PUDDING IM KOPF - Hugo Nefe - E-Book

PUDDING IM KOPF E-Book

Hugo Nefe

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Beschreibung

Florian, den alle nur "Flo" nennen, ist zwar noch nicht mit allen Wassern gewaschen, doch hat er es mit seinen 12 Jahren bereits faustdick hinter den Ohren. Bis jetzt sind alle Mädchen für ihn nur Abziehbilder seiner beiden nervigen Schwestern. Doch dann schwebt auf einmal ein Engel mit wippendem Pferdeschwanz an ihm vorüber und bringt alles in seinem Kopf durcheinander. Noch bevor er sich traut, diesen Engel in Mädchengestalt anzusprechen, wird er von seinen Eltern auf ein Klosterinternat geschickt. Sein bester Freund soll das Mädchen in seiner Abwesenheit ausspionieren und ihm in Briefen darüber Bericht erstatten. Das erweist sich im Endeffekt als keine so gute Idee.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Hugo Nefe

PUDDING IM KOPF

Eine Lausbubengeschichte

0

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

Zweiter Teil

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

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38

39

40

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42

43

44

45

Impressum

HUGO NEFE

PUDDING

IM

KOPF

Atelier Verlag

2020 Atelier Verlag / Hugo Nefe

94363 Oberschneiding, Hauptstr. 42

https://www.nefe.de

Erster Teil

1

Ich weiß nicht, warum Tante Wawi mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase reibt: „Warte nur, bald beginnt der Ernst des Lebens auch für dich!“

Onkel Egon brummt dann immer: „Lass gut sein, Wawi, lass gut sein!“

Aber sie lässt es nie gut sein und sagt: „Ihr Kinder habt ja noch keine echten Sorgen.“

Ich bin jetzt zwölf... na ja, nicht ganz… aber ich bin um einen halben Kopf größer als Alfred von nebenan, und der ist schon lange zwölf. (Alfred hat Sommersprossen. Ich nicht!!!)

Übrigens, mein richtiger Name ist Florian, aber alle, die mich kennen, nennen mich nur „Flo“. Ich gehe in die vierte Klasse der Volksschule und es ist das Jahr 1966. Der Bundeskanzler von unserem Land heißt gerade Kurt Georg Kiesinger und der Papst von der ganzen Welt heißt Papst Paul VI.

Das mit den Sorgen, von denen Tante Wawi immer spricht, ist so eine Sache. Wenn ich nämlich ehrlich bin, weiß ich gar nicht so genau, was eine echte Sorge ist, aber es wurmt mich total, dass die Erwachsenen glauben, dass ich keine habe.

Ich habe mir vorgenommen, ab heute alles aufzuschreiben, was ringsrum so passiert, damit ich mir später, wenn ich mal in der Rente bin wie Onkel Egon, in aller Ruhe Gedanken darüber machen kann. Jetzt habe ich nämlich keine Zeit dazu, weil alles immer so schnell passiert, außer vormittags in der Schule. Dort bewegt sich die Zeit wie eine hundertjährige Schildkröte und der Zeiger von der Uhr klebt am Zifferblatt fest. Man merkt es den Lehrern an, dass sie uns was erzählen, das sie schon tausend Mal erzählt haben. Wahrscheinlich ist der Unterricht für sie genauso fade wie für uns. Aber sie kriegen dafür wenigstens eine Stange Geld und wir nur diese blöden Noten.

Eine gerechte Sache wäre es, wenn sie uns Schüler auch bezahlen würden. Dann ließe sich die Zeit im Klassenzimmer viel leichter absitzen. Wir würden auch nicht so viel schwätzen und Unfug treiben, weil wir wüssten, dass sich Bravsein lohnt und wir am Schuljahresende statt einem Zeugnis einen Sack voll Geld kriegen, den wir dann in den Ferien verbraten können. Dann wäre auch dem Dümmsten klar, dass er nicht für die Schule lernt, sondern dafür, dass es irgendwann in der Kasse klingelt.

***

Nachmittags ziehe ich meistens mit meiner Bande durch die Siedlung. Wir halten die Augen offen nach anderen Banden, mit denen wir eine Schlacht schlagen können. Wenn wir keine finden, dann verziehen wir uns in den Wald, teilen uns in zwei Gruppen auf und kämpfen gegen uns selbst.

Ich habe schon viele Beulen und Kratzer abgekriegt, aber das macht mir nichts aus, weil die anderen sagen, dass man einen richtigen Kerl nur an seinen Beulen und blauen Flecken erkennt. Abends um acht muss ich ins Bett.

Was ich hier aufschreibe, soll aber kein Tagebuch werden, sondern eher ein Knotenbuch, in das ich alles reinschreibe, was ich nicht vergessen will, so, wie man einen Knoten in sein Taschentuch macht. Tagebücher sind nur was für Mädchen. Sie kaufen nur solche, wo auch ein Schloss dran ist, damit niemand lesen kann, was sie hineinschreiben. Den Schlüssel legen sie dann unter ihr Kopfkissen. (Das weiß doch jeder!)

Meistens schreiben sie: Liebes Tagebuch, heute bin ich wieder mal verliebt... und so.

Ich weiß das, weil ich öfter im Tagebuch von meiner älteren Schwester lese, wenn ich eher aus der Schule heimkomme als sie. Sie ist fast jeden Tag verliebt, bis auf sonntags, da geht sie in die Kirche. In ihrem Tagebuch steht dann nur: Habe den Heiland empfangen!

Ich weiß aber, dass sie nur zur Kommunion geht, weil ihr der Heiland so gut schmeckt. Der Heiland verwandelt sich dort nämlich immer in so eine Oblate, wie sie zu Weihnachten unter den Lebkuchen kleben. Sie hat sich mal beim Plätzchenbacken einen ganzen Stapel davon in den Mund gestopft. Da ist ihr auf einmal die Spucke weggeblieben und wir mussten ihr das Zeug mit den Fingern aus dem Mund pulen, sonst wäre sie daran erstickt.

Gut, dass sie in der Kirche nur immer einen Heiland hergeben, daran kann man nicht ersticken. (Nur wenn es zu viele sind.)

Also, meine ältere Schwester, die mit dem Oblaten-Tick, heißt Ella, und die jüngere, die mit dem Eis-Tick, heißt Nena. Ach so, das mit dem Eis muss ich ja erst noch erzählen. Aber es ist sowieso fast die gleiche Geschichte.

Nena ist erst acht. Mama meint, dass sie zu dick ist, aber Papa nimmt sie immer in Schutz und sagt: „Das ist doch nur Babyspeck, der verwächst sich!“

Nena war bis vor kurzem noch „Papas liebes Pummelchen“ jetzt sagt er nur noch Nena zu ihr, und das kam so: Nena ist nämlich so was wie eine Schlafwandlerin. Sie steht in der Nacht auf und schleicht ganz leise in die Küche hinunter. Dort macht sie sich dann heimlich über den Kühlschrank her. Sie stopft ganze Berge von Zeug in sich rein. Sogar Marmelade tut sie sich auf den Käse. (Igitt!!!)

Ich weiß das, weil ich ihr einmal nachgegangen bin, aber ich darf nichts sagen, weil sie von mir auch ein paar Sachen weiß, die sie keinem sagen darf.

Vor kurzem ist aber trotzdem alles rausgekommen und auch Papa weiß jetzt, dass es kein Babyspeck ist, der sie so dick macht, sondern echter Schweinespeck von Metzger Daffinger.

Vorige Woche haben wir Nena mitten in der Nacht schreien gehört wie am Spieß. Wo war sie? Natürlich in der Küche!

Als wir die Treppe hinunterstürmen, sehen wir, wie sie vor dem Kühlschrank kniet. Die kleine Lampe, die darin brennt, hat ihr verzerrtes Gesicht ganz grauslig aussehen lassen. Mit ihrer rosa Schleckerzunge klebte sie bombenfest am Eisfach. Wahrscheinlich wollte sie sich dort zum Nachtisch noch etwas von der dicken Eiskruste ablecken.

Papa hat ihr ein Glas warmes Wasser über die Zunge gegossen, und „schwupp!“, war sie wieder frei.

„Das ist Physik“, hat er gesagt.

