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Der Gestank, der aus den turmhohen Müllbergen kroch, war kaum auszuhalten. An bestimmten Tagen, wenn die Sonne besonders heiß brannte, wurde er noch schlimmer. Dann kriegte man kaum noch richtig Luft und die Augen tränten den ganzen Tag.
Eigentlich hätte Simon gar nicht hier sein dürfen, doch er hatte keine Wahl. Die Müllhalde war nun mal sein Zuhause, da ihn seine Familie schon vor langer Zeit verstoßen hatte.
Denn er war ein Skolombo, ein Hexenkind ...
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Skolombo – Die Hexenkinder von Nigeria
Leserseite
Vorschau
Impressum
Skolombo – Die Hexenkinder von Nigeria
von Ian Rolf Hill
Der Gestank, der aus den turmhohen Müllbergen kroch, war kaum auszuhalten.
Normalerweise bemerkte Simon ihn überhaupt nicht, schließlich roch er ihn täglich. Doch an bestimmten Tagen, wenn die Sonne besonders heiß brannte, wurde er noch schlimmer. Dann kriegte man kaum noch richtig Luft, und die Augen tränten den ganzen Tag.
Eigentlich hätte er gar nicht hier sein dürfen, doch Simon hatte keine Wahl. Die Müllhalde war nun mal sein Zuhause. Sein einziges. Ein anderes hatte er nicht, da ihn seine Familie schon vor langer Zeit verstoßen hatte.
Denn er war ein Skolombo, ein Hexenkind.
Lemna-Müllhalde, Calabar, Nigeria
Er war neun gewesen, als sein Vater ihn aus dem Haus gejagt hatte. Einfach so. Von einem Tag auf den anderen. Weil er angeblich die Ziegen verhext habe, die plötzlich keine Milch mehr geben wollten. Sie waren krank geworden und gestorben. So wie Mama.
Seitdem war Simons ältere Schwester Adanna die Frau im Haus gewesen. Aber auch sie hatte Vater nicht davon überzeugen können, dass er die Ziegen nicht verhext hatte. Ebenso wenig wie Mama.
Warum hätte er das tun sollen? Er hatte sie doch genau so lieb gehabt wie Papa und Adanna.
Noch heute, fast zwei Jahre später, wachte er manchmal in der Nacht auf. Das Gesicht nass von Tränen. Jedes Mal wischte er sie schnell ab, damit niemand sah, dass er geweint hatte. Auf keinen Fall wollte er vor den anderen Kindern als Heulsuse dastehen.
Es war so schon schwer genug.
Wenn die Älteren spitz kriegten, dass er wie ein kleines Mädchen weinte, würden sie ihn noch härter verdreschen, als sie es ohnehin taten. Oder Schlimmeres ...
»He, Simon. Träumst du?«
Aki stieß seinem Freund die Faust gegen die Schulter. Simon strauchelte und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten.
Wütend starrte er seinen Kameraden an.
Auch Aki war von seiner Familie ausgestoßen worden. Allerdings erst, nachdem ihn sein Vater und sein Onkel halb tot geprügelt hatten. Wie ein Stück Abfall hatten sie ihn am Rand der Müllhalde abgeladen.
Simon und ein paar andere Kinder hatten ihn gefunden, bevor ER es getan hatte. Das war sein Glück gewesen. Seit dem Tag waren Aki und Simon unzertrennlich.
Sie waren praktisch ständig zusammen, sogar in der Nacht, die sie mit weiteren Skolombo in selbstgebauten Baracken am Rande von Lemna verbrachten. Es gab zwar auch einige leer stehende Gebäude, doch da ließen die Älteren sie nicht rein. Manchmal nahmen sie eines der jüngeren Kinder mit. Vor allem Mädchen. Bislang hatten Simon und Aki keines von ihnen wiedergesehen.
Zuletzt war Lisha verschwunden.
Vermutlich war sie ebenfalls Mashawe geopfert worden. So wie die anderen.
