Wenn es dunkel wird - Manuela Martini - E-Book

Wenn es dunkel wird E-Book

Manuela Martini

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Melody und ihre Freunde wollen einfach nur entspannte Sommerferien an der französischen Mittelmeerküste verbringen. Doch okkulte Praktiken und verbotene Gefühle zwischen ihnen heizen zusehends die Stimmung auf. Es kommt zur unausweichlichen Katastrophe – ein Jugendlicher stirbt. Mel weiß: Nur wenn sie alle schweigen, wird niemand die Wahrheit je erfahren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 369

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kurzbeschreibung:

Melody und ihre Freunde wollen einfach nur entspannte Sommerferien an der französischen Mittelmeerküste verbringen. Doch okkulte Praktiken und verbotene Gefühle zwischen ihnen heizen zusehends die Stimmung auf. Es kommt zur unausweichlichen Katastrophe – ein Jugendlicher stirbt. Mel weiß: Nur wenn sie alle schweigen, wird niemand die Wahrheit je erfahren.

Manuela Martini

Wenn es dunkel wird

Jugendthriller

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2021 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2012 by Manuela Martini

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-387-8

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Nachtrag

1

Heute, am 27. Juli, wurde bei YouTube unter dem Usernamen melkri01 ein mehrteiliges Video hochgeladen. Der letzte Teil vor einer halben Stunde.

Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits sechshundertzwölf Viewer gezählt. Vielleicht liegt das an dem hübschen Mädchen mit den Sommersprossen, der blassen Haut, dem rötlich blonden Haar und den intensiven Augen. Es sind die Augen, die den Betrachter nicht loslassen. Sie blickt ihn daraus an, als scheine die Sonne zu hell. Aber heute ist es düster.

Sie ist etwa achtzehn oder neunzehn. Sie trägt ein grünes Kapuzenshirt und sitzt offenbar auf einem Stuhl an ihrem Schreibtisch. Vor ihr steht ein Glas mit Wasser. Im Hintergrund ist eine rötlich tapezierte Wand mit einem Poster zu sehen. Das Motiv ist aus der Entfernung nicht zu erkennen. An die Wand stößt ein Bett mit einer in verschiedenen Rottönen gehaltenen Tagesdecke.

Sie räuspert sich mehrmals, greift nach vorn, richtet offenbar das Notebook mit der Kamera aus, streicht sich mit einer nervösen Bewegung das glatte Haar zurück.

Man fragt sich, was sie zu sagen hat. Dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat?

Sie räuspert sich wieder, der Blick aus ihren schmalen Augen wird intensiver. Spätestens jetzt können die meisten wohl nicht mehr wegklicken. Ihre Stimme klingt rau und zittert, als sie zu sprechen anfängt.

Also, ich weiß nicht, wer mir zuschaut. Ich sag es dir gleich vorweg: Ich hab das alles nicht gewollt. Es ist passiert, irgendwie hat es sich nicht aufhalten lassen. Es war wie ... wie wenn man sich aus Langeweile entscheidet, in irgendeinen Zug zu steigen, einfach so, und man hat nicht auf der Anzeige gelesen, dass da HÖLLE steht.

Es ist jetzt fast ein Jahr her und anfangs hab ich geglaubt, irgendwann hört man auf, daran zu denken, und vergisst. Aber das stimmt nicht. Ich habe jeden Tag daran gedacht. Und als auch noch diese Mail kam – danach wurde es dann ganz schlimm. Sobald ich die Augen zugemacht habe, war da sein Gesicht. Ich habe nicht mehr geschlafen. Und manchmal bin ich aufgeschreckt und meine Mutter stand vor mir, weil ich geschrien habe.

Ich konnte ihr nicht davon erzählen, denn dann hätte ich ihr alles verraten müssen.

Claas meinte, ich müsste unbedingt die Nerven behalten und mich entspannen.

»Wir haben ein Geheimnis, Mel«, sagte er, »und wir müssen dichthalten. Jeder Einzelne von uns.«

Und dann fügte er noch hinzu: »Du weißt, dass ich mich nach dem Abi in Oxford für Wirtschaft, Politik und Philosophie bewerben will.«

Ich sollte ihm sein Leben nicht verbauen. Das hab ich verstanden.

Jedenfalls konnte ich seitdem nicht mehr richtig schlafen, dem Arzt hab ich erzählt, es ist die Angst vor den Abi-Prüfungen.

Er hat mir Tabletten verschrieben. Ab und zu hab ich sie genommen, weil ich’s nicht mehr ausgehalten habe, wie ein Zombie durch die Welt zu stolpern.

Im Cafe Theatiner in der Fußgängerzone, in dem ich bis vor ein paar Wochen gejobbt habe, ist mir schon x-mal Geschirr vom Tablett gerutscht, ich habe Gläser beim Abtrocknen zerbrochen, ich bin über die Teppichläufer zwischen Kuchenbuffet und Küche gestolpert, habe völlig falsch rausgegeben, meine Monatskarte für die U-Bahn vergessen und im Unterricht – vor dem Abi – bin ich ständig eingeschlafen. Bin einfach für Sekunden oder Minuten weg gewesen. Tests hab ich total in den Sand gesetzt und bei einem Referat hatte ich sogar ein komplettes Blackout. Was mir sonst niemals passiert ist, ich bin nämlich das, was man eine Einserkandidatin nennt. Von den Albträumen will ich gar nicht reden.

Meinen Eltern hab ich vorgemacht, dass es mit dem Abi zu tun hat, ja, dass ich wohl plötzlich so was wie Zukunftsangst gekriegt habe. So ganz haben sie es nicht geglaubt, jedenfalls sieht mich meine Mutter seitdem öfter von der Seite an und hat nebenbei was von Schwangerschaft fallen lassen und dass ich mit ihr über alles reden könne. Ich hab an meiner Ausrede festgehalten.

Ja und nach der Mail wurde es natürlich nicht besser.

Deshalb hab ich beschlossen, das hier zu tun.

Irgendwie fühle ich mich damit schon ein wenig erleichtert, obwohl ich weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt.

Das war jetzt alles ziemlich durcheinander. Aber ich ... na ja, ich bin ein bisschen nervös, du verstehst auch sicher bald, warum.

Warum ich nicht zur Polizei gehe, stimmt, das wollte ich noch erklären. Ich glaube, die ist bloß an Beweisen und Tatwaffen interessiert. Am Ende ist es denen egal, warum etwas geschehen ist. Aber genau darum geht es doch, oder? Um das Warum, damit man es selbst irgendwie verstehen kann.

Ich fange dann an. Moment, ich hab noch was aufgeschrieben, was ich gern vorlesen würde. Also ...

Ich will bei der Wahrheit bleiben, aber wie man ja weiß, sieht Wahrheit oft anders aus, je nachdem, wer und von welcher Seite man sie betrachtet.

