Professors Zwillinge - Bubi und Mädi - Else Ury - E-Book

Professors Zwillinge - Bubi und Mädi E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Herbert und Suse, auch Bubi und Mädi genannt, sind die Hauptpersonen der fünfbändigen Serie Professors Zwillinge. Sie leben mit ihren Eltern in Berlin, Treptow. Bubi, ist zwei Stunden älter als Mädi, und hält sich deswegen für viel klüger. Mädi spielt lieber mit dem Schaukelpferd ihres Bruders als mit Puppen. Band 1 erzählt von der unzertrennlichen Bindung der Fünfjährigen und von ihren ersten spannenden Erlebnissen, bis sie eines Tages von ihrer strengen Großmutter nach Freiburg geschickt werden. Ein zeitloser Klassiker für alt und jung! -

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Else Ury

Professors Zwillinge - Bubi und Mädi

 

Saga

Professors Zwillinge - Bubi und Mädi

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1923, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883602

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

1. Kapitel. Die kleinen Zwillinge

Bubi und Mädi sind Zwillinge. Wißt ihr was das ist? Bubi und Mädi wissen es ganz genau, trotzdem sie noch nicht fünf Jahre alt sind. Fragt eine fremde Tante im Park sie, wie alt sie seien, dann sagt Mädi: »An unsern Geburschtag werden wir fünf.« Und Bubi verbessert jedesmal wie ein kleiner Lehrer, trotzdem er auch noch nicht ganz richtig sprechen kann: »Geburtstag heißt es.«

»Ja, Kinder, wann habt ihr denn Geburtstag?« fragt die fremde Tante dann.

»An unserm erschten Devember«, ruft Mädi. Aber Bubi überschreit sie: »An unserm ersten Dovember.«

»Am ersten November, ja, habt ihr denn beide an einem Tage Geburtstag?« fragt dann wohl die fremde Dame verwundert.

Nun sind es Bubi und Mädi, die sich verwundert anschauen, daß eine große Dame noch so dumm sein kann, das nicht zu wissen.

»Aber wir sind doch Schwillinge«, erklärt Mädi stolz, daß sie etwas besser weiß, als eine große Tante.

»Zwillinge heißt es, Mädi«, verbessert Bubi wieder. »Wir haben an einem Tag Geburtstag.«

»Mutti sagt, wir sind gansch gleich alt, darum sind wir Schwillinge«, wiederholt Mädi noch einmal, damit die fremde Tante es auch begreift.

»Zwillinge is ich und mein sein Mädi – aber ich bin viel mehr alt.« Bubi erklärt dies mit ungeheurem Stolz.

Nun lacht die fremde Tante.

»Ja, wenn ihr Zwillinge seid und beide ganz gleich alt, dann kann doch keines von euch älter sein.«

»Is die dumm!« Bubi sagt es mit tiefer Verachtung zu Mädi. »Wenn ich doch aber zwei Stunden eher da gewesen bin und ßon so groß war, wie Mädi noch so klein war, dann muß ich doch viel mehr alt sein, sagt Vati.«

»Ja freilich, wenn du zwei ganze Stunden früher geboren bist als dein Schwesterchen, dann bist du viel älter«, scherzt die fremde Tante. »Nun müßt ihr mir aber auch noch verraten, wie ihr heißt.«

»Das is mein sein Mädi« – »das is mein sein Bubi« – die beiden Kleinen schreien es durcheinander.

Die fremde Dame blickt belustigt auf die reizenden Kinder, die sich mit ihren braunen kurzgeschorenen Köpfchen so ähnlich sehen, wie ein Ei dem andern.

»Bubi und Mädi heißt ihr? Habt ihr denn nicht noch einen anderen Namen?«

»Doch«, sie nicken eifrig. »Mutti sagt mein Seelchen oder auch du Slingel. Und Vati sagt mein Hundetiersen und du Ruppsack.«