Mashawe war ein Dämon, der angeblich unter dem Müll hauste. Deshalb traute sich auch keines der Kinder in der Nacht dorthin. Gesehen hatte ihn bisher niemand.
Wie auch? Wer Mashawe zu Gesicht bekam, war verloren.
Trotzdem gab es keinen, der nicht an ihn glaubte.
Es hieß, dass die Älteren ihn mit dem Fleisch der verschwundenen Kinder fütterten, damit Mashawe nicht zürnte und die Ratten schickte, von denen es hier in Lemna noch mehr als Skolombo gab.
»Guck mal, Simon«, rief Aki, und bückte sich.
Mit beiden Händen zerrte er an einem vom Rost zerfressenen Kotflügel. Eine Ratte huschte darunter hervor, schlüpfte zwischen Akis spindeldürren Beinchen hindurch und wuselte über Simons Füße, die er mit dreckigen Lumpen umwickelt hatte, damit er sich nicht an den scharfen Kanten verletzte. Der nackte Schwanz des Nagers strich über sein Schienbein.
Simon achtete nicht darauf. Bei Tage waren die Ratten harmlos. Sofern man überhaupt eine zu Gesicht bekam. Selbst den Biestern war es zu warm und stickig.
»Lass doch«, maulte Simon. »Dafür bekommst du nicht mal ein Stück trockenes Brot.«
Aki hielt inne und schaute seinen Kumpel über die Schulter hinweg wütend an. »Blödmann. Um das Teil geht's doch gar nicht. Komm her und guck mal, was darunter liegt.«
Jetzt wurde Simon doch neugierig. Wie einer der Störche, die manchmal im Müll nach Futter suchten, stakste er hinüber zu Aki, der längst wieder an dem rostigen Kotflügel zerrte.
Simon beugte sich vor und stützte sich auf den Oberschenkeln ab.
Tatsächlich. In dem Schatten darunter sah er einen klobigen, rostbrauen Gegenstand. Vielleicht ein Teil des Motors, das sie in Calabar verkaufen konnten. Oder etwas Alteisen.
Simons Herz schlug vor Aufregung schneller. Sein Magen knurrte bei der Vorstellung, dass sie heute vielleicht nicht hungrig zu Bett gehen mussten.
»Versuch mal, das Ding rauszuziehen«, keuchte Aki ungeduldig. »Nun mach schon.«
Das musste er Simon kein zweites Mal sagen. Der sank auf die Knie und schob sich nach vorne. Er hielt die Luft an, drückte den Kopf zur Seite und machte den Arm lang.
Blind tastete er nach dem klobigen Teil. Schon berührten die Finger die raue Oberfläche, als etwas seine Hand umklammerte.
Simon riss den Kopf herum und starrte entsetzt in die milchigtrüben Augen eines Mädchens, das eingeklemmt zwischen den Schrottteilen lag. Die ehemals dunkle Haut schimmerte grau, die schwarze Zöpfe waren stumpf und zerzaust.
Die Hand, mit der sie ihn festhielt, war eiskalt.
Simon schrie und zerrte wie wild an seinem Arm. Die Finger des Mädchens rutschten ab. Der Junge verlor den Halt und fiel rücklings in den Müll. Etwas Spitzes bohrte sich in seinen Rücken.
»Bist du bescheuert?«, rief Aki zornig.
Simon streckte den Arm aus. »D-d-da ...«
Aki ging in die Knie, stemmte den Kotflügel mit beiden Händen hoch und reckte den Kopf nach vorne. »Ja, was denn?«
»Es ... es ... es war Lisha. Lisha liegt im Müll. Und ich ... ich glaube, sie ist tot!«
»Idiot! Ich sehe niemanden.«
Simon schüttelte den Kopf. Trotz der Wärme zitterte er am ganzen Leib. »Aber ... aber ... aber ich habe sie deutlich gesehen.« Er hob den Arm. »Sie hat mich sogar angefasst.«
Aki grinste. »Das hättest du wohl gerne, wie?«
»Halt's Maul«, rief Simon.
