Professor Zamorra 1290 - Ian Rolf Hill - E-Book

Professor Zamorra 1290 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Der winzige Körper des toten Säuglings bewegte sich. Das Taufkleidchen, in dem er beerdigt worden war, war dunkel angelaufen und hatte sich mit einer braunen Flüssigkeit vollgesogen. Die Augen in dem kahlen Kopf waren hervorgequollen und rollten in den Höhlen herum.
Der Mund bewegte sich lautlos, und zwischen den Fingern hielt er eine Spieluhr.
"Hoppe hoppe Reiter ..."
Lucia kniete am Rand des Grabes und griff mit beiden Händen hinein, um ihren Sohn aus der kalten, feuchten Erde herauszunehmen. Sie lächelte ...


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Inhalt

Cover

Ein Dorf in Hass

Leserseite

Vorschau

Impressum

Ein Dorf in Hass

von Ian Rolf Hill

Der winzige Körper des toten Säuglings bewegte sich. Das Taufkleidchen, in dem er beerdigt worden war, war dunkel angelaufen und hatte sich mit einer braunen Flüssigkeit vollgesogen. Die Augen in dem kahlen Kopf waren hervorgequollen und rollten in den Höhlen herum. Sie waren eingetrübt, sodass Pupille und Iris kaum noch zu erkennen waren.

Der Mund bewegte sich lautlos, und zwischen den Fingern hielt er eine Spieluhr.

»Hoppe hoppe Reiter ...«

Lucia kniete am Rand des Grabes und griff mit beiden Händen hinein, um ihren Sohn aus der kalten, feuchten Erde herauszunehmen. Sanft wiegte sie ihn im Arm, leise singend, hin und her. Bartosz brabbelte und streckte die verschrumpelten, braun angelaufenen Händchen nach seiner Mutter aus. Lucia lächelte.

Bis zu dem Augenblick, wo zwei halb verweste Arme aus dem Boden des Grabes stießen, Lucias Arme umklammerten und ihr den Säugling entreißen wollte.

Sie schrie und warf sich zurück.

Die Erde brach auf, entließ das verweste Antlitz eines Untoten. Die Haut war grünlich-schwarz angelaufen, mit Flechten und Schimmel überzogen. Braun verfärbte Zahnstummel ragten aus dem vergammelten Zahnfleisch, durch das bereits der Kieferknochen schimmerte.

Die Augen waren längst zusammengefallen und eingetrocknet. Würmer und Maden tummelten sich in den Höhlen, schoben sich durch das aufgedunsene Fleisch, das wie ein Schwamm am Gebein haftete.

Das Gesicht des Toten war bis zur Unkenntlichkeit verfault. Viel mehr als das des Säuglings. Dennoch erkannte Lucia die lebende Leiche auf Anhieb wieder.

Aber das konnte nicht sein. Er war tot. Gefressen und vernichtet.

»Hoppe hoppe Reiter. Wenn er fällt dann schreit er. Fällt er in den Graben, dann fressen ihn die Raben. Fällt er in die Scheune, fressen ihn die Schweine.«

Der Kopf platzte auf, und heraus schob sich der feucht glänzende Rüssel eines Ebers. Lucia starrte in den aufgerissenen Schlund mit den pflastersteingroßen Zähnen, die nach Bartosz schnappten.

Sie wollte sich losreißen, doch gegen den schraubstockartigen Griff der Totenklauen kam sie nicht an. Die Kiefer des Schweines schlossen sich um ihre Hände, den Säugling ...

Sie packten zu, zermalmten Fleisch und Knochen und ...

... Lucia brüllte.

Ruckartig riss sie die Lider auf. Um sie herum war es finster. Sie konnte nicht mal die Hand vor Augen sehen. Warum war es so dunkel?

Das T-Shirt klebte wie eine zweite Haut am Oberkörper, das Herz hämmerte im Stakkato. Auf ihrer Brust schienen Zentner zu liegen. Ihr Gewicht lastete so schwer, dass sie kaum atmen konnte.

Luft! Sie brauchte Luft ...

Der kalte Schweiß brach ihr aus sämtlichen Poren.

Wild schlug sie mit den Armen um sich, traf auch etwas, jemanden. Irgendwo splitterte Glas. Ein Licht flammte auf.

»Lucia?«

Ein Schatten beugte sich über sie. Lange schwarze Haare strichen über ihre kaltschweißige Haut.

