Pudel, Nerd und Nymphe - Dieter Wischnewski - E-Book

Pudel, Nerd und Nymphe E-Book

Dieter Wischnewski

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Beschreibung

Wintersonnenwende irgendwo am Rhein. Eine Ente mit französischem Akzent. Eine Nymphe in der Gestalt eines Pornostars. Der Gott der Unterwelt gefangen im Körper eines Pudels. Ein kopfloser Daimon, der mit seiner Horde mordend durch die eisige Nacht zieht. Und ein abgebrühter Kommissar, der glaubt, dass Siggi an allem Schuld ist. Dabei ist der nur ein kleiner, lüsterner Nerd mit zwei Doktortiteln, der leider den falschen Vater hat. Es ist Poseidon, der ein paar Schätze aus dem Olymp vermisst und Siggi deshalb in einen Krieg schickt, den der eigentlich gar nicht gewinnen kann. Dieter Wischnewski vermischt ungeniert in seinen Games of Siggi griechische Mythologie und die Nibelungen mit moderner Fantasy zu einem eigenen Pandämonium.

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Seitenzahl: 415

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Dieter Wischnewski: „Pudel, Nerd & Nymphe – Games of Siggi“ 1. Auflage, November 2015, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2015 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Lektorat & Projektleitung: Sarah Strehle (www.lektorat-strehle.de) Cover & Logo: Marion Alexa Müller Satz & Layout: Thomas Manegold print ISBN: 978-3-943876-93-2 epub ISBN: 978-3-943876-94-9 E-Book-Version 1.2

Dieter Wischnewski

Pudel, Nerd

& Nymphe

Games Of Siggi

periplaneta

1

Siggi

Wenn es etwas gibt, das ich wirklich abgrundtief hasse, dann sind es Schnee, Eis und Kälte.

Ich schloss Charley auf, schob meine Aktentasche in den Fond und glitt in einem Haufen dieses weißen Dreckszeugs aus. Nicht mal die Straße anständig räumen konnten die hier.

Während ich mich aufrappelte, fluchte ich einige Mal herzhaft und fragte mich zum tausendsten Male, was ich hier eigentlich verloren hatte. Erst jetzt bemerkte ich, dass Charley in einer Schneewehe versunken war. Zum Kotzen.

Der ganze Winter stank nach Schneetreiben und miesem Wetter, aber der absolute Höhepunkt stand mir nun bevor. Man hatte mich gebeten, einen Vortrag in der niederrheinischen Provinz zu halten. Weil das Honorar sehr großzügig war – und der Dekan meiner Fakultät mir ziemlich in den Ohren gelegen hatte – hatte ich, trotz des ungewöhnlichen Datums, eingewilligt. Die Veranstaltung war tatsächlich auch nicht gerade das gewesen, was ich gut besucht nennen würde.

Schon auf der Hinfahrt war mein kleiner Citroën 2CV mehrfach im Schneegestöber steckengeblieben. Nur meine besondere Begabung hatte Schlimmeres verhindern können und wir waren jedes Mal wieder freigekommen.

Es war ernsthaft damit zu rechnen, dass ich in diesem kleinen Kaff auf unbestimmte Zeit festsitzen könnte. Die Straßen wurden zusehends unbefahrbar und ich konnte unmöglich über Kilometer hinweg den Schnee wegräumen. Meine Gabe hat Grenzen. Der Bürgermeister hatte mir mehrfach versichert, dass er mir ein Zimmer in der „besten Adresse“ der Stadt reserviert hätte.

Das waren großartige Aussichten. Auch jetzt fiel der Schnee in dicken Flocken vom Himmel nieder.

Abgesehen davon, dass die beschissenste Zeit des Jahres vor der Tür stand. Es war der 21. Dezember, der Tag der Wintersonnenwende. Direkt vor den Feiertagen und dem Jahreswechsel. Nicht, dass mir Weihnachten etwas bedeutet hätte. Ich feierte es sowieso nie und ich hatte auch keine Familie, mit der ich es hätte feiern können. Aber normalerweise verschanzte ich mich am heutigen Tage in meiner kleinen, aber luxuriösen Eigentumswohnung, legte mich in eine heiße Wanne, trank Unmengen Sekt, las oder sah fern. Die Welt konnte mich in dieser Nacht einfach mal.

Nun drohte mir eine kleine, miefige Pension ohne Pay-TV, ohne meine Bücher und vermutlich ohne ein heißes Bad. Und das in der verrücktesten Nacht des Jahres. Abgesehen davon, dass die einzige weibliche Bekanntschaft, die sich hier machen ließ, vermutlich schwarzweiße Flecken hatte und herzzerreißend muhen konnte.

Besorgt sah ich auf die Uhr. Noch fünf Stunden bis zur Dämmerung. Nein, zur Not würde ich schon dafür sorgen, dass die Straßen vor mir frei würden. Ich schwang mich also auf den Fahrersitz, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte die Zündung.

Charley gab nur ein heiseres, gurgelndes Geräusch von sich, als würde eine sterbende Stromleitung gegen einen Eisberg knallen, während jemand auf einer einsaitigen, verstimmten Geige Mendelssohns Streichersinfonie rückwärts spielte. Auf den Zähnen. Stockbetrunken.

Und wieder. Und wieder. Und wieder.

Eine Kakophonie des Grauens. Armer Charley. Er tat mir fast so leid wie ich mir selbst.

„Jetzt komm schon! Antworte wenigstens! Charley! Was soll das? Warum springst du verdammt noch mal nicht an? Wenn das einer deiner üblen Scherze ist …“

Aber Charley sagte nichts, er gab nur ein leises, warnendes Brummen von sich.

Jemand näherte sich. Es klopfte an die Scheibe.

Nachdem ich das Fenster heruntergekurbelt hatte, schob sich ein verlebtes Gesicht zu mir rein. Wangen und Nase waren von einem aschgrauen Bart verdeckt, der mit dem Haupthaar darum wetteiferte, möglichst ungepflegt und ungekämmt zu erscheinen. Ich befürchtete fast, dass sich ein Teil des Frühstücks irgendwo in dem Gespinst zwischen Mundwinkel und Kinn versteckte und mir freundlich entgegenlachen würde, sollte es die Chance dazu bekommen.

„Herr Doktor Antiopus, selbst wenn der Wagen startet, werden Sie nie aus der Schneewehe rauskommen.“

Der Bürgermeister. Wie hieß er noch gleich? Ach ja.

„Aber ich muss nach Hause, es wartet noch wichtige Arbeit auf mich, Herr Meyers. Ich muss noch einen weiteren Vortrag ausarbeiten und …“

Sein warmer, ranziger Atem fuhr mir ins Gesicht. Frühstückskorn. Wunderbar. Wenn es etwas gibt, was ich abgrundtief hasse, dann Schnaps aus einer Dorfbrennerei im Odem eines alten Mannes. Direkt nach Schnee, Eis und Kälte!

„Wenn Sie nicht im Auto übernachten wollen, bleibt Ihnen kaum etwas anderes übrig, als auf mein Angebot zurückzukommen. Ich lade Sie auch gern heute Abend zu unserem Wintersonnenwendfest ein!“

Wie verlockend. Vermutlich mit selbstgebranntem Schnaps. Ich würde einen Teufel tun und heute nach Anbruch der Dämmerung draußen rumhängen.

„Nun, ich, äh … dringende Angelegenheit …“

„Frau Weiß, vielleicht können Sie unseren Gast überzeugen, noch ein wenig in unserem wunderschönen Mühlenstedt zu bleiben! Frau Weiß ist unsere Kulturreferentin.“

Der Bart und der Odem verließen das Fenster, stattdessen schoben sich eine frische Meeresbrise und ein rot gelocktes Engelsgesicht zu mir hinein. Nicht, dass es Engel geben würde. Diese langweiligen Harfenspieler auf ihren öden Wolken. Das wusste ich nun wirklich besser. Dennoch … die Symmetrie, die Sommersprossen selbst im tiefen Winter. Sie war … göttlich.