Doch die Wut auf seinen Freund half ihm die Angst zu überwinden. Er rappelte sich auf und kroch zu Aki. Und wahrhaftig, dort wo er Lisha gesehen hatte, lag das aufgerissene Polster eines Autositzes. Der Schaumstoff war herausgequollen. Wahrscheinlich hatte ihn die Ratte herausgezerrt, um sich daraus ein Nest zu bauen.
Simon blinzelte. Konnte er sich denn so sehr getäuscht haben?
»Halt du mal das Ding«, sagte Aki, und bewegte ruckartig den Kopf.
Automatisch gehorchte Simon, ohne jedoch den Blick von dem kaputten Sitz abzuwenden.
Aki aber kroch bäuchlings hinein und ergriff das glänzende Teil mit beiden Händen. In Simons Bauch kniff und zwickte es. Jeden Moment rechnete er damit, dass Aki anfing zu schreien und mit den Beinen zu zappeln.
Stattdessen robbte er zurück, wälzte sich auf den Rücken und setzte sich auf.
Simon ließ den Kotflügel fallen. Es schepperte laut, doch keiner der Jungs störte sich daran. Beide hatten nur Augen für das gewundene Teil.
»Was ist denn das?«, fragte Simon.
»Keine Ahnung.« Aki zuckte mit den Achseln. »Ist auch egal. Es ist aus Eisen. Dafür kriegen wir jede Menge Geld.«
Er reckte das Teil in die Höhe und stieß einen Jubelschrei aus. Dann sprang er auf die Beine und rannte los. Simon fuhr erschreckt zusammen. Wollte Aki die Kohle etwa alleine einheimsen?
Hastig rappelte er sich auf die Füße und folgte dem Freund, so schnell ihn die Füße trugen. An Lisha verschwendete er keine Gedanken mehr. Er wollte bloß was zwischen die Zähne bekommen.
Aki hatte den Rand der Müllhalde erreicht. Noch immer stieß er laute Freudenschreie aus. Simon hätte sich gewünscht, dass er damit aufhörte. Längst waren die anderen Kinder, die auf der Halde nach Flaschen und Alteisen Ausschau hielten, aufmerksam geworden und hoben den Kopf.
Das viel zu große rote T-Shirt flatterte wie eine Fahne um Akis mageren Körper. Er war ja gar nicht zu übersehen. Mit einem Sprung setzte er über das Gerippe eines Fahrrades hinweg, schlüpfte durch die Lücke im Maschendrahtzaun und wandte sich nach rechts.
»Warte!«, keuchte Simon, doch sein Freund hörte nicht.
Er hatte mindestens zwanzig Meter Vorsprung und fast das Ende des staubigen Pfades erreicht, als vor ihm aus den Schatten einer Baracke drei Gestalten traten. Eine von ihnen stellte Aki ein Bein, sodass er aus vollem Lauf auf zu Boden stürzte. Die Beute wurde ihm aus der Hand geprellt und schlitterte einem der älteren Jungs direkt vor die Füße, die in verdreckten Sneakers steckten.
Das waren Tayo und seine Schläger.
Simon blieb wie angewurzelt stehen. Ihm wurde speiübel. Seine Knie fühlten sich weich wie Pudding an. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht, doch er konnte Aki jetzt unmöglich im Stich lassen. Andererseits traute er sich aber auch nicht näher an die drei größeren Kinder heran.
Tayo hatte das Stück Alteisen angehoben und hielt es Simon entgegen. »Danke, ihr Penner.«
Er grinste seinen Kameraden zu und wollte sich verdrücken, da heulte Aki auf und angelte nach dem Bein des älteren Jungen.
Der wirbelte herum und trat Aki noch aus der Drehung heraus mit voller Wucht in den Bauch.
Aki krümmte sich, wobei er abgehackte Laute ausstieß.