»Lucia!!!«

Der Schrei hörte sich meilenweit entfernt an. Das Blut rauschte in Lucias Ohren. Grelle Lichter zerplatzten vor ihren Augen. Ein Gesicht schälte sich daraus hervor.

Elayna.

Das Mädchen aus der Mongolei, das vor nicht mal einer Woche seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte.

Lucia spürte die Hände ihrer Freundin an den Schultern. »Lucia, was ist los? Was ...«

Sie rang nach Atem. Keinen Laut brachte sie hervor, nur dieses erbärmliche Giemen und Ächzen. Elaynas Gesicht zeigte einen Ausdruck grenzenlosen Entsetzens. Sämtliche Farbe wich daraus, die bronzene Haut wurde aschfahl.

»HILFEEE!«, brüllte sie, und kniete sich neben Lucia, die mit weit aufgerissenen Augen auf ihre Freundin starrte.

»Lucia, hör mir zu«, vernahm die Elaynas Stimme. »Du musst atmen. Ganz ruhig. Nur atmen. Es ist alles in Ordnung, es ...«

Gar nichts war in Ordnung! Kapierte sie das nicht? Er war zurückgekehrt. Er lag in seinem Grab und rief nach ihr. Wartete auf sie, um sie zu sich in die kalte Erde zu ziehen. Er ...

Der Schlag traf Lucia völlig unvorbereitet.

Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass Elayna ausgeholt hatte. Die flache Hand klatschte auf Lucias Wange und riss ihren Kopf herum. Bevor sie erneut zuschlagen konnte, tauchte eine weitere Gestalt neben dem Bett auf. Nur mit Shorts bekleidet.

Ein Mann, der Elaynas Arm abfing und festhielt.

»Vorsicht, Nici! Da sind überall Scherben.«

»Schon gesehen.«

Eine zierliche Gestalt mit langen blonden Haaren erschien in Lucias Sichtfeld, hielt ihr etwas unter die Nase. Der stechende Geruch von Ammoniak biss in ihre Nasenschleimhäute und explodierte hinter den Augen, die sofort zu tränen anfingen. Lucias Lungen füllten sich mit Luft. Keuchend atmete sie tief ein.

»Okay, das sollte reichen!«, vernahm Lucia die Stimme der Blonden.

Deren Hände legten sich seitlich an ihren Kopf, zwangen Lucia, sie anzusehen. Goldene Tüpfelchen funkelten in ihren Augen.

»Hey, kannst du mich hören?«

Die Stimme klang scharf. Überhaupt nicht warm und einfühlsam. Genau richtig.

Lucia nickte.

»Du hattest eine Panikattacke. Aber es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit!«

»In Sicherheit? Wo?«

»Auf Château Montagne«, meldete sich der Mann, der Elayna losgelassen hatte.

Elayna!

Lucia schnellte hoch, schwang die Beine aus dem Bett und hätte dabei fast noch die blonde Französin von der Kante geschubst.

»He, hübsch langsam, ja?«

Die Frau sprang auf und stellte sich neben den hochgewachsenen Mann mit den dunkelblonden Haaren. Im Gegensatz zu ihm trug sie ein hauchdünnes Negligé und offenkundig nichts darunter.

»Zammy! Nicole!«, stammelte Lucia, nachdem sie endlich ins Hier und Jetzt zurückgefunden hatte.

Elayna sprang aufs Bett und schlang die Arme um ihre Freundin. »Tut mir leid! Tut mir leid! Tut mir leid!«, stammelte sie.

Lucia hatte das Gefühl, von einer Anakonda umarmt zu werden. Wieder einmal wurde ihr bewusst, was für eine Kraft in dem stämmigen Körper ihrer Freundin steckte.

»Elayna«, krächzte sie. »Ich krieg ... keine ... Luft.«

Das Mädchen aus der Mongolei ließ Lucia los, als hätte die sich gerade in eine haarige Riesenspinne verwandelt.

»Tut mir leid!«, murmelte sie ein letztes Mal.

»Was denn eigentlich?«

»Dass ich dich geschlagen habe.«

»Ach das ... das war gar nicht so verkehrt.«

»Vielleicht ein wenig oldschool«, mischte sich Nicole ein. »Nimm das nächste Mal einfach Ammoniak.« Sie deutete auf die Schachtel mit den gläsernen Ampullen, die stets griffbereit auf Lucias Nachttisch standen. Nur für den Fall, dass sie nachts dissoziierte, ausgelöst durch böse Erinnerungen, die sie noch immer in Form von Flashbacks heimsuchten.