Man sollte auch berücksichtigen, dass jeder Mensch dazu tendiert, sich besser darzustellen, als er ist, genauso wie die meisten ihr Fotogesicht aufsetzen, wenn jemand die Kamera draufhält. Ich nehme mich da nicht aus. Aber das betrifft nur Kleinigkeiten.

Im Nachhinein habe ich mir einiges zusammenreimen müssen, von dem ich nichts mitbekommen habe oder von dem ich nichts wissen kann. Aber im Großen und Ganzen ist das hier die Wahrheit. Okay, dann wäre das geklärt.

Ich wollte eigentlich so anfangen: Es war im letzten Sommer in Südfrankeich ... – aber dann hat sich immer eine andere Szene davorgeschoben und deshalb fange ich jetzt damit an. Außerdem kannst du ja das Video auch wieder zurückspulen, wenn was unklar ist.

Gut.

Also, jetzt fang ich wirklich an.

Er war seit zwei Wochen tot, als ich ihn zum ersten Mal in der U-Bahn sah. Er hat nichts zu mir gesagt, hat nur immer wieder zu mir rübergesehen. Du spinnst, hab ich mir einreden wollen, der Typ sieht ihm nur ähnlich. Es regnete an diesem Tag und er trug ein Regencape, ein schwarzes, und er hatte die Kapuze über den Kopf gestülpt. Er sah genauso aus – wie damals.

Ich hab mich an der Stange festgeklammert, als wäre es meine letzte Verbindung zur Realität. Ich hab ihn wie paralysiert angesehen. Mel, du bildest dir das ein, hat meine innere Stimme versucht, mir einzureden. Aber ich hab nicht wegsehen können und gemerkt, dass ich angefangen habe zu zittern. Und er? Er machte nur eine kleine Bewegung mit dem Kinn in meine Richtung, als wollte er sagen: Guck ruhig richtig hin, denn ich bin’s wirklich! Ich bin zusammengezuckt. Und als dann die U-Bahn hielt, drängten Menschen raus und rein und er verschwand irgendwo in der Menge.

Wie lange habe ich ihn angestarrt? Eine Minute? Zwei oder drei? So lange wie die Fahrt von der Giselastraße bis zur Münchner Freiheit dauert.

Danach ist es immer wieder passiert. Mal beim Einkaufen, mal im Theatiner-Cafe, da sah ich ihn zu den Toiletten gehen, mal auf der Fahrt in die Schule – manchmal blitzte auch nur für eine Sekunde sein Gesicht irgendwo zwischen anderen auf.

Ich werde verrückt, dachte ich. Und das Schlimmste war, dass ich niemandem davon erzählen konnte. Nur Claas, aber er war keine wirkliche Hilfe.

Und dann, nach einem halben Jahr, im Februar kurz nach Fasching, hab ich diese Mail gekriegt, die alles wieder aufgewühlt hat.

Carolin – das ist Claas’ Schwester und sie war mal meine Freundin, aber seitdem das alles passiert ist, hab ich mich von ihr distanziert –, also, Carolin hat mitbekommen, wie ich mein iPhone in der Pause gecheckt habe. Sie hat mich entsetzt angesehen. »Mel! Was ist? Ist jemand gestorben? Du bist ja ganz weiß im Gesicht!«

War ich auch, mir wäre beinahe das Telefon aus der Hand gefallen. So hastig hab ich die Nachricht weggedrückt.

»Ach, meine Mutter stresst mal wieder, was soll ich dir erzählen ...«

»Was du mir erzählen sollst?«, hat sie spitz gesagt. »Du erzählst mir sowieso kaum noch was.«

Ich hätte ihr so gern alles gesagt. Aber wir hatten uns geschworen, niemandem unser Geheimnis zu verraten. Ganz schön perfide Sache, oder?

Kannst du dir vorstellen, wie oft ich im letzten Jahr schon im Traum diese Verhöre durchgestanden habe? Fünfuundert Mal?

Es ist immer dieselbe Szene: Ich sitze in einem beklemmenden Raum mit rohen Betonwänden, es ist so eng, dass nur zwei Stühle und ein quadratischer Tisch darin Platz haben. An der einen Wand ist eine dunkle Scheibe und ich fühle mich wie eine Laborratte. Der Polizist, der mich verhört, ist Yannis – auf ihn komme ich später noch zu sprechen. Sein pechschwarzes Haar liegt an seinem Kopf an wie ein kurz geschorenes Fell, seine Koteletten und sein Kinnbärtchen sind scharf rasiert. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, hat einen Klumpfuß und kann hinten unter seinem Jackett nicht ganz den Teufelsschweif verstecken. Er stellt mir immer wieder dieselben Fragen:

»Wie heißt du?«

Ich antworte: »Melody Krimmel.«

»Ein komischer Name.«

»Ich heiße Melody nach meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie ist Irin und heißt Melody O’Shea. Und ich heiße Krimmel wie mein Vater und seine Familie, die seit zwei Generationen einen Feinkostladen in Nymphenburg betreibt.«

Er fragt: »Weißt du, warum dich die Todesstrafe erwartet?«

»Nein.« Dabei will ich Ja sagen, aber ich bekomme es nie über die Lippen.

Er grinst teuflisch, er trägt etwas in die Akte vor ihm ein und fragt noch einmal: »Weißt du, warum dich die Todesstrafe erwartet?«

Ich antworte wieder: »Nein.«

Das geht so lange, bis er aufsteht und mich allein lässt.

Auf dem Tisch hat er meine Akte liegen lassen und ich schlage sie auf. In dicker roter Schrift steht dort nur »Schuldig«. Als er wieder zurückkommt, geht alles von vorne los – bis ich aufwache.

Aber zurück zur Mail. Sie kam wie gesagt nach Fasching und ich weiß nicht, wie oft ich die Mail gelesen habe, bis ich zu Hause war. Hundert Mal? Zweihundert Mal?

Der Absender klang merkwürdig, als wäre die Mail dreimal um die Erde geschickt und mit immer neuen Absendern versehen worden. Also, da steht:

itlch bin nicht tot. Die Wahrheit wird euch einholen. Jeden Einzelnen von euch. Es gibt kein Entrinnen. Die Posaunen heben schon an. Es wird nicht mehr lange dauern. Meine Karte ist der Magier.«

Du hältst mich für abergläubisch, weil ich an solches Zeug glaube wie Tarnt-Karten und Magier und so, stimmt’s? Aber Fakt ist: Ich habe ihn gesehen, ich weiß, dass er wirklich nicht tot ist.

Vielleicht wirst du mich ja verstehen, wenn du die ganze Geschichte gehört hast.

Ob Lüge oder Wahrheit, heißt es, der Magier nutzt alle Möglichkeiten, um sein Ziel zu erreichen. Er kennt kein Gewissen und wandelt auf dem schmalen Grat zwischen schwarzer und weißer Magie – und wer immer diese Mail geschrieben hat, weiß, was letzten Sommer passiert ist.