„Angenehm“, sagte ich. Meine Sinne schlugen auf seltsam vertraute Weise an, mein Verstand und mein Körper riefen zeitgleich Bingo. Mein Entschluss, Mühlenstedt heute zu verlassen, geriet arg ins Wanken.

Charley ließ seine Kupplung warnend knacken. Er kannte mich.

„Wir haben per Mail die Details zu Ihrem Vortrag ausgemacht, erinnern Sie sich?“, hauchte sie mit dunkler Stimme. Mir wurde schlagartig einige Grad wärmer.

Ines Weiß. Ich erinnerte mich schwach. Hätte ich das geahnt … ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie mir irgendwie bekannt vorkam. Nein, an sie würde ich mich erinnern. Garantiert.

„Herr Meyers möchte, dass ich Sie gleich bis in die Gaststätte bringe, sie ist etwas schwer zu finden.“

„Oh, ja, natürlich. Wissen Sie was, ich bin schon überzeugt. Ich muss nur noch ein dringendes Telefonat führen. Dürfte ich kurz?“

Das Gesicht verschwand, die Scheibe kurbelte hoch. Fräulein Weiß drehte mir kurz den Rücken zu. Dieser Hintern! Schlank, aber so unglaublich rund! Und das trotz ihrer winterfesten Kleidung.

Ich griff demonstrativ zu meinem Mobiltelefon, tippte eine willkürliche Tastenkombination und hielt es ans Ohr. Wenn ich mit Charley sprach, wirkte das auf die meisten Leute sehr irritierend und ich wollte nun wirklich nicht das Bild eines skurrilen Sonderlings abgeben. Zumindest nicht mehr als unbedingt notwendig.

„Siggi, lass es!“, fuhr Charley mich direkt an. Seine Stimme erklang direkt in meinem Kopf, so dass nur ich ihn hören konnte. Haha. Sein französischer Akzent machte es immer sau komisch, wenn er sich über etwas aufregte. Und das tat er verdammt oft.

„Hey, sie ist absolut heiß. Und du bist selbst schuld. Wärst du rechtzeitig angesprungen …“

„Ich kann nichts dafür. Diese scheiß Kälte hat meine Batterie erledigt. Und wenn du mich hier stehenlässt, frier ich mir meine verdammten Zylinder ab! Ich will in meine Garage, hörst du? Hast du vergessen, welcher beschissene Tag heute ist? Geht das in deinen dämlichen Schädel, Casanova? Lass dir Starthilfe geben, räum den Schnee weg und wir verziehen uns ins Warme!“

„Charley, mach keinen Stress. Eine Nacht, okay? Morgen kriegst du deine Starthilfe. Sei lieber froh, dass ich mit der Schönen nicht deine Stoßdämpfer austeste, Kumpel.“

„Du kannst mich doch nicht hier stehenlassen! Nicht heute!“

Ich überlegte einen Moment. Sollte ich ihm recht geben? Er war ein verdammter, rostiger Kleinwagen. Nein, mein Stolz verbot mir, jetzt einzuknicken.

„Nur eine Nacht. Ich bin nach Sonnenuntergang in bester Gesellschaft. Und dich lass ich abholen, die haben sicher eine schicke kleine Tiefgarage hier irgendwo, in der du den einen oder anderen hübschen Mini Cooper vernaschen kannst.“ Er fuhr total auf diese Dinger ab.

Ich legte deutlich sichtbar auf, unser Zeichen, dass das Gespräch beendet war.

Charley grummelte noch etwas von „Libido eines verfluchten Zwergkaninchens“ und gab seinen Widerstand auf. Der pure Neid.

Charley hatte schon nichts mehr mit einer Frau gehabt, seit er irgendwann – vermutlich um 1980 herum – bei der Produktion eines 2CV ums Leben gekommen und fortan seine Existenz an diese Blechkiste gebunden war. Nachdem ich ihn vor einigen Jahren quasi aus der Schrottpresse gerettet hatte, war er mir als Diener verpflichtet. Irgendein alter Spuk-Kodex oder so was.

Damals wünschte ich mir, mein Geld hätte für einen schicken Sportwagen ausgereicht. Jetzt sprach er ein akzeptables Deutsch und ich brachte es nicht mehr übers Herz, ihn wegzugeben. Da er ein Modell der Reihe Charleston war und er, wie jeder Spuk(1), seinen früheren Namen vergessen hatte, hatte ich ihn kurzerhand Charley getauft. Und irgendwie war er auch mein bester, weil einziger Freund. Wir haben schon eine Menge Scheiß erlebt, wir zwei.

Gerade als ich ausstieg, stieß Charley plötzlich seine rechte Hintertür ruckartig auf und zu.

„Er hat mich eine kleine Dreckskiste genannt, der Mistkerl!“, fauchte Charley leise. – Es klang mehr wie „Er ’at misch eine kleine Dräckskiste gena’nt!“ – Zum Schießen, ehrlich. Nicht mal wütend konnte man ihn ernst nehmen.

Ja, mit so etwas verstand die kleine Rostlaube keinen Spaß. Und ich kam mal wieder in Erklärungsnöte.

„Es tut mir leid. Die Elektronik spielt wegen der Kälte wohl verrückt. Wissen Sie, alte französische Kleinwagen und dieses Wetter.“

Die Kupplung knackte erneut warnend. „Übertreib es nicht, sonst lernst du mich kennen!“ – „Ubertraib äs nüscht, sonst lärnst du misch gännen!“

Haha.

Wir hatten aus naheliegenden Gründen die nonverbale Kommunikation nicht nur perfektioniert, nein, wir hatten sie auf eine ganz neue Ebene gehoben. Geist-Mensch-Kommunikation-ohne-aufzufallen. Irgendwann würde ich eine empirische Arbeit darüber verfassen. „Man kann nicht-nicht-nicht-kommunizieren – digitale, analoge und paranormale Kommunikation mit der Geisterwelt“. Watzlawick würde sich im Grabe umdrehen und vor Neid grüne Knochen bekommen. Wenngleich ich damit rechnete, dass sein Geist mich und Charley in der einen oder anderen schlaflosen Nacht heimsuchen würde.

„Also, wohin gehen wir?“, fragte ich und grinste Frau Weiß breit an. Noch immer hatte ich das Gefühl, dass sie mich an jemanden erinnerte. Aber ich kam nicht drauf, an wen. Der Bürgermeister rieb sich das Schienbein. Der war immerhin abgemeldet. Die roten Locken umrahmten ihr ausdrucksvolles Gesicht, ihre Augen waren so grün wie die Highlands im Spätsommer und ihr Lächeln war schelmisch und seltsam tiefgründig.

Da bekam ich auch endlich die gedankliche Verbindung, nach der ich die ganze Zeit hoffnungsvoll gesucht hatte. Sie war etwas diffus und befremdlich, aber sie war vorhanden. Strike! Dennoch hatte ich den Eindruck, dass etwas mit ihr nicht ganz stimmte.

Na, was soll’s. Ich wollte sie ja nicht heiraten.

Man muss wissen, dass ich die eine oder andere Fähigkeit geerbt habe. Ich kann übernatürliche Wesen wahrnehmen. Von meiner Mutter habe ich außerdem das Talent, Gedanken zu lesen und mein Gegenüber in meinem Sinne zu manipulieren. Allerdings funktionierte das nur bei Frauen – und auch nur bei sehr speziellen Exemplaren. Und genau genommen war das Einzige, was ich manipulieren konnte, dass sie mich plötzlich unwiderstehlich fanden.

Ich betrachtete mich flüchtig in der Spiegelung eines Schaufensters. Wie sonst hätte ich mir auch den Ruf eines regelrechten Don Juans erwerben können? Ich war studierter Germanist und Psychologe mit dem Spezialgebiet „Moderne Bildergeschichten“, klein, hager, hatte schütteres Haar und trug eine dicke Hornbrille. Ich war also ein beschissener Comic-Nerd, der eine äußerst eigenwillige Ente fuhr und außer Fluchen keine nennenswerten Hobbys hatte … Na ja, fast keine.

Wenigstens hatte ich vor ein paar Jahren die Cordanzüge und Pullunder gegen Jeans, Sakko und Hemd getauscht. Bei Vorträgen. Privat trug ich auch gerne Shirts von diversen Marvel-Helden, mit Star-Wars-Motiven oder Bandlogos aus den siebziger Jahren.