»Oh, an die hab ich vor lauter Schreck gar nicht gedacht.«

»Hab ich gemerkt«, erwiderte Lucia trocken.

»Was war denn eigentlich los?«, erkundigte sich Zamorra. Vor seiner Brust hing Merlins Stern, jenes Amulett, das der weise Magier einst aus einer entarteten Sonne geschaffen hatte.

Ehe Lucia dazu kam, eine Antwort zu geben, wimmelte es plötzlich vor weiteren Personen im Zimmer. Darunter Butler William, Gyungo Tensöng, das Vogelmädchen Kira sowie Henry, der Junge mit den drei Gehirnen.

»Sie hatte einen Albtraum«, rief der altkluge Knabe. »Ist das nicht offensichtlich?«

»Ein Albtraum, der eine Panikattacke auslöst?«, entgegnete Nicole zweifelnd.

»Durchaus möglich«, erwiderten Zamorra und Henry wie aus einem Munde. Der Junge mit den drei Gehirnen holte Luft, um zu einem längeren Vortrag anzusetzen, doch der Meister des Übersinnlichen hob die Hand. »Allerdings kommt es eher selten zu Erstickungsanfällen.«

»Aber er hat recht«, sagte Lucia.

Gedankenverloren massierte sie sich die Unterarme. »Es war ein Albtraum. Aber ungewöhnlich intensiv. Fast wie ein ...«

Lucia senkte den Blick. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen.

»Angriff?«, hakte Nicole nach.

Normalerweise hätte Lucia das weit von sich gewiesen. Es war praktisch unmöglich, sie auf derartige Weise anzugreifen. Ihr Parapotenzial war so ungewöhnlich stark, dass sie jede magische Attacke reflektierte wie ein Spiegel das Licht. Allerdings wurden die Energien nicht automatisch auf den Angreifer zurückgeworfen, sondern auf jene Personen umgelenkt, gegen die Lucia einen Groll hegte.

Was bei ihrer instabilen Persönlichkeit praktisch jeder sein konnte.

»Lucia, was ist mit dir?«, flüsterte Elayna besorgt.

Statt eine Antwort zu geben, hob sie die Arme. Sie schmerzten, als würden sie tatsächlich von zwei knöchernen Klauen umklammert werden. Und genau jene Klauen zeichneten sich deutlich als Abdrücke auf der Haut ihrer Unterarme ab.

»Und du bist sicher, dass es dein Vater gewesen ist, den du gesehen hast?«, fragte Professor Zamorra eine halbe Stunde später.

Sie saßen zu viert in seinem Arbeitszimmer. Lucia, Elayna, Nicole und er, der Meister des Übersinnlichen.

Vor den Fenstern, durch die man bei Tage einen fantastischen Blick über die Weinhänge und das Dorf Saint-Cyriac hatte, ballte sich die Dunkelheit.

Im Sommer hätte sich längst das erste Licht des erwachenden Tages gezeigt, doch jetzt im November würde sich die Sonne noch ein wenig Zeit lassen. Sofern sie sich überhaupt blicken ließ, denn schon seit Tagen hing eine graue Wolkendecke über der Loire und drückte auf die Stimmung der Schlossbewohner.

Normalerweise wären Zamorra und Nicole gleich wieder im Bett verschwunden. Sie waren notorische Langschläfer, was vor allem ihrer Profession geschuldet war. Ihr Tag-Nacht-Rhythmus hatte sich im Laufe der Jahrzehnte dem ihrer schwarzblütigen Beute angepasst. Immerhin waren sie Dämonenjäger, und die Kreaturen der Hölle waren nun einmal nachtaktiv.

Daher glich es einem kleinen Wunder, dass sie überhaupt im Bett gelegen hatten, als Elayna um Hilfe gerufen hatte.

»Natürlich bin ich sicher«, beantwortete Lucia Zamorras Frage, und nippte an ihrem Kaffee.