2

Die ganze Geschichte fing letzten Sommer an.

Du musst es dir so vorstellen: Es ist ein brütend heißer August in Südfrankreich, an der Cöte d’Azur, grelle, bunte, flirrende Farben wie in einem SiebzigerjahreFilm.

Der Himmel ist von einem strahlenden, blendenden Blau, das Meer noch einen Ton tiefblauer, silbrig blitzen Sonnenreflexe auf sanften Wogen. Weiße Flecken und winzige Punkte, Segelboote oder Motorjachten, gleiten dahin und scheinen weiter am Horizont ganz still zu stehen. Sattgelb leuchtet der heiße Sand in den sichelförmigen Buchten, die sich zwischen die Felsen schmiegen. Man sehnt sich nach nichts mehr als nach einem kalten Zitroneneis, um sich dann dort unten auf einem weichen Badetuch auszustrecken, die Hitze aufzusaugen und dann ins kühle Wasser zu tauchen. Spürst du das Prickeln auf der Haut und schmeckst die Zitrone und das Salz auf deinen Lippen? Und erinnerst du dich an das Gefühl, wie es ist, wenn man aus dem Meer steigt? Es kommt einem jedes Mal vor, als würde man nach langer Abwesenheit die Welt wieder betreten.

Hinter den Buchten mit den Stränden, der Uferstraße und den reflektierenden Karosserien der parkenden Autos erheben sich die mit Pinien und Zypressen bewachsenen Ausläufer des schroffen, in der Mittagssonne metallisch gleißenden Gebirges. Am Abend dann verwandelt es sich in eine feurig glühende Wand, die die unglaubliche Hitze des Tages langsam in die Nacht verströmen lässt. Die Aufwinde der warmen Luftströme nutzend treiben Raubvögel und lassen ihre Blicke schweifen.

Und dann dieser Duft.

Die Luft ist schwer von Salz und Meer, eine Brise weht würziges Pinienharz und betörend süßen Jasminduft heran.

Zwischen Strand und Gebirge krönt ein kleiner Ort die Felsen, eine dichte Ansammlung von verschachtelten, weiß getünchten Häusern mit roten Ziegeldächern.

Der Ort heißt Les Colonnes, was so viel wie »die Säulen« heißt und wohl mal wieder auf die Römer zurückgeht. Les Colonnes darf man sich nicht wie die mondänen, nach Glamour und Stars klingenden Orte Cannes oder St. Trapez vorstellen. Von Glamour hat Les Colonnes nichts. Reichtum verschanzt sich hinter hohen Hecken und Gartenmauern. Genauso wie die düsteren Geheimnisse. Aber dazu später.

Les Colonnes ist vom Jetset und den nachfolgenden Touristenhorden, den neureichen Russen, die an der Cöte d’Azur mit Kohle um sich werfen, vergessen worden. Und so gibt es immer noch Läden, die unmoderne Klamotten verkaufen, Bäckereien mit richtigen Backstuben, die den Duft nach frischen Croissants und Baguettes verströmen – und es gibt herrlich chaotische, vollgestopfte Lebensmittelläden, die mittags ihren Rollladen halb herunterlassen, unter dem man durchschlüpfen muss, um im schummrigen, aber einigermaßen kühlen Dunkel die Packung Lieblingsspaghetti zu suchen. Daneben reihen sich in Strandnähe Geschäfte mit allem möglichen Kram für den Strand. Luftmatratzen, Surtboards, Bälle, Sonnenschirme, Klappliegen, Campingtische, Kühltaschen – und das alles in Plastik, hässlich und quietschbunt. Klar, eine Handvoll Bars und Cafes gibt’s natürlich auch, in denen zu jeder Tageszeit Espressomaschinen zischen und den intensiven Geruch nach frischem Kaffee verströmen.

Im Sommer, vor allem im August, brodelt der Ort von Leben. Tagestouristen, denen die Hitze nichts anzuhaben scheint, besichtigen die nahe gelegenen Grotten und kehren zum Mittagessen in die Restaurants und Cafes ein, wo ihnen eifrige Kellner blitzschnell und geübt Papiertischtücher über die Tische decken und ihnen ruck, zuck ihr Touristenmenü und gleich die Rechnung servieren, damit sie ohne viel Zeit zu verlieren in ihren Bus oder ihren Mietwagen steigen und weiterfahren können, zurück nach Cannes oder St. Trapez und Nizza.

Die eigentlichen Einwohner trifft man morgens und vor allem abends auf den Straßen und Plätzen, wo sich ihre Unterhaltungen zu einem brummenden Gemurmel vermischen, abends beschienen vom bronzefarbenen Licht der Laternen und begleitet von Musik aus den Bars, dem Rattern der Mofas und dem Klirren von Geschirr und Gläsern. Jetzt fügen sich zu all den Düften noch die von den verschiedensten Parfüms, von Wein, frischen Kräutern und Knoblauch und gegrillten Fischen.

Hier ticken die Uhren anders, habe ich gedacht, als ich damals mit Claas in Les Colonnes aus dem Bus stieg. Im Nachhinein wundere ich mich, dass ich so naiv war. Aber vielleicht kennst du das: Du sehnst dich so sehr nach etwas, dass du dir irgendwann vormachst, es gefunden zu haben.

Verlässt man den Ort nicht über die Küstenstraße, sondern nimmt man die schmale, ins Gebirge hinaufführende Straße, gelangt man zu den versteckt zwischen ausladenden Pinien gelegenen Ferienvillen, mit atemberaubendem Ausblick aufs Meer, kristallklaren Swimmingpools und weitläufigen, üppig blühenden Gärten. Dort leben glückliche, reiche Menschen, habe ich immer glauben wollen – und dass Julian und Tammy dazugehören. Doch das hat sich als Illusion herausgestellt.

Sechs Wochen vor dieser Sache hatte ich was mit Claas angefangen, muss ich vielleicht noch erwähnen.

Du musst dir Claas wie den lässigen Überflieger vorstellen, der in allen Fächern brilliert. Genau – schlaksig, mit braunen, wirren Locken, Hornbrille, einem meist spöttischen Grinsen im Gesicht und einem Blick aus den Augenwinkeln, der einem das Gefühl vermittelt, er wird gleich eine intelligente, witzige Bemerkung über dich machen und du denkst dir am besten jetzt schon eine schlagfertige Antwort aus.

Unsere Beziehung begann auf intellektueller Ebene, um das mal so auszudrücken. Ich bin nämlich auch eine Überfliegerin.