Heute schlotterte ich jedoch, trotz Mantels und Handschuhen, und verfluchte diesen gesellschaftlich etablierten Dresscode, dessen praktischer Nutzen sich mir nach wie vor nicht erschloss. Pullunder und Pudelmütze wären mir lieber gewesen.

Nun ja. Wie auch immer. Trotz allem hatte ich immer die schönsten Frauen am Start. Als ich noch Student war, flogen mir die Herzen der Erstsemester am Campus nur so zu. Und ihre Schlüpfer, versteht sich. Während die durchtrainierten Sportler, arroganten Mediziner und gegelten BWL-Studenten ihre Gesichtsentgleisungen in den Griff zu kriegen versuchten, schleppte ich, der hässliche kleine Nerd, die Frauen manchmal in Gruppen auf den Rücksitz meines Kleinwagens. Und das nur, weil ich immer genau wusste, was sie dachten und wie ich meiner Attraktivität etwas Vorschub leisten konnte. Danke, Mama!

Während wir durch Mühlenstedt schritten, kam uns ein Trupp schwarz gekleideter Teenies entgegen.

„Was ist denn hier los, Ines?“, fragte ich meine Begleiterin. „Ich darf doch Ines sagen? Ich bin übrigens Siggi.“ Scheiße, immer noch kein klarer Gedanke.

„Äh, ja, gern.“ Wurde sie etwa ein bisschen rot? „Also, Siggi. Wie Sie schon gehört haben, findet heute Abend das Wintersonnenwendfest statt. Mühlenstedt feiert das Ganze bei einem Feuer auf dem Marktplatz. Dazu gibt es Glühwein und klassische Musik.“

Die Gruppe Teenies passierte uns. Bleiche Gestalten, die auf ihren Shirts irgendwelche Schriftzüge und Totenköpfe trugen. Das muss doch kalt sein, verflucht!

„Und was haben die damit zu tun, Ines?“ Ich betonte ihren Namen und sah ihr in die Augen. Frauen lieben das.

„Das sind die Fans der heimischen Black-Metal-Band Winter Solstice. Die feiern hier jedes Jahr so etwas wie ihre Gründung. Die geben heute ein riesiges Konzert im Schlossgarten. Junge Leute aus dem ganzen Land kommen deswegen hier her. Außerdem spielen noch andere bekannte Bands. Nennt sich Mühlenstedt Metal.“

Ein Traum. Schnee, Grufties, eine nörgelnde Ente und Glühwein. Ach ja, und die Wintersonnenwende. Ich schaffte es immer noch nicht, auch nur einen klaren Gedanken aus der kleinen Sahneschnitte neben mir herauszubekommen, von meinen manipulativen Talenten mal ganz abgesehen.

Wir waren endlich an der Gaststätte, einem heruntergekommen kleinen Lokal namens Zum Jäger, angekommen, als ich einfach ins Blaue hinein einen Versuch wagte: „Wie sieht es aus? Haben Sie Lust, später eine Kleinigkeit mit mir zu essen?“ Und vor der Dämmerung in meinem Zimmer mit mir zu verschwinden?

Ihre grünen Augen fixierten mich. War das etwa Belustigung?

„Danke, das ist ein sehr nettes Angebot. Aber ich werde nach dem Pflichtteil auf dem Marktplatz im Schlossgarten erwartet. Winter Solstice wird wohl kaum ohne ihre Drummerin auftreten.“

Diesmal war ich es, der seine Gesichtsentgleisung in den Griff bekommen musste.

„Aber Sie können gern zum Konzert kommen. Ist umsonst. Und draußen.“

Sie lächelte mich triumphierend an und ließ mich vor der Gaststätte stehen. Ich sah ihr hinterher und bewunderte still, wie sie ihr äußerst niedliches Hinterteil von links nach rechts schwang. Dann löste ich mich endlich von ihrem Anblick und fröstelte innerlich.

Wenn es etwas gibt, das ich wirklich, wirklich abgrundtief hasse, dann unangenehme Überraschungen.

2

Siggi

Ich betrat das Lokal und war angenehm überrascht. Natürlich sah alles nach einer typischen Dorfkneipe aus. An den Wänden hingen Fotos von Leuten, die in diesem Ort groß geworden waren und ihn vermutlich nie lange verlassen hatten. Über dem Tresen hing so ein Kitschgemälde von einem alten Schiff im Sonnenuntergang. Dazu kamen die obligatorischen, wirklich widerlichen Jagdtrophäen, die zu einer Kneipe dieser Art einfach gehörten. Hirsch-, Eber-, Fuchs- und sogar ein echt hässlicher Pudelkopf. Die Theke aus dunkler Eiche war sorgsam poliert und das warme, gedämpfte Licht illuminierte eine ansehnliche Sammlung von Spirituosen aller Art. Der Rest des Raumes bestand aus kleinen Sitzecken, deren Bänke sicher schon hundert Jahre alt waren. Es wirkte seltsam beruhigend, als würde die Zeit hier stillstehen. Vor allen aber war die Kellnerin jung und recht ansehnlich. Und ich konnte ohne Probleme ihre Gedanken lesen.

„Guten Tag“, grüßte sie mich freundlich und lächelte hinreißend. Dabei offenbarte sie mir einen kurzen Einblick in ihren Ausschnitt und schenkte mir einen verschämten Augenaufschlag. Als ob. Ich weiß es doch besser, Süße. Ihr Gedankenmuster überflutete mich quasi und ich konnte durchaus lesen, was für ein gerissenes Weibsbild ich da vor mir hatte.

„Hallo. Antiopus mein Name. Herr Meyers sagte mir, dass er ein Zimmer für mich reserviert hat.“

Da sie offenbar auch so etwas wie die Rezeptionistin war, verschwand sie schnell hinter der kleinen Theke und durchsuchte ein kleines Büchlein. Ihre manikürten Nägel und schlanken Fingern huschten schnell über die Zeilen. „Nein, das tut mir leid. Die Reservierung wurde storniert. Und wir haben wegen des Wetters leider kein Zimmer mehr frei. Heute war eine Vortragsreihe, wissen Sie. Da kommen viele Leute von außerhalb.“

Was du nichts sagst, Kleine. Leider entsprach das offenkundig der Wahrheit.

„Wer hat denn bitte die Reservierung stornieren lassen?“

So ein Affenarsch.

„Das weiß ich leider nicht, tut mir leid.“

Mein Verstand tastete nach einer bestimmten Struktur in ihren Gedanken und ich setzte diesen kleinen Impuls frei, der mir jede Tür – und nicht nur die – zu öffnen pflegte.

„Es ist doch bestimmt noch ein Zimmer für mich frei“, sagte ich mit hypnotischem Unterton. Kein Jedi-Meister hätte mir in dieser Hinsicht den Schneid abkaufen können. Ich hätte mir den Satz „Das sind nicht die Droiden, die ihr sucht.“ rechtzeitig patentieren lassen sollen.

Sie war einen kurzen Moment in Trance, erwachte fröstelnd und wurde erst rot und dann bleich. Mein Trick funktionierte. Wenn es irgendeine Übernachtungsmöglichkeit für mich gab, würde die Kleine mir das nun möglich machen.

„Ich …, also, ja … ich meine, nein. Nein! Die Zimmer sind wirklich alle belegt. Es tut mir sehr leid.“ Nach einer kurzen Pause kritzelte sie ein paar Ziffern auf einen Zettel, ergriff meine Hand, legte ihn hinein und flüsterte: „Du kannst aber auch gern bei mir übernachten.“

Sie strich sich mit der rechten Hand kokett das Haar hinters Ohr und beugte sich ein wenig vor, damit ich noch genauer sehen konnte, was sie so zu bieten hatte. Dabei wechselte ihr Gesicht die Farbe so schnell wie die Alarmleuchten eines Atomkraftwerks beim Super-GAU. Sie war sichtlich verwirrt. Sie wollte mir helfen, konnte aber nicht.