»Schon gut«, murmelte der Parapsychologe, der wusste, wie aufbrausend seine Adoptivtochter sein konnte. Vor allem wenn sie unter Stress stand. »Aber du hast schließlich selbst gesagt, dass die Leiche, die du im Traum gesehen hast, ziemlich stark verwest war. Könnte es nicht jemand anderes gewesen sein?«

Lucia schüttelte den Kopf. »Du hast doch bestimmt auch schon den einen oder anderen Albtraum gehabt. Oder nicht?«

»Hin und wieder«, gab Zamorra zu.

»Berufsrisiko«, fügte Nicole lakonisch hinzu.

»Dann solltet ihr auch wissen, dass man im Traum oft Dinge einfach weiß, ohne dafür eine logische Erklärung zu haben. Außerdem ...«

»Ja?«, fragte Zamorra, als Lucia schwieg.

»Im Traum hat sich sein Kopf in den eines Schweines verwandelt.«

»Bitte?«

»Du hast richtig gehört. Mein Vater ... der Zombie ... hatte den Kopf eines Schweines.«

»Vermutlich eine Reaktion deines Unterbewusstseins«, meinte Nicole. »Du weißt schon, weil dein Vater ...«

»... von Schweinen gefressen wurde, schon klar. Trotzdem ...«

»Trotzdem was?«, erkundigte sich Zamorra sanft. »Glaubst du, er ist dafür verantwortlich?«

Er deutete auf ihre Unterarme. Die Abdrücke der Knochenhände waren zwar blasser geworden, aber immer noch deutlich zu erkennen.

»Wer sonst? Denkst ich hab das selbst getan?«

»Natürlich nicht absichtlich«, beschwichtigte der Meister des Übersinnlichen. »Aber die menschliche Psyche ist in Stresssituationen zu erstaunlichen Dingen fähig.«

»Besonders deine Psyche«, fügte Nicole hinzu.

»Was soll das heißen?«, fauchte Lucia gereizt.

»Das heißt, dass du etwas Besonderes bist. Wir haben dein Parapotenzial noch immer nicht zur Gänze erforscht.«

»Mit anderen Worten, ihr haltet mich für verrückt. Und das hier für eine psychosomatische Reaktion?« Lucia war weit davon entfernt, sich zu entspannen.

»Niemand hält dich für verrückt«, erklärte Zamorra, dessen Geduldsfaden langsam aber stetig dünner wurde. »Wir wollen dir helfen. Also versuch bitte, nicht jeden unserer Kommentare als persönlichen Angriff zu werten.«

Lucias Kiefer mahlten. »Okay. Tut mir leid.«

»Also, nehmen wir mal an, dein Vater hat versucht, dich aus dem Grab heraus anzugreifen«, nahm Nicole den Faden auf. »Wie sollte er das geschafft haben, wenn er von Schweinen gefressen wurde?«

»Genau das will ich ja herausfinden!«

»Wie meinst du das?«, wollte Zamorra wissen.

Lucia wechselte einen kurzen Blick mit Elayna. »Ich werde zurück nach Pechern fahren. Schätze, der Besuch ist längst überfällig.«

»Und was genau willst du da machen? Das Grab deines Vaters öffnen?«

»Wenn's sein muss!« Der Blick der Zwanzigjährigen wurde hart.

»Das wäre eine Strafttat«, gab Nicole zu bedenken.

»Tja, hat leider nicht jeder einen Sternenkristall, durch den man Gräber aufzaubern kann«, ätzte Lucia, und spielte damit auf ihre erste Begegnung mit Nicole an.

Damals hatte die Dämonenjägerin mit Hilfe des Dhyarra-Kristalls das Grab von Lucias Sohn Bartosz geöffnet, der zu einem Nachzehrer geworden war, einer Art Vampir, der seine Angehörigen zu sich ins Grab zog1.

Bartosz hatte natürlich instinktiv nach seiner Mutter gerufen, doch da Lucia gegen magische Angriffe gefeit war, hatte ihr Unterbewusstsein den Ruf des Nachzehrers auf ihre unmittelbaren Verwandten, ihre Peiniger, gelenkt. Zum Beispiel ihren Onkel Bernd, der sie ebenso missbraucht hatte wie ihr Großvater Wilhelm und der dicke Ottmar.

Oder ihr Vater ...

»In Ordnung, hab's kapiert«, erwiderte Nicole leicht pikiert. »Aber damals herrschten andere Umstände. Es hat Tote gegeben und ...«

»Muss ich vielleicht erst sterben, bevor ihr mir glaubt?«, fauchte Lucia.