Claas gegenüber musste ich mich von Anfang an nicht dümmer geben, als ich bin – obwohl mir meine Mutter schon als kleines Mädchen mit dem altmodischen Horrorszenario drohte, als zu kluge Frau würde ich keinen abbekommen, ich würde nur alle verschrecken. Sie ist in manchen Dingen sehr altmodisch, reaktionär fast, aber das nur so nebenbei. Mir gefiel es, intelligent zu sein und von den Leuten für intelligent gehalten zu werden.

Mit Claas, den ich als Bruder Carolins kennenlernte, konnte ich wie mit sonst niemandem stundenlang über soziokulturelle Hintergründe des Zusammenbruchs irgendeines Weltreichs diskutieren oder über die Auswirkungen der Quantentheorie auf die zukünftige Medizin. Ihn interessierte das genauso wie mich.

Wenn wir uns richtig in Rage diskutiert hatten, küssten wir uns – und manchmal auch ein bisschen mehr.

Er war mein erster richtiger Freund, muss ich gestehen. Also der erste, mit dem ich einen echten freiwilligen Zungenkuss ausgetauscht habe –, eben nicht so einen wie den von dem Arschloch in der Jugendfreizeit, wenn du verstehst, was ich meine.

Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als Claas kurz vor den Sommerferien sagte: »Ein Freund von mir, dem ich Nachhilfe gebe, hat mich ins Ferienhaus seiner Eltern in Südfrankreich eingeladen. Ich hab mir gedacht, es wäre cool, wenn wir zusammen fahren.«

Und ich sagte: »He, cool.«

Ich hab die Schultage bis zu den Ferien gezählt, und zwar nicht nur einmal am Tag, wie sonst, sondern mindestens zehnmal am Tag. Ja, ich konnte es nicht mehr abwarten, endlich meinen Rucksack zu packen und mit Claas nach Südfrankreich abzuhauen. Die letzten Wochen hab ich zwei Schichten im Cafe gearbeitet, um noch das nötige Geld zusammenzukriegen. Und ich hasse diese Arbeit. Ich hasse den Geruch nach süßem Kuchen und milchiger Sahne, nach Putzmittel, mit dem nachher das Kuchenbuffet sauber gemacht werden muss, ich hasse meinen Chef, der die Frauen anglotzt, und ich hasse seine dauergewellte Mutter, die hinter dem Tresen über jede Portion herausgegebenes heißes Wasser wacht, als wäre es ein Goldbarren. Man kann sich also vorstellen, wie viel mir diese Reise wert war.

Ob ich in Claas verliebt war? Ich glaube, dass ich einfach davon ausgegangen bin, ja, weil es normal gewesen wäre. Schließlich passten wir doch zusammen. Beide Einserschüler, Außenseiter und wir beide hatten ehrgeizige Zukunftspläne. Ich wollte unbedingt Dolmetscherin bei der UNO werden und er, er wollte raus aus seiner spießigen Familie, hinaus in die Welt, am besten als Diplomat.

Und außerdem hat man sich doch in unserem Alter zu verlieben und einen Freund zu haben, oder?

Frankreich also. Bevor Claas und ich bei den Geschwistern eintrafen, hatten Tammy und Julian die Villa zum ersten Mal eine ganze Woche für sich allein. Ihre Mutter musste sich in einem Luxus-Wellnesshotel von einer Knie-OP erholen und ihr Mann, Dr. Wagner, Notar mit diesem typischen Ich-weiß-wie-die-Welt-funktioniert-Lächeln – ich hab ein Foto gesehen –, leistete ihr dabei Gesellschaft. Claas, der ja Julian Nachhilfe gab, war übrigens ziemlich beeindruckt von Dr. Wagner – und Dr. Wagner angeblich von ihm.

Gleich beim ersten Zusammentreffen mit den Geschwistern habe ich für einen Moment ein seltsames Gefühl gehabt.

Ich glaube, es war ihre Schönheit und Vitalität, die mich beeindruckte – und mir gleich darauf suspekt erschien. So, als müsste sich hinter dieser blendenden, leuchtenden Fassade etwas Düsteres, Hässliches verstecken.

Hinzu kam die fast unheimliche Ähnlichkeit. Dabei waren sie keine Zwillinge – Julian war fast anderthalb Jahre älter als seine Schwester. Aber beide hatten das gleiche weiche, leicht gelockte goldblonde Haar, die gleichen leuchtenden blauen Augen, dieselbe glatte und sich in der Sonne so mühelos tönende Haut. Und den gleichen Mund mit den vollen Lippen, die sich beim Lachen weit dehnten und perfekte kieselweiße Zähne freilegten. Sie trainierten ihre Körper auf mörderischen Mountainbike-Touren, steilen Klettersteigen, sie fuhren Snowboard, konnten endlose Strecken schwimmen und waren in all diesen Sportarten auch noch gut. Sie hatten einen Code aus einzelnen Worten, die für uns nicht viel bedeuteten, mit denen sie sich aber ganze Geschichten erzählten, sie warfen sie sich zu wie andere Bälle und jeder musste sich unweigerlich von ihnen ausgeschlossen fühlen.

Ihre schulischen Leistungen waren nicht ganz so überzeugend, erfuhr ich von Claas. Julian musste für das bevorstehende Abi-Jahr ziemlich viel aufholen – wofür sein Vater wie gesagt Claas engagiert hatte und bezahlte –, weshalb er seinem Sohn vorschlug, Claas – auch gern mit Freundin – ins Ferienhaus der Familie einzuladen.

Das Ferienhaus ist eine exzentrische Villa. Und, ich bin sicher, ohne dieses Haus wäre es wohl nie so weit gekommen, wie es gekommen ist. In den 1930er-Jahren wurde sie von einem wahrscheinlich mindestens genauso exzentrischen Musiker erbaut. Er musste ziemlich romantisch veranlagt gewesen sein, sonst hätte er sich nicht einen solchen Turm auf die erste Etage gebaut und auch nicht diese beiden dramatischen Sphinxe als Wächter auf die Terrasse gesetzt. Und erst der Pool! Zehn Meter lang und vier Meter breit, mit einer bequemen Treppe zum langsamen Eintauchen, Delfinmosaiken an Boden und Seitenwänden. Man hätte glauben können, man wäre im antiken Griechenland. Sogar der Wasserzufluss kam nicht aus Plastikdüsen, sondern aus drei geneigten Amphoren.

Schon im ersten Augenblick wurde mir klar, dass nicht nur die Menschen ihre Umgebung formen, sondern die Beziehung auch in der anderen Richtung funktioniert, dass die Umgebung die Menschen formt. Lebt man in einem Schloss, fühlt man sich recht schnell erhaben und auserwählt, glaubt, man kann sich alles erlauben und kann andere wie Leibeigene befehligen – lebt man in einer Blechhütte, weiß man, dass man durch Dreck und Unrat waten muss, um zu überleben und irgendwie weiterzukommen.

