Puppenrache - Manuela Martini - E-Book
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Puppenrache E-Book

Manuela Martini

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Beschreibung

Sara glaubt sich in Sicherheit – bis sie eines Abends ihn sieht. Hals über Kopf verlässt sie die Stadt. Und tatsächlich: Er ist aus dem Gefängnis geflohen und hat nur ein Ziel: sich an Sara zu rächen. Als ihr neuer Freund Stephen sich auf die Suche nach der plötzlich verschwundenen Sara macht, kommt er ihrer Vergangenheit auf die Spur - und bringt dabei Dinge ans Licht, die besser für immer im Dunkeln geruht hätten ...

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Kurzbeschreibung: Sara glaubt sich in Sicherheit – bis sie eines Abends ihn sieht. Hals über Kopf verlässt sie die Stadt. Und tatsächlich: Er ist aus dem Gefängnis geflohen und hat nur ein Ziel: sich an Sara zu rächen. Als ihr neuer Freund Stephen sich auf die Suche nach der plötzlich verschwundenen Sara macht, kommt er ihrer Vergangenheit auf die Spur - und bringt dabei Dinge ans Licht, die besser für immer im Dunkeln geruht hätten ...

Manuela Martini

Puppenrache

Jugendthriller

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2021 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Manuela Martini

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-388-5

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www.edelelements.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

1

Einperfekter Tag!« Er riss die gelben Vorhänge auf. Und noch bevor sie ihren Kopf unter die Bettdecke stecken konnte, fielen schon die Sonnenstrahlen über sie her.

Perfekte Tage machten ihr Angst. Weil sie eine Lüge waren. Sie machten einem vor, alles wäre in Ordnung, das Leben wäre großartig und man sei unbesiegbar. Und am Abend dann wirft der perfekte Tag seine Maske ab und plötzlich steht das Grauen vor einem.

Nein, sie mochte keine perfekten Tage. Sie hasste sie.

Er kniete sich aufs Bett und zog ihr die Decke vom Kopf. Widerstrebend öffnete sie ihre Augen ein Stück und blinzelte. Das Licht in dem sonnendurchfluteten Zimmer kam ihr unerträglich hell vor. Seine Sommersprossen waren ganz nah und eine blonde Haarsträhne berührte ihre Stirn. Sie hätte weinen können. Wenn sie gekonnt hätte.

»He, komm doch nachher auch runter zum Strand. Du kannst vielleicht noch ’n paar Wellen reiten.« Er küsste sie auf den Mund. Seine Lippen schmeckten süß und seine blauen Augen zwinkerten gut gelaunt. Sie hätte ihn gern umarmt. Aber sie konnte nicht.

»Mal sehen«, murmelte sie stattdessen und versuchte, nicht an diesen perfekten Tag zu denken. Sondern nur an den nächsten Schritt. Duschen und anziehen.

Er sprang vom Bett und grinste immer noch. »Du kommst, versprochen!«

Es tat fast weh, wie viel Mühe er sich gab. Noch nicht mal ihre mürrische Laune konnte ihn einschüchtern. »Von mir aus«, rang sie sich ab.

»Wie kann man an einem solchen Tag nur so schlechte Laune haben, frag ich mich!«

Sie fühlte sich schuldig. Wie so oft.

Kopfschüttelnd sammelte er seine Kleider vom Boden und verschwand im Badezimmer. Sie schloss erneut die Augen und lauschte dem plätschernden Wasser. Als er fertig geduscht hatte, lag sie immer noch im Bett.

Bevor er ging, kam er noch mal zu ihr und verabschiedete sich mit einem Kuss. »Bis heut Abend. Und bringst du was zu essen mit?«

»Ja«, sagte sie und atmete auf, als sie endlich die Apartmenttür ins Schloss fallen hörte. Vom Fenster drangen leise die Geräusche der Straße herauf. Sie wohnten an einer Hauptstraße, die in die Innenstadt führte, und schon am frühen Morgen zog der Verkehr hier vorbei. Und wenn sie heute einfach im Bett bleiben würde? Sie könnte sich krankmelden, dann müsste sie nicht aus dem Haus.

Schnell schälte sie sich aus der Decke und schaffte es gerade noch ans Fenster, als er heraufsah. Sie winkte. Er winkte. Wie jeden Morgen. Gleich würde er den Parkplatz gegenüber überqueren, in seinen VW-Bus steigen und losfahren. Zu Dick Smith, dem Elektroshop.

Während sie noch nach draußen starrte, zuckte sie zusammen. War da eben nicht ein Geräusch auf der Treppe gewesen? Sie wandte sich vom Fenster ab, schlich so leise wie nur möglich durch die Wohnung und legte ihr Ohr an die Tür. Da war jemand draußen auf dem Flur. Ihre Handflächen wurden feucht und ihr Herz schlug heftiger. Schritte. Hastig verriegelte sie die drei Türschlösser. Die Schritte kamen näher, jemand stieg die Treppe rauf.

Ihre Knie begannen zu zittern. Um durch den Spion sehen zu können, musste sie sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen. Aber sie konnte niemanden entdecken. Schließlich hörte sie über ihren hämmernden Herzschlag hinweg, wie eine Tür aufgeschlossen wurde, die dann gleich darauf zufiel. Sie atmete auf.

Nur ein Hausbewohner.

Sie rieb die Handflächen an ihrem langen T-Shirt ab und ging anschließend in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuschalten. Dabei versuchte sie, die leere Stelle an der Wand zu ignorieren, an der sonst eigentlich ein Abreißkalender hing. Schnell drehte sie sich um und ging ins Bad, duschte, wusch die Haare, föhnte sie, nahm das grüne T-Shirt mit dem Supercash-Aufdrucküber der linken Brust vom Haufen mit den frisch gewaschenen Sachen, zog eine weiße Hose darunter, trank eine Tasse Kaffee und verließ schließlich das Apartment. Sie war bereits ein paar Stufen nach unten gelaufen, als sie noch mal zurückging und sich vergewisserte, dass sie alle Schlösser auch tatsächlich zweimal zugeschlossen hatte.