Ein anderer Name ist aus den beiden nicht herauszubekommen. Sehr schwer ist es auch, zu behalten, wer eigentlich Mädi und wer Bubi ist. Denn die zwei sehen ganz gleich aus. Ihre dicken braunen Beinchen sind nackt. Sie tragen keine Strümpfe, nur Sandalen. Alle beide stecken sie in grauen Leinenspielhöschen. Die Haare sind bei beiden gleich kurz geschnitten. Freilich, wenn sie von Haus fortgehen, hat Mädi meistens ein rosa oder ein blaues Schleifchen im Haar, das wie ein winziger Pinsel mitten auf dem Köpfchen emporsteht. Aber schon nach wenigen Minuten hat es Reißaus genommen. Meistens steckt das Schleifchen dann in der Tasche von Frau Annchen. Das ist die gute alte Kinderfrau der beiden Kleinen. Oder aber Bubi quält solange, bis Frau Annchen ihm das Schleifchen ins Haar bindet. Denn sein größter Wunsch ist es, auch solch ein Pinselzöpfchen zu haben wie seine Mädi. Ja, dann ist es noch viel schwerer, die beiden kleinen Zwillinge nicht zu verwechseln. Aber wenn man ganz genau hinsieht, dann merkt man, daß eins blaue Augen hat und eins braune. Die lustigen durchtriebenen Blauaugen gehören dem Bubi. Und die ebenso lustigen, aber doch ein wenig schüchterner blickenden Braunaugen der Mädi. So erklärt Frau Annchen den fremden Damen oder Herren, die sich im Park mit den kleinen Zwillingen freuen.

»Ei freilich, haben sie auch noch andere Namen, unsere Kinder.« Frau Annchen ist ordentlich beleidigt. »Der Bubi heißt eigentlich Herbert, und die Mädi heißt Suse. Aber wir rufen sie nur Bubi und Mädi, weil nämlich die Mama von den beiden aus Süddeutschland her ist. Und da sagt man so.«

Frau Annchen ist ungeheuer stolz auf ihre Kinder. Sie strahlt, wenn die Leute Bubi und Mädi »allerliebst« finden. Und sie strahlt noch mehr, wenn man sie für die Großmama der Kinder hält.

Bubi und Mädi können sich dann gar nicht beruhigen vor Lachen: »Aber das is doch keine Omama, das is doch unser Frau Annßen.«

»Unser Frau Annchen is das!« bestätigt Mädi. »Aber Omamas haben wir auch. Schwei Stücks. 'Ne grosche und 'ne kleine.«

»Und die große gehört Bubi seine und die kleine is Mädi seine«, berichtet Bubi zutraulich weiter. »Aber Opapas haben wir man einen. Den müssen ich und mein sein Mädi uns teilen.«

Die großen Leute, die auf der Bank sitzen, lachen alle. Bubi weiß gar nicht, warum sie lachen. Er hat doch gar nichts Lustiges gesagt. Große Leute sind manchmal schrecklich albern und lachen über Dinge, die Kindern ganz ernst sind, findet Bubi.

Bubi will nicht ausgelacht werden. Er hat seinen Stolz, wenn er auch noch solch kleiner Mann ist. Darum zeigt er, daß er noch mehr weiß. »Mein seine große Omama wohnt mit unserm Opapa in Freiburg, das is ganz doll weit weg.«

»Und Mädis kleine Omama is in Berlin, das is gar nich doll weit. Da können Mädi und ihr Bubi immer mit der Puffpuffbahn hinfahren und schwei grosche Stück Kuchen kriegen.« Mädi will nun auch zeigen, daß sie nicht dümmer ist als Bubi.

»Zwei große Stück Kuchen heißt es, Mädi.« Bubi muß in den zwei Stunden, die er früher auf der Welt gewesen ist als sein Zwillingsschwesterchen, entschieden besser sprechen gelernt haben. Er verbessert sie andauernd.

Frau Annchen unterbricht die Auseinandersetzung. »Nun ist genug klug geschnackt. Jetzt nehmt ihr eure Eimerchen und buddelt Sand.«

Bubi und Mädi ziehen mit Eimerchen und ihrer »Schippe« zu dem großen Sandberg in der Mitte des Spielplatzes, auf dem es von Kindern kribbelt wie auf einem Ameisenhaufen.

Frau Annchen erzählt indessen den fremden Leuten, während sie die Nadeln an ihrem Strickzeug klappern läßt, daß sie schon über dreißig Jahre in der Winterschen Familie sei. Daß sie bereits den Vater von Bubi und Mädi, den Herrn Professor Winter, als er noch kleiner gewesen wäre als die beiden Kinder, auf ihren Armen getragen hätte. Ja, ja, das waren noch andere Zeiten, damals in Westpreußen. Aber jetzt sind die Polen da drin, und darum sei die alte Frau Winter, Bubis und Mädis kleine Omama, wie die Kinder sie immer nennen, weil sie kleiner ist als die andere Omama, mit ihr nach Berlin gezogen. Und sie, Frau Annchen, sei nun beim jungen Herrn Professor Kinderfrau geworden, und die lieben Kinderchen seien ja auch so artig. Hier muß Frau Annchen sich unterbrechen, denn sie bemerkt plötzlich zu ihrem Erstaunen, daß ihre lieben Kinderchen durchaus nicht artig sind.