Er benützt immer ganz komplizierte Wörter, wenn er einem etwas zu erklären versucht. Ich weiß aber immer noch nicht, warum das Eis aus Webers Kaufladen nicht so gefährlich ist wie das aus unserem Kühlschrank. Vielleicht liegt es ja nur am Geschmack. Wenn ein Eis z.B. nach Vanille schmeckt, ist es ein gutes Eis und man kann es ohne Gefahr essen.

Vielleicht schreibe ich morgen weiter, mal sehen…

2

Mama liegt meistens den ganzen Tag im Bett. Manchmal liegt sie auch im Sterben, aber sie stirbt nicht, das weiß ich genau. Ich kenne sie eigentlich nur in ihren weißen Nachthemden oder ihrem geblümten Morgenmantel. Sie hat schon vier heilige Ölungen gekriegt und normal stirbt man danach. Die Oma von Alfred hat nur eine einzige Ölung gekriegt und ist dann ganz pünktlich gestorben. Ich habe ihm gesagt, dass Mama schon vier hat, da hat er nur gemeint, dass sie nicht so angeben soll.

Ich mag Alfred nicht besonders. Aber er wohnt nun mal in unserem Block und wenn es regnet und ich nicht mit der Bande in den Wald kann, dann spielen wir bei ihm im Keller mit seiner Eisenbahn. Das heißt, er drückt alle Schalter und ich darf nur zuschauen. An seine blöde Eisenbahn lässt er nämlich keinen ran. Ich glaube, dass er nur so komisch ist, weil ihm das richtige Training fehlt. Er hat nämlich keine Geschwister, mit denen er sich regelmäßig zanken kann. Ich habe ihn mal gefragt, warum er nicht in unsere Bande eintreten will, damit er auch mal ein paar Beulen und blauen Flecken mit nach Hause bringt wie ein richtiger Kerl. Da hat er nur gemeint, dass er nicht verrückt ist. Ich glaube aber schon, dass er ein bisschen verrückt ist. Und deshalb spiele ich nur mit ihm, wenn es regnet und sonst keiner da ist.

***

Der Doktor, der jede Woche zu Mama kommt, sagt immer zu ihr, wenn er sie untersucht hat: „Sie können noch hundert Jahre alt werden, meine Beste!“ Und der Prälat, der ihr diese heiligen Ölungen gibt und ihr regelmäßig die Beichte abnimmt, weil sie doch nicht in die Kirche gehen kann, sagt, wenn es ihr wieder besser geht: „Es geschehen noch Zeichen und Wunder!“

Was Mama zu beichten hat, ist mir ein Rätsel. Sie liegt ja den ganzen Tag ganz brav im Bett und ist nur krank. Eigentlich kann sie gar nichts anstellen, was eine Beichte wert wäre. Bei mir ist das etwas anderes. Ich stelle öfter was an, das den Prälat freut, weil ich es ihm beichten kann. Aber manchmal fällt mir wirklich nichts ein, was ich ihm beichten könnte, dann erfinde ich einfach was, damit er nicht umsonst im Beichtstuhl sitzen muss. Ich habe gemerkt, dass ihm die schrecklichen Sünden viel besser gefallen als die einfachen, weil er dann öfter nach Luft schnappt oder seufzt oder stöhnt oder sich bekreuzigt und meinen Schutzengel anruft, dass er mich wieder auf den rechten Weg bringt. Also strenge ich meine Fantasie immer ganz besonders an, damit wir eine gute Unterhaltung haben und es ihm nicht fad wird in seinem engen hölzernen Käfig.

Neulich hat er mal das Tuch, das er sich im Beichtstuhl immer vor die Augen hält, vor Schreck fallengelassen und hat mich durch das kleine vergitterte Fensterchen ganz entsetzt angeschaut.

„Ist das auch wirklich alles wahr, was du mir da erzählst, mein Junge?“, hat er gefragt.

Aber weil ich gleich zum Anfang meiner Beichte vorsichtshalber immer beichte, dass ich auch ein paarmal gelogen habe, habe ich mit dem Kopf genickt und ohne schlechtes Gewissen „Ja“ gesagt.

Wenn ich nachts aufwache und Mama stöhnen höre, wird mir immer ganz schlecht. Mein Wandklappbett steht nämlich in der Bügelkammer und die ist gleich neben dem Schlafzimmer von meinen Eltern. Jetzt ziehe ich mir immer die Decke über den Kopf, wenn ich es nicht mehr aushalte. Früher aber bin ich oft an die Schlafzimmertür geschlichen und habe durchs Schlüsselloch geschaut. Da habe ich Papa gesehen, wie er auf Mamas Bett sitzt, ihr den Schweiß von der Stirn tupft und ihre Hand streichelt. Mama hat sich ab und zu über die Bettkante gebeugt und sich in den rosa Plastikeimer erbrochen, der sonst immer so harmlos im Bad hinter der Waschmaschine steht. Jedes Mal, wenn ich ihn dort sehe, wird mir selber ganz schlecht. Über der Nachttischlampe hängt dann immer ein rotes Tuch, damit sie das Licht nicht so blendet. Aber das Tuch macht alles rot… die Tapete, die Bilder an der Wand, die Bettdecke und auch die Gesichter. Manchmal war mir so, als hätte ich durch das Schlüsselloch direkt in die Hölle geschaut.

***

Manchmal, wenn mir bei den Hausaufgaben langweilig wird, besuche ich Mama im Schlafzimmer. Dann lege ich mich in Papas Bett und kuschle mich ganz dicht an sie. Ab und zu bürste ich ihr auch die Haare, das mag sie besonders gern. Nicht weil sie eine Frisur braucht, mit der sie ausgehen kann, sondern nur, weil es ihr guttut.

Einmal habe ich sie beim Bürsteln gefragt, wie lange sie noch leben kann. Da hat sie gelacht und gesagt: „Der Doktor meint, ich kann noch hundert Jahre alt werden, mein Junge...“ und mit ganz leiser Stimme hat sie dann noch gesagt: „...so Gott will.“

Mama ist unheimlich fromm. Sie liest immer so Bücher, wo vorne ein Kreuz drauf ist oder solche, mit Bildern, wo sie alle einen polierten Heiligenschein haben. Es gibt verschiedene Heiligenscheine. Solche, die aussehen wie ein umgedrehter Suppenteller, und solche mit lauter Strahlen. Ich habe Mama gefragt, welche heiliger sind. Sie hat gesagt, heilig ist heilig und dass sie alle gleich viel wert sind. Aber ich glaube, dass die mit den Strahlen doch ein bisschen besser sind.

Onkel Egon sagt, dass es im Himmel genauso ist wie bei den Soldaten: Die Tapfersten kriegen auch immer die schönsten Orden, aber unter der goldenen Farbe sind sie allesamt aus Blech.

Wenn es mit den Heiligenscheinen auch so ist, will ich mal keinen haben, weil es sich dann nicht rentiert. Ich meine, mit dem Heiligwerden, weil man doch den ganzen Tag dafür beten muss und nicht mit der Bande in den Wald kann. (Vormittags, wenn Schule ist, hätte ich schon Zeit dafür, aber nachmittags nicht!)

Mama wird ganz bestimmt mal heilig, sie hat sogar einen Rosenkranz, der in der Nacht leuchtet. Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Alfred z.B., braucht sich überhaupt keine Hoffnungen zu machen, dass er es schafft, weil er keinen mit seiner Eisenbahn spielen lässt. Da müsste er sich schon schwer ändern. Auch glaube ich nicht, dass sie ihn im Himmel oben brauchen können, weil er hier auf der Erde auch schon zu keiner Bande gehört hat.

Alfred ist so ein Langweiler. Ich weiß überhaupt nicht, was er den ganzen Tag lang tut, außer, in die Schule zu gehen und nachmittags, wenn wir anderen im Wald sind, zu lernen. Wenn man ihm mal ein kleines Abenteuer schmackhaft machen will, dann sagt er immer: „Da muss ich erst mal meine Eltern fragen.“ (Er ist eben eine echte Knalltüte. Außerdem hat er in der Schule nur lauter Einser und das ist nicht gut, weil es die Lehrer nicht ärgert.)