Mit diesem eindeutig zweideutigen Angebot versuchte ihr Gehirn, einen Ausweg aus dieser verzwickten Lage für sie zu finden. Ihr Verstand befand sich gerade in einem sehr labilen Zustand. Ich setzte einen weiteren Impuls frei, der sie von diesem Konflikt befreite, und löste meine Hand aus ihrer Umklammerung. Wenn ich es übertrieb, konnte sie eventuell Schäden davon tragen. Obsessive Leidenschaft endete oft in Wahnsinn, Schmerz und Tod.

„Ist schon okay, ich melde mich.“

Sie erbleichte wieder ein wenig, dann begann sie mit nervösen Fingern Gläser zu spülen und ich wendete mich ab.

Ich wollte schon wieder zur Tür hinaus, um mir eine andere Unterkunft zu suchen, als sie mich noch einmal zurückrief. Ihr schleppender Tonfall zeigte mir, dass sie immer noch ein wenig mit meinem suggestiven Einfluss kämpfte.

„Ein Herr hat das für Sie abgegeben. Ich glaube, der hat auch Ihre Reservierung storniert.“

Sie drückte mir ein Kuvert in die Hand. Dabei fingerte sie ein wenig an meiner Hand herum. „Du rufst an, ja?“, rief sie mir noch nach, während ich hastig nach draußen verschwand und den Umschlag aufriss. Ich wusste sofort, von wem dieses Schreiben kam. Die unverwechselbare Aura sagte es mir. Aber selbst wenn sie nicht gewesen wäre, hätten mir die Handschrift und die spezielle Art des Papiers und der Tinte alles gesagt. Und mir wurde zeitgleich bewusst, dass es irgendeine Form von Ärger bedeutete.

Mein Sohn,

ich habe lange genug mit angesehen,

wie du dein Leben und deine Talente vergeudest.

Das wird ab heute ein Ende haben.

Gehe sofort zum Rheinufer,

genauere Anweisungen wirst du

an der ersten Anlegestelle im Süden finden.

Das Schiff, das dort liegt, gehört ab sofort dir.

Beeil dich!

Dein Vater

Kaum, dass ich zu Ende gelesen hatte, zerfiel das Papier zwischen meinen Fingern und hinterließ nichts als die Illusion eines Sternenregens.

Na toll. Erwähnte ich, dass das Verhältnis zu meinem Vater generell ein wenig angespannt ist?

Ja, ich weiß, was es heißt, als Kind mit einem Übervater umgehen zu müssen, in dessen Fußstapfen man nicht mal passt, wenn man sich zwei Kreuzfahrtschiffe an die Füße schnallt. Buchstäblich. Diese Nachricht kam nun jedenfalls absolut zu Unzeiten und das wusste der alte Mann verdammt genau!

Plötzlich knallte etwas Schwarzes gegen mich, warf mich in eine Schneewehe und kam mit spitzen Knochen auf mir zu liegen. Eine wütende Schimpftirade prasselte auf mich ein.

„Hey, sag das nicht noch mal!“, schimpfte ich und stand auf.

„Hab ich das etwa laut gesagt?“, fragte sie mich verwirrt und kam ebenfalls auf die Beine.

Mist. Manchmal war es schwer zu unterscheiden, wann jemand etwas nur dachte oder wirklich sagte. Und nett war das nicht, was ihr durch den Kopf gegangen war.

Ich klopfte mir den Schnee vom Hosenbein und sah mein Gegenüber an. Sie war komplett in schwarz gekleidet, hatte ein Winter-Solstice-Shirt an und geriet aufgrund ihres sommerlichen Outfits und des Schnees, der sich überall an ihrem schlanken, jungen Körper gesammelt hatte, ordentlich ins Frieren. Die Kleine war kaum volljährig und hatte schon einen ziemlich fiesen Sensenmann auf dem Unterarm tätowiert. Und … war das etwa eine Zahnspange? Wie … niedlich.

„Kannst du nicht aufpassen, wo du hingehst?“, fragte ich mit Entrüstung in der Stimme. Musste ich gerade alt wirken.

„Oh, ähm, ja tut mir leid.“ Sie meinte es ernst! Na so was. Das gab mir den Glauben an die Jugend zurück. Ich war offenkundig alt, wenn ich schon so dachte.

„Ich bin auf dem Weg zum Schloss und hab unterwegs die anderen verloren.“

„Lange Haare, schwarze Kluft, bleiche Nasen und ungepflegte Bärte? Sind da lang.“

„Danke!“, rief sie und rannte mit wehenden Haaren die Straße runter. Nächster Crash vorprogrammiert.

Nettes Kind. Ob Mama und Papa ihr das Tattoo erlaubt haben? Papa? Ach ja. Fast verdrängt. Ich sah auf die Uhr. Knapp vier Stunden bis zum Sonnenuntergang. Also blieb mir nichts anderes übrig, als den Weg Richtung Rhein runterzuschlurfen, mein Schicksal zu verfluchen und unterwegs Bürgermeister Meyers anzurufen.

Der hatte natürlich keinen Plan B. Ganz Mühlenstedt hatte nur eine einzige, bescheuerte Herberge. „Beste Adresse“, haha. Hätte es mir denken können. Scheiß Politiker.

Als ich endlich an der Anlegestelle ankam, erlebte ich die nächste unliebsame Überraschung des Tages. Aber damit war bei dem Humor meines Vaters auch zu rechnen.

Das Schiff, das er mir hatte zukommen lassen, war ein Witz. Der Lack war erneuerungsbedürftig, der Schriftzug Galateia kaum lesbar. Außerdem war es ziemlich klein, vielleicht zehn Meter lang und – waren das etwa Masten?

Es hatte Segel! Oh man. Ich brauchte einen Baumarkt. Da gab es sicher Äxte, die groß genug waren, um ein schönes, großes Loch in das Teil zu hauen.

Aber … Moment, was war das? Der Kahn war von einer Aura umgeben, wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Mindestens halbgöttlich. Vielleicht sogar eine niedere Gottheit. Das war ja großartig. Ich seufzte und betrat das Schiff. „Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen. Erlaubnis erteilt. Und so weiter …“

„Wuff!“

Wuff? Instinktiv ging ich in Deckung, aber das, was da zwischen zwei morschen Kisten hervorsprang, wirkte nicht gerade wie der Höllenhund persönlich. Ein großer schwarzer Pudel sprang mich an, wedelte freudig mit dem Schwanz und kläffte wie besessen, während er mein Gesicht mit seiner langen, nassen Zunge abschleck … nein, er biss mir herzhaft in die Nase! So ein hinterhältiges Mistvieh.

Das Gebell bekam schlagartig einen bösartigen Unterton, als ich ihn mit einer Hand von mir wegzerrte und mit der anderen in sein Auge stach.

Es klappte. Er verzog sich winselnd nach mittschiffs, während ich mit Hilfe meiner besonderen Fertigkeit einen eiskalten Schwall Wasser über das Biest klatschen ließ. Und noch mal. Und noch mal. Aller guten Dinge …

So langsam machte es Spaß. Ich ließ den Rhein immer genau dort über die Reling treten, wo dieses Mistvieh sich gerade aufhielt. Schon praktisch, meine Talente.

Gerade, als ich das Biest mit einer ordentlichen Welle über Bord gehenlassen wollte, frischte der Wind auf, das Wasser kräuselte sich und in der Mitte des Stromes türmten sich die Massen zu einer großen Gestalt mit einer bedrohlichen und sehr starken Aura auf. Das breite, aber edel geschnittene Gesicht wurde von einer Krone umrahmt, die in allen Farben, in denen die Ägäis schimmern konnten, leuchtete. Tiefes Blau ging in sanftes Azur über, bevor es sich in einem fast durchsichtigen, blassen Grün verlor. In der einen Hand schwang die Gestalt einen Dreizack, der vor lauter Macht zu pulsieren schien, die andere zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich. Ein wirklich beeindruckend muskulöser Oberkörper saß auf einem Fischleib. Wäre nicht der wallende Bart im Weg gewesen, hätte man einen Brustkorb, breit wie ein Fass, bewundern können. Blanke Wut loderte in den kleinen, etwas fischigen Augen.

