Spurlos - Manuela Martini - E-Book

Spurlos E-Book

Manuela Martini

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Beschreibung

Shane kennt dieses Zeichen nur zu gut. Vor acht Jahren löste er einen ähnlichen Fall. Doch der Täter ist schon lange tot. Hat er damals den Falschen hinter Gitter gebracht?