Elayna legte ihrer Freundin beruhigend die Hand auf den Unterarm. Genau dort, wo sich der Abdruck der Knochenhand abzeichnete.

Lucia entzog sich dem Griff ihrer Gefährtin, die erschrocken zurückzuckte.

»Quatsch«, rief Nicole. »Niemand muss sterben. Ich möchte nur nicht, dass du irgendetwas überstürzt oder dich in unnötige Schwierigkeiten bringst. Sagst du vielleicht auch mal etwas dazu, chéri?«

Zamorra schreckte hoch. Er hatte in der letzten Sekunden stumm zugehört.

»Ich hänge immer noch an der Sache mit den Abdrücken«, murmelte Zamorra. »Ich will gar nicht mal ausschließen, dass dein Vater ein Nachzehrer ist, Lucia. Aber es ist doch höchst unwahrscheinlich. Immerhin wurde er von Schweinen gefressen. Das hätte kein Vampir überlebt. Außerdem frage ich mich die ganze Zeit: warum jetzt? Wäre dein Vater ein Nachzehrer, hätte er schon viel früher in Erscheinung treten müssen.«

»Das stimmt«, murmelte Lucia. »Aber was haben die Abdrücke dann für eine Bedeutung?«

Zamorra lächelte. »Das, meine Liebe, kannst nur du alleine herausfinden. Aber ich denke, der Schlüssel dazu liegt in deinem Unterbewusstsein.«

Lucia verengte die Lider zu schmalen Schlitzen. »Was ist das denn schon wieder für ein kryptischer Unsinn? Zu viel Zeit mit Gyungo verbracht, wie? Zu viele Dämpfe von seinen Räucherstäbchen inhaliert?«

»Weder noch. Aber Träume sind Botschaften des Unterbewusstseins. Dein Unterbewusstsein ist außergewöhnlich stark. Und es hat sich furchtbar an den Männern gerächt, die dir so viel Leid angetan haben. Wie lange ist es her, seit du in Pechern warst?«

»Das weißt du doch genau. Vier Jahre, fast fünf.«

»Eine lange Zeit, nicht wahr?«

»Worauf willst du eigentlich hinaus?«

Zamorra zuckte mit den Achseln und erhob sich. »Das ist es ja, ich will auf gar nichts hinaus. Ich gehe jetzt ins Bett. Aber denk dran, dass wir vor unserer Vergangenheit nicht davonlaufen können. Irgendwann müssen wir uns ihr stellen.«

»Du bist also einverstanden, dass ich nach Pechern fahre?«

Der Meister des Übersinnlichen schmunzelte. »Lucia, du bist erwachsen. Du brauchst nicht unsere Erlaubnis. Wenn du jedoch Wert auf meinen Segen legst, dann ja. Mach dich auf den Weg nach Pechern. Besuch das Haus deiner Eltern und versuche einen Schlussstrich zu ziehen.«

Plötzlich wurde Lucia bleich wie ein Laken. Sie sah aus, als hätte sie Angst vor der eigenen Courage.

»Ich komme mit«, rief Elayna.

Auf den Lippen ihrer Freundin erschien ein erleichtertes Lächeln. Zamorra konnte den Stein, der Lucia vom Herzen fiel, förmlich poltern hören. Vielleicht war es auch sein eigener, denn trotz seiner Nonchalance machte er sich Sorgen um Lucia.

Nicht weil er fürchtete, sie könnte das Opfer irgendwelcher Geister oder Untoten werden, sondern vielmehr ihrer eigenen Dämonen. Er hatte selbst schon überlegt, sie zu begleiten, doch in seinem Terminkalender war partout kein Platz für einen längeren Ausflug nach Schlesien.

Obwohl ihm bei der Erinnerung an das Sülzfleisch und die Bratkartoffeln der Witwe Kowalschek das Wasser im Munde zusammenlief.

»Wunderbar, dann wäre das ja geklärt.« Er zwinkerte Nicole zu, die seinen Blick skeptisch erwiderte.

»Und vielleicht ist es auch gar keine schlechte Idee, dem Grab deiner Familie einen Besuch abzustatten.«

»Ihr seid meine Familie«, stellte Lucia klar.

»Du weißt, was ich meine. Tu mir nur einen Gefallen.«

»Und der wäre?«

Zamorra grinste. »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.«

»Genau das bereitet mir Sorge«, murmelte Nicole.