„Papa?“

Grollend tönte seine Stimme zu mir herüber. Ich schauderte, obwohl ich den Trick längst kannte.

„Es reicht, Siggi. So behandelt man kein Familienmitglied“, zürnten die Wassersäulen in einem tiefen Bass.

Mist. Jetzt sah ich es auch. Die Töle war ebenfalls von einer Aura umgeben. Aber sie war gegenüber der Aura des Schiffes kaum zu sehen. Seltsam.

„Paps, das kann doch nicht dein Ernst sein! Außerdem hat er angefangen!“

„Ich will nichts davon hören!“, donnerte die Wassergestalt, türmte die Wellen um sich her auf und ließ seinen Dreizack knallend die Wasserwand teilen. Wenn Papa wütend wurde, war das wirklich ziemlich beeindruckend.

„Ist ja gut! Aber erklär mir bitte auf der Stelle, dass der Hund von Baskerville da hinten nicht mein Bruder ist!“

„Er ist dein Onkel.“

Für einen Moment musste ich mich auf eine morsche Holzkiste setzen und die Familiengeschichte in meinem Kopf sortieren. Mein Vater hat zwei Brüder und es gibt exakt einen … „Onkel Hades?“

Die Flohschleuder knurrte mich an. Das hieß dann wohl ja.

„Was ist denn mit ihm passiert?“ Falsche Frage, ich wusste es in dem Moment, in dem ich sie aussprach. ‚Hast du denn nie aufgepasst, wenn dir jemand unsere Familiengeschichte … Blabla‘.

„Hast du denn nie aufgepasst, wenn dir jemand unsere Familiengeschichte erzählt hat, Siggi?“

Natürlich hatte ich das. Ich habe zwei verdammte Doktortitel, einen davon in Germanistik. Summa cum laude. Ich kenne jede beschissene Heldensage, die es überhaupt gibt. Aber ich muss es ja keinem auf die Nase binden. Also das mit der Familiengeschichte und den Heldensagen. Die Doktortitel band ich nahezu jedem auf die Nase. Hades, Gott der Unterwelt, Herrscher über die Toten, der Ungebändigte, und so weiter.

„Hades, Gott der Unterwelt, Herrscher über die Toten, der …“

„Ich weiß, Paps. Aber warum zum Geier ist er ein Flohtaxi?“

„Kennst du die Legende der Hadeskappe? Man nennt sie auch Hundskappe. Jetzt weißt du, warum.“

„Verwandlung in einen Hund. Interessante Interpretation der Unsichtbarkeit. Dann soll er sie halt absetzen.“

„Hat er schon.“

Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, was das hieß. Ich musste mir richtig Mühe geben, das dreckige Grinsen, das in meine Mundwinkel kriechen wollte, zu unterdrücken.

„Du meinst, er ist ohne diese Kappe ein Pudel und mit ihr der schreckliche Fürst des Totenreiches?“

Wer immer das Universum und die Götter geschaffen hatte, hatte echt schrägen Humor.

„er ist immer der Fürst des Totenreiches, er wandelt nur seine Gestalt mit Hilfe der Kappe.“

„Dann soll er sie eben wieder aufsetzen, kann doch nicht so schwer sein.“

„Das ist das Problem.“

Nanu, hörte ich da so etwas wie Verlegenheit raus? Mein Vater, Poseidon, Gott des Meeres und des Wassers, Sohn der Titanen und verlegen?

„Habt ihr euch etwa wieder gestritten?“

Wenn es eine Familie gab, die dauernd miteinander im Streit lag, war es definitiv meine. Erdbeben, Kriege, Vernichtung ganzer Kontinente, ehrlich, der Denver-Clan ist ein Scheiß dagegen.

Sein Tonfall verriet, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.

„Nun, dein Onkel Zeus und ich haben sie ihm weggenommen, weil … ach, halb so wichtig. Und mir, na, ehrlich gesagt tut es mir eigentlich schon wieder leid. Ich bin doch manchmal ein wenig aufbrausend …“

Ein wenig ... Manchmal ... Außerdem neigt er stark zu Untertreibungen.

„… aber Zeus grollt noch. Und da ich eine wichtige Aufgabe für dich habe, dachte ich, wäre es geschickt, wenn ihr euch gegenseitig vielleicht ein wenig helfen könntet. Wenn ihr eure Aufgabe erledigt habt, bekommt Hades auch seine Kräfte zurück.“

Aufgabe. Klang ja großartig.(2)

„Zunächst musst du Hades helfen, die Kappe wiederzufinden. Ich vermute, dass sie irgendwo hier sein muss.“

Das klang noch nicht nach einer wirklich großen Aufgabe. Doch so wie ich meinen Vater kannte, kam die große Aufgabe erst noch.

„Genau genommen vermissen wir einige Artefakte, die du für uns aufspüren musst.“

Hatte ich es doch gewusst. „Was heißt hier ‚einige Artefakte‘?“, fragte ich.

„Nun, der eine oder andere Kraftgürtel, eine Tarnkappe, also, eine richtige, die Äpfel der Hesperiden, ein paar Waffen, die Hephaistos geschmiedet hat. So was eben.“

„Und die habt ihr alle einfach in dieser Welt verloren? Wart ihr betrunken?“

Er druckste rum, bevor er mit der Sprache rausrückte: „Irgendjemand stiehlt seit Monaten Gegenstände mit großer Macht.“

„Das klingt, als wäre da ein verrückter Sammler am Werk, Paps. Wer ist so lebensmüde und klaut Göttern ihr Eigentum? Und vor allem: Wie, bei Spock’s Ohren, schafft er das?“

„Wer ist Spock?“

„Vergiss das.“ Ich wusste genau, dass er nur Zeit schinden wollte. Aber ich ließ nicht locker. „Also?“

„Wir wissen nicht, wer uns beraubt hat. Und auch nicht wie. Ein paar der Artefakte lagen wohl wirklich etwas, äh, ungesichert herum. Hephaistos verträgt einfach keinen Rum und, äh … mindestens einmal ist der Dieb bis in die erste unserer Schatzkammern vorgedrungen.“

Wer bitte schaffte es so weit in den Olymp, ohne aufgehalten zu werden? Und warum sollte ausgerechnet ich jetzt für Papa in meiner Welt aufräumen? Ich fand das reichlich unfair, aber jetzt sah mein Vater mich wieder unglaublich ernst an, so dass ich meine Wut noch zügelte.

„Du sollst uns die Sache wiederbeschaffen. Und zwar samt Dieb“, forderte er und legte möglichst viel Getöse in das Knallen der Wellen.

„Und als Hilfe schickst du mir ... einen Pudel?“

Langsam wurde ich stocksauer. Ich sollte Götterspielzeuge zurückbringen. Nur weil sie es bei ihrer Götterparty mal wieder mit dem Schnaps übertrieben hatten. Fantastisch. Und statt mir eine wirkliche, richtige, echte Hilfe an die Seite zu stellen, bekam ich einen – Pudel. Einen göttlichen zwar, aber …

„Diskutier nicht mit mir! Mach dich an die Arbeit!“

„Und wo soll ich deiner Meinung nach anfangen?“

„Lass dir was einfallen. Du bist doch ein schlauer Kerl. Und ich bin mir sicher, dass du in dieser Stadt fündig wirst.“

Das Wasser kräuselte sich. Die Wellen tosten. Mein Vater löste sich in den Tiefen des Rheins auf und mein Onkel Hades begann, sein Bein zu heben und gegen meines zu pinkeln.

Erwähnte ich, dass ich unangenehme Überraschungen wirklich hasse?

3

Siggi

Ich sollte also für einen Haufen Überwesen die Drecksarbeit machen, meinen Hintern riskieren, Hundesitter spielen und dann mit einem feuchten Händedruck abgefertigt werden, während sie sich auf einer olympischen Wolke die Eier schaukelten und Ambrosia soffen.