***

Ach ja, ich wollte ja noch sagen, warum es Mama immer so schlecht geht.

Der Doktor sagt, sie hat eine Krise, aber Papa hat mir erklärt, dass sie ein Sportlerherz hat. Am Anfang war ich noch ganz stolz darauf und habe es den Typen von meiner Bande erzählt. Aber einer hat gemeint, dass man gar kein Sportlerherz haben kann, wenn man nicht Fußball spielt. Vielleicht hat ja doch der Doktor recht und es ist nur eine Krise.

Mama riecht immer höllisch gut nach Kölnisch Wasser. Das ist ihr Lieblingsparfüm. Das aus der grünen Flasche heißt „Uralt Lavendel“, und sie nimmt es nur an Silvester her, wenn die Nachbarn kommen zum Schnaps trinken. (Wir müssen aber ins Bett.)

Wenn Mama mal fernsehen will, geht sie ganz langsam die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Dabei klammert sie sich ganz doll ans Geländer. Sie nimmt eine Stufe nach der anderen und es dauert eine halbe Ewigkeit bis sie endlich unten ankommt. Hinauf kann sie aber dann nicht mehr, da muss Papa sie tragen. Ich und meine Schwestern finden das lustig, weil Papa uns auch immer in unsere Betten hinaufgetragen hat, als wir noch klein waren.

Unser Ofen ist ein echter Zauberkasten. Es ist ein Kachelofen und er steht im Wohnzimmer. Da ist eine Klappe dran, die man auf- und zumachen kann, damit die warme Luft rauskann. Oben, im Zimmer von meinen Schwestern, ist auch so eine Klappe in der Wand. Wenn man sie aufmacht, kann man hören, was die Erwachsenen unten im Wohnzimmer reden. Wenn Papa und Mama glauben, dass wir schon schlafen, dann reden sie über uns Kinder oder über andere Sachen, die ihnen Sorgen machen. Das ist sehr praktisch und oft auch unheimlich spannend. Manchmal kleben wir mit unseren Ohren zu dritt so lange mucksmäuschenstill an der Klappe, bis wir zu müde geworden sind, um weiter zuzuhören. Mal ist es lustig, was sich unsere Eltern unten erzählen, mal ist es total unverständliches Zeug, doch ein andermal ist es dann wieder so spannend wie ein Krimi im Radio. Auf jeden Fall sind wir die meiste Zeit bestens informiert.

Der einzige Nachteil an diesem Zauberkasten ist, dass er wie ein Telefon funktioniert. Das heißt, dass auch Papa und Mama uns hören können, wenn wir uns abends noch eine Kissenschlacht liefern oder ich meine Schwestern noch ein bisschen ärgern muss, damit ich auch gut einschlafen kann. Dann droht plötzlich Papas finstere Stimme aus dem Ofen herauf und er fragt, ob er raufkommen soll. (Es ist aber noch nie vorgekommen, dass er raufgekommen ist, weil er gemütlich auf dem Sofa liegt, seine Füße auf dem Tisch hat und Bier trinkt.)

Papa hat unheimliche Schweißfüße. Mama sagt immer: „Puuuh! Nimm doch bitte deine Füße vom Tisch, was sollen denn die Kinder denken, wenn sie plötzlich reinkommen!“ Und Papa sagt dann: „Die schlafen doch schon lange, und außerdem braucht ein Mann gewisse Freiheiten.“

„Dann tu es wenigstens mir zuliebe“, sagt Mama.

„Ich tue doch alles für dich, mein Schatz, ich hole dir sogar die Sterne vom Himmel, aber dass ich an meinem wohlverdienten Feierabend die Füße vom Tisch nehmen soll, das ist wirklich zu viel verlangt.“

Papa tut sich immer so Puder in die Schuhe, damit seine Schweißfüße vergehen. Das macht aber nur, dass seine Füße dann anders stinken als vorher.

Ich habe mal was von dem Puder in den Blumentopf auf meinem Bett getan, damit die Blattläuse an der Pflanze vergehen. Die Läuse sind nicht vergangen, die Pflanze aber schon.

Mama war ganz traurig, weil sie doch Blumen so gern mag. Sie hat mir gleich einen anderen Blumentopf hingestellt, aber der hat auch nicht lange gehalten, weil er bei einem Streich mitgespielt hat. Es war ein sehr schöner Streich, eigentlich habe ich noch keinen so schönen erlebt. Er ging so: Ich erzähle meinen Schwestern abends manchmal eine Schauergeschichte, damit sie nicht einschlafen können und sich die ganze Nacht gruseln müssen. Aber nur Nena gruselt sich und kann nicht schlafen. Ella sagt immer: „So einen Quatsch glaube ich nicht!“ oder „Das gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht!“ Dann kann ich auch nicht schlafen, weil ich mich so ärgern muss.

Einmal aber hat es sie dann doch richtig gegruselt. Es war eine gute Gelegenheit für meinen Streich, weil sie Grippe hatte und in meinem Zimmer schlafen musste, damit sie mich und Nena nicht ansteckt. Ich habe bei Nena drüben im Mädchenzimmer geschlafen.

Schon am Nachmittag habe ich einen Wollfaden um den Blumentopf auf meinem Wandklappbett gebunden und ihn ganz dicht an der Fußbodenleiste entlang ins andere Zimmer rüber verlegt. Am Abend habe ich Nena dann meinen Plan verraten und sie hat von da an die ganze Zeit gekichert. Nena ist erst acht und noch ziemlich albern für ihr Alter. Aber dass sie sich für einen Plan von mir begeistern kann, ist ein gutes Zeichen.

Wir liegen also im Bett und haben wie sonst die Türen auf, damit wir noch quatschen können. Ich habe mir wieder eine schrecklich gruslige Geschichte ausgedacht und zwar von einem Poltergeist, der immer ganz grauslig mit den Möbeln wackelt. Ich habe die Geschichte so unheimlich gemacht wie ich nur konnte, aber Ella, im anderen Zimmer drüben, hat nur gelacht und gesagt. „So ein Blödsinn, Poltergeister gibt es nicht!“

Da habe ich gesagt, dass es sie schon gibt und dass sie am liebsten bei denen zum Poltern kommen, die nie etwas glauben. Dann habe ich angefangen, den Faden aufzuwickeln, wo am anderen Ende der Blumentopf dran war. Endlich hat er sich gespannt und ich habe mit einem Ruck angezogen.

Eigentlich wollte ich ja nur, dass der Blumentopf ein bisschen verrutscht und ein Geräusch macht. Aber „peng!“ knallt er mit höllischem Lärm vom Bett runter auf den Boden und zerspringt in tausend Stücke.

Zuerst blieb alles ganz still, aber plötzlich hat Ella einen ganz schrillen Schrei ausgestoßen, dann noch einen und wieder einen, und schließlich hat sie nur noch geschrien, als ob der Teufel gerade ihre arme Seele abgeholt hätte.

Natürlich haben ich und Nena einen riesen Schreck gekriegt und sind gleich zu Ella hinüber, um sie zu beruhigen. Ella lag da, die Bettdecke über ihren Kopf gezogen und hat gestrampelt, als würde sie mit einer unsichtbaren Bestie kämpfen.

Schon ist Papa die Stiege hinaufgepoltert und Mama hat von unten gerufen: Um Himmels Willen, was ist denn jetzt schon wieder los?“

Papa hat sich gleich zu Ella aufs Bett gesetzt und ihre Arme festgehalten, weil sie damit ganz wild um sich geschlagen hat.

Hinter meinem Rücken habe ich heimlich den Wollfaden aufgerollt und ihn im Ärmel von meinem Schlafanzug verschwinden lassen. Dann habe ich Nena ein Zeichen gegeben, dass sie ja den Mund halten soll. Sie war auch ganz still und hat überhaupt nicht mehr gekichert.