Die Morgensonne schien noch nicht zu stark, der Himmel war blau, es roch nach Salzwasser und nur ein bisschen nach Autoabgasen. So mochte sie Sydney. Und ja, es war ein perfekter Tag. Und deshalb behielt sie heute ganz besonders die Leute im Auge, die hinter ihr an der Bushaltestelle standen, setzte sich im Bus auf den Gangplatz direkt gegenüber der Tür und warf, als sie ausstieg, immer wieder einen Blick über die Schulter. Aber da war niemand. Niemand, der ihr folgte, niemand, der sie beobachtete. Bloß Fahrgäste, die jeden Morgen denselben Bus nahmen wie sie.

Vierzig Minuten später stieg sie aus und sah bereits das große Schaufenster von Supercash in der Morgensonne aufblitzen. Lisa, die Chefin, sah sie kommen und schloss ihr die Tür auf. Sara sah aufihre Uhr. Noch zehn Minuten bis zur Geschäftsöffnung.

»Hi, Sara!«, grüßte Lisa, während sie die Tür wieder zuschloss und dann mit schnellen Schritten quer durch den Gang mit den Kühlfächern in Richtung Aufenthaltsraum lief. Sara folgte ihr.

»Macht mal ein bisschen Druck, Jungs, Überstunden werden hier nicht bezahlt!«, rief Lisa im Vorbeigehen den beiden zu, die gerade dabei waren, die Artikel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum aus den Kühlfächern herauszusortieren. Sara warf ihnen nur einen flüchtigen Blick zu. So hatte sie auch bei Supercash angefangen, dachte sie. Ein Gelegenheitsjob, für den sie dankbar war.

»Alles okay bei dir?«, erkundigte sich Lisa und hielt ihr die Tür zum Aufenthaltsraum auf.

»Ja, klar«, antwortete sie und verstaute Tasche und Jacke in ihrem Spind.

»Du siehst irgendwie blass aus. Ärger gehabt mit deinem Freund?« Lisa musterte sie mit ihren asiatisch geschnittenen Augen.

Sara schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich, alles okay.«

»Wenn du Probleme hast, sag’s mir. Im Vorfeld kann man oft Dinge viel leichter klären, als wenn es dann zu spät dafür ist.«

Sara nickte und nahm die Kassenschublade entgegen, die mit exakt hundert Dollar in verschiedenen Scheinen und Münzen gefüllt war. Alle waren so nett zu ihr ...

»Kasse drei«, sagte Lisa noch.

Sara nickte kurz, versuchte ein kleines Lächeln und lief dann durch die Regalreihen des Supermarkts. Als sie im Kassenbereich ankam, konnte sie sehen, dass Hal heute direkt neben ihr arbeitete. Er zwinkerte ihr zu, während sie zu ihrer Kasse ging.

»Hi, Sara!« Er strahlte über das ganze Gesicht und Sara konnte förmlich spüren, wie sich sein Blick an ihr festsaugte.

Sara hob nur kurz den Kopf und schenkte ihm ein stummes Nicken. Hal war zwar auch nett, aber sie mochte ihn trotzdem nicht. Natürlich konnte er nichts für seine Akne, aber er hatte etwas Klebriges, Aufdringliches an sich. Doch was sie am meisten an ihm störte, war, dass er ihr immer zu nahe kam.

Sara beeilte sich, die Geldschublade in die Kasse zu schieben, und versuchte dabei krampfhaft, das Datum auf der Kassenrolle zu ignorieren. Trotzdem ätzte es sich in ihr Hirn. 18. April hämmerte es in ihrem Kopf. Es hatte nichts geholfen, dass sie zu Hause den Kalender von der Wand genommen hatte.

Die nächsten drei Stunden arbeitete sie ohne Pause. Es war Freitag und die Leute kauften fürs Wochenende ein. Würstchen, Fleisch zum Grillen, Chips, Tiefkühlkost, fertig gebratene Hähnchen. Sie stellte sich vor, wie Familien und Freunde in ihren Gärten zusammensaßen, Musik hörten, Bier tranken und lachten. Früher hatten sie auch gegrillt. Früher, als sie noch eine normale Familie gewesen waren. Früher, als sie noch ihre alten Freunde hatte, als die Angst noch nicht ein ständiger Begleiter in ihrem Leben gewesen war, als ...

»Schätzchen, also das kann ja wohl nicht stimmen! Ich hab nur eine Packung Eiscreme! Und was steht hier?« Plötzlich war der rot geschminkte Mund mit den Knitterfalten ganz nah und ein knochiger Finger zeigte auf den Kassenzettel. »Achtzehn Dollar!« Die Stimme der Frau überschlug sich fast.

Saras Augen waren auf den Kassenbon gerichtet, und ohne weiter auf die Sehimpftirade der Kundin zu achten, starrte sie auf die Zahl, die dort stand.

18 ... schon wieder ...

»Also, Schätzchen, jetzt aber mal flott!«

»Ich storniere die zweite Packung«, sagte Sara schnell und klingelte nach ihrer Chefin.

»Das will ich hoffen!«

Sara betrachtete die gepflegte, sorgfältig frisierte blonde Frau und musste an Ambers Mutter denken. Und je länger sie sie betrachtete, umso mehr Ähnlichkeiten entdeckte sie, bis sie auf einmal gar nicht mehr sicher war, ob es nicht wirklich Ambers Mutter war ... Aber die lebte in Brisbane – wieso sollte sie also plötzlich in Sydney sein?

»Was starren Sie so?« Die Frau funkelte sie aus grauen Augen an. »Stimmt was nicht?«

In diesem Moment kam zum Glück Lisa und strahlte die Kundin freundlich an. »Ein Storno, das haben wir gleich.« Sara war erleichtert.