Und noch viel ätzender: Wer oder was auch immer so dämlich war, Götter zu bestehlen, musste ziemlich mächtig sein. Wer es bis in die Schatzkammern des Olymps schaffte, war ein verdammt gefährlicher Hurensohn und ich hatte keinerlei Lust, mich mit ihm anzulegen. Wahrscheinlich auch so ein Gott, der eine offene Rechnung mit Paps oder seinem Bruder hatte. Apropos Götter …

„Verdammte Töle!“, fluchte ich und trat Hades auf den Schwanz. „Du hast meine Hose total versaut, du Biest!“

Ich dachte nicht im Traum daran, nach den Artefakten zu suchen. Und noch weniger wollte ich mich um Hades kümmern. Und diesen elenden Kahn wollte ich schon gar nicht. Also verließ ich das Schiff. Ich musste mir dringend eine Unterkunft und eine neue Hose besorgen, einen Pudel loswerden und Charley in Sicherheit bringen. Also befreite ich eine Bank vom dichten Schnee, setzte mich drauf, genoss den Blick auf den Rhein und dachte nach.

Das Wichtigste war die Unterkunft. Bürgermeister Meyers. Ich rief ihn an. Natürlich erzählte er mir erst mal das übliche Blabla, das Politiker so von sich geben, aber dann war er immerhin bereit, mir ein Gästezimmer zur Verfügung zu stellen und Charley in seiner privaten Garage unterzustellen. Des Weiteren empfahl er mir noch ein Geschäft, in dem ich mir Wechselklamotten besorgen konnte. Immerhin etwas.

Auf dem Weg zum Herrenausstatter ging mir Hades ziemlich auf den Keks. Nicht nur, dass er mir permanent zwischen den Beinen herumlief, er zog und zerrte an mir, als ob es dafür Hundekuchen gäbe. Als ich schließlich den Laden betrat, trabte er bellend und knurrend hinterher.

Die Verkäuferin quittierte das mit einem: „Ihr Hund darf hier nicht rein!“, und wies streng auf die Tür.

„Der gehört mir nicht.“

„Das sieht aber anders aus.“

Leider gehörte die Frau nicht in die Zielgruppe, bei der ich meine Gabe anwenden konnte.

Seufz. Ich ging also wieder vor die Tür und hoffte inständig, dass mir die Töle wieder folgen würde. Ich hatte eine Idee und brauchte eine stille Ecke, in der uns keiner sehen konnte. Wenn man göttliche Macht einsetzt, reagieren die Mitmenschen manchmal ein wenig paranoid oder sogar ziemlich panisch. Ein paar Meter neben dem Laden entdeckte ich eine kleine, einsame Gasse, die Richtung Rhein führte. Sehr gut.

Ich ging ein paar Meter hinein und wartete, bis Hades genau vor einer Schneeverwehung stand.

„Sitz, Hades! Ja, brav.“ Jetzt hab ich dich, Mistvieh! Ich griff nach einem meiner Talente. Der Schnee regte sich und die Schneewehe schoss nach oben und hüllte Hades in einen Iglu aus festem Schnee ein. Sein Jaulen und Kratzen gegen die Eiswand war wirklich herzzerreißend. Schade, da hatte ich gerade echt keine Empathie für. Mein Vater Poseidon hatte mir die sehr nützliche Fähigkeit vererbt, Wassermoleküle zu beeinflussen. Wasser oder Flüssigkeiten, in denen es enthalten war, konnte ich ohne Schwierigkeiten bewegen, kontrollieren, verdichten, ausdehnen und andere Spielereien damit veranstalten.(3)

So war es mir auch ein Leichtes, den guten Onkel Hades in einem Iglu einzufangen. Leider würde er sich früher oder später freikratzen oder jemanden auf sich aufmerksam machen. Ich beeilte mich also, in den Laden zurückzugehen und mich mit den dringendsten Dingen auszustatten. Die alte Hose ließ ich direkt dort und zog mich im Laden um.

Ich sah kurz in der Gasse nach. Von Hades war nichts zu sehen, also verzog ich mich schnell zu Charley, räumte die Schneewehe in einem unbeobachteten Moment beiseite. Aber jemanden zu finden, der mir Starthilfe geben könnte, war weitaus schwieriger. Stattdessen kam ich auf die Idee, den Schnee auf Charleys Motorhaube zu erhitzen. Nach einigen Minuten dampfte es, als wäre Charleys Kühler geplatzt … zu blöd, dass Charley so etwas als luftgekühlter Oldtimer gar nicht besaß. Als man wahrscheinlich schon Eier auf der Motorhaube hätte braten können, drehte ich den Schlüssel. Charley hustete und … sprang tatsächlich an, so dass ich zum Haus des Bürgermeisters fahren konnte. Kleinere Hindernisse aus Schnee räumte ich problemlos beiseite, größeren musste ich mit Ausweich- oder eher Ausrutschmanövern ausweichen. Selbst wenn ich also weg gewollt hätte, wäre es nahezu unmöglich geworden.

Wie verabredet war die Garage offen, so dass ich Charley sicher dort parken konnte. Was ich nun allerdings machen sollte, war mir noch nicht ganz klar. Der Bürgermeister war bei den Festvorbereitungen, aber seine Frau war zuhause und ließ mich hinein. Als ich meine wenigen Habseligkeiten im Gästezimmer verstaut und mich kurz im Bad gewaschen hatte, lud sie mich herzlich zu einem Kaffee und ein paar Keksen ein.

Das Haus war, wie ich es erwartet hatte. Nicht übermäßig modern, aber sehr geschmackvoll. Eine gewisse Behaglichkeit und der Duft von Gebäck prägten die Stimmung. Alles wirkte repräsentativ und aufgeräumt. Genau wie Frau Meyers. Sie war eine Dame in den Mittfünfzigern, die sicher auf Männer in ähnlichem Alter sehr attraktiv wirkte. Ihr blondes Haar war mittellang, ihre Nägel gepflegt, aber nicht übertrieben manikürt. Sie kleidete sich in jener schlichten Eleganz, die angenehm bodenständig und bescheiden wirkte, aber doch bezeugte, dass ihre Trägerin etwas auf sich hielt.

„Bitte greifen Sie doch zu! Ich habe selbst gebacken“, forderte sie mich mit jenem warmen Ton auf, den normalerweise nur Großmütter haben. Sie wirkte dabei jedoch keineswegs alt. „Ich heiße übrigens Susanne.“

„Bitte nennen Sie mich Siggi.“

Sie stellte ihre Tasse leise klirrend auf dem Unterteller ab und sah überrascht zu mir auf. „Das ist das erste Mal, dass ich einen Mann mit akademischen Würden kennenlerne, der sich bei einem Spitznamen nennen lässt, ohne hervorzuheben, welche Ehre das ist. ‚Oh, ich bin Professor Doktor Doktor Schlagmichtot von Ehrfurchtsvoll, aber Freunde sagen Heinrich zu mir.‘“

Sie kicherte vergnügt und ich musste einfach mit ihr lachen, so ehrlich und sympathisch klang sie.

Ich wollte, ich hätte sie kennengelernt, als sie dreißig Jahre jünger gewesen war. Ich las in ihr, dass sie jedes Wort so ehrlich und herzlich meinte, wie es auf mich wirkte. Ich biss immer noch schmunzelnd in einen ihrer Kekse und fand ihn großartig.

„Also, Susanne, wissen Sie, wenn Sie nicht so herrliche Kekse backen würden, müssten Sie mich glatt wie einen Göttersohn behandeln. Doktor Doktor Siegfried von Xanten der Erhabene Antiopus“, sagte ich in gespielt gönnerhaften Ton und schmatzte überlaut auf einem Zimtstern herum. Diesmal musste sie lachen.

„Wo haben Sie das Backen gelernt? Wenn Ihr Mann nicht aufpasst, mache ich Ihnen noch ernsthafte Avancen.“

Sie errötete ein wenig, nahm einen Schluck Kaffee und sah mich keck an.

„Nun, meine Familie führt die größte Bäckerei, die sie auf dieser Rheinseite finden werden. Unser Stammhaus ist für seinen Mohnkuchen und das selbstgemachte Rübenkraut beim Frühstück berühmt. Da ist wohl ein wenig was hängengeblieben. Schließlich habe ich das Geschäft vor einigen Jahren übernommen.“

Jetzt war ich doch etwas verblüfft. Ich konnte sie mir so gar nicht mehlbestäubt in einer Backstube vorstellen und das sagte ich ihr auch.