»Fass mich nicht an, du dreckige Ratte«, zischte Tayo, und spuckte den Jungen an. Dann zeigte er Simon den Mittelfinger und verdrückte sich.
Endlich konnte sich Simon wieder bewegen. Die Erleichterung, dass er nichts abbekommen hatte, wurde nur von der Enttäuschung, dass sie auch heute hungern mussten, überlagert.
Neben Aki ging er in die Hocke und griff nach der Schulter seines Freundes. Er wollte ihn auf den Rücken ziehen, doch Aki stieß ihn zurück.
»Lass mich, du Wichser«, heulte er.
»Hey, tut mir leid«, murmelte Simon.
»Warum hast du mir nicht geholfen?«, fragte Aki, ohne ihn anzugucken. Er hatte die Beine angezogen und die Arme um die Brust geschlungen.
»Was hätte ich denn tun können? Die sind doch viel zu stark.«
»Ja, und jetzt sind sie abgehauen, und wir haben schon wieder nichts zu fressen.«
»Komm schon. Wir ... wir gehen zu Sam, der ...«
»Sam ist genauso ein Wichser.«
»Das stimmt nicht. Er versucht uns zu helfen. Nun komm schon.« Simon verlor langsam die Geduld. »Du kannst hier nicht ewig liegen bleiben.« Er stand auf und ging um seinen Freund herum. Der hob endlich den Kopf, wischte sich die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht.
Dann nickte er und ließ sich von Simon sogar auf die Beine helfen.
»Sollen wir nicht lieber zu David gehen?«
Allein bei der Nennung des Namens wurde Simon schlecht.
»Warum?«, würgte er hervor.
»Weil er uns versprochen hat, uns zu heilen.« Akis Stimme klang weinerlich.
»Wovon?«, fragte Simon. »Ich bin nicht krank. Und du auch nicht.«
»Dohohoch«, heulte Aki. So laut, dass sein Freund erschreckt zusammenzuckte. »Wir sind Skolombo. Wir sind böse und müssen gereinigt werden.«
Betroffen starrte Simon den jüngeren Knaben an. »Das meinst du nicht ernst.«
Aber Aki antwortete nicht. Er drehte den Kopf und hob die Schultern, um abermals das Gesicht abzuwischen. Auf dem roten Stoff blieb eine glänzende Spur zurück.
Simon umklammerte Akis Arme. »Wir sind nicht besessen!«
Aus verheulten Augen schaute ihn sein Freund an. »Ich will doch bloß wieder nach Hause.«
Simon seufzte und ließ die Schultern hängen. Noch vor zwei Jahren hätte er den Vorschlag begeistert angenommen. Es war die einzige Möglichkeit, die Familie davon zu überzeugen, dass man kein Skolombo, kein von bösen Geistern besessenes Hexenkind war. Auch Simon hatte einen Exorzismus an sich durchführen lassen. Dabei wäre er fast gestorben.
Gebracht hatte das Ritual rein gar nichts!
Sein Vater hatte ihn trotzdem nicht bei sich aufnehmen wollen, und so war Simon zurück nach Lemna gegangen, um Pfandflaschen und Alteisen zu suchen.
Aber vielleicht war das heute anders. Vielleicht war er damals zu jung gewesen. Oder das Böse zu stark. Vielleicht hatte er ja erst eine bestimmte Zeit hier in Lemna verbringen müssen, um den lieben Gott davon zu überzeugen, dass er kein schlechter Mensch war.
»Bitte!«, flehte Aki.
Und dieses eine Wort gab den Ausschlag.
»Na schön«, murmelte Simon. »Wir versuchen es.«
Doch das ungute Gefühl blieb. Warum musste er ausgerechnet jetzt wieder an Lisha denken?
Der Gesang der Gläubigen war weithin hörbar.
Lauthals krakeelten sie ihre Glaubensbekenntnisse hinaus, stampften mit den nackten Füßen auf den hölzernen Boden und klatschten in die Hände.