Die Frau strafte Sara mit einem abfälligen Blick. Ganz schnell zog Sara ihre Mundwinkel nach oben, doch ihr Lächeln schien wohl mehr wie eine Grimasse zu wirken, denn jetzt starrte die Kundin sie ungläubig an. Blöde Kuh, dachte Sara und kramte einen Packen Plastiktüten unter der Kasse heivor, um beschäftigt zu sein.

»Geh doch schon in die Pause«, sagte Lisa, nachdem sie die Kundin abkassiert hatte. »Ist wirklich alles okay?«

»Jaja«, Sara nickte rasch, »kann ich lieber früher gehen?«

»Es ist Freitag – aber na gut, zwanzig Minuten.«

Sara nahm wieder ihren Platz hinter der Kasse ein. Pausen brauchte sie keine. Sie hatte selten Appetit. Oft kam es ihr vor, als hätte sie all die Sachen, die sie im Laufe einer Schicht am Scanner vorbeizog, auch gegessen. Stephen verdarb es die Laune, wenn sie abends mit ihm nichts essen wollte. Deshalb zwang sie sich manchmal zum Essen. Und ging dann rasch aufs Klo. Früher ... früher hatte keine Portion für sie groß genug sein können.

Die nächsten Stunden vergingen ohne Zwischenfälle. Sara nahm die Waren vom Laufband, hielt sie mit dem Barcode an den Scanner, packte sie in die Plastiktüten und kassierte. Sie war gut, jeder Handgriff saß. Das gefiel ihr an der Arbeit: das Automatisierte. Je weniger sie dachte, umso reibungsloser funktionierte sie, umso schneller wurden die Kunden abgefertigt, umso kürzer wurde die Schlange – umso mehr Kunden wählten ihre Kasse – umso mehr Arbeit hatte sie.

Hal hatte mal gesagt, sie sei wie ein Hamster, der in seinem Laufrad immer schneller wird. Sie hatte müde gelächelt und ihm nicht gesagt, dass der Hamster das tat, weil er vielleicht auch etwas dabei vergessen wollte. Dass er im Käfig eingesperrt war, zum Beispiel. Oder dass er Angst hatte ... vor ... brutalen Kinderhänden ...

»Vierunddreißig Dollar fünfzig, bitte. – Danke. Schönes Wochenende! – Hallo – Dreizehn Dollar zwanzig, bitte – Danke. AufWiedersehen, schönes Wochenende ... Hallo ...« Ketchup, Milch, Kaugummi, Tiefkühlpizza, Erdbeereis. Sie packte Eis, Pizza und Milch in eine Tüte, den Rest in eine andere. Vorschriftsmäßig. »Das sind dann vierzehn Dollar sechzig.«

»Du machst’s aber billig, Puppe!«

Sara erstarrte. Die Geräusche drangen plötzlich wie durch dicke Watte an ihr Ohr. Alles um sie herum verschwamm, versank in einem schmutzigen Grau, nur sein Gesicht war da, sein Gesicht ...

»He, was ist? Was glotzt du so?«

Irgendwo in ihr legte sich ein Schalter um und stellte ihr den Strom ab.

2

Sara?«

Eine Stimme drang durch dichten Nebel zu ihr. Sie kannte die Stimme. Es war die von Hai. War sie eingeschlafen? Aber wenn es tatsächlich Hals Stimme war, dann musste sie bei der Arbeit sein, im Supermarkt, an der Kasse –

Puppe ...

Das hatte sie nicht geträumt, oder? Das war real gewesen. Er hat es wirklich gesagt. Sie schlug die Augen auf. Oder nicht?

Lisas und Hals Gesichter kamen in ihr Blickfeld. Die beiden knieten neben ihr und Hal hatte sich über sie gebeugt. Und sie ... sie lag auf den Fliesen, neben ihrem Drehstuhl.

Sie schüttelte Hals Hand ab, die warm und schwer auf ihrem linken Arm lag.

»He, ich muss deinen Puls ...« , protestierte er.

»Was ist nur los mit dir? Ist alles in Ordnung?«, fragte Lisa und drängte Hal zur Seite. Ihr schwarzer Pagenkopf war ganz nah.

»Ja, ist schon wieder okay«, murmelte Sara und versuchte aufzustehen. Ihr Arm knickte ein. Lisa half ihr.

»Hal, bring ihr ’ne Cola!«

Hal verschwand. Lisa half ihr auf den Stuhl und dirigierte die Leute an die übrigen Kassen.

Sara klammerte sich an Lisas Arm und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Doch plötzlich war sie wieder da, die Angst. Übermächtig nahm sie Saras Körper in Besitz, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.

Nein, sie hatte nicht geträumt.

Puppe ...

Wo war der Typ? Eben war er doch da gewesen, oder? Er hatte direkt vor ihr gestanden. »Wo ...?« Hektisch schaute Sara sich um und suchte unter den vielen Gesichtern nach dem einen.

»Was ist denn passiert, Sara?«, wollte Lisa wissen.

Wie sollte sie Lisa das nur erklären? Sie hob ihre Hand und wischte den kalten Schweiß ab, der sich wie ein klebriger Film auf ihrer Stirn gebildet hatte. »Ich weiß nicht, ich hab niedrigen Blutdruck ...«

Hal kehrte mit der Cola zurück.

»Trink! Zucker und Koffein tun gut«, sagte Lisa und drehte den Verschluss auf.

Dankbar griff Sara nach der Flasche und trank. Wieder ließ sie ihren Blick über die Gesichter der umstehenden Kunden schweifen. Erschrocken stellte sie fest, dass die Leute sie neugierig musterten. Sie merkte, wie ihre Hand zitterte. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Vielleicht hatten ihre Nerven ihr einfach nur einen Streich gespielt. Aber hatte er nicht genauso gegrinst? Genauso gesprochen? Und doch konnte es nicht sein. Es war einfach unmöglich.

»Es geht schon wieder, danke«, sagte Sara und gab Lisa die Flasche zurück.

»Bist du sicher?«, fragte Lisa besorgt und stellte die Flasche neben die Kasse.

