war. Der Saft ist fast bis zur Decke geschossen, als ich es aufgemacht habe, so hat das gegärt. Ich musste es nicht mal mehr wegschütten, das hat das Bier von ganz alleine erledigt. Du erinnerst dich?«

»Äh, nun, das war ein Versehen«, erwiderte Malteser-Joe und musterte unangenehm berührt die grinsenden Gesichter rundum. »Ein Versehen eben, so was kann schon mal vorkommen.«

»Wenn man Madame Claire so zuhört, kommt das bei dir aber ziemlich oft vor«, sagte Nicole.

»Die Madame Claire, die kann mich mal. Mit der Dame rede ich ab jetzt kein Wort mehr.« Wieder verschränkte er die Arme vor der Brust und starrte zur Decke.

»Jedenfalls so lange nicht mehr, bist du sie wieder triffst«, schallte es von der Theke her, hinter der Pierre Mostache, der Wirt, sorgfältig ein Glas wienerte. Das löste einen erneuten Lachsturm am Tisch aus. Charles schlug vor lauter Begeisterung mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Sag mal, Joe, hast du eine Ahnung, wann die nächste Witzeweltmeisterschaft stattfindet«, wechselte André Goadec, Zamorras größter Weinbergpächter, abrupt das Thema. »Ich nehme doch stark an, dass du dich als Vizeweltmeister da automatisch wieder qualifiziert hast.« Vor einiger Zeit hatte Malteser-Joe exakt an diesem Platz behauptet, bei der letzten Witzeweltmeisterschaft den Vizetitel errungen zu haben, was ihm natürlich niemand abnahm. Zumal noch nie jemand am Tisch etwas von einer Witzeweltmeisterschaft gehört hatte. André legte es augenscheinlich darauf an, Malteser-Joe noch weiter zu ärgern.

»Der Herr da mit seinen Weinbergen kann mich mal am Abend besuchen«, erwiderte Malteser-Joe schnippisch. »Natürlich bin ich qualifiziert, aber in diesem Jahr haben sie die Weltmeisterschaft abgesagt. Sobald sie wieder stattfindet, bin ich selbstverständlich wieder am Start.«

»Ich hätte da schon mal einen potenziellen Siegerwitz, falls du noch etwas Input brauchst«, verkündete Zamorra und nahm genüsslich einen Schluck Rotwein. »Und der geht so: Ein Priester und eine Nonne sind in den Alpen unterwegs. Sie werden von einem Schneesturm überrascht und kämpfen sich zu einer Hütte durch. Dort finden sie viele Decken, einen Schlafsack, aber nur ein Bett. Der Priester, ganz Gentleman, überlässt der Nonne das Bett und nimmt den Schlafsack. Als er gerade einschläft, hört er: Vater, mir ist so kalt. Der Priester steht also auf und legt eine weitere Decke über die Nonne ...«

»Jetzt bin ich aber mal gespannt, was da noch kommt«, zischte Nicole. »Wehe, das wird ein Chauvi-Witz ...«

»Jetzt lass ihn doch mal weitererzählen«, fuhr ihr überraschenderweise Pater Ralph in die Parade. »Ich liebe Priesterwitze.«

»Also gut, wo war ich?«, fuhr Zamorra grinsend fort. »Genau, der Priester deckt die Nonne mit noch einer Decke zu. Die schreit trotzdem wieder: Vater, mir ist kalt. Er legt eine dritte Decke über sie. So geht das weitere drei Mal. Schließlich sagt der Priester: Wir könnten doch einfach so tun, als seien wir verheiratet. Niemand wird es erfahren. O ja, haucht darauf die Nonne, die nur darauf gewartet hat. Darauf brüllt der Priester: Dann steh gefälligst auf und hol dir deine scheiß Decke selber!«

Mehr als ein einfältiges Kichern Mostaches, ein provozierend langsames Händeklatschen Pater Ralphs und ein »Hört, hört« Malteser-Joes erzielte Zamorra nicht. Wenn man von der gelben Serviette absah, die Nicole ihm vor die Nase hielt. »Gelbe Karte, mein Lieber. Ich wusste genau, dass das ein Chauvi-Witz wird. Etwas anderes kannst du ja nicht ...«

Bevor die unübersichtliche Lage an der Witzefront weiter eskalieren konnte, ging die Tür auf. Marie-Claire Boulez, die stolze Besitzerin des Krämerladens von Saint-Cyriac, kam herein. Die 65-Jährige ließ sich nur sehr selten am Montagne-Stammtisch blicken. Sie setzte sich und legte die Zeitung auf den Tisch, die sie zuvor unter den Arm geklemmt hatte.