Femi Mustapha, genannt Pater David, war zufrieden mit seiner Gemeinde. Sie waren erfüllt vom wahren Glauben an Gott und Jesus Christus, und das schrie er lauthals in das Mikrofon, das er in der in rechten Hand hielt, damit ihn auch ja jeder hörte.
»Herr Jesu Christi! Siehst du diese frommen Leute, die erfüllt sind von deiner Liebe? Gib ihnen Kraft und Zuversicht, damit sie den Versuchungen des Bösen widerstehen können. Nimm das Joch von ihnen und stärke ihre Seelen. Du allein vermagst den Satan aus ihnen zu vertreiben, auf das sie zu barmherzigen Dienern Gottes werden, auf die du mit Wohlwollen herabschauen kannst. Amen!«
Er stimmte einen Gesang an, in den die Gläubigen jubelnd mit einfielen. Danach war der Gottesdienst beendet.
Femi verabschiedete seine Schäfchen, bedachte sie mit strengen Blicken und gütigem Lächeln, so wie es der Herr ebenfalls tat.
Die Kirche leerte sich. Zurück blieben Femi und seine Frau Maria, die den Besen ergriff, um den Dreck ins Freie zu kehren, den die Gläubigen mit hereingebracht hatten.
Für Femi besaß er eine symbolische Bedeutung.
Es waren die Schande und der Schmutz, die ihren Seelen anhaftete und die sie durch ihre Gebete abschüttelten, damit sie geläutert und gefestigt im Glauben zu ihren Familien zurückkehren konnten.
Ja, Femi »David« Mustapha war überzeugt, das Richtige zu tun.
Er schritt um den mit einem weißen Leinentuch bedeckten Altar herum und öffnete die Tür zur Sakristei. Dort legte er das Gewand aus violettem Taft ab und wischte sich mit einem Tuch die dünne Schweißschicht ab, die sich auf seine Haut gelegt hatte. Obwohl die Kirche gut gelüftet und es noch früh am Tage war, schwitzte er, so sehr hatte er sich verausgabt.
»Femi!«
Er drehte sich um und sah Maria in der Tür stehen. Ihre Augen hinter den Brillengläsern blickten ernst. Ohne zu fragen, trat er auf sie zu. Sie wich zur Seite, damit er den Altarraum betreten konnte.
Doch erst nachdem er Gottes Gabentisch umrundet hatte, sah er, weshalb seine Frau ihn gerufen hatte. Sie standen im Eingang der Kirche und hielten sich an den Händen. Zwei Knaben, höchstens elf Jahre alt. Der Schmächtigere von ihnen war sogar noch jünger.
Femi kannte sie beide, obschon ihm ihre Namen nicht sofort einfielen.
Es waren Skolombo. Hexenkinder.
Scharf atmete er ein.
»Was wollt ihr?«, fragte er streng.
Der ältere Junge senkte den Kopf. Sein Freund sah aus, als hätte er vor Kurzem geweint. In Femi Mustapha rührte sich Mitgefühl. Es zerriss ihm jedes Mal das Herz, wenn er einer solchen verlorenen Seele gegenübertrat.
Ja, die Kinder waren vom Bösen erfüllt, aber was konnten sie schon dafür?
»Wir ... sind hier, um Gott und Jesu Christi um Hilfe zu ersuchen«, stammelte der ältere Knabe.
»Wie lautet dein Name, Junge?«
»S-Simon. Simon Ibe.«
»Und dein Freund?«
»Akono Daramola.«
Femi Mustapha nickte. Er kannte die beiden Familien, denen der Herr so schwere Prüfungen aufgebürdet hatte. Mashawe hatte Abraham Ibe, Simons Vater, in Gestalt seines Sohnes die Frau genommen. Auch das Vieh war eingegangen. Alles, was ihm geblieben war, war eine Tochter.