Sara nickte und versuchte sogar ein Lächeln. »Wirklich, ich weiß auch nicht – vielleicht hätte ich heute Morgen doch mehr frühstücken sollen.« Sie zuckte die Schultern, als wäre sie selbst über sich erstaunt. »Kommt nicht wieder vor«, versicherte sie hastig. »Ich mach dann mal weiter.«

»Na gut.« Lisa seufzte. »Du siehst ja, wie viel hier los ist. Freitag halt. So schnell krieg ich keinen Ersatz für dich.«

»Ja«, sagte Sara, »kein Problem, wirklich, es geht.«

Lisa musterte sie noch mit einem längeren Blick, nickte dann aber und ging an die letzte Kasse, die sie nur aufmachte, wenn wirklich sehr viel Betrieb war.

»Kommen Sie rüber zu mir«, sagte sie zu den Leuten in der Schlange und Sara blieb noch ein wenig Zeit durchzuatmen.

Sie trank den Rest Cola und versuchte, den Vorfall aus ihrem Gehirn zu löschen.

Um zehn nach fünf nahm sie die Geldschublade aus der Kasse und lieferte sie bei Lisa im Aufenthaltsraum ab, die nachzählte, ob der Betrag auf der Kassenrolle mit dem Inhalt der Geldschublade übereinstimmte. Während Lisa zählte, musste Sara wieder an den Vorfall denken – das Gesicht wollte einfach nicht aus ihrem Kopfverschwinden, ganz egal, wie sehr sie sich auch bemühte.

»Es fehlen vierzig Dollar fünfundachtzig, Sara.« Lisa sah sie vorwurfsvoll an, doch nur eine Sekunde später nahm ihr Gesicht einen sorgenvollen Ausdruck an. »Was ist nur los mit dir?«

Sara zuckte die Schultern.

»Du hast falsch rausgegeben. Vielleicht waren zwei Scheine zusammengeklebt ...« Lisa seufzte. »Tja, die 40 Dollar müsste ich dir eigentlich vom Lohn abziehen, aber ... bist du krank?«

»Nein.«

»Schwanger?«

Sara erschrak und fasste sich unwillkürlich an den Bauch. »Nein!«

»Sicher?«

»Ja!«, sagte Sara ärgerlich. Stephen und sie benutzten immer Kondome.

Lisa zögerte, dann sagte sie: »Also, ich notier mir die vierzig Dollar ... aber ... es darf nicht wieder vorkommen, ja?«

»Danke«, sagte Sara leise, schloss ihren Spind auf und nahm ihre Handtasche raus. Sie warfLisa noch einen letzten Blick zu, verabschiedete sich dann und ging. Sie wollte nach Hause, sich verkriechen, tief und traumlos schlafen. Sie musste bloß den Weg dorthin bewältigen.

Ein scharfer Wind pfiff durch die Straßenschluchten und zwang sie, tief zu atmen. Der Sauerstofftat ihr gut und sie stellte sich vor, wie er alle schrecklichen Gedanken und Bilder einfach mit sich davontrug.

Als Sara den noch immer makellos blauen Himmel über sich sah, fühlte sie sich erschöpft und wollte einfach nur nach Hause. Stephen war sicher schon zum Bondi Beach gefahren. Sein Chef im Elektroshop erlaubte ihm an solchen Tagen, früher Feierabend zu machen. Er war selbst mal ein begeisterter Surfer gewesen.

Sie probierte es zwar auch immer wieder und zuerst fühlte sie sich nicht allzu schlecht, wenn sie auf ihrem Board im Wasser lag und auf die Welle wartete. Aber dann, wenn die Welle heranrollte und sie langsam hinaufhob und sie sich aufs Brett stellte, in dem Moment überfiel sie eine schreckliche Panik. Ihr Magen spielte verrückt, ihr wurde übel und sie fing an zu zittern und musste sich wieder aufs Brett knien. Dann klammerte sie sich fest und hoffte nur noch, dass sie so schnell wie möglich zurück an den Strand getragen wurde.

»Wovor hast du nur Angst?«, hatte Stephen sie immer wieder gefragt. Aber sie hatte ihm keine Antwort geben können. Sie wusste es ja auch nicht. Früher hatte sie keine Angst gehabt. Da war sie öfter mit ihren Freundinnen und deren Eltern übers Wochenende zur Goldcoast gefahren. Sie dachte an Amber und wie sie am Strand in der Sonne gelegen und Eis gegessen hatten und ... Vielleicht lag es daran, dass sie einfach Angst davor hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Sorry!« Eine junge Frau im Bürooutfit hatte sie angerempelt und entschuldigte sich lächelnd. Sara wollte ihr Lächeln erwidern, aber ihre Gesichtsmuskeln fühlten sich an wie eingefroren.

Überhaupt, die Leute, die aus den Büros strömten, kamen ihr alle so fröhlich vor. Sie plauderten, lachten, telefonierten, verabredeten sich für den Abend. Für ein Treffen im Pub oder zum Essen oder ... zum Tanzen ...

Etwas in ihrem Innern tat weh. Etwas, tief in ihr, das auch so sein wollte wie diese Menschen, so ... fröhlich ... so normal.

Im Bus suchte sie sich einen Fensterplatz. Die Sonne stand schon tief und versah alles, Gegenstände und Menschen, mit langen dunklen Schatten. Früher war ihr nie aufgefallen, dass die Schatten größer sein konnten als man selbst.

Sara zählte die Autos, zählte die roten und die weißen, die Lieferwagen und die Motorräder, stellte fest, dass auf einer Fahrspur fünf silberfarbene Wagen hintereinanderfuhren, und zählte dann die Sekunden, die die Ampel brauchte, um von Grün auf Rot zu schalten. Sie tat all das, was sie sonst auch tat, nur konzentrierter. Sie wollte unbedingt vergessen, was heute passiert war.

Kurz vor der Wohnung, sie ging gerade die letzten zweihundert Meter zu Fuß, klingelte ihr Handy.