Ich denke an die Familie von Claas. Wie oft bin ich nach der Schule zu Carolin zum Hausaufgabenmachen gegangen. Ich glaube, seit der siebten Klasse. Bei Claas und seiner Familie drehte sich immer alles ums Geld. Ob die Kreditkartenrechnung fällig wurde, Telefon, Strom, Kabelfernsehen bezahlt werden mussten, die Rezeptgebühr beim Arzt waren Diskussionsgrund, das Benzin fürs Auto, die Miete ... von neuen Klamotten gar nicht zu reden.

Sein Vater arbeitete in der Stadtverwaltung und verdiente nicht das große Geld und seine Mutter hatte eine Halbtagsstelle als Sprechstundenhilfe bei einem Hautarzt.

Wie hätte wohl Carolin diese Villa in Les Colonnes gefunden, die zehn Monate im Jahr über leer steht und in deren Wohnzimmer ihre Dreizimmerwohnung reinpassen würde? Claas jedenfalls, daraus machte er kein Geheimnis, hasste seine Eltern für ihre Kleinbürgerlichkeit und dafür, dass sie seiner Meinung nach nicht genug aus ihrem Leben gemacht hatten.

Und hier, in der Villa, mit Julian und Tammy, konnte er endlich jemand anders sein. Auch ich habe geglaubt, hier etwas anderes leben zu können. Und so ist es ja auch gekommen. Nur ist der Traum vom anderen Ich in einen Albtraum umgeschlagen, von einem Moment auf den anderen.

Uns gehört der Sommer, haben wir gedacht. Claas und ich – und Julian und Tammy. Und er wird nie enden, er wird unser ganzes Leben lang dauern, so fühlten wir uns. Aber jener Sommer endete von einer Sekunde auf die andere, noch lange bevor sich die Blätter herbstlich färbten und morgens ein Dunstschleier auf dem aufgewühlten Meer lag.

3

In den Siebzigerjahren ging die Villa samt Inventar in den Besitz eines englischen Schriftstellers über – eine mysteriöse Gestalt, die noch von Bedeutung sein wird –, der plötzlich verschwand. Seine Frau beschloss irgendwann wohl, er sei tot, und verkaufte das Haus an die Wagners. Ich habe mich unzählige Male gefragt, ob alles anders gekommen wäre, wenn wir das mit dem Schriftsteller nicht gewusst hätten. Dann wäre die Villa eine extravagante Ferienvilla gewesen, aber so umgab sie von Anfang an ein düsteres Geheimnis, das eine eigentümliche Anziehung auf uns ausübte.

Als ich wieder zu Hause war und nachts nicht schlafen konnte, stand ich oft auf, ging zum Fenster, starrte auf den dunklen, stummen Wohnblock und den Schuhladen gegenüber und dachte: Wir haben es vermasselt.

Ich versuchte, den Moment zu finden, in dem sich unser Schicksal gegen uns gewendet hat. Vielleicht gab es mehrere Momente, vielleicht hat sich auch gar nichts gewendet, vielleicht war alles von Anfang an, von unserer Geburt an so angelegt. Was, wenn es einfach unser Schicksal war?

Das Leben gibt dir, was du brauchst, hat meine irische Großmutter immer gesagt, wenn ich die Ferien über bei ihr war und sie mir das Kartenlegen beibrachte.

Wie in einer ewigen Bildschleife haben sich seit unserer Rückkehr immer wieder die Erinnerungen an die Tage in Frankreich in meinem Kopf abgespult – und irgendwann fing ich an, mir auch die Tage vorzustellen, bevor Claas und ich in der Villa eintrafen:

Die erste Woche hatten Julian und Tammy die Villa für sich.

Julian liegt auf dem Rücken, hat die Arme seitlich ausgestreckt und klatscht von Zeit zu Zeit mit den Handflächen auf das glitzernde Wasser des Swimmingpools. Sein Handgelenk fühlt sich ungewohnt leicht an, seitdem er das gelb-grüne geflochtene Freundschaftsarmband abgerissen hat. Heute, vor einer Woche. Aber eigentlich, eigentlich ist es besser so. Gina und er hatten sich nur noch gestritten. Er schiebt die Ray Ban wieder auf die Nase und genießt das sanfte Wogen der Luftmatratze auf dem Wasser. Das Leben kann so einfach sein. Endlich kann er wieder, wenn er zurück in München ist, mit seinen Kumpels ins Sausalitos gehen, trinken, feiern und snowboarden – und mit anderen Mädels flirten. Er streckt den Fuß ein wenig aus und versetzt der Luftmatratze seiner Schwester einen leichten Stoß.

»He!«, protestiert sie, er lacht.

»Mann, du erschreckst mich jedes Mal«, sagt sie verärgert. Tammy sonnt ihren Rücken und hat die Arme unter der Stirn verschränkt.

»Das mach ich nur, damit du dich mal rührst und keinen Sonnenbrand kriegst«, gibt er zurück.

»Krieg ich eh nicht«, murrt sie.

»Sicher?«

Tammy antwortet nicht, dreht ihren Kopf in die andere Richtung und döst wieder ein. Er kennt ihre Träume. Sie ist Model in L. A. und verdient Millionen. Sie strahlt überlebensgroß von Hauswänden und fährt mit ihrem Porsche Cabrio auf die coolsten Partys, umgeben von lässigen Typen, die Kohle haben. Julian schließt die Augen. Vielleicht sollte er einfach auch nach L. A. gehen, vielleicht fände er etwas, was ihm Spaß machen würde. Etwas mit Sport vielleicht oder mit Fotos. Oder er könnte auch modeln.

Ein winziger Vogel auf der Spitze der Zypresse schlägt ein seltsames Klopfen an. Sonst ist es still. Da kein Wind geht, dringt das Meeresrauschen nicht zu ihnen herauf, obwohl man von hier oben das Meer bis zum Horizont sehen kann.

Eines Nachts hab ich hier zu Hause diesen Vogel gehört. Oder ich habe es mir eingebildet. Aber ich musste aufstehen und aus dem Fenster hinaus auf die dürren Bäume sehen. Natürlich hab ich keinen Vogel entdeckt, aber ich habe noch eine ganze Weile auf den Wohnblock gestarrt, in die dunklen Fenster. Warum ist nur alles so schiefgelaufen?

Aber zurück zur Villa.

Julian, stelle ich mir wieder vor, dreht sich auf den Bauch und sieht ins kristallklare Wasser. Auf der Luftmatratze treibt er über dem Bodenmosaik mit dem springenden blauen Delfin dahin und denkt an seine Mutter, die vor vier Jahren beim Anblick des Delfins einen Entzückensschrei ausstieß und sagte: »Dieses Haus will ich und kein anderes!«

Julian erinnert sich, wie er mit Tammy sofort durch den verwilderten Garten streifte auf der Suche nach verborgenen Höhlen oder einer Leiche. Denn der Vorbesitzer der Villa – eben jener Schriftsteller – war von heute auf morgen verschwunden und keiner wusste, ob er nicht vielleicht sogar hier gestorben war.