Ella hat gezetert, dass ich Schuld bin, weil ich einen Poltergeist gerufen habe. Da hat Papa den Kopf geschüttelt und gesagt: „Aber Ella, ich bitte dich, Poltergeister gibt es doch in Wirklichkeit gar nicht!“

„Geeenau“, habe ich gesagt, „Poltergeister gibt es doch gar nicht, höchstens im Märchen… aber wer glaubt schon an Märchen?“

3

Papa ist Psychologe, das hat er mir mal buchstabiert, damit ich es auch richtig schreiben kann. Früher habe ich nämlich immer „Züschologe“ gesagt und es auch so geschrieben. Ich finde, dass manche Wörter viel schöner aussehen, wenn man sie falsch schreibt. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man sie nicht so schreiben darf, wie sie am schönsten aussehen oder klingen. Das wäre doch das Einfachste, oder etwa nicht?

Also, so ein Psychologe ist ganz was Kompliziertes und man versteht es nur, wenn man selber kompliziert ist. Wenn nicht, kann man auch kein Psychologe werden, weil einem dann das Wichtigste für diesen Beruf fehlt. Jedenfalls hat es mir Papa so erklärt. Er sagt, dass er komplizierten Menschen gar nicht helfen könnte, wenn er nicht selbst kompliziert wäre und dass er sein Geld damit verdient dass er diesen Leuten aufmerksam zuhört. Er gebraucht immer eine Menge Wörter, die ich nicht ganz verstehe, und wenn er sie mir dann erklärt, verstehe ich oft noch weniger als zuvor. Aber die Wörter, die er gebraucht sind wunderschön und deshalb benutze ich sie auch ab und zu, wenn ich das Gefühl habe, dass sie einen Satz besser klingen lassen. Wenn meine Kumpels dann sagen, ich soll nicht so geschwollen daherreden, dann zucke ich nur mit den Achseln und sage: „Tja, Jungs, von Psychologie versteht ihr eben nichts!“

Heute hat Papa mich gefragt, was ich da immer schreibe. Ich habe ihn angeschwindelt und gesagt, dass es was für die Schule ist. Da hat er gesagt: „Immer fleißig, der Sohnemann… recht so, recht so!“

Ich will nicht, dass er meine Notizen liest, weil ich in mein Buch alles reinschreibe, was mir so durch den Kopf geht und da ist viel dabei, was er sowieso nicht verstehen würde, weil es nicht kompliziert genug für ihn ist.

Erwachsene können manchmal höllisch begriffsstutzig sein. Aber wenn man ihnen was erklären will, damit sie es endlich auch kapieren, hören sie oft gar nicht zu. Wenn sie einen z.B. fragen: „Na, wie geht’s?“, dann wollen sie es eigentlich gar nicht so genau wissen und am liebsten nur ein kurzes „Gut!“ hören. Manche tun die Antwort, die sie gerne hören wollen, gleich in ihre Frage hinein und sagen: „Na, geht’s gut?“ Das klingt dann fast wie ein Befehl, auf den man am besten mit einem kurzen „Ja!“ antwortet oder, noch besser, nur nickt. Antwortet man mit einem „Nein!“, dann haben sie auch nicht mehr Zeit für einen übrig, dann winken sie nur ab und sagen: „Das wird schon wieder!“, weil sie nicht zuhören können oder nur jemandem zuhören wollen, der sie dafür bezahlt.

Aber es gibt auch Ausnahmen. Mama und Onkel Egon z.B. Mama sagt immer: Komm, mein Junge, setz dich mal hier auf mein Bett und erzähle mir, wie dein Tag gelaufen ist. Natürlich kann ich ihr nicht dasselbe erzählen wie Onkel Egon. Sie war nämlich nie beim Militär oder im Krieg wie er und versteht es einfach nicht, dass wir Jungs mit Holzschwertern in den Wald ziehen und mit blauen Flecken wieder nach Hause kommen. „Ja könnt ihr denn nichts anderes spielen?“, fragt sie immer ganz entsetzt, wenn sie eine blutige Schramme an mir verarztet. Dann sage ich: „Mama, wenn wir spielen wollen, dann gehen wir auf den Sportplatz und spielen Fußball oder Völkerball, aber wenn wir in den Wald ziehen, dann machen wir Ernst, wie die Erwachsenen. Dann graut es ihr und sie schüttelt sich. Deshalb erzähle ich ihr auch nur die schönen Sachen aus dem Wald, z.B. wenn ich einen Rehbock, ein Eichhörnchen oder einen Fuchs gesehen habe. Ich muss ihr die Tiere immer ganz genau beschreiben, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze und sie seufzt dabei und erinnert sich dann wohl an früher, als sie noch gesund war und selbst raus in die Natur zu den Tieren gehen konnte. Aber sie hat die Natur noch ganz genau im Kopf, weil wenn sie mich z.B. fragt, ob der Holler draußen schon blüht, dann ist es meist tatsächlich so, dass er gerade blüht und ich ihr welchen bringen muss, damit sie sich einen Tee davon kochen kann. Mit den Heidelbeeren ist es dasselbe: kaum fragt sie, ob ich schon welche gesehen habe, da fällt mir gleich ein Platz im Wald ein, wo die Sträucher ganz blau und schwarz vor lauter Beeren schimmern. Und wenn ich ihr mal ein Schälchen voll aus dem Wald mitbringe, dann sitzt sie in ihrem Bett und veranstaltet einen wahren Festschmaus. Sie verschlingt die Beeren nicht etwa gierig mit einem Löffel, sondern nimmt eine nach der anderen zwischen Daumen und Zeigefinger, schaut sie sich an, riecht daran und steckt sie erst dann in den Mund.

Manchmal schnuppert Mama auch an meinem Haar und meiner Kleidung. Dann kriegt sie einen ganz seligen Ausdruck im Gesicht und sagt: “Hmmm, du bringst mir frische Waldluft in mein Schlafzimmer…Fichtennadelduft, Harz und schwarze Erde!“

Onkel Egon will immer nur das aus dem Wald wissen, was Mama nicht so interessiert. Das ist aber ganz O.K. so, weil ich dann nicht alles zweimal erzählen muss. Ihn interessiert z.B. immer ganz brennend, wie unsere Schlachtaufstellung war, wie viele Verletzte und Tote es gegeben hat und ob wir unsere Gefangenen auch gut behandelt haben. Er war im Zweiten Weltkrieg nämlich selbst in Gefangenschaft und ist dort fast verhungert. Die Gefangenen sind für ihn immer das Wichtigste und er zählt mir immer ganz genau auf, was sie an Verpflegung zu kriegen haben und wie man sie behandeln muss. „Entweder man macht von vornherein keine Gefangenen oder man füttert sie anständig!“, hat er mir schon zum tausendsten Mal erklärt.

Onkel Egon ist nur ein Halbbruder von Papa und viel älter, als er. Meistens erzählt er vom Krieg und dass es damals eine ganz andere Zeit gewesen ist als heute. Am Anfang, sagt er, gab es da nur eine kleine Handvoll Verrückte, aber „schwups“ haben sie alle anderen angesteckt, bis sie genauso verrückt waren und dann kam der Krieg.

Neulich habe ich ihn gefragt, ob er auch solche Schweißfüße hat wie Papa und woher sie kommen, da hat er gleich wieder mit seinem Krieg angefangen. Er hat gesagt, dass seine Schweißfüße überhaupt nicht zu vergleichen sind mit denen von Papa, weil er sie im Kampf ums Vaterland erworben hat und sie bei ihm ein Kriegsleiden sind, weil er so oft in seinen Stiefeln schlafen musste.

Onkel Egon sagt immer: „Jetzt wo ich in Rente bin, kann ich endlich tun und lassen, was ich will!“. Aber er tut es trotzdem nicht, weil Tante Wawi ihn nicht lässt.

Tante Wawi und er wohnen nur drei Türen weiter im selben Block wie wir. Ich bin oft bei ihnen, weil bei ihnen den ganzen Tag der Fernseher läuft. Wir dürfen nämlich bei uns nur die Kinderstunde sehen, aber die interessiert mich nicht, weil sie nur für Kinder ist.

Papa hat gesagt, dass man das Fernsehen für Kinder unbedingt dosieren muss. Ich finde, dass das eine irre tolle Idee ist. Es wäre doch unheimlich praktisch, wenn man so eine Dose hätte, die man überallhin mitnehmen und damit fernsehen könnte. Ich hoffe, dass es nicht mehr allzu lange dauert, bis so ein Dosenfernseher endlich erfunden wird. Aber wie ich mich und meine Jungs kenne, würden wir dann nach der Schule nicht mehr in den Wald ziehen, sondern nur noch in unseren Zimmern auf dem Bett flacken und in die Dose glotzen.