»Wo bleibst du denn? Du wolltest doch kommen.« Stephen. Im Hintergrund hörte sie Lachen. Seine Freunde. Sie sah sie am Strand, in ihren Neoprenanzügen, auf ihre Boards gestützt.

»Ich bin an der Kasse umgekippt.« In dem Moment, in dem sie den Satz ausgesprochen hatte, bereute sie ihn auch schon. Sie konnte Stephen nicht erklären, was passiert war. Vielleicht hätte sie es gar nicht erwähnen, sondern sich irgendeine Ausrede überlegen sollen, dachte sie, aber nun war es zu spät.

»Aber ... was ist denn passiert?«, fragte er besorgt.

»Ich weiß auch nicht.« Sie war im Schutz einer Hauswand stehen geblieben. »Jedenfalls nichts Schlimmes.«

»Ich komme heim«, sagte er entschieden.

»Nein! Nein, bleib nur. Ich ... ich leg mich ein bisschen hin.«

Sie wollte nicht, dass er ihretwegen aufs Surfen verzichtete, obwohl ... ja, obwohl sie sich gern neben ihn gelegt, ihren Kopf in seine Armkuhle und ihre Hand auf seine Brust gelegt hätte.

»Soll ich nicht doch lieber kommen?«, fragte er noch mal.

»Nein. Bleib ruhig, wirklich. Es ist alles okay«, versicherte sie ihm eilig.

Wie gern hätte sie ihm alles erzählt ...

Niedergeschlagen stieß sie die Haustür des Apartmenthauses auf, drückte den Lichtschalter. Flackernd sprangen die Neonröhren an und machten das enge Treppenhaus grell und schattenfrei. Sie ging am Aufzug vorbei, obwohl er bereitstand. Sie nahm nur ganz selten den Aufzug. Wenn Stephen dabei war oder wenn sie schwere Tüten zu schleppen hatte. Sie hielt dann immer die Luft an, wenn der Lift noch im ersten, zweiten und dritten Stock haltmachte und sie nicht wusste, wer gleich die Tür aufmachen würde.

Im vierten Stock angekommen, steuerte sie auf die dritte der insgesamt fünf Türen zu, schloss beide Schlösser auf, warf dann die Tür hinter sich zu und schloss sofort wieder ab.

Sie zog sich aus, stellte sich unter die Dusche und spülte den Tag ab – das jedenfalls stellte sie sich vor, während das heiß dampfende Wasser über ihre verspannten Muskeln lief. Anschließend zog sie ihren Schlafanzug an, ging in die Küche, goss sich ein Glas Milch ein, legte sich auf die Couch und machte den Fernseher an. Aber es kamen bloß Krimis und irgendwelche blöden Ratespiele. Sie ließ schließlich eine Rateshow eingeschaltet, ohne jedoch zuzuhören. Aber dadurch war es wenigstens nicht so einsam in der Wohnung. Von draußen drang das Brummen des Verkehrs herauf, der weiter über die Harbour Bridge in die nächsten Vororte und auf die Autobahn in den Süden floss. Oft wurde sie morgens vom Dröhnen der schweren Lkws geweckt. Und manchmal konnte sie deswegen auch nicht einschlafen. Dann war sie wieder in jener Nacht hinter den Felsen, kroch durch dorniges Gestrüpp, immer diesem Dröhnen entgegen, immer in Richtung der so nah scheinenden und doch unendlich weit entfernten Straße, ihre Hände waren schon ganz aufgeschürft ...

Abrupt stand sie auf und ging in die Küche. Unterbrich die Gedanken, wenn sie kommen, hatten sie gesagt. Sie dürfen gar nicht erst die Kontrolle über dich übernehmen. Und sie versuchte es. Aus dem Schrank nahm sie eine Rolle Schokokekse, legte sich wieder auf die Couch und breitete eine Decke über sich. Und wenn es morgen wieder passiert? Wenn derselbe Typ wieder kommt ... oder ein anderer?

Warum hatte sie sich ausgerechnet einen Job gesucht, bei dem sie so vielen Menschen begegnete?

Sie drehte den Ton lauter. Der höchste Berg in Australien?

»Mount Kosciuszko!«, sagte der Kandidat, ein blasser Buchhaltertyp.

»Leider falsch!«, bedauerte der Moderator.

Der andere Kandidat drückte die Lampe. »Der Mount Kosciuszko ist 2.229 Meter hoch, aber der höchste Berg ist der Big Ben mit 2.745 Metern. Er ist ein aktiver Vulkan und liegt auf der unbewohnten Insel Heard.«

»Absolut korrekt! Das sind fünfhundert Dollar für Peter!«

Das Publikum jubelte und applaudierte, aber Peter lächelte nicht. Mit versteinerter Miene nahm er den Gewinn zur Kenntnis. Wovor hat er wohl Angst?, dachte sie.

Dann rechnete Sara. 2.745 minus 2.229 sind – 516 Meter Unterschied ...

Zählen half. Zählen half meistens.

Sie schreckte aus dem Schlaf auf, als Stephen nach Hause kam.

»He, geht’s dir besser?«, fragte er zärtlich.

»Ja«, sie nickte. »Bin wohl heute einfach eingeschlafen bei der Arbeit ...« Sie hasste ihre Lügen, sie verachtete sich dafür. Aber sie wusste keine andere Lösung.

Er trug sie ins Bett und gab ihr einen Kuss. Er roch nach Salz und Meer, das beruhigte sie, und bevor die Erinnerungen wieder an die Oberfläche drängen konnten, schlief sie ein.

3

Mann, echt Scheiße, was man alles so verpasst!«, murmelte er, schnüffelte hinauf in den blauen Himmel und kniff die Augen vor der blendenden Sonne zusammen. Jetzt noch ’ne Kippe und die Minute wär perfekt. Immer mit der Ruhe, Alter, mahnte er sich selbst, erst schieben wir unseren Arsch mal hier aus der Schusslinie, damit nicht noch was schiefgeht.