Nachdem sie damals keine Leiche im Garten fanden, erinnert er sich, suchten sie im Haus weiter. Julian schmunzelt, als er daran denkt, wie Tammy, damals noch dreizehn, hinter ihm herschlich, wie sie jede Truhe, jede Wand abklopften und in jeden Schrank sahen, ohne eine grausige Mumie, ein paar Knochen oder einen Schädel zu finden.

Julian lässt wieder die Hände ins Wasser klatschen. Ein paar Spritzer landen auf Tammys gebräuntem und durchtrainiertem Rücken.

Jetzt im August brennt die Sonne so erbarmungslos, dass sogar Sonnenanbeter wie Tammy und Julian gern unter den Schatten des Sonnensegels flüchten, später, am Nachmittag, sogar ins Haus. Selbst nachts kühlt es kaum ab, sodass sie am Morgen schweißgebadet und müde aufwachen. Der Gärtner Vincent, der während des Jahres und der Abwesenheit der Wagners nach dem Rechten sieht, meinte gleich bei ihrer Ankunft, so einen Sommer habe es schon lange nicht mehr gegeben. Er erzählte ihnen etwas von Hitzetoten in Marseille und dass das mit der Klimaerwärmung noch ein ganz, ganz schlimmes Ende nähme. Mit einem Blick auf Julian und Tammy fügte er hinzu, er wäre froh, dass er nicht mehr so jung sei wie sie. Er würde die schreckliche Katastrophe, wenn die Meere alle Inseln und Küstenorte unter sich ertränkten, nicht mehr miterleben.

Die Geschwister zuckten bei seiner Bemerkung die Schultern, aber gleichzeitig spürten sie das nervöse Flirren der Hitze. Etwas lag in der Luft, sie wussten nur nicht, was.

Hab ich schon erwähnt, dass man vom Pool aus auf die Gartenmauer sehen kann, hinter der das Grundstück jäh zu der gewundenen Straße abfällt, die nach Les Colonnes und hinunter zum Meer führt? Links der Gartenmauer, auf dem Grundstück nebenan, wuchert ein verwilderter Garten. Und im Laufe der Jahre hat eine übermächtige lilafarbene Bougainvillea das Dach des Hauses dort überwachsen.

Von der Villa der Wagners hat man eine geradezu unverstellte Aussicht aufs Meer. Das ist ein überwältigender Anblick. Frei. Ohne Grenzen. Erhaben. Genauso fühlten wir uns. Als könnten wir nach unseren eigenen Gesetzen leben, nur weil wir jung und die einen von uns intelligent und klug und die anderen schön und reich waren.

Doch wir haben uns getäuscht.

An diesem Nachmittag am Pool – so stelle ich es mir vor – fragt Tammy von ihrer Luftmatratze aus: »Was essen wir heute Abend?«

»Ich hätte Lust auf Nudeln«, sagt Julian. Nudeln machen glücklich, hat er irgendwo mal gelesen. Kann ja nicht schaden, ein bisschen Glück zu sich zu nehmen.

»Nudeln? Wenn du sie kochst«, gibt seine Schwester träge zurück.

Julian kocht gern. Für Freunde, manchmal sogar mit seiner Mutter.

Julian lässt seinen Blick über den Garten wandern. Sie waren erst ziemlich spät aus ihren Betten gekrochen, verkatert von dem Abend mit den Geschwistern von rechts nebenan, die heute mit ihren Eltern zurück nach Deutschland gefahren sind.

Den Rand des Pools sowie die Terrasse mit der großzügigen Sitzlandschaft aus Korbgeflecht schmücken noch die Reste der gestrigen Party: Leere Gläser, Wodka- und Champagnerflaschen, Red-Bull-Dosen, ein paar Teller mit Essensresten, Wachsstummel abgebrannter Kerzen, in den Oleander- und Hibiskusbüschen hängen Chipstüten. Auf den Stacheln der Kakteen neben der steilen Natursteintreppe, die zur Terrasse führt, sind scharlachrote Papierserviettenfetzen aufgespießt.

Julian lässt das Wasser aus seiner Hand fließen, als wäre es Sand. »Morgen muss wieder Chlor rein. Die Sonne schleckt das Zeug weg wie Eiscreme. He, wir sollten auch Eis kaufen. Chunky Monkey oder Chocolate Brownie, na?« Er schließt die Augen, schmeckte die Schokolade, die Banane und die Kuchenstückchen auf der Zunge.

»Chunky Monkey oder Chocolate Brownie?«, wiederholt er lauter.

»Hm?«

Tammy gibt wieder keine Antwort. Er seufzt. »Okay, also Chunky Monkey und Chocolate Brownie.« Er grinst zufrieden. Es ist wunderbar, sich um nichts Ernsthafteres Gedanken machen zu müssen. Französischlemen zum Beispiel. Abi – was ist das? Gina – wer ist das?

Tammy gibt ein leises Brummen von sich, als ihre blaue Luftmatratze den Beckenrand berührt. Sie streckt die Fußzehen und stößt sich von den Fliesen ab. Ihre Matratze treibt auf die Mitte des Pools zu, stößt sanft an Julians Matte, worauf Julian sie zurückschubst.

»Hast du schon mal überlegt, wie es wird, wenn Claas und Mel kommen?«, fragt er. »Ich meine, ich hab mich gerade an den Zustand gewöhnt.«

Tammys blaue Luftmatratze eckt an seine rote.

»Ans Chillen.« Er schiebt die Sonnenbrille aufs Haar, das während des Sommers noch heller geworden ist, und blinzelt ins grelle Sonnenlicht. »Man hat überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Vielleicht sind wir schon zehn Jahre hier. Oder zwanzig.«

Tammy gähnt. »Das wär mir aufgefallen.«

»Vielleicht wär’s gar nicht so schlecht.« Julian lässt die Brille wieder herabgleiten, faltet die Hände auf seinem flachen Bauch, den er selbst in den faulen Ferien trainiert.

»Was?«, fragt Tammy träge.

»Einfach hier so zu leben. Nichts tun.«

»Hm.« Tammy lässt die schlanken, muskulösen Arme rechts und links neben der Matratze ins Wasser hängen.

»Man bräuchte ja nur ein bisschen Geld fürs Überleben. Essen und so. Sprit für ein Auto«, träumt Julian weiter.

Der winzige Vogel auf der Zypresse stimmt wieder seinen Klopfgesang an.