»Bubi, wirst du wohl nicht mit der Sandschippe hauen – aber Mädi, wer wirft denn andere Kinder mit Sand – pfui, wie unartig!« Frau Annchen setzt sich in Trab, um wieder Frieden zu stiften.

»Na, wenn die ollen Kinder immer los mein sein ßönes Fernrohr, das ich und mein sein Mädi bauen, tot trampeln, denn muß ich sie doch doll verkloppen«, ruft Bubi mit blitzenden Augen und schwingt kriegerisch seine Schippe gegen die ängstlich zurückweichenden anderen Kinder.

»Mädi schmeißt ihn die Augen voll Sand, daß sie behaupt nich mehr schukucken können, wenn Bubi und Mädi ihr grosches Fernrohr bauen.« Mädi läßt wiederum einen Sandregen über die kleinen Spielgefährten herniederprasseln.

Da fühlt sie einen derben Klaps auf ihrer Hand.

»Du bist ganz ungezogen, Mädi, Frau Annchen hat dich gar nicht mehr lieb.«

Die braunen Kinderaugen füllen sich mit Tränen. Mädi wirft ihre Sandschippe fort und macht dafür mit der Unterlippe ein weinerliches »Schippchen«.

Bubi schmiegt den braunen Kopf an Frau Annchens weiße Schürze. »Aber mich hat Frau Annchen doll lieb, weil ich gar nich gesmeißt, bloß gehauen habe«, sagte er eifrig.

»Wenn du gehauen hast, ist das genau ebenso häßlich – schämt euch nur alle beide.« Frau Annchen geht wieder zu ihrem Strickzeug zurück.

Bubi und Mädi sehen sich an und schämen sich. Aber weil das auf die Dauer ziemlich langweilig ist, schlingt Bubi tröstend den Arm um Mädi: »Laß man, Mädi, wein man nich, Bubi hat sein Mädi doch doll lieb, wenn sie auch mit Sand smeist.«

Da ist Mädi wieder getröstet. Aber als Frau Annchen nach einem Weilchen zum Frühstück ruft, traut sich Mädi doch noch nicht wie Bubi, der seine Unart längst vergessen hat, auf sie loszustürzen und das weißblau gestreifte Leinenkleid von Frau Annchen, das so schön wie Seide knistert, zärtlich zu zerdrücken. Sie steht mit schuldbewußten Augen abseits und sieht zu, wie Frau Annchen zwei Lätzchen, die Butterbrote, die Milchflasche mit den niedlichen Trinkbechern und zuletzt noch eine Tüte Kirschen aus der gelben Strohtasche auspackt. Die Kirschen veranlassen Mädi, sich ein paar Schritt näher heranzuwagen.

»Bischte noch böse, Frau Annchen?« Ihr kleines Händchen streichelt schüchtern die braunrunzelige Hand der alten Kinderfrau.

»Wenn Mädi wieder artig sein und nie mehr mit Sand schmeißen will, ist Frau Annchen nicht mehr böse.«

»Nie mehr schmeißen«, beteuert Mädi, den Kopf an Frau Annchens Brust versteckend. »Bloß manchmal, wenn mein sein Bubi verhaut wird.« Denn das kann Mädi nicht mit ansehen, daß man ihrem Zwillingsbrüderchen etwas tut. Dann wird das kleine Ding fuchswild, so brav es auch sonst ist.

Und dann lassen sie sich beide die schönen Kirschen schmecken.

»Die Steine in das Papier spucken«, sagt Frau Annchen.

»Um Himmels willen keine hinunterschlucken, denn dann wächst ein Kirschbaum aus dem kleinen Bauch heraus.«

Davor haben Mädi und selbst Bubi große Angst. Jedes Steinchen wird sorgsam in das Papier getan. Wenn aber zwei Kirschen an einem Stengel zusammengewachsen sind, dann ruft Bubi jubelnd: »Das sind Zwillinge wie ich und mein sein Mädi.«

»Kirschenschwillinge sind das.« – Mädi hängt die roten Früchte ihrem Bubi als Ohrringe an jedes Ohr. Bubi tut dasselbe mit Mädis kleinen Ohren. Wenn sie ihr Frühstück aufgegessen haben und das Lätzchen abgebunden, gehen sie wieder zum Sandspielplatz. Und alle Kinder bewundern ihre schönen Kirschenohrringe.