Er zog die zu weite Hose hoch, die ihm rutschte, strich die Jacke glatt, die zum Glück besser passte, und ließ das schwere Gittertor hinter sich, das sich langsam schloss. Lässig schlenderte er die Straße entlang und ließ seinen Blick über die parkenden Autos gleiten. Noch ganz cool bis zur nächsten Ecke dahinten, wo hoffentlich ein fahrbarer Untersatz mit einem Flyer hinter den Scheibenwischern wartete, wie abgemacht, und dann nix wie weg.

Geschafft! Here we are!

Ein dunkelroter Holden, ’ne alte Kiste – das durfte ja wohl nicht wahr sein! Erst spürte er Ärger in sich aufsteigen, aber dann musste er doch grinsen. Klar, ein Porsche wär natürlich aufgefallen! Wer drehte sich schon nach ’nem alten Holden um? Na ja. Immerhin ein Auto. Der Wagen stand am Straßenrand zwischen zwei anderen Autos; unauffällig, harmlos, wie normal abgestellt – und nicht wie gestohlen.

Na bestens, auf den alten Doug ist doch immer noch Verlass, dachte er, als er über das rechte Hinterrad tastete und der Autoschlüssel wirklich dort lag. »Brav, Doug, dafür kriegst du auch ein Extra-Tütchen Stoff, alter Junkie!«, murmelte er gut gelaunt, als er den Motor startete und aus der Parklücke rangierte. Und jetzt galt es, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen, ehe die Scheißbullen ihm auf die Schliche kamen.

Ich bin genial, ein genialer Hund! Er lachte und lachte noch mehr, als er die Schachtel Zigaretten bemerkte. »Auf den alten Sack ist wirklich Verlass!« Sogar die Marke stimmte. Mit der linken Hand schnippte er eine Zigarette aus der Packung und steckte sie sich in den Mund. »Ist ja ’n echter Luxusschlitten«, meinte er, als er den Zigarettenanzünder herauszog.

Er fuhr langsam die Straße hinauf bis zur Hauptstraße, während er genüsslich den Rauch einsog. Im Rückspiegel konnte er nichts Auffälliges entdecken. Nachdem er sich in den dicht fließenden Verkehr eingefädelt und dann auf die äußere Spur gewechselt hatte, beschleunigte er und atmete noch einmal auf.

»So und jetzt zum Eigentlichen.« Er fummelte am Radio herum, bis er einen Sender gefunden hatte, der Heavy Metal spielte. »Sogar Black Metal, kaum zu glauben! Scheint mein Glückstag zu sein heute!«

Er drehte die Lautstärke auf, nahm einen kräftigen Zug von seiner Kippe, lehnte den Kopf zurück und grölte mit Bestial Warlust mit. »At the Graveyard of God ... Ich bin genial. Ein genialer Hund!«

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den Lippen fuhr er seinem Ziel entgegen.

Heute hab ich keinen Fehler gemacht. Bin auch nicht umgekippt, sagte sie zu sich und war ein bisschen stolz, dass sie sich wieder im Griff hatte. Und deshalb konnte sie auch Ja sagen, als er vorschlug, in den Bars der Oxford Street abzuhängen. Sie hatten mit Stephens Freunden Van und Dean Stehplätze rund um eine Deckensäule ergattert. Die Bar war ziemlich groß und wirkte recht düster mit dem dunkelroten Teppich, dem schwarzen Tresen und den schwarz gestrichenen Wänden. Selbst die Kellner und die Barkeeper trugen schwarze Hosen und T-Shirts. Nur das verspiegelte Regal mit den Getränken leuchtete hellgrün. Die Musik dröhnte ohrenbetäubend aus den Boxentürmen und die Gläser auf den Tischen vibrierten mit den Frequenzen der Bässe. Sara war froh über die Lautstärke, weil sie dann nicht viel reden musste. Früher hatte ihre Mutter immer gesagt, sie rede wie ein Wasserfall.

Stephen und seine Freunde schrien gegen den Lärm an und bestellten eine Bierrunde nach der anderen. Sara lehnte jedes Mal ab und bestand auf Cola. Cola hielt sie wach. Und wachsam.

Irgendwann schmiegte sie sich an Stephens Schulter und er legte den Arm um sie. »Du bist schön«, sagte er ihr ins Ohr und lächelte sie an. »Wir könnten uns bald hier verdrücken, hm?«

Sie spürte die bekannte Panik in sich aufsteigen. Immer wieder kämpfte sie dagegen an. Immer wieder ...

»Ja, aber es ist doch gerade ganz nett und deine Freunde ...«, sagte sie rasch.

»Ach, die können auch ohne uns weitertrinken.«

»Lass uns noch ein bisschen bleiben. Mir gefällt’s heute, wirklich.«

Er streichelte ihre Wange. »Klar. Ich freu mich, dass du auch mal gern unter Menschen bist.«

Sie lächelte und schmiegte sich enger an ihn. Er würde immer auf sie aufpassen. Er würde sie beschützen.

»Ich hol uns ’ne neue Runde«, sagte Stephen und machte sich von ihr los.

Bleib da, wollte sie ihm am liebsten sagen, aber das war albern, das wusste sie. Van und Dean hatten schon je zwei Runden geschmissen, Stephen war längst dran. Stephen tauchte in der Menge unter. Sie lehnte sich an die Säule, schloss die Augen und überließ sich für einen Moment der Musik, dem Dröhnen, Stampfen und dem Schreien der Sänger. Die Bässe aus den riesigen Boxen wummerten in ihrem Bauch, breiteten sich von da überall in ihrem Körper aus, bis auch ihr Herz den Rhythmus übernahm. Sie wurde zur Musik, zum Rhythmus, sie löste sich auf, wurde leichter und leichter und mit jedem Beat fühlte sie sich befreiter – und weniger da. Alles verlor seine Dringlichkeit, seine Bedrohlichkeit ...