4

In unserem Block wohnen sechs Familien. Vorne hat jede Familie einen Postkasten und eine Mülltonne und hinten einen Garten. Der Garten ist aber sehr klein, und wenn man über die Nachbarn schimpfen will, muss man hineingehen, damit sie es nicht hören. „Im Garten darf man nur Nettes über die Nachbarn sagen“, hat Papa mal gemeint, „um des lieben Friedens willen.“ Deshalb ist mir der Wald viel lieber als der Garten, weil ich dort nicht aufpassen muss und sagen kann, was ich will.

Als ich Onkel Egon im Garten mal erzählt habe, dass ich an Alfreds Eisenbahn wieder mal heimlich ein Kabel durchgezwickt habe, (ich gehe jetzt nämlich nie mehr ohne meine kleine Kneifzange zu Alfred!) hat er plötzlich seinen Finger an den Mund gelegt und gezischt: „Achtung, Flo, Feind hört mit!“

Tatsächlich war Alfreds Mutter gerade beim Wäscheaufhängen draußen und ich hatte sie gar nicht bemerkt.

„Wenn das mal keinen Ärger gibt!“, hat mir Onkel Egon zugeflüstert.

Er ist ein echter Kumpel. Er erzählt mir alle seine Streiche, die er als Junge ausgeheckt hat. Von ihm kann man wirklich eine Menge lernen. Von Papa nicht so viel, er ist ganz anders. Er sagt, dass er als Kind immer nur lieb und brav gewesen ist und stets getan hat, was seine Eltern von ihm verlangt haben.

„Wenn das stimmt, wäre dieses Schlitzohr heute wohl kaum ein selbständiger Psychologe“, hat Onkel Egon gesagt und sich vor Lachen auf die Schenkel geklopft, als ich es ihm erzählt habe. „Dein Papa hat schon immer seinen eigenen Kopf durchgesetzt und wollte sich von anderen nie gerne etwas sagen lassen, sonst hätte er jetzt bestimmt einen Chef vor der Nase, der ihm genau sagt, was er tun und lassen soll. Stattdessen schreibt er sich seinen Dienstplan heute selbst.“

Zwei Dinge habe ich jedenfalls schon von Onkel Egon gelernt. Erstens, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, (von wegen der Heiligenscheine, die nur aus billigem Blech sind wie die Orden im Krieg) und zweitens, dass ich mir meinen Dienstplan später auch einmal selber ausdenken will.

***

In unserem Wald gibt es zwei Stellen, an dem große moosbewachsene Findlingssteine kreuz und quer auf einem Haufen liegen. Das sind unsere Burgen. Die eine haben wir „Engelsburg“ getauft, die andere „Teufelsburg“. Wenn wir dann die zwei Gruppen aufgestellt haben, die gegeneinander um den Heiligen Gral kämpfen sollen, (was nur ein verrosteter Blechtopf ist, den wir am Saußbach ausgegraben haben), möchten natürlich alle in die Teufelsburg, weil ja jeder aus der Bibel weiß, dass die Teufel die gefährlicheren von den Engeln sind. Deshalb müssen die Anführer vor jeder Schlacht Strohhalme ziehen, damit es gerecht zugeht und jeder mal Teufel sein darf.

Der Theo ist ein langer Lulatsch, dem wir deshalb den Spitznamen „Latschi“ gegeben haben. Latschi hat zwar wenig Grips in der Birne, kann aber höllisch gut sterben. Und weil er das weiß, legt er es meistens darauf an, getroffen zu werden. Während wir anderen immer schön in Deckung bleiben, stellt er sich auf einen Felsvorsprung und droht und frotzelt so lange zum Feind hinüber, bis es ihn, „peng, frrtsch, zingo!“ erwischt hat.

Eigentlich kämpft Latschi nicht um den Heiligen Gral, sondern nur dafür, dass er mit Getöse sterben kann. Zuerst macht er einen mächtigen Satz in die Luft, dann kracht er mit einem schauerlichen Schrei auf den Waldboden. Dort windet und dreht er sich mit furchtbarem Gestöhn und schneidet so grauslige Grimassen, dass uns jedes Mal die Spucke wegbleibt und wir uns fragen, ob er sich diesmal, bei seinem Todessturz, nicht tatsächlich das Genick gebrochen hat. Am Ende macht er dann immer noch ein paar grässliche Zucker mit Armen und Beinen, wirft seinen Kopf zurück und starrt völlig bewegungslos in die Tannenwipfel hinauf.

Das Ganze dauert gute drei Minuten und ist jedes Mal der Höhepunkt einer Schlacht. In dieser Zeit lassen wir die Waffen ruhen, damit Latschi in Frieden sterben kann. Alle stehen da und erweisen ihm Respekt. Unsere Helme – Waschmitteltrommeln mit hineingeschnittenen Schlitzen für die Augen – halten wir andächtig unterm Arm.

Freund und Feind reißen sich um Latschi, weil er so fantastisch sterben kann. Keiner schafft es so wie er, einen vom Tod zu begeistern. Normalerweise will man ja gar nicht sterben und möglichst lange in der Schlacht überleben, aber Latschi ist eben ein unwiderstehliches Vorbild.

Manchmal ist die schönste Schlacht schon nach zehn Minuten zu Ende, weil ihm alle nacheifern. Das geht dann doch ein bisschen zu weit, finde ich. Sterben, gut und schön, aber alles zu seiner Zeit und nicht alle auf einmal!

Einmal ist Latschi, ohne das kleinste Blinzeln, eine ganze Viertelstunde liegengeblieben. Ein paar von den Kleineren haben plötzlich Panik geschoben und sich klammheimlich nach Hause verdrückt. Uns Größeren war aber auch nicht mehr ganz wohl in unserer Haut. Nicht so sehr wegen Latschi, sondern wegen dem Ärger, den man sich bei so einer Geschichte von den Erwachsenen einhandeln kann.

Einer von uns hat sich Latschi irgendwann ganz vorsichtig genähert und ihn mit einem langen Stock angestupst.

Nichts!

Er war stocksteif und hat keinen Muckser mehr getan. Wir haben uns hinter einen Felsen gehockt und Kriegsrat abgehalten.

Christoph hat gemeint, dass man ihn heimtragen muss zu seinen Eltern, aber Ludwig hat ihn sofort angezischt: „Spinnst du, ich fass doch keinen Toten an!“

„Und wieso nicht?“, hat Christoph gefragt. „Er ist doch unser Freund!“

„Na, wegen dem Leichengift, du Hirni! Der Kerl ist jetzt giftiger, als 'ne Klapperschlange! Fass ihn an, und du bist der nächste, der ins Gras beißt... tot ist nun mal tot, und wenn jemand tot ist, hört die Freundschaft auf!“

Das hat uns allen irgendwie eingeleuchtet. Wir haben ihn also liegenlassen, wo er war und uns mit gesenkten Köpfen auf den Heimweg gemacht.

Es war schon fast dunkel und keiner hat einen Ton rausgebracht, bis wir an den Rand von unserer Ortschaft kamen. Unsere Schritte sind immer kleiner geworden und irgendwann sind wir stehengeblieben und haben eine Weile auf unsere Zehenspitzen geschaut.

„Einer muss es seinen Eltern sagen“, hat Christoph geflüstert.

Schweigen – keiner hat sich gerührt.

„Warum gehen wir nicht alle zusammen hin?“, habe ich vorgeschlagen.

„Gute Idee!“, haben mir die anderen zugestimmt, und so sind wir gemeinsam losgezogen.

Vor dem Bauernhof von Theos Eltern steht eine Menge aufgeschichtetes Holz herum, alles so Stöße von ein, zwei Metern Höhe. Plötzlich, als wir an den Stapeln vorbeikommen, springt mit ganz schaurigem Geheul eine rabenschwarze Gestalt aus dem Hinterhalt hervor.

Es war Theo!