Es war der Le Progrès. Zamorra schaute interessiert auf die Tageszeitung. Sie war von heute und machte mit einem Terroranschlag in Dänemark auf.

»Schön, dass ich euch hier alle versammelt finde«, sagte Marie-Claire schnaufend und schaute lächelnd in die Runde. »Heute Morgen im Laden sagte irgendjemand, dass heute mal wieder Stammtisch ist. Eigentlich wollte ich ja nicht herkommen. Aber als ich nach dem Saubermachen des Ladens gerade vorhin noch den Le Progrès durchgeblättert habe, da ist mir ein Artikel aufgefallen, von dem ich dachte, den muss ich doch gleich Zamorra und Nicole zeigen. Nur falls ihr ihn ohnehin noch nicht gelesen habt ...«

»Eher nicht«, meinte Zamorra. »Willst du was trinken, Marie-Claire? Du bist selbstverständlich auch eingeladen, wie jeder hier am Tisch.«

»Hast du Brombeerlimonade, Pierre? Da würde ich eine nehmen.« Sie wandte sich wieder Zamorra zu. »Schlag mal Seite drei auf.«

Zamorra zog die Zeitung stirnrunzelnd zu sich her, faltete sie auf und blätterte einmal um. Den Aufmacher der »Nachrichten aus Frankreich« bildete eine große Geschichte mit der Schlagzeile: Vierte Mumie aufgefunden! Er las den Text durch. Sie handelte von fünf rätselhaften Mordfällen in Paris und Umgebung, bei denen die Leichen als mumifizierte uralte Greise aufgefunden worden waren, obwohl es sich um Menschen in bestem Alter gehandelt hatte. Über Gentests seien die Toten eindeutig identifiziert worden. Die Polizei würde diese unheimliche Tatsache allerdings strengstens unter Verschluss halten. Der Progrès habe aber eine absolut glaubwürdige Quelle, die zwei der Leichen selbst gesehen habe. Diese Quelle habe sich wie folgt geäußert: »Die Leichen wirken, als habe ihnen eine teuflische Macht ihre komplette Lebensenergie geraubt.«

»Wie glaubwürdig ist das?«, fragte Nicole, die an Zamorras Oberarm vorbei mitgelesen hatte.

»Keine Ahnung.« Zamorra zuckte kurz mit den Schultern. »Möglich wäre es zumindest. Wir wissen ja, dass es unter unseren schwarzmagischen Freunden Energiesauger gibt. Deren Opfer sehen dann so ähnlich aus, wie der Autor sie hier beschreibt. Wir sollten zumindest mal abklären, ob da was dran ist oder nicht. Danke, Marie-Claire.«

Zamorra und Nicole blieben noch eine Stunde sitzen und brachen dann auf. Sie enterten ihren Citroën DS 23 Pallas. »Ich liebe es jedes Mal aufs Neue, die Göttin zu besteigen«, merkte Zamorra launig an.

»Aber chéri«, säuselte ihn Nicole vom Nebensitz an. »Du weißt doch ganz genau, dass du keine andere Göttin neben mir haben sollst, auch wenn bloß das blöde Auto so genannt wird. Und warum ich deine einzige Göttin bin, werde ich dir gleich nachher auf dem Bärenfell im Kaminzimmer mal wieder nachdrücklich in Erinnerung rufen.«

16. Juli 1453, Gascogne, Frankreich

Der englische Heerführer John Talbot, Earl of Shrewsbury, saß in seinem Zelt und starrte in die Flamme des Windlichts, das von der Decke hing. Selbst die Nacht konnte die Hitze nicht vertreiben, die sich schon seit Tagen drückend über das Land legte. Deswegen hatte sich der hochgewachsene hagere Siebzigjährige, dessen glattrasiertes Gesicht von schulterlangen grauen Haaren umrahmt wurde, bis auf den Unterrock und die Strumpfhose ausgezogen. Sinnend nahm er einen Schluck Wein aus dem Zinnbecher, der vor ihm auf einem kleinen Feldtisch stand. Sobald der Becher geleert war, würde er sich auf sein bequemes Feldbett legen und sich dort zur Ruhe begeben. Talbot war schon immer mit der Gabe gesegnet gewesen, auch kurz vor entscheidenden Schlachten tief und fest schlafen zu können.