»Wir könnten die Gegend erkunden«, fährt Julian fort, »wenn wir mal rauswollten. Weißt du noch, letztes Jahr wollten wir die lange Radtour machen, aber dann kam dieser ätzende Regen.«

Tammy dreht sich auf den Rücken. Ihr langes Haar wogt auf dem Wasser, er denkt: Wie ein Teppich aus goldenen Algen – und sagt: »Wir würden unser Zelt mitnehmen und Kochgeschirr. In der Speisekammer muss noch die alte Box mit dem Campingzeug sein. Mit diesen roten Emaille-Tassen.«

»Die man gar nicht anfassen kann, wenn was Heißes drin ist«, sagt Tammy und ihre Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln.

Julian lacht leise. »Ja. Und dieser wacklige Campingkocher ...«

»... bei dem Mama immer panische Angst hat, dass er explodiert.« Mit niemandem kann er so lachen wie mit Tammy. Gleichzeitig. Mit denselben Bildern und Sätzen im Kopf.

»Wir müssen sie mal anrufen«, meint Julian jetzt. »Fragen, wie es ihr geht. Kannst du dir vorstellen, mit so einem Metallknie rumzulaufen?«

»Will ich mir nicht vorstellen« Tammy bleibt mit geschlossenen Augen liegen.

»In Japan haben sie Anzüge mit solchen Gelenken. Du ziehst einfach diesen Roboteranzug an und kannst wieder laufen. Oder kannst schweres Zeug schleppen. Einfach so. Cool.« Er hebt den Kopf. »Diesmal rufst du aber an.«

»Ich würde vor Langeweile sterben, wenn wir immer hierblieben«, sagt Tammy und gähnt.

Das Haar seiner Schwester umspielt seine im Wasser ruhende Hand wie zarter Tang. Trotz des etwas kühleren Wassers – er hat am Morgen frisches hinzulaufen lassen – schwitzt er. Die Mittagshitze ist inzwischen so heftig, dass sie das Harz in den Pinienstämmen und -zapfen aus den feinsten Rissen und Astlöchern presst und der würzige Duft die Luft erfüllt.

Auf einmal erfasst Julian eine Unruhe, die er sich nicht erklären kann. Sein Herz klopft unregelmäßig und viel zu heftig. Er zieht seine Hand aus Tammys Haar zurück und gleitet von der Matratze ins Wasser. Dann holt er tief Luft und lässt sich auf den blauen Mosaikboden sinken. Wie ein Fisch, der am Meeresboden Beute oder ein Versteck sucht, durchpflügt er mit kräftigen Arm- und Beinzügen zweimal den Pool. langsam fühlt er sich besser. Er sieht hinauf. Die beiden Luftmatratzen sind hier unten zu dunklen viereckigen Schatten geworden, während die Sonne wie durch ein Brennglas auf den Pool-Boden scheint. Und still ist es. Nur die Wasserpumpe brummt leise und vertraut. Ruhe erfüllt ihn wieder. Ihm ist danach, da unten zu bleiben. Alles ist so weit weg und kann ihm nichts anhaben.

Dass mir das alles nichts anhaben kann, das habe ich auch geglaubt, als ich mit Claas bei Julian und Tammy ankam: dass ich mit alldem nichts zu tun habe, dass ich mich zurücklehnen und zuschauen – und einfach meinen Spaß haben kann. Aber alles hat seinen Preis – auch dieser Sommer.

Als Julian wieder die Wasseroberfläche durchstößt, so male ich es mir aus, ist ihm, als wäre er stundenlang fort gewesen. Vom Meer ist eine leichte Brise aufgekommen, die frische, kühlere Luft heranweht.

Er schüttelt das nasse Haar, schnickt das Wasser aus seinen Ohren und zieht seinen trainierten Körper mühelos auf den Beckenrand hinauf. Tammy liegt noch immer auf ihrer Luftmatratze.

»Fühlst du dich manchmal auch irgendwie seltsam. Irgendwie verloren im Universum?«, fängt er an.

»Was?«, fragt sie teilnahmslos, ohne den Kopf zu heben. Er verzichtet darauf, die Frage zu wiederholen.· Er schüttelt noch mal den Kopf und springt auf die Füße. »He, was hältst du von einem Red Bull ohne Wodka zum Wachwerden?«

Tammy hebt eine Hand und streckt zustimmend den Daumen. Er geht tropfnass zur Veranda, in deren hinterem Teil sich eine Bar befindet, die ihr Vater stets mit einer ordentlichen Auswahl an Whiskey, Tequila, Wodka, Gin, Martini, Campari und Rum bestückte. Nur diesmal hat er – aus ersichtlichen Gründen – keinen Nachschub mitgebracht. Aber es sind immerhin noch Reste da. Julian nimmt zwei große Gläser aus dem Schrank unter der Theke und holt die Red-Bull-Dosen und Eiswürfel aus dem Kühlschrank. Von hier aus sehen der Pool mit den Liegen, den blühenden Büschen, der Steinmauer und dem blauen Strich Meer im Hintergrund aus wie die Werbung in einem Luxushotelprospekt. Genießen Sie die beste Zeit des Jahres, Sie haben es sich verdient. Er öffnet die Dosen und klopft die Eiswürfel aus der Plastikschale. Tammy steigt aus dem Wasser. Wie braun sie ist. Brauner als er. Und wie lang und muskulös ihre Beine sind. Das ist ihm erst dieses Jahr aufgefallen. Er sieht ihr zu, wie sie den Kopf neigt und mit beiden Händen ihr langes blondes Haar auswringt, wie sie es zu einem Zopf dreht und ihn über die Schulter legt. Er beobachtet, wie sie sich auf einer der weißen Liegen ausstreckt, langsam und geschmeidig wie eine Katze. Ihre Figur ist perfekt. Absolut perfekt. Der Gedanke an Gina drängt sich wieder durch seine Gehirnwindungen und versetzt ihm einen dumpfen Schmerz in der Solarplexus-Gegend. Gina ähnelt Tammy ein bisschen, ein ähnliches Lachen, ähnlich sportlich, ihr dunkles Haar erinnerte ihn immer an den schweren Magahonischreibtisch in der Kanzlei seines Großvaters. Und sie hatte immer so gut gerochen. Ach – was soll’s, soll sie doch mit diesem Angeber von der Sporthochschule rumhängen. Nach ein paar Wochenenden, an denen sie ihn von der Tribüne aus beim Schwimmen hat zusehen müssen, würde er ihr sicher bald langweilig.

Da sieht Tammy zu ihm herüber. Er fängt ihren Blick auf, lächelt flüchtig und widmet sich wieder den Drinks.

Ob er ihr sagen soll, dass sie ihr Oberteil anziehen soll?

Nein, was würde sie dann von ihm denken? Sie und Mama schwammen und sonnten sich hier und selbst unten am Strand immer oben ohne. Sie würde es ziemlich seltsam von ihm finden, wenn er plötzlich so ... so uncool wäre.