Sein Gesicht war mit Holzkohle angeschmiert. Diese linke Bazille hatte uns alle zum Narren gehalten. Ein blaues Auge war die Quittung dafür. Wir haben ihm eine Abreibung verpasst, die er so schnell nicht wieder vergessen wird.

Seit diesem Vorfall stirbt er wieder ganz normal. Und wenn es länger dauert als drei Minuten, dann fragen wir ihn, ob wir bei seiner Auferstehung von den Toten vielleicht etwas nachhelfen sollen. Und „schwupp!“ ist er wieder auf den Beinen.

5

Frau Müller, die ältere Dame, die links von uns gewohnt hat, ist vor drei Tagen gestorben. (Ohne Heilige Ölung!!!)

Ich frage mich, was jetzt mit ihrer armen Seele passiert, weil es doch von der Kirche vorgeschrieben ist, dass man sich vom Pfarrer ölen lassen muss, bevor man stirbt. Vielleicht rede ich mal mit Onkel Egon darüber.

Keiner hat sie so richtig gern gehabt, die alte Müllerin, weil sie ein bisschen komisch war, aber alle haben sich in Schale geworfen und sind auf die Beerdigung gegangen. Sie haben furchtbar traurige Gesichter gemacht, so, als ob sie gerade ihre beste Freundin verloren hätten.

Fast alle haben im Garten draußen schon mal über sie geschimpft, ohne hineinzugehen, damit sie es nicht hört. Das fand ich gemein und manchmal hat sie mir echt leidgetan. Sie selbst hat mit niemandem viel geredet, außer mit ihren vier Katzen. Aber sie hat immer so freundlich gelächelt. Ihr Lächeln wird mir fehlen, weil es jedes Mal war, als ob sie damit eine Lampe in mir angeknipst hätte. Wenn sie mich angelächelt hat, hatte ich immer das Gefühl, dass das Leben schön ist und die Menschen gut und dass nichts Schlimmes auf der Welt passieren kann.

Für ihre Katzen hat Frau Müller alles getan. Wenn sie zu Bäcker Schmidt rübergegangen ist, hat sie sie alle vier an der Leine mitgenommen. Manchmal haben sich die Leinen verheddert, weil eine Katze über die andere gesprungen ist, dann gab es jedes Mal ein höllisches Durcheinander.

Einmal, als sie versucht hat, die Tiere wieder in Reih und Glied aufzustellen, ist ihr dabei die Brötchentüte geplatzt und die Brötchen sind über die ganze Straße gekullert. Sie hatte wirklich eine Engelsgeduld mit den Viechern.

Wenn es kalt war, hat sie ihnen richtige Kleider angezogen. So Strickpolunder und niedliche kleine Mützen, wo Löcher für die Ohren drin waren. Auch über ihre Schwänze hat sie eine lange gestrickte Wurst geschoben und sie mit einer Schleife zugebunden.

Die Katzen haben sich das alles von ihr gefallen lassen, bis auf die Puppenschuhe, die haben sie sich immer wieder selbst ausgezogen, bis es Frau Müller endlich aufgegeben hat.

Ich habe durch die Gartenhecke mal beobachtet, wie sie Kater Mikesch, einem alten Kämpfer, der schwarz wie Kohle ist, die Schuhe anziehen wollte.

„Komm, Mikesch“, hat sie gesagt, „jetzt wollen wir mal einen feinen Dschentelmän aus dir machen!“

Ich habe gar nicht gewusst, was so ein Dschenteldings ist. Wahrscheinlich ist es was, das nur ältere Damen mögen, aber Kater nicht, weil Mikesch sofort einen Buckel gemacht und Frau Müllers Hände blutig gekratzt hat. Dann ist er wie der Teufel in die Büsche abgehauen und hat dort ganz fürchterlich miaut. (Obwohl ihm die glänzenden Lackschühchen bestimmt gut gestanden hätten, weil sie genauso schwarz waren wie er.)

***

Die Mutter von Alfred hatte am meisten über die alte Dame geschimpft, weil die Katzen, wenn sie mal aufs Klo mussten, ihr Geschäft am liebsten in ihrem Salatbeet verrichtet haben. Zum Schluss haben sie ihr Häufchen zwar ordentlich verscharrt, aber dabei sind auch immer ein paar von den Salatpflänzchen draufgegangen.

Was Alfreds Mutter auch nicht verknusen konnte, war, wenn Kater Mikesch um den Käfig mit ihren Wellensittichen herumscharwenzelt ist. Den Käfig hängt sie nämlich bei schönem Wetter immer in den Garten hinaus, damit die Wellensittiche vor den Spatzen mit ihrem Gesang und dem bunten Gefieder angeben können.

Kater Mikesch ist zwar noch nie an den Käfig rangekommen, weil er zu hoch hängt, aber er glaubt vielleicht, dass er irgendwann von selbst herunterfallen könnte. Bewegungslos sitzt er unterm Käfig und starrt nach oben, bis ihm der Geifer aus dem Maul zu tropfen beginnt. Dabei lässt er sich von nichts und niemand ablenken, nicht einmal von Frau Müller, die dann immer versucht hat, ihn mit einem Stück gebratener Leber zurück in ihren Garten zu locken. Ende der Vorstellung war immer erst, wenn Alfreds Mutter mit einem Pantoffeln nach ihm geworfen hat.

Manchmal, wenn ich Kater Mikesch durch die Büsche zugeschaut habe, ist mir selbst fast das Wasser im Mund zusammengelaufen und ich habe mich gefragt, wie wohl so ein Wellensittich schmeckt, wenn Mikesch sogar ein Stück gebratene Leber darüber vergisst.

Wenn es bei uns wieder mal nur Rohrnudeln ohne Füllung gab, habe ich mich gefragt, was wohl Kater Mikesch gerade Gutes auf seinem Teller hat. Er hat nämlich nicht nur gebratene Leber von Frau Müller gekriegt, sondern auch Kartoffelbrei, geröstete Zwiebelringe und Apfelmus. Lauter Sachen, die es bei uns ganz selten gibt, und wenn, dann nur sonntags.

Ja, Mikesch und die anderen Katzen haben es wirklich gut gehabt bei der alten Dame. Ich schätze, dass sie nicht mal im Katzenhimmel solche Leckereien kriegen werden wie bei ihr. Nun aber ist das alles vorbei und keiner weiß, was aus den Katzen werden soll.

Die Mutter von Alfred hat immer die bissigsten Bemerkungen über Frau Müller gemacht und zwar so laut, dass es zwei Gärten weiter noch zu hören war. Deshalb habe ich meinen Augen und Ohren nicht getraut, als sie bei der Beerdigung laut zu schluchzen angefangen hat.

Schade, dass es die alte Dame nicht mehr gibt. In ihrer Wohnung und ihrem Garten ist es jetzt still wie auf dem Friedhof. Kein leckerer Duft weht mehr aus dem Küchenfenster zu uns herüber und auch das „Mieze, Mieze, Mieze… komm, komm, komm!“, mit dem sie alle so genervt hat, ist für immer verklungen.

Ich habe mich öfter gefragt, für was so ein alter Mensch wie Frau Müller überhaupt nütze ist auf der Welt, wenn er nur noch mit den Katzen redet. Aber jetzt, wo sie tot ist, weiß ich, dass sie auch einen Nutzen gehabt hat, weil ich ihr Lächeln so vermisse.

Nach der Beerdigung, als die Leute noch in kleinen Grüppchen vor dem Friedhof standen, haben die ersten schon wieder angefangen, über die alte Müllerin zu lästern.

„Ein bisschen ballaballa war sie aber schon, die Müller!“, habe ich Alfreds Mutter zu einer verschrumpelten alten Dame sagen hören, die sich gerade in ein Spitzentaschentuch geschnäuzt hat.

„Ja, ja, schon in der Schule früher hat sie nie den Mund aufgekriegt und ist für sich geblieben.“, hat die verschrumpelte Dame geantwortet.

„Kein Wunder, dass sie keinen Mann gefunden hat! Wer möchte so ein seltsames Pflänzchen denn schon haben?“, hat die Mutter von Alfred gesagt. Und dann haben beide gekichert.