Der Schein der Lagerfeuer, die überall im Heerlager brannten, drang durch die Zeltwände, es hätte des Windlichts also gar nicht bedurft. Talbot seufzte. Die Schlachten, die er in den kommenden Tagen und Wochen schlagen würde, entschieden darüber, ob die englische Krone ihre wenigen in Frankreich verbliebenen Besitztümer sichern konnte ...

... oder ob wir endgültig aus Frankreich hinausgeworfen werden, dachte Talbot. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, obwohl ihm nicht danach zumute war. Sein Heer bestand aus 8000 Mann. Aber nur 2000 davon waren englische Ritter und gut ausgebildete Fußsoldaten, Bogenschützen zumeist. Der größere Teil bestand aus unzureichend ausgebildeten und bewaffneten Gascognern aus Bordeaux, über deren Kampfmoral er zudem recht wenig wusste. Immerhin würden demnächst weitere 3000 Gascogner aus Castillon zu ihm stoßen, um dem anrückenden französischen Heer die Stirn zu bieten. Dann sah die Sache zumindest zahlenmäßig schon wieder besser aus. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl. Zum ersten Mal vor einer Schlacht glaubte er nicht festen Herzens an einen Sieg.

Dadurch dass die Franzosen in den letzten Jahren große Teile der englischen Besitzungen zurückerobert hatten, war ihr Selbstvertrauen und damit einhergehend ihre Kampfbereitschaft ins Unermessliche gewachsen, während in die Herzen der Engländer Unsicherheit und Zaudern, vielleicht sogar Angst eingekehrt war. Ebenso wie in die Herzen der Gascogner.

Das Herzogtum Gascogne mit seiner Hauptstadt Bordeaux stand seit mehr als 300 Jahren treu an Englands Seite und unterstützte das Inselkönigreich im Kampf gegen Frankreich, im Moment gegen König Charles den Siebten. Anno Domini 1451 war Bordeaux jedoch von Charles Armeen erobert worden.

Und ich konnte Bordeaux mit meinen 3000 Soldaten bereits ein Jahr später wieder zurückerobern. Aber nur, weil sich die Gascogner in der Stadt gegen die französischen Besatzer erhoben hatten und uns die Tore öffneten ...

Talbot wusste nur zu gut, dass dieser Sieg, wenn auch von hohem Symbolwert, nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein bedeutete. Denn die Gascogne war den Engländern als letzter Verbündeter in Frankreich verblieben. Die ganze Gascogne? Nein, nicht einmal mehr das, nur ein Teil davon. Dazu gehörte auch die Stadt Castillon. Die Übermacht der französischen Truppen durfte somit als erdrückend angesehen werden.

Natürlich war auch den Gascognern der unaufhaltsame Vormarsch der Franzosen nicht verborgen geblieben. Talbot wusste um die, noch flüsternd vorgetragenen, Überlegungen einflussreicher Gascogner in Bordeaux, dass es vielleicht doch die bessere Zukunft sei, den Engländern die Treue aufzukündigen und sich dem französischen König zu unterwerfen.

Nach Talbots Kenntnis zog bereits ein mächtiges französisches Heer von Norden her durch die Gascogne, um Bordeaux erneut unter französische Herrschaft zu bringen und so den Widerstand der Gascogner endgültig zu brechen. Talbot war aber viel zu erfahren, um sich von den Franzosen in Bordeaux einschließen und aushungern zu lassen. Er wollte dem Feind in offener Feldschlacht begegnen, da hatte er seine Stärken.

Talbot lauschte dem Lärm, der von draußen an sein Ohr drang. Seine Ritter und Soldaten lachten, scherzten, würfelten und sprachen dem billigen Wein zu, als ginge es morgen unbeschwert in die Sommerfrische und nicht in eine Schlacht. Sie mussten dank der fetten Vorräte aus Bordeaux keinen Hunger leiden und waren auch noch nicht von Seuchen heimgesucht worden. Schon allein das hob die Moral.