Ihre hellen Augen fixierten mich und ich war mir für einen Moment unsicher, ob sie amüsiert, traurig oder beides zugleich war.

„Nein, natürlich stehe ich nicht in der Backstube. Neben unserem Stammcafé am Markt gehören zum Familienbetrieb eine große Backfabrik, die fast ein Dutzend Filialen beliefert und die alte Mühle am Rhein, in der wir ein Museum mit kleinem Verkauf betreiben. Backwaren wie vor zweihundert Jahren, nach alten rheinischen Rezepten. Das Museum ist eine Stiftung und gibt die Gewinne weiter. Hauptsächlich für den Erhalt von Behinderteneinrichtungen, manchmal unterstützen wir auch gemeinnützige Vereine. Ich leite die Stiftung und bin pro forma Geschäftsführerin des Familienbetriebs. Aber das Tagesgeschäft führt tatsächlich mein Bäckermeister, der bald Prokurist werden soll.“ Sie spielte verträumt mit einem Spekulatius in Form eines Doms und erzählte gedankenverloren weiter. „Dabei habe ich früher so gern gebacken. Aber mein Mann findet das nicht angemessen. Er meint, dass ich den Betrieb endlich verkaufen sollte. Uns liegt ein ziemlich gutes Angebot vor, aber ich …“ Ihr Körper straffte sich, sie sah mich an, als wäre sie gerade erst aufgewacht. „Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich? Das muss Sie doch schrecklich langweilen. Herr Antio … Siggi, ich wollte Sie doch unbedingt etwas fragen!“

Ich sinnierte kurz vor mich hin. Ja, sie hatte mir einen Teil Ihrer Seele ausgeschüttet und ich wusste nicht einmal, warum. Vermutlich wusste sie das selbst nicht. Aber es wirkte so … natürlich. Ich mochte sie wirklich. Und ich hatte sie nicht manipuliert. Es herrschte eine gewisse echte und natürliche Sympathie zwischen uns. Aber dann brach die Frau des Politikers vehement hervor. Niemals einen Konflikt nach außen tragen, sagte sie indirekt und ich respektierte das.

„Was immer Sie wissen mögen, Susanne.“ Aber ich ahnte es. Die gleiche Frage, immer wieder. Diesmal war es wenigstens erträglich. Sie fragte mich aus ehrlichem Interesse und hatte eine charmante Wortwahl. Sonst war es eher absolute Verblüffung, oft eine gewisse sensationslüsterne Neugier, meist aber bloße Verachtung. Susanne war anders. Ich wusste jetzt schon, dass ich gern und ehrlich antworten würde.

„Warum beschäftigt sich ein erwachsener Mann mit so viel Intelligenz und Charme hauptberuflich mit … Comics?“

Ich sah ihr fest in die Augen, aber als sie meinem Blick offen und freundlich begegnete, sah ich zu Boden. „Nun, wie soll ich sagen … es ist meine Leidenschaft. Und Comics sind mehr, als man heute von DC oder Marvel kennt.“

Jetzt wirkte sie leicht irritiert. Ah ja, das kannte ich.

„Das sind große Comic-Verlage“, ergänzte ich also. „Jedenfalls … das ist nicht alles. Als Kind fand ich diese Helden natürlich sehr faszinierend. Superkräfte, Kampf für das Gute. Edle, reine Helden ohne Makel, schurkische Bösewichte. Später schlugen mich die Antihelden in ihren Bann. Die Jungs, die versuchten, Gutes zu tun, aber deren Moral fragwürdig war. Das war sozusagen meine Einstiegsdroge.“

Und natürlich waren in den Anfangstagen meiner Pubertät der Ausschnitt von Power Girl, die sadomasochistische Ausstrahlung von Catwoman und die kalte Distanziertheit von Black Widow ausschlaggebend für mein Interesse an diesem Genre.(4)

Ich musste mir Mühe geben, damit Susanne nicht merkte, wie ich den Gedanken an meine Mutter verdrängte. Was sie mir bedeutete, trotz der kurzen Zeit, die sie für mich nur da gewesen sein konnte und wie grausam sie letztlich gestorben war.

Stattdessen gab ich meine lange eingeübte Antwort zum Besten, die nicht einmal gelogen war. Sie stellte einfach nur mein Interesse an diesem Thema in ein gesellschaftlich konformes Licht. Und genau das wollte ich doch. Gesellschaftlich akzeptiert sein, obwohl ich vollkommen anders war als die normalen Menschen. Also fuhr ich mit dem fort, was meine Legende sein sollte.

„Irgendwann entdeckte ich, dass Comics so etwas wie moderne Märchen sind, voller Archetypen, voller glorifizierter Gestalten, in denen wir alle uns irgendwie spiegeln. Und dass jede Epoche ihre eigene Form des Comics kennt.“

Sie schlug ihre Beine übereinander und beugte sich leicht vor.

„Ich forsche nicht über Comics, der Begriff als solcher ist vollkommen verfehlt. Er bezeichnet witzige Bildergeschichten. Woran ich forsche, sind nicht nur moderne Comics, so sehr ich sie liebe; ich forsche an Bildergeschichten. Und genau das ist es, was mich so fasziniere. Die Menschen neigen dazu, ihre eigene Erfahrung für die Nachwelt festzuhalten.

Die drei wesentlichen Elemente sind mündliche Überlieferung, schriftliche Überlieferung und die graphische Überlieferung. Immer dann, wenn aus Bildern Geschichten wurden, bewegen wir uns in meinem Spezialgebiet. Von Höhlenmalerei über Gemälde wie die Die Wache bis hin zu Frank Millers Graphic Novels. Mich fasziniert, was die Menschen uns überlieferten und was es über sie aussagt. Was aktuelle Bildkunst über uns aussagt. Ich bin irgendetwas zwischen Psychologe, Historiker und Legendenforscher. Indiana Jones, der hinter seinem Schreibtisch bleibt, weil es gemütlicher ist.“

Mitten in diesem kleinen Vortrag bimmelte Susannes Handy. Sie ging damit in den Nebenraum und ließ mich Kaffee schlürfend und Kekse futternd für einige Minuten allein. Als sie wiederkam, war sie ein wenig blass und wirkte nervös.

„Das war mein Mann. Er braucht mich ganz dringend auf dem Fest. Ich muss Sie leider allein lassen. Wenn Sie mögen, kommen Sie doch später nach. Es reicht, wenn Sie die Tür beim Hinausgehen einfach zuziehen.“

Wir verabschiedeten uns herzlich.

Ins gemütliche Polster der Couch versunken dachte ich ein wenig nach, wie ich den Rest des Abends verbringen sollte. Ich würde keinesfalls Papas Auftrag übernehmen, nein, nein. Der alte Mann sollte seinen Mist selbst auslöffeln. Aber da ich nun mal hier festsaß, würde ich mich einfach dahin begeben, wo ein paar Frauen anzutreffen waren. Zum Beispiel Ines. Da Mühlenstedt nicht gerade eine Brutstätte nobler Diskotheken war, musste ich nun wohl doch vorerst auf das Dorffest gehen und ausgerechnet die Wintersonnenwende feiern. Na klasse! Ich döste noch ein paar Minuten vor mich hin, bevor ich zu Charley in die immer noch offene Garage stapfte.

„Alles klar, alte Blechbüchse?“ Ich tätschelte seine Motorhaube.

„Siggi, pass auf!“, sagte er, als ich gerade das Tor zuziehen wollte.

Guter Kerl. Bei allen Reibereien waren wir doch Freunde. Ich wurde fast ein wenig sentimental, dass er sich um mich sorgte.

„Siggi!“

„Ja, Charley, ich passe auf.“

„Nein, jag diesen Bettvorleger von meinem Hinterreifen weg, verdammt! Der pinkelt mich an!“

Bettvor … ach …

Ein schwarzer Pudel wedelte fröhlich auf drei Beinen stehend mit dem Schwanz.

„Hades! Hör auf!“

Er fiepte leise und pinkelte weiter.