»He, Puppe, hab ich dich doch gefunden!«

Die Stimme riss sie mit einem harten Ruck zurück in die Realität, die Beats wurden zu Peitschenhieben, die Luft legte sich wie ein Netz über sie, drohte enger und enger zu werden, sie wollte die Augen aufreißen, aber die Panik lähmte sie. Diese Stimme!

Unter ihr gab der Boden nach- oder waren es ihre Knie?, sie wollte sich festhalten, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht, sie wollte ...

»He, Sara!«

Stephen? Jetzt riss sie die Augen auf.

Stephen sah sie an, Gläser in seinen Händen, und hinter ihm wurde das Gesicht von der Menge verschluckt.

Es war nicht das aus dem Supermarkt.

Nein.

Diesmal war es das echte.

»Geht’s dir gut?«, fragte Stephen besorgt und gab ihr die Cola.

Als sie die Hand ausstreckte, um die Flasche zu nehmen, zitterte sie.

»Sie hat geglaubt, du kommst nicht mehr, stimmt’s?«, schrie Van grinsend herüber und saugte den Schaum von seinem Bier ab.

»Unser Stevie war ganz schön unterwegs, bevor er dich getroffen hat«, schrie Dean und nahm von Stephen sein neues Bier entgegen.

»Du solltest ihn beim Surfen nicht so oft allein lassen.«

Dann sagte Dean wieder etwas und Van lachte, Stephen ließ seinen Freunden gegenüber gespielt coole Kommentare ab und Sara war, als betrachte sie einen Film ohne Ton, während um sie herum die Wohnung brannte. Sie registrierte das alles zwar, aber nichts konnte zu ihr durchdringen.

Am liebsten wäre sie weggerannt, raus aus der dunklen, lärmenden Bar, in der es scharf nach Schweiß und sauer nach Bier roch – und wo etwas Bedrohliches lauerte. Aber wohin hätte sie laufen sollen?

»Glaub ihnen nichts!«, hörte sie Stephen sagen, »sie sind bloß eifersüchtig, weil ich nicht mehr so oft mit ihnen unterwegs bin!«

Van und Dean protestierten grölend. Sie musste weg, sie hielt es nicht mehr aus – da beugte sich Stephen zu ihr und küsste sie ... holte sie zurück. Die Starre, die ihren Körper so steif und gefühllos gemacht hatte, löste sich, ihre Muskeln entspannten sich. Sara schloss die Augen und fühlte nur noch diesen Kuss. Wenn es nur immer so sein könnte wie in diesem Moment....

Stephen war so nett zu ihr. Vielleicht liebte er sie wirklich? Sie, die man doch gar nicht lieben konnte. Aber er war arglos – und ahnungslos. Es war so schrecklich.

Sie war eine Verräterin und Lügnerin.

Sara stürzte die Cola in einem Zug hinunter, um wieder klar denken zu können. Aber das Einzige, was sie erreichte, war, dass sie jetzt dringend zur Toilette musste. Die Toiletten befanden sich am anderen Ende des Raums, sie müsste sich einen endlos langen Weg durch die Menge bahnen, durch die Menge, in der ER untergetaucht war. ER war es, ganz sicher. Obwohl es nicht sein konnte.

Litt sie vielleicht unter Halluzinationen? Dachte sie so intensiv an dieses Gesicht, dass sie sich einbildete, es wirklich zu sehen?

Der Druck in der Blase wurde immer stärker.

»Stephen«, sie reckte sich zu seinem Ohr, »macht es dir was aus ... kommst du mit zur Toilette? Ich glaub, ein Typ ist hinter mir her.«

»Was?«

Der Lärm wurde immer unerträglicher.

»Ein Typ ist hinter mir her«, wiederholte sie lauter.

»Ein Typ? Versteh ich, du siehst ja auch scharf aus! Wo ist er?« Er blickte sich suchend um. Da nahm sie seine Hand. »Kommst du mit und wartest?«

Er nickte. »He Kumpels, Sara und ich gehen mal ’ne Nummer schieben.«

»Wow! Dann viel Spaß!« Van lachte lauthals und schüttete das Glas Bier hinunter. Dean warf Sara einen Blick zu, der ihr nicht gefiel.

»Warum hast du das gesagt?«, fragte sie Stephen, als sie in der Menge stecken blieben. Manchmal ging ihr Stephens Art seinen Kumpels gegenüber auf die Nerven. Warum musste er immer den Coolen geben? Dabei war er doch eigentlich gar nicht so.

»Ich wollte nicht, dass sie dich auslachen, weil du Angst hast, aufs Klo zu gehen.«

»Ich hab vor dem Typen Angst. Nicht davor, aufs Klo zu gehen.«

Er drückte sie fest. »Sorry, ich weiß.«

Sie wollte sich nicht ärgern, schließlich war sie ja froh, dass er sie begleitete. Dicht an seine Seite gedrückt schoben sie sich durch die Menschenmenge. Vor der Toilette war zum Glück keine Schlange und sie war schnell fertig.

Neben drei anderen Mädchen, die sich schminkten, wusch sie sich die Hände und warf noch einen raschen Blick in den Spiegel. Das weiße, gleißende Licht erinnerte sie unwillkürlich an die Klinik. Schnell schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihr Spiegelbild. Wie blass und dünn sie war. Wenigstens machten sie die blond gefärbten Haare etwas lebendiger. Und auf einmal war ihr klar: Er konnte es gar nicht gewesen sein. Jetzt sah sie doch ganz anders aus! Wie hätte er sie also erkennen sollen?

Ich hab es mir eingebildet, weil ich so intensiv daran gedacht habe, versuchte sie, sich selbst zu überzeugen. Das muss sofort aufhören. Sofort. Ich darf nicht mehr daran denken.

Zwei Mädchen kamen kichernd rein und sie schob sich zwischen ihnen hindurch nach draußen.

Wo war Stephen?