Onkel Egon hat es auch gehört und ohne zu den beiden Frauen hinzuschauen, aber laut genug, dass sie es gut hören konnten, hat er zu mir gesagt, dass man sich im Krieg auf die seltsamen Pflänzchen meist besser verlassen konnte, als auf die Quadratratschen, die ständig ihren Schnabel offen hatten.

***

Die vier Katzen von Frau Müller sind jetzt auch weg. Bestimmt hat man sie in ein Tierheim gesteckt, wo es nur trockenes Brot und Wasser für sie gibt. Ich frage mich, wie lange es Kater Mikesch wohl ohne gebratene Leber, Kartoffelbrei und Apfelmus dort aushält. Ich schätze mal, dass er irgendwann einen Ausbruchsversuch unternimmt und sich dann eine neue Bleibe sucht, wo man wieder leckere Spezialitäten für ihn kocht.

Sonntags fühle ich mich oft wie er, wenn er die kleinen schwarzen Lackschühchen anziehen sollte. Am Sonntag versucht Mama nämlich auch immer einen Dschentelmän aus mir zu machen. So ein Dschentelmän ist jemand, der den Mädchen gefällt, weil er gepflegt aussieht und gute Manieren hat, sagt Mama. Aber warum will sie, dass gerade ich so was bin? Wo ich doch alles tue, damit ich den Mädchen nicht gefalle und sie mir von der Pelle bleiben.

Wenn ich in die Kirche gehe, muss ich einen Anzug anziehen, der aus dem Stoff von einem alten Anzug von Papa gemacht worden ist. Nicht nur, dass er ein bisschen zu eng für mich ist, nein, er zwickt und kratzt auch ganz fürchterlich. Wenn ich mit den Jungs vor der Kirche noch ein bisschen rumtobe, habe ich immer Angst, dass mir die Hose platzt. Außerdem darf ich ihn nicht dreckig machen und soll mir beim Sitzen die Hosenbeine hochziehen, damit die Knie nicht ausbeulen und die Bügelfalte kaputtgeht.

Das ist auch sowas, wo ich die Erwachsenen nicht verstehe – sie erfinden eine Bügelfalte, die so nützlich ist wie ein Kropf, nur damit sie wieder was haben, worauf sie stolz sein können und ständig aufpassen müssen. Und die Bügelfalte ist nur eine von ihren tollen Erfindungen, die sie nur erfinden, damit das Leben anstrengender wird und weniger Spaß macht. Wenn sie auf den Pfarrer hören würden, der immer sagt: Werdet wie die Kinder! Dann gäbe es auf der ganzen Welt schon längst keine Bügelfalten mehr und ein paar andere Sachen auch nicht, die genauso überflüssig sind, wie z.B. einen Schlips. An einem Schlips ist nämlich nur der Name lustig, sonst nichts.

Papa hat mir mal einen von sich geschenkt, den Mama dann abgeschnitten und umgenäht hat. Er hat ihn mir hingehalten, als ob es ganz was Besonderes wäre, fast so, wie der Pfarrer, wenn er einem die heilige Hostie hinhält. Seine Augen haben dabei so feierlich geglänzt, dass mir beinahe ein „Amen!“ rausgerutscht wäre. Dann hat er mir gezeigt, wie man ihn bindet. Wir sind nebeneinandergestanden und er hat gesagt: „Jetzt mach mir einfach alles nach, dann wird ein schöner Knoten dabei herauskommen!“ Aber es ist bei den ersten Malen nur ein Mordsgewurschtel daraus geworden und hat eine Weile gedauert, bis ich den Schlips endlich selbst binden konnte.

Jetzt kann ich ihn zwar binden, aber angefreundet habe ich mich noch immer nicht mit der verflixten Würgeschlange. Wenn ich außer Sichtweite von unserem Haus bin, nehme ich den Schlips ab, rolle ihn zusammen und stecke ihn in meine Jackentasche. Bevor ich dann von der Kirche nach Hause komme, binde ich ihn mir schnell wieder um.

Ich will nämlich nicht noch einmal erleben, was mir vor kurzem passiert ist: Max, so ein dicker Typ aus dem Nachbardorf, hat mich nach der Kirche angepöbelt und nicht mehr aufgehört damit. Als ich auf ihn zugehe und ihn mir greifen will, was tut da diese gemeine Kröte? „Schwups!“, packt er mich am Schlips und zerrt mich wie einen dressierten Zirkusgaul über den Kirchanger.

Alle haben gelacht und ein paar sogar vor Begeisterung in die Hände geklatscht. Seitdem weiß ich, dass ein Schlips nicht nur überflüssig, sondern auch gefährlich ist, weil er einen Gegner direkt dazu einlädt, einen daran über den Kirchanger zu schleifen.

Aber an sowas denken die Erwachsenen ja nicht, wenn sie ihre verrückten Schnapsideen haben. Schlips und Bügelfalte – alles Quatsch!

Manchmal frage ich mich, ob es nicht eine gute Idee wäre, wenn es eine Schule für Erwachsene gäbe, wo sie von den Kindern lernen könnten, mit was für überflüssigem Krempel sie sich oft beschäftigen und vor allem, wie man sicher durchs Leben kommt – nämlich ohne Schlips!

***

Es ist nicht leicht, Mama klarzumachen, wie gefährlich so ein Schlips ist. Sie kommt ja wegen ihrer Krankheit nicht aus dem Haus und weiß gar nicht, wo da draußen überall Gefahren lauern. Zum Beispiel glaubt sie auch, dass in der Kirche immer nur Frieden und Eintracht herrschen, aber da hat sie sich sauber getäuscht.

Wenn ich ihr zu erklären versuche, dass die ganz Kirchengemeinde aus verschiedenen Banden besteht, seufzt sie immer und sagt: „Mein Junge, versündige dich nicht!“

„Doch, Mama“, sage ich dann, „keiner von uns setzt sich einfach so in eine Kirchenbank. Jeder versucht in die Reihe zu kommen, wo auch sein Rudel sitzt, weil man sich dann sicherer fühlt.“

Einmal haben wir die von der Geiersberger Bande auf die Kastanienbäume hinaufgescheucht, die hinter der Sakristei stehen. Das haben sie mit uns auch schon mal gemacht, aber an diesem Tag waren wir dran, weil wir in der Mehrzahl waren.

Da ist plötzlich der Prälat um die Ecke gekommen.

Die Geiersberger auf den Bäumen haben sich mucksmäuschenstill ins Laub gedrückt und wir anderen haben einen heiligen Kanon gepfiffen und so getan, als ob wir etwas im Gras suchen.

„Brav, brav“, hat der Prälat gesagt, „immer ein frommes Lied auf den Lippen! Aber sagt mal, müsst ihr nicht längst zum Mittagstisch nach Hause?“

Da hat Ludwig gemeint, dass wir noch warten müssen, bis ein paar Kastanien herunterfallen.

„Die sind doch noch gar nicht reif, mein Sohn“, hat der Prälat geantwortet und ihm ganz mitleidig übers Haar gestreichelt.

Aber Ludwig hat gesagt, dass er schon glaubt, dass sie bald reif sind.

„Aber nicht mit Stöcken hinaufwerfen und nachhelfen!“, hat der Prälat uns ermahnt. „Das könnte in die Kirchenfenster gehen!“ Dann ist er gegangen.

Wir haben uns gewundert, dass ein Prälat so gute Ideen haben kann. Als er außer Sicht war, haben wir es gleich so gemacht, wie er gesagt hat, dass wir es nicht machen sollen. Wir haben ein paar Stöcke und dürre Äste aufgeklaubt und damit nachgeholfen, bis die von der Geiersberger Bande wie reife Kastanien der Reihe nach vom Baum gepurzelt sind und sich aus dem Staub gemacht haben.

***

Bevor wir in die Kirche gehen, tut Mama mir immer Zuckerwasser auf die Haare, damit meine Frisur besser hält. Sie sagt: „Das ist natürliches Haarspray, mein Junge!“

Aber in Wirklichkeit ist es ganz was Ekliges. Wenn ich z.B. bei einer Prozession mitgehen muss und mir die Sonne auf den Kopf scheint, dann läuft mir oft ein klebriger Tropfen Zuckerwasser übers Gesicht oder den Nacken hinunter bis in den Hemdkragen. Ich fühle mich dann immer wie einer von Nenas angesabbertern Lutschern, die sie an den unmöglichsten Stellen als eiserne Reserve versteckt.