„Was, du kennst ihn?“

„Ist mein Onkel.“

„Dein …?“

„Erklär ich dir später. Ich muss los. Und um den Köter kümmere ich mich auch. Bis morgen, Charley.“

Ein wohldosierter Tritt beförderte das kleine Biest aus der Garage. Ich zog das Tor zu.

Jetzt wurde es ungemütlich. Zumindest für Hades.

Ich formte mit Hilfe meiner Fähigkeiten ein halbes Dutzend Schneebälle, ließ sie dicht vor Hades in der Luft hängen und sah ihn herausfordernd an.

„Wenn ich bis drei gezählt habe, bist du weg, klar?“

Er knurrte mich an.

„Eins.“

Sein Fell stellte sich auf.

„Zwei.“

Er fletschte seine Zähne. Wie niedlich das bei einem Pudel aussieht ... Bevor ich „Drei“ sagen konnte, machte das Mistvieh einen Satz auf mich zu. Das war nun wirklich gegen alle Regeln! Wie unsportlich!

Als ich so das dritte Mal an diesem Tag im Schnee lag und dazu auch noch einen fletschenden Pudel auf mir sitzen hatte, beschloss ich, einige Sekunden Auszeit zu nehmen, mich nicht zu bewegen und ein bisschen nachzudenken.

Am Ende dieser höchst komplexen Gedankenkette, gegen die die Quantentheorie ein echter Scheißdreck war, kam ich zu dem Schluss, dass dies sicher nicht mein Glückstag war. Was war zu tun? Ach ja. Das wäre was. Und Herr und Frau Bürgermeister freuten sich sicher auch, wenn ihre Einfahrt geräumt war. Bevor Hades so richtig verstand, warum ich so verteufelt stillhielt, hatte ihn schon ein drei Meter langer Wurm aus Schnee von mir herunter und in die Hecke des Vorgartens gepustet. Ich rappelte mich hoch, türmte schnell einen ordentlichen Berg aus Schnee auf und schloss die Hecke darin ein.

Geht doch.

Das war jetzt zwar etwas auffälliger, als ich es bevorzugte, aber dafür war auch der Gehweg vor dem Haus frei. Jeden Tag eine gute Tat! Ich war mal bei den Pfadfindern gewesen. Glaub ich. Vielleicht war es auch die Jugendfeuerwehr. Nein, halt. Es war die Cheerleading AG meines Gymnasiums. Wegen des Mädchenanteils. Waren das noch Zeiten. Na, egal.

Selbstzufrieden stolzierte ich Richtung Marktplatz, bis ich das jämmerliche Gebell und das Scharren nicht mehr hören konnte.

Ausgerechnet in diesem triumphalen Moment – Hallo! Ich hatte gerade Hades, den Gott der Unterwelt, in einem Zweikampf besiegt! Okay, er war ein Pudel. Ohne mächtige Götterkräfte. Aber auch bei Zeitungen zählt nur die Schlagzeile, verdammt! – musste mein Tag seinen persönlichen Tiefpunkt erleben.

Es waren noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. Die ganzen Spuke, gewöhnliche Dämonen, Halbwesen und der ganze andere Abschaum musste sich also noch eine ganze Weile zurückhalten. Trotzdem spürte ich einige Meter vor mir eine ungewöhnlich starke Präsenz übernatürlicher Art.(5)

Der Ort vor mir schien prädestiniert dafür, Chaosgestalten anzuziehen. Altes Mauerwerk und ein mittelalterlicher Aussichtsturm umgaben einen kleinen Hof mit Brunnen. Hier war sicher seit einigen hundert Jahren nichts mehr verändert worden. Alte, kräftige Energien hatten sich hier gesammelt. An solchen Orten fühlten sie sich wohl und schöpften Kraft aus dem Boden und der Luft.

Gerade wollte ich einen großen Bogen um das ganze Theater machen, als mir lautes Gelächter verriet, dass dort irgendwas ziemlich Gemeines vonstattenging. Eine ganze Fußballmannschaft Nachtwesen befand sich vor mir.

Ich zog meine Heckler & Koch P30S – fragt mich bitte nicht, woher ich die habe, ja? –, entsicherte und betete inständig zu den Göttern, dass meine Patronen aus Weihwasser, Silber, Ziegenblut und einer großen Menge nuklearen Sprengstoffs gegen die Spuke helfen würden, bevor ich mich mutig in die Schlacht warf.(6)

Wenn diese Viecher vor Sonnenuntergang aktiv waren, mussten sie wirklich richtig mächtig sein. Und dieser Ort verlieh ihnen noch dazu eine Extraportion Macht und Stärke. Was ich da sah, machte mir auch nicht gerade zusätzlichen Mut: Es waren etwa ein Dutzend Spuke, mehrere Halbwesen und – ich hielt ihn für den Anführer – ein Dämon ohne Kopf. Er hatte eine menschliche Gestalt und stand neben einem weiblichen Torso, in einer Hand ein Messer, in der anderen Hand einen Kopf. Ihren Kopf.

Wenn mich die entstellten Gesichtszüge, das Shirt und die blutverschmierte Tätowierung auf dem Arm nicht täuschten, war das Opfer die kleine Metallerin, die mich heute Mittag umgerannt hatte.

Er schlitzte mit dem Messer ihren Bauch auf, zog die Eingeweide heraus und steckte ihren Kopf in den nun leeren Bauchraum. Darm, Magen und Herz bildeten ein wirklich ekelerregendes Gekröse und schleiften hinter dem Leichnam her, als der Kopflose das arme Kind näher zum Brunnen schleifte. Jetzt nur nicht kotzen. Keinen Mucks, Siggi. Ich sah hin, obwohl ich eigentlich nicht wollte.

Der Dämon versenkte sie und ihre herausquellenden Organe im Brunnen und genoss, dass die um ihn versammelte Meute ein höhnisches Gelächter anstimmte. Sie bildeten einen Kreis um den Brunnen und verursachten einen unglaublichen Lärm, während ich mich schließlich doch auf das Mauerstück, hinter dem ich mich verborgen hatte, übergab. Schöne Scheiße. Wenigstens konnten sie das nun nicht hören. Urgs, warum hatte ich nur die kalte Pizza vom Vortag gefrühstückt? Die Pilze sahen echt nicht mehr lecker aus.

Ich brauchte einen Moment, bis nichts mehr in mir drin war. Entgegen jedem guten Vorsatz blickte ich erneut hin, nur, um etwas noch Grausameres zu sehen.

Die Gestalt des Mädchens, oder vielmehr ihr Spuk, erschien neben dem Brunnen.(7) Was ich dann mit ansehen musste, war ein genauso großes Verbrechen wie das Enthaupten junger Mädchen. Der Tross umringte den Spuk, rückte immer näher an die verunsicherte Mädchengestalt heran und zerriss sie unter Heulen und Zetern. Sie fraßen sie auf.

Diese doppelte Form von Mord war eine Sünde gegen das Leben selbst. Während ich mich ein wenig tiefer hinter die Mauer drückte und mich fragte, was ich tun sollte, falls sie mich entdeckten, formierte sich der Tross und der Kopflose stieß einen schrillen Pfiff aus.

Daraufhin erschien eine ganze Anzahl verdächtig dämonisch aussehender Pferde aus einer Seitengasse. Die Wesenheiten saßen auf und von Funken und Feuerstieben begleitet setzen sich die Pferde in Trab, hoben vom Boden ab und verschwanden am Nachthimmel.

Ich atmete auf.(8)

Der Tag wurde immer beschissener. Wenn dieser Tross weiter so durch die Gegend zog, würde es echt heftig werden.

Sicher, heute schlugen Wesen dieser Art mal richtig über die Stränge, aber ein solches Verhalten war gegen alle Sitten und Gebräuche. Außerdem gab es nun eine Leiche, in deren Nähe ich eine ganze Menge DNA-Spuren hinterlassen hatte. Und ich schätzte, dass mich ein „Ich habe gesehen, wie ein kopfloser Dämon mit seinen Kumpels das Mädel enthauptet und im Brunnen versenkt hat“ nicht sehr glaubhaft entlasten würde.