Sara sah sich um, überall waren Körper und Gesichter, die Musik und das Stimmengewirr vermischten sich zu einem tosenden Brausen. »Stephen!« Ihr Schrei ging unter im brodelnden Lärm. »Stephen!«

Ein Strom von Menschen riss sie mit, wirbelte sie herum und sie sah nur noch in Augen und Münder. Und da war er wieder! Für Sekunden blickte sie ihm ins Gesicht. Das überhebliche Grinsen, der herausfordernde Blick und dieser Mund ... der sich jetzt bewegte, Worte formte. Sie hörte sie nicht, aber sie wusste, was er sagte. »Ich krieg dich!«, sagte er, sie war ganz sicher ...

»Steeephen!«

Ein harter Griff legte sich um ihren Oberarm. Sie versuchte, sich loszureißen. »Nein! Nicht!«

»He!«

Stephen! Es war Stephen, Stephen ... wo warst du nur? Warum bist du nicht einfach da stehen geblieben, es hat doch nicht lange gedauert?

Er drückte sie an sich. »Du zitterst ja.«

»Ich hab solche Angst gehabt.«

»Warum? War er wieder da?«

Sie nickte.

»Zeig ihn mir! Ich knöpf ihn mir vor!«

»Er ist weg ... irgendwo.«

»Hat er dich angefasst?«

Sie schluckte. Dann schüttelte sie den Kopf. Er würde Stephen mit einem Faustschlag fertigmachen.

»Lass uns heimgehen«, sagte er.

Diesmal nickte sie.

Stephen verabschiedete sie beide schnell bei seinen Freunden, und als sie endlich draußen in der kühlen Abendluft standen, die laute Musik und das Stimmengewirr immer leiser wurden, kam ihr das Erlebnis wie ein billiger Albtraum vor.

Aber es war kein Traum.

Es war real.

Bis zum Parkplatz in einer der Seitenstraßen ging sie schweigend und hielt sich eng an Stephens Seite gepresst. Ein paar Mal warf sie einen verstohlenen Blick über die Schulter und lauschte auf Schritte, ob ihnen jemand folgte, aber da war nichts. Nur ein paar Betrunkene kamen ihnen entgegengetorkelt und in einem Hauseingang hockten zwei Typen und rauchten.

Sie atmete auf, als sie an Stephens grünem VW-Bus angekommen waren, er ihr die Tür aufschloss und sie sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Als er dann losfuhr, musste sie plötzlich weinen.

»Hey, Sweetie, es ist okay, es ist alles okay.« Er legte den Arm um sie. »Wir fahren heim. Wein nur, es wird alles gut.«

Sie schmiegte sich in seinen Arm und roch seinen Duft. So gern würde sie ihm glauben, so gern.

Aber sie wusste, dass es nie gut werden würde.

Stephen wollte noch unter die Dusche, nachdem sie nach Hause gekommen waren. Sie wartete, bis sie im Bad das Wasser laufen hörte, dann eilte sie ins Schlafzimmer, zog die oberste Schublade der wackligen Kommode auf und tastete unter ihrer Unterwäsche nach dem geheimen Handy. Das Wasser lief immer noch. Sie schaltete es an und drückte auf die Kurzwahltaste. Nach vier Freizeichen meldete sich eine Frauenstimme. »Ja bitte?«

»Ich muss mit Dave sprechen.«

»Dave ist nicht mehr bei uns.«

»Was?« Ihre Hände begannen schon wieder zu zittern. »Aber warum?« Sie schrie fast und erschrak. Aber im Bad lief noch immer das Wasser.

»Kann Ihnen jemand anders weiterhelfen?«, fragte die Frau.

»Ja, Nate.«

»Einen Moment.«

Sara wartete, lauschte auf die Geräusche aus dem Badezimmer.

»Hallo, sind Sie noch da? Nate ist im Moment nicht erreichbar. Soll ich ihm ausrichten, dass er Sie anrufen soll?«

Im Bad war es still.

»Nein!« Hastig drückte sie die rote Taste und versteckte das Telefon wieder unter ihrer Unterwäsche. Auf einmal wusste sie nicht mehr weiter. Und wenn doch alles nur Einbildung war? So wie damals das eine Mal? Sollte sie die Klinik anrufen? Sich einweisen lassen?

Sie ließ sich auf die Bettkante sinken. Aber ... wenn es keine Einbildung war, dann ... dann wüsste er auch bald, wo sie wohnte.

Stephen legte sich zu ihr. Ja, sie mochte ihn, bei ihm fand sie Schutz, Geborgenheit und manchmal auch ein bisschen Vergessen. Aber sie konnte nie wirklich loslassen.

»Das Wichtigste ist, dass du wieder lernst, einem Menschen zu vertrauen.« Das war auch einer der klugen Sätze in der Therapie gewesen. Sie vertraute Stephenja, aber ... aber sie traute sich nicht. Sobald sie sich in Sicherheit wiegte, stiegen die Bilder in ihr auf.

Sie sehnte sich nach seiner Nähe, liebte seine Berührungen. Er war so zärtlich. Und doch passierte es immer wieder, dass sie zusammenzuckte, wenn er näher an sie heranrutschte, dass sich ihr Körper versteifte, wenn er sie anfasste. Er fragte manchmal, ob alles okay für sie sei. Immer bemerkte er es, keine noch so kleine Reaktion von ihrer Seite schien ihm zu entgehen. Das waren die schwersten Momente. Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicken und Stress in der Arbeit oder Kopfweh vorzuschieben. Sie fühlte sich so schäbig. In diesen Momenten besonders.

Als er eingeschlafen war, lauschte sie seinem Atem und starrte in die graue Düsternis. Draußen war es ruhiger geworden, nur noch hin und wieder donnerte ein Lkw vorbei. Schließlich stand sie auf, ging in die Küche und trank ein Glas kalte Milch. Das beruhigte sie. Sie hatte Milch schon immer gemocht. Selbst, als sie bereits größer war, hatte ihre Mutter ihr abends oft eine Tasse ans Bett gebracht ...