Nun wird weiter an dem großen Fernrohr aus Sand gebaut. Die Kinder, die vorher Bubis und Mädis Fernrohr kaputt getrampelt haben, helfen jetzt. Da ist es kein Wunder, daß es schnell wächst.

»Bis in'n Himmel muß es reichen,« ruft Bubi, »sonst kann man die Sternßen behaupt nich sehen.«

Ein alter Herr, der seinen Spaziergang macht, bleibt stehen und schaut zu.

»Das wird aber ein großer Turm!« sagt er.

»Das is behaupt kein Turm!« Bubi muß sich sehr wundern, daß solch ein alter Herr nicht mal ein Fernrohr von einem Turm unterscheiden kann.

»Na, was soll denn das werden? Eine Puffbahn?« fragt der alte Herr wieder.

»Och, das is behaupt keine Puffbahn, das is doch'n Fernrohr«, kommt jetzt Mädi ihrem Bubi zu Hilfe.

»Was ist das?« Der alte Herr versteht sie nicht.

»Ein Fernrohr – ein ganz großes, bis in'n Himmel.« Bubi schreit, daß die Bäume wackeln vor Schreck. Denn er denkt, der alte Herr hört schwer, weil er schon so alt ist.

»Ein Fernrohr?« Jetzt lacht der Herr. »Ja, Kleiner, weißt du denn überhaupt schon, was ein Fernrohr ist?« Der alte Herr schüttelt verwundert den Kopf.

»Natürliß. Vati hat doch eins.« Bubi ist geradezu in seiner vierjährigen Ehre gekränkt. »So 'ne lange Tute, die reicht bis in'n Himmel. Da kann man, wenn man doll artig ist, durchgucken, und alle Sternßen und alle Engelßen und'n lieben Gott sehen.«

»Auf unsrer Galerie steht das Fernrohr, aber nich anfaschen, sonst beischt's, sagt Vati«, erzählt nun auch Mädi.

Frau Annchen kommt schnell herbei. Das tut sie immer, wenn ein Fremder mit ihren Kindern spricht.

»Seit fünfzig Jahren gehe ich hier in dem Treptower Park spazieren,« sagt der alte Herr zu Frau Annchen, »viele Kinder habe ich beim Sandspiel beobachtet. Sie haben Kuchen gebacken, hohe Berge mit Brücken gebaut, Häuser, Bahnen und Tunnel. Aber daß ein Kind ein Fernrohr baut, das habe ich in den ganzen fünfzig Jahren noch nicht gesehen.«

»Das macht bloß, weil wir so ein großes Ding auf unserer Galerie stehen haben«, erklärt Frau Annchen, »Was nämlich der Vater von unseren Kindern ist, der ist Professor hier an der Treptower Sternwarte, und da studiert er immer die Sterne durch sein langes Rohr. So, Bubi, mach'n Diener, Mädi, mach'n Knicks. Packt eure Sachen zusammen. Wir müssen jetzt nach Haus.«

Frau Annchen wischt ihnen die sandigen Händchen ab. Bubi macht einen Knicks und Mädi einen Diener. Das tun sie immer aus Ulk, weil es ihnen Spaß macht. Aber der alte Herr merkt es gar nicht. Denn sie sehen ja ganz gleich aus.

Dann nimmt Frau Annchen die beiden kleinen Zwillinge an die Hand, und sie gehen durch den Park nach Haus, noch ehe das große Sandfernrohr bis in den Himmel reicht.

2. Kapitel. Zu Hause

»Mutti schu Hause?« Das ist stets die erste Frage, wenn Mädi und Bubi vom Spielplatz heimkommen.

Köchin Minna, welche auf das stürmische Klingeln Bubis schleunigst die Tür öffnet, schüttelt lachend den Kopf. »Nee, ausgeflogen. Aber erst sagt man doch schön guten Tag, Mädi.«

»Guten Tag, Minnachen. Aber nu sag bloß schnell, wo is Mutti hingeflogen. In'n Himmel?« Das kleine Mädchen hängt sich zärtlich an Minnas dicken roten Arm. Denn weiter reicht es nicht.

»Schon möglich«, lacht Minna.

»Mit'n Fernrohr?« Jetzt ist auch Bubi ganz Erwartung.

»Kann schon sein.« Minna lacht noch viel mehr.