Der Priester erinnerte sich, dass er schon einmal einen Exorzismus an dem Jungen durchgeführt hatte. Damals war das Böse zu stark gewesen. Und heute? Es würde sich weisen. Gott, der Herr, und Jesu Christi, sein eingeborener Sohn, würden ihre schützenden Hände über die Knaben halten.
Sowohl im Leben, als auch im Tode ...
»Ich sehe, ihr seid bereit, das Joch des Bösen abzuwerfen. Mit Gottes Gnade und Jesu Hilfe wird es euch gelingen. Kommt bei Sonnenuntergang wieder, und ich verspreche euch, ihr werdet Frieden finden.«
Simon zitterte.
Obwohl die Hitze des Tages noch in den Wänden hing, fror er entsetzlich. Hände und Füße waren taub vor Kälte. Aki erging es da nicht besser. Simon hörte sogar das Klappern seiner Zähne.
Sie knieten beide vor dem Altar der Kirche. Die Stühle standen zusammengeklappt neben der Tür. Mehrere Mitglieder der Gemeinde hatten sich eingefunden, um Pater David bei dem Exorzismus zu helfen. Sie alle trugen blütenweiße Gewänder und waren barfuß.
So wie der Priester auch, der mit einer an einer Kette hängenden Kugel aus Blech um die beiden Jungen herumging.
Zuvor hatte David sie mit trockenen Kräutern befüllt, in die er ein Stück glühende Kohle hineingelegt hatte. Weißgrauer Rauch kräuselte sich aus den Löchern, mit denen die Kugel übersät war. Er verbreitete einen betäubenden Geruch, der Simon schwindelig machte.
Obwohl er bei Weitem nicht so entsetzlich stank wie die Dämpfe auf der Müllhalde, hatte Simon das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Er war froh, als David seine Rundgänge beendet hatte. Insgesamt sechs Mal war er um die Kinder herumgegangen.
Anschließend überreichte er seiner Frau die Kette mit der Kugel. Sie trug sie nach draußen und hängte sie vor der Tür an einen Balken. David aber trat vor Simon und Aki hin und legte ihnen die großen, ledrigen Hände auf das Haupt.
Er hob das Kinn und schloss die Augen, ehe er das Gebet anstimmte.
Zwei der weiß gekleideten Gemeinde-Mitglieder traten vor, in den Händen Büschel aus Weizen und Kräutern, mit denen sie auf die nackten Sohlen der Kinder einschlugen. Nicht sonderlich fest, eigentlich tat es nicht mal richtig weh, trotzdem zuckten Simon und Aki bei jedem Schlag, der von einem Rascheln begleitet wurde, zusammen.
»O Vater, der du bist im Himmel. Siehe deine beiden Kinder, Simon Ibe und Akono Daramola, die vor dir niederknien und demütig deinen Beistand erbitten, denn sie sind erfüllt vom Bösen. Mashawe hat sie verflucht und ihre Seelen verdorben. Wie Ratten kriechen sie durch den Müll, doch das soll nun ein Ende haben. Mit deiner Hilfe, o Herr. Schicke ihnen deine Liebe, deine Güte und Kraft, auf das sie das Joch des Bösen abwerfen können, um in deinen Schoß zurückzukehren.«
David nahm die Hände vom Haupt der Kinder und drehte sich zu dem Altar um.
Simon wagte nicht, den Blick zu heben oder die Augen zu verdrehen. Auch Aki gab keinen Mucks von sich. Als Pater David sich wieder umdrehte, hielt er eine hölzerne Schale in den Händen, mit der er dicht vor die Kinder trat.
»Dies ist das Blut Jesu Christi, das eure verderbten Leiber vom Bösen reinigen wird. Trinket und findet Erlösung.«
Er setzte den Rand der Schale an Simons Lippen. So dicht vor seiner Nase konnte er die dunkle Flüssigkeit sogar riechen. Der Geruch erinnerte ihn tatsächlich an Blut. So schwer und süßlich und irgendwie metallisch. Nur der Geschmack war überhaupt nicht süß, sondern eklig und bitter.