Entschlossen schnappt er die beiden eiskalten Gläser und schlendert grinsend zu ihr hinüber. »Ich habe die Drinks auf Ihre Zimmerrechnung gesetzt.«

Sie zieht die fein geschwungenen Augenbrauen hoch und erwidert gespielt verführerisch: »Ach und ich dachte, ich hab all-inclusive gebucht.«

»Wirklich? Dann erfülle ich Ihnen natürlich gern jeden Wunsch ...«

Er nimmt einen ordentlichen Schluck und legt sich auf die heißen Steinplatten ein wenig abseits der Liegestühle. Dann konzentriert er sich auf die kleinen weißen Wolken, die vom Meer heranziehen wie eine friedliche Herde Schafe.

Den Nachmittag verbringen sie wegen der Hitze drinnen im Haus. Tammy ist mit dem iPod im Ohr auf der Couch eingeschlafen, während er, Julian, mit der Originalfassung von Candide auf seinem Bett liegt und sich abmüht, dem Inhalt zu folgen. Nach knapp einer Stunde gibt er es auf. Es ist ja immer noch Zeit, sagt er sich und weiß, dass er sich etwas vormacht. Wenn er sich nicht anstrengt, kann er sein Abi nächstes Jahr vergessen. Er wirft einen Blick auf sein iPhone, das nutzlos auf dem polierten Nachttisch liegt. Man müsste ein Stück die Straße hochgehen oder sich an die entfernteste Ecke des Pools auf einen Stuhl stellen, um Empfang zu bekammen. Aber dazu hat er jetzt keine Lust. Es ist ein seltsames Gefühl, völlig abgeschnitten von der Welt zu sein. Er legt das Buch auf den Nachttisch mit den gedrechselten Beinen und fällt gleich darauf in einen Schlaf voller beunruhigender Träume, an die er sich aber schon nicht mehr erinnern kann, als er zwei Stunden später schlecht gelaunt aufwacht.

Es wird Zeit, dass Claas und Mel kommen, denkt er. Obwohl Claas ein intellektueller Ehrgeizling ist, kann er sich auch wie ein Kumpel benehmen. Außerdem ist Julian auf seine Freundin Mel – also auf mich – gespannt. Claas hat ihm auf seinem Handy ein Foto gezeigt. Aber da erkannte man nicht viel drauf. Das Bild ist zu weitwinklig aufgenommen und außerdem geblitzt. Dabei macht Claas sonst ziemlich gute Fotos, denkt Julian. Und: Hoffentlich ist sie nicht so eine Zicke.

Sein Mund ist trocken vor Durst. Aber er hat keine Lust aufzustehen. Träge und unentschlossen betrachtet er die hellblau-goldene Streifentapete, den gewaltigen alten Schrank mit den geschwungenen Spiegeltüren und den Schnitzereien, den dazu passenden Stuhl in der Ecke neben der Tür, über den er seine Klamotten geworfen hat, den Sekretär mit den Schubfächern und den anderen Schulbüchern, die er seit der Ankunft noch nicht angerührt hat.

Es gibt eine Regel hier im Haus, die nie gebrochen werden darf. Dieses Versprechen hatte ihre Mutter allen abgenommen, einschließlich ihrem Mann: Haus und Pool sollten unverändert bleiben. Keine Poster, keine Bilder dürften angebracht werden, keine anderen Tapeten (ein paarmal hatten sie neu tapezieren müssen, aber stets hatte seine Mutter alles darangesetzt, die gleiche oder zumindest eine möglichst ähnliche Tapete zu bekommen).

Auf dem Boden im Parterre, also im Eingangsbereich, im großen Wohnraum mit offenem Kamin und in der Küche ist ein Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Fliesen verlegt, in den oberen Räumen dunkel gebeiztes Parkett. In der Küche hängen zwar wie früher polierte Töpfe und Pfannen an der Wand, aber auf einen modernen Kühlschrank und einen Elektroherd hat dann selbst Frau Wagner nicht verzichten wollen. Auch einen Fernseher, wenn auch ein altes Teil gleich neben dem Kamin hat sie zugelassen. Doch wenn Julian am langen schweren Esstisch sitzt, über sich den Leuchter aus Hirschgeweih, kommt er sich vor wie in einem Film. Mit Matt Damon. Dieser Typ, der in die Rolle seines Freundes schlüpft.

»He!« Tammy reißt die Tür auf. Er fährt hoch. Er hat ihre Schritte auf dem knarrenden Parkett gar nicht gehört. Sie trägt ein Paar knappe Sportshorts und das enge Trägershirt, das er ihr mal aus Australien mitgebracht hat, und wirft seine Sportschuhe auf sein Bett.

Sie grinst ihr Piratengrinsen, so nennt er es immer, weil es was Verwegenes und manchmal etwas Hinterhältiges hat.

»Meinst du, dieser Schriftsteller«, sagt er noch immer in Gedanken, »dem dieses Haus gehört hat, lebt noch irgendwo, unter einem anderen Namen?«

»In drei Minuten geht’s los.«

»Oder vielleicht hat ihn jemand umgebracht? Ich meine, wieso verschwindetjemand so einfach?«

Tammy zuckt die Schultern. »Ist mir egal, ich geh jetzt biken und du kommst gefälligst mit, sonst werden wir fette Alkis wie in den Doku-Soaps. Ich fühl mich schon, als wär ich eine Stufe in der Evolution tiefer gerutscht.«

»Was wär daran so schlimm, ein Affenleben zu führen?«

»kh mag keine behaarten Hintern!«

»He, es gibt auch Paviane und die haben ...«

Sie hat sich schon umgedreht. »Du hast noch zwei Minuten, sonst fahr ich allein, Affenarsch!«

4

In gewisser Hinsicht, glaube ich, war dieser Fahrradausflug bedeutungsvoll, die beiden sprachen jedenfalls mehrmals davon und womöglich hätten wir sonst auch nicht nach diesem Alarm das Haus durchsucht und – ja – das Buch gefunden.

Die Biketour der beiden habe ich mir immer so vorgestellt:

Im Nachmittagslicht strahlt das Gebirge, das sich hinter der Villa entlang der Küste wie ein Rücken erstreckt, in einem warmen Bronzeton. Die Schatten sind länger geworden, und als Julian über die Schulter zurücksieht, weiß er, dass Tammy, wie immer, wenn sie sich selbst anzutreiben versucht, gegen ihren eigenen Schatten anradelt. Dieser Trick spornt – jedenfalls solange sie die Sonne im Rücken hat – sie jedes Mal zu Höchstleistungen an. Sie tritt in die Pedale, bis die brennenden Schmerzen in ihren Oberschenkeln und Lungenflügeln selbst ihr zu viel werden. Noch ein paar Meter hält sie durch, überholt Julian, dann fährt sie an den Wegrand und lässt sich vom Sattel rutschen. Julian ist nur knapp hinter ihr.

»Schon fertig?«, fragt er im Vorbeifahren.