»Aber Minna, reden Sie doch den Kindern nicht solche Märchen vor«, sagt Frau Annchen ärgerlich. »Mutti ist in die Stadt gefahren und kauft dort ein.«

Bubi ist eigentlich mit Frau Annchens Erklärung gar nicht einverstanden. Er hätte es entschieden viel schöner gefunden, wenn Mutti mit dem langen Fernrohr in den Himmel geflogen wäre. Vielleicht irrt sich Frau Annchen, und Minna hat doch recht.

Bubi preßt das Näschen gegen die verschlossene Glastür. Die Tür ist stets fest zugeschlossen. Erstens, weil Vatis großes Fernrohr dort steht, an das Kinder nicht herandürfen. Und zweitens, weil Bubi und Mädi von der Galerie herunterfallen können. Besonders der wilde Bubi, der stets klettert.

»Mädi, glaubste, daß Mutti in das Fernrohr eingestiegen is und mit in'n Himmel geflogen?« Er stellt sich das etwa wie eine Fahrt mit der Puffbahn vor.

»Nee«, sagt Mädi, die gerade dem Schaukelpferd guten Tag sagt. »Nee, da geht sie behaupt nich rein.«

»Is doch aber so mächtig lang, bis in'n Himmel.« Bubi ist anderer Meinung.

Mädi ist das Schaukelpferd Bubis bedeutend wichtiger als das Fernrohr. Sie liebt es mehr als ihre Puppen. Es heißt Braunchen und hat einen roten Sattel. Aus dem Park hat sie ihm in ihrem Eimerchen Grasfutter mitgebracht.

»Da, Braunchen, schönes Mittagbrot. Haschte Hunger, Braunchen?« Braunchen nickt mit dem Kopf und läßt sich das Grünfutter schmecken.

»Pferde fressen Heu, Mädi, das ist getrocknetes Gras«, meint Frau Annchen.

»Wart' mal, Braunchen, wir müssen das Gras erscht trocknen.« Mädi holt dem Pferd das Mittagbrot wieder aus dem Maul. »Du – beisch nich!« Sie hängt das Gras auf die Puppenleine zwischen zwei Stühlen, an der bereits ein Paar Puppenhöschen baumeln. Da es herunterfällt, wird es mit kleinen Puppenklammern festgemacht. Nun kann es trocknen und Heu werden.

Frau Annchen lacht, weil man Gras nur in der Sonne trocknen kann, damit es Heu wird und nicht auf der Leine.

Aber Braunchen ist wütend, daß man ihm sein Mittagbrot wieder fortgenommen hat. Es schaukelt vor Ärger hin und her.

»Bischte traurig, Braunchen?« Mitleidig umfängt das kleine Mädchen es mit seinen Armen.

Braunchen nickt.

»Sieh mal, Frau Annchen, wie'sch aussieht! Gansch traurig sieht das arme Braunchen aus! Es weint!«

»Hottepferdchen können nicht weinen.« Bubi fühlt sich wieder als der ältere. Er hat endlich genug überlegt, ob Mutti wohl in das Fernrohr reingegangen ist.

Da Mädi sich mit seinem Schaukelpferd beschäftigt, läuft Bubi zu ihrem Puppenwagen in der anderen Ecke. Dort sind die Puppen noch viel wütender auf Mädi als Braunchen. Wirklich, Mädi kümmert sich nicht viel um ihre Puppenkinder. Sie spielt viel lieber mit Bubis Spielsachen. Sie denkt nicht daran, daß Puppen genau solchen Hunger haben wie Schaukelpferde. Neidisch sehen die Puppen zu, wie Mädi Braunchen jetzt füttert. Denn Mädi findet, daß das Heu schon genug getrocknet sei. Und das Gras gäbe doch solchen guten Puppenspinat. Wenigstens werden die armen Puppen jetzt aus ihrer Ecke hervorgezogen. Bubi ladet sie alle in den Puppenwagen auf. Da liegt Elschen mit der verbeulten Nase, die einarmige Lilli, der lahme Hampelmann, Nauke mit der Pauke, der Filzdackel Fifi und Schnuteken, das weiße Karnickel. Alles durcheinander.

»So, nun kommen wir doch auch ein bißchen ins Freie, Fräulein Lilli«, meint Nauke mit der Pauke frohlockend.

»Ja, wenn Bubi nicht wäre, Mädi ließe uns hungern, dursten und ohne Luft und Licht ersticken.« Lilli ist furchtbar böse auf ihre Puppenmutter. Kein Wunder! Seit zwei Tagen hat sie sich den Arm zerschlagen. Mädi denkt nicht daran, daß sie sich verbluten kann. Wenn Bubi ihr nicht einen Verband aus Zeitungspapier gemacht hätte, wer weiß, ob sie überhaupt noch am Leben wäre.