Einmal muss sich Mama wohl in der Mischung vertan haben. Ich sitze in der Kirchenbank und habe schon so ein komisches Gefühl, als ob ich statt meinen Haaren einen steifen Fußabstreifer auf dem Kopf hätte, da stößt mich Theo in die Seite und grinst übers ganze Gesicht.

„Was ist denn mit deinem Kopf passiert?“

„Was soll denn damit passiert sein?“

„Na, er sieht aus wie 'n leckerer Krapfen mit Zuckerguss!“

Ganz erschrocken habe ich meine Frisur betastet, und laus mich der Affe, dort oben auf meinem Kopf hat es tatsächlich ganz unheimlich geknistert.

Plötzlich fällt mir ein Stück Zuckerkruste ins aufgeschlagene Gebetbuch – groß wie das Glas von meiner Armbanduhr!

Ich habe in das Buch gestarrt, als wenn dort gerade eine fliegende Untertasse gelandet wäre. Aber da kam auch schon Theos Spuckefinger rüber… und „schlupp!“ hat er sich das Ding geangelt und in den Mund gesteckt.

„Donnerwetter, gar nicht mal so übel… darf ich noch mal?“

Theo wollte sich noch ein Stück „Natürliches Haarspray“ von meinem Kopf stibitzen, aber ich habe ihm unter der Bank einen Tritt gegen sein Schienbein gegeben und die Leute in der Kirche haben gebetet: „Herr erbarme dich… Christus erbarme dich…

6

Bis auf die Predigt und das ganze Drumherum ist die Kirche wirklich eine prima Sache. Man kann nämlich sehr viel Geld damit verdienen. Ja, je frommer die Leute sind, desto mehr kann man damit verdienen.

„Das Geld liegt auf der Straße!“, sagt Onkel Egon immer. Und ich antworte ihm dann: „Und in der Kirche… und in der Kirche, lieber Onkel!“

„Wie meinst du das denn?“, hat er mal gefragt und ich habe es ihm erklärt. Da hat er gemeint: „Na, du bist mir vielleicht ein Früchtchen! Aber lass dir gesagt sein: in Ordnung finde ich das überhaupt nicht!“

Das mit dem Geldverdienen in der Kirche geht nämlich so: Man muss nach der Messe nur mit gefalteten Händen in seiner Bank knien bleiben und warten, bis alle Leute hinausgegangen sind. Es kann dabei nicht schaden, wenn man seinen Kopf leicht zur Seite neigt und die Augen himmelwärts verdreht, damit der Mesner, der noch die Kerzen vorne am Altar löscht, keinen Verdacht schöpft und glaubt, dass man nur noch ein Extragebet sprechen will. Er hat ja auch recht, weil ich immer dafür bete, dass mir der liebe Gott und alle Heiligen an diesem Tag ein Extrageschenk bescheren.

Ein paar Jungs haben schon spitz gekriegt, wie ich mein Taschengeld aufbessere und machen mir jetzt Konkurrenz. Gott sei Dank, haben sie die Feinheiten von diesem Geschäft noch nicht durchschaut.

Das meiste Geld verdient man tatsächlich mit den Frommen!

Wo sitzen die Frommen?

Von den mittleren Bänken rückwärts!

Das allermeiste Geld aber, wird mit den Alten und Schwachen verdient, die mit Krücken und Gehstöcken in die Kirche humpeln und meisten traurige schwarze Gewänder tragen.

Wo sitzen die aller Frömmsten, die Alten und Schwachen?

So gut wie immer in der letzten Reihe! Sie können mit ihren zittrigen Händen nicht mehr so gut zielen und treffen den Klingelbeutel vom Mesner am schlechtesten.

Und weil der Pfarrer immer sagt: „Die Letzten werden die Ersten sein!“, fange ich auch immer zuerst mit der letzten Reihe an. Dort liegt am meisten Geld unter den Bänken und in den breiten Ritzen von den Eichenbrettern. Und während die anderen, ohne viel Erfolg, weiter vorne suchen, wo der Bürgermeister und die reichen Knöpfe für gewöhnlich sitzen, weil sie glauben, dass dort mehr zu holen ist, klingelt es bei mir schon in der Kasse. Warum soll ich es auch an die große Glocke hängen, dass von den Leuten in der letzten Reihe mehr zu holen ist als von denen ganz vorne, die Gott am nächsten sind?

Natürlich darf, um Himmels Willen, niemand merken, dass das gespendete Geld in die Beutel von verschiedenen Banden wandert und was anderes damit gekauft wird, als man denkt, weil sonst keiner mehr was hergibt!

7

Ach ja, ich habe ja noch gar nichts von unseren Köchinnen erzählt. Wir haben nämlich immer so Frauen, die für uns kochen, putzen und waschen, weil der Doktor sagt, dass Mama jede Anstrengung vermeiden soll. Sie darf nur im Bett liegen. Arbeiten darf sie nichts; höchstens ein bisschen nähen, stopfen oder Socken stricken. An Ostern darf sie auch die Eier anmalen, aber nicht zu viele!

Einmal hat eine neue Köchin bei uns angefangen. Sie war sehr jung und hübsch und hat höllisch gut nach Parfüm gerochen. Ihre Fingernägel waren lang und knallrot lackiert. Auch ihre Lippen waren rot angestrichen.

Mama hat mir erklärt, dass Frau Petscher eine „Zugehfrau“ ist. Aber Papa hat immer nur „Schätzchen“ zu ihr gesagt, wenn er mit ihr allein war. (Das habe ich durch die Ofenklappe gehört.)

Einmal habe ich zu Papa gesagt, dass Frau Petscher zwar nicht so gut kocht wie ihre Vorgängerin, dass mich ihre roten Lippen aber an eine pralle Herzkirsche erinnern, in die ich am liebsten reinbeißen möchte. Da hat Papa auf einmal angefangen, ganz schnell in seiner Zeitung zu blättern. (So schnell kann man aber gar nicht lesen.)

Frau Petscher ist nicht lange bei uns geblieben. Mama hat sie irgendwann entlassen. Ich habe sie gefragt, warum sie es getan hat, wo sie doch so gut gerochen hat. Da hat Mama gesagt: „Die Dame hat mir ein bisschen zu gut gerochen und vor allem zu scharf gekocht!“

Ich habe ihr geantwortet, dass man es ihr doch hätte sagen können, dass sie nicht mehr so viel Pfeffer ins Essen tun soll. Da ist Mama ganz ernst geworden und hat gemeint: „Pfeffer in der Suppe ist eine Sache… Pfeffer im Blut eine andere!“

Ich habe das nicht verstanden, aber Mama hat gemeint, dass ich es irgendwann ganz von selbst verstehen werde.

Das ist übrigens auch so was, das mich an den Erwachsenen unheimlich stört: Was man unbedingt verstehen will, sagen sie einem nicht, und was einen überhaupt nicht interessiert, muss man in der Schule lernen.

Mama stellt jetzt nur noch so olle vertrocknete Schrullen als Zugehfrau ein. Die kochen zwar sehr gut und gar nicht scharf, aber sie riechen nicht so gut wie Frau Petscher. (Und in ihre Lippen möchte man auch nicht unbedingt beißen.)

***

Eine andere Köchin war auch nicht lange bei uns. Wir haben sie nur „Luise“ genannt und sie sah aus, wie die Hexe aus Grimms Märchenbuch. Wenn sie an einem vorbeigegangen ist, hat es gerochen, als ob sie einen toten Vogel in der Tasche hätte.

Die Luise hat im Monat immer einen Fünfziger mehr gekriegt als die anderen Zugehfrauen vor ihr, weil sie auf die Kost verzichtet hat. Sie hat gesagt, dass ihr Magen kaputt ist und sie normales Essen nicht mehr verträgt. Manchmal hat sie mir fast leidgetan, weil sie trotz ihrem kaputten Magen unheimlich viel probieren musste, bevor das Essen richtig abgeschmeckt war. „Da fehlt noch dies und das“, hat sie immer gesagt und oft so lange probiert, bis der halbe Topf leer war.

---ENDE DER LESEPROBE---