»Also jetzt fahren wir spazieren, und du kannst in deinem Stall bleiben«, ruft Elschen höhnisch im Vorbeifahren dem Schaukelpferd zu. Braunchen können die Puppen alle nicht leiden. Weil es Mädis Liebling ist und ihnen vorgezogen wird.

Ach, es ist keine große Annehmlichkeit, mit Bubi spazierenzufahren. Über Stock und Stein geht es. Über Fußbänke, Türschwellen, Bausteine und Eisenbahnschienen. Rrrrr – durch die Wohnung.

Rrrrrr – Elschen und Lilli kreischen vor Entsetzen über die wilde Fahrt. Nauke mit der Pauke stöhnt; ihm ist ganz schwindlig. Denn er ist ein alter Hampelmann, schon von Weihnachten her. Fifi blafft wie besessen. Nur Schnuteken quiekt vor Vergnügen. Je wilder, desto schöner!

Rrrrrr – da ist Bubi im Wohnzimmer an das Tischchen gefahren, auf dem die schöne Vase mit Blumen steht.

Klirr – ergießt sich ein Glas-, Wasser- und Blumenregen über die entsetzten Insassen des Puppenwagens. Elschen wird die verbeulte Nase noch mehr verschrammt.

Bubi, der Kutscher, blickt ebenso entsetzt drein wie seine Fahrgäste.

»Paputt!« sagt es hinter ihm. Mädi schaut erschreckt auf das Unheil, das ihr Bubi angerichtet hat.

»Kaputt heißt es«, muß Bubi Mädi noch belehren, trotzdem er sich augenblicklich am liebsten in ein Mausloch verkriechen möchte. Denn schon naht Frau Annchen, Unheil ahnend.

»Na, das ist ja eine nette Bescherung! Laß du man Mutti nach Hause kommen. Die schöne Vase ganz kaputt! Das kommt bloß von dem Toben!« Die gute Kinderfrau ist ernstlich böse. Denn sie hat Bubi schon soundso oft verboten, mit dem Puppenwagen durch sämtliche Zimmer zu rasen.

Bubi meint, das kommt nicht bloß von dem Toben, sondern daher, daß soviel Möbel in den Zimmern herumstehen, an die man leicht gegenfahren kann. Aber er traut es sich nicht zu sagen, weil Frau Annchen böse ist.

Da klingelt es auch noch obendrein. Sicher Mutti! Nein, daß sie auch jetzt gerade kommen muß, wo Frau Annchen noch nicht einmal die Scherben beiseite gebracht und die Überschwemmung aufgewischt hat. Bubi wünscht augenblicklich, daß Mutti wirklich mit dem großen Fernrohr in den Himmel gereist wäre. Da könnte sie doch nicht so schnell zurück.

Nein – es ist nicht Mutti. Bubi und Mädi atmen erleichtert auf. Denn Mädi fühlt sich genau so schuldbewußt wie Bubi. Trotzdem sie doch eigentlich nichts dafür kann. Aber sie ist doch sein Zwilling.

Es ist bloß die Mathilde von der alten, nervösen Dame aus der Parterrewohnung unten. Frau Lehmann – so heißt die alte Dame – ließe um Ruhe bitten. Das sei ja gerade, als ob ein Eisenbahnzug einem über den Kopf fahre. Bei dem Radau könne sie ihr Nachmittagsschläfchen nicht halten. Frau Winter möchte doch dafür sorgen, daß ihre Kinder nicht so lärmen.

Mathilde geht wieder, nachdem sie ihre Botschaft ausgerichtet hat. Dieselbe macht keinen besonderen Eindruck auf Bubi und Mädi. Denn Frau Lehmann schickt mindestens einmal am Tage herauf und läßt um Ruhe bitten. Im Winter, wo Bubi und Mädi mehr zu Hause sind, sogar zweimal. Dafür ist sie eben nervös und alt, meint Bubi, und kann keinen Kinderradau mehr vertragen.

Frau Annchen beseitigt die Scherben. Bubi wird in einen anderen Kittel gesteckt, denn er ist pitschenaß. Die armen Fahrgäste im Puppenwagen umzukleiden, daran denkt weder Mädi noch Bubi. Die können in der Nässe liegen und sich einen Schnupfen holen. Auch Mädi bekommt statt der Spielhöschen ein Kleidchen an. Nun sieht sie wie ein kleines Mädchen aus. Kein Mensch kann sie mehr mit Bubi verwechseln.

Es klingelt zweimal. Bubis Herz macht poch – poch. Sonst pflegen die beiden Kleinen der Mutter jubelnd entgegenzustürzen. Heute bleiben sie in ihrer Kinderstube.

»Komm, Mädi, wir wollen Versteck spielen.« Bubi ist plötzlich verschwunden. Er hält es nicht unbedingt für notwendig, daß man gleich da sein muß, wenn man eine Vase zerschlagen hat.

Schon draußen hört man Muttis liebe Stimme.

»Ei, wo bleiben denn meine beiden Kleinen? Freuen sie sich denn gar nicht mit ihrer Mutti?«

Mädi kann es nicht länger im Kinderzimmer ertragen. Sie läuft hinaus und verbirgt das Gesicht an Muttis hellem Sommerkleid.

»Nanu, Mädi, was hast du denn? Ist was passiert?«

Merkwürdig – Mutteraugen können sofort sehen, wenn irgend etwas los ist.

»Was paschiert«, bestätigt Mädi und da kullern auch schon die Tränchen.

»Warst du unartig im Park?« forscht die Mutter.

»Bloß ein klein bißchen, aber – – –«

»Na, was ist denn sonst noch Schlimmes geschehen, Mädi?« Mutti hebt ihr Gesicht zu sich empor.

Ja, da muß man alles gleich sagen, wenn Mutti einem so in die Augen sieht. Der Kindermund sagt es ganz von allein: »Die grosche Vasche is paputt.«

»Aber Mädi, die schöne Vase hast du zerschlagen? Wie kam denn das bloß? Ihr sollt doch gar nicht in mein Zimmer hinein, wenn ich nicht da bin.«

Mädi schielt zu Mutti hinauf. O weh – sie macht böse Muttiaugen.

»Schäm' dich, Mädi, ich habe dich gar nicht mehr lieb, wenn du so wild und unbändig bist. Du darfst heute nicht zu Tisch kommen. Du wirst in der Kinderstube bei Frau Annchen essen.«

Das ist eine schlimme Strafe. Erst seit ganz kurzer Zeit sind die beiden Kleinen zu dem Mittagstisch der Eltern zugelassen. Weil Vater sonst zu wenig von seinen »Krabben« hat. Bubi und Mädi sind ungeheuer stolz darauf, daß sie jetzt groß sind und mitessen dürfen.

Trotzdem sagt das gute Schwesterchen kein Wort davon, daß Bubi eigentlich der kleine Bösewicht gewesen. Leise weinend schleicht es sich in die Kinderstube zu Braunchen. Mädi ist ja Bubis Zwilling, da ist es ganz gleich, wer die Strafe von beiden bekommt, denkt sie.

Mutti legt ihre Sachen im Schlafzimmer ab. Da schaut ein braunes Kinderbeinchen unter dem Bett vor. Daran hängt Bubi.

»Ei, Bubi, willst du Mutti nicht guten Tag sagen? Was machst du denn da unten?« Der Mutter kommt die Sache verdächtig vor. Hat Bubi etwa auch was angestellt?

»Och, wir spielen man bloß Versteck, mein sein Mädi und ich«, klingt es unter dem Bett hervor. Freilich ein wenig leiser als sonst. Muttiohren hören das sofort.

»Komm nur vor, Bubi, Mädi spielt jetzt nicht mehr. Die ist unartig gewesen. Ich will doch wenigstens ein gutes Kind haben.«

Bubi kommt hervorgekrochen. Viel langsamer, als das sonst seine Art ist. Er sieht durchaus nicht wie ein gutes Kind aus. Wagt es auch nicht, die Arme wie sonst um Muttis Hals zu schlingen. Seine Schuld steht ihm deutlich auf der Stirn geschrieben.

Draußen an der Eingangstür schließt Vaters Schlüssel. »Laß dir die Hände von Frau Annchen waschen und komm zu Tisch, Bubi. Mädi ißt heute in der Kinderstube Mittagbrot.« Mutti geht voran ins Eßzimmer.

Da fühlt sie sich am Kleid zurückgehalten.

»Warum soll mein sein Mädi nich mit Mutti und Vati bei Tiß sitzen?« Bubis laute Jungenstimme klingt gepreßt. Denn er weiß die Antwort im voraus.

»Weil sie Muttis Vase kaputt gemacht hat.«

Einen Augenblick überlegt Bubi noch. Nur einen ganz kleinen. Dann hat die Liebe zu Mädi gesiegt.

»Mädi soll an den großen Tiß gehen. Bubi kann ja in der Kinderstube bei Frau Annßen essen«, schlägt er möglichst harmlos vor.

»Du – Bubi? Nein, du bist doch artig gewesen. Du hast doch die Vase nicht entzwei gemacht.«

Ach, ist das schwer, sein Unrecht einzugestehen.

»Nee, der olle Puppenwagen hat sie kaputt gemacht.« Bubi ist glücklich, daß er die Schuld auf den Puppenwagen abwälzen kann.

»Der Puppenwagen kann doch nicht von selbst in Muttis Wohnzimmer hineinfahren. Mädi muß ihn doch hineingeschoben haben«, sagt Mutti. Sie sieht traurig aus, weil Bubi nicht die Wahrheit sagt. Sie weiß es längst, wer es gewesen ist.

Traurige Muttiaugen – die kann Bubi nicht mitansehen. Dann noch eher böse.

»Muttißen soll nich traurige Augen machen, weil Bubi den Puppenwagen gegen die Vase geßoben hat.« Da ist es heraus.

Ordentlich erleichtert fühlt Bubi plötzlich sein kleines Herz.

»Du warst es, Bubi? Das sagt man der Mutti doch sofort. Damit wartet man doch gar nicht erst so lange und versteckt sich noch obendrein.«

Nein, wirklich, es ist zu merkwürdig, daß Muttis gleich alles wissen.

»Na, wenn du immer böse Muttiaugen machst«, versucht Bubi sich zu verteidigen. Die Tränen würgen ihn im Hals. Aber er schluckt sie herunter, denn er ist ja ein Mann. Männer weinen nicht.

Plötzlich fühlt sich Bubi durch die Luft fliegen. Er sitzt oben auf der Schulter des soeben ins Zimmer getretenen Vaters. Aber er jauchzt nicht wie sonst dabei. Denn die Tränen stecken noch immer in seiner Kehle.

»Na, mein Hundetierchen, wo ist denn Nummer zwei?« Mädi pflegt immer auf Vaters anderer Schulter Platz zu nehmen. Und so ziehen sie stets zusammen zu Tisch.

»Ich bin heut nich Vati sein Hundetierßen, bloß sein Slingel«, flüstert Bubi in plötzlich erwachender Wahrheitsliebe dem Vater ins Ohr.

»Nanu?« Vater zieht die Stirn in Falten. »Was ausgefressen, Bubi?«

»Nee, noch gar niß gefressen. Bloß die olle ßöne Vase kaputt gemacht.«

»Bubi ißt heut in der Kinderstube Mittagbrot, Paul«, sagt Mutti zu Vati. »Mädi darf zu Tisch kommen.«

Aber Mädi kommt nicht. Sie ist Bubis Zwilling und bleibt da, wo ihr Bubi ist. Nein, die läßt ihren Bubi nicht allein. So sitzen sie alle beide an ihrem kleinen Kindertischchen und essen dort ihr Süppchen. Aus dem Puppenwagen aber recken Elschen und Lilli, der Hampelmann, Fifi, Schnuteken und Nauke mit der Pauke schadenfroh die Köpfe: »Etsch – ihr seid noch lange nicht groß.«

3. Kapitel. Große Wäsche – kleine Wäsche

Heute können Bubi und Mädi nicht spazierengehen, wenn auch die liebe Sonne scheint. Frau Annchen hat keine Zeit dazu. Sie muß Minna bei der großen Wäsche helfen. Mutti hat einen Geburtstagsbesuch zu machen, zu dem sie die beiden Kleinen nicht mitnehmen kann.

So werden Bubi und Mädi in ihren grauen Spielhöschen mit dem Puppenwagen und dem Ball ins Gärtchen hinuntergeschickt. Dort sollen sie spielen.

Eigentlich gibt es zwei Gärtchen an dem Haus, in dem Bubi und Mädi wohnen. Eins vorn, eins hinten. Das vor dem Haus ist viel schöner, als das andere. Da gibt es Rosenbäumchen und ein Beet mit blauen und gelben Stiefmütterchen. Auch ein niedlicher kleiner Steinzwerg mit einer roten Zipfelmütze sitzt da und hält Wache, daß keiner Blümchen abreißt. Der ist sicher aus Schneewittchen. Mädi hat ihn gleich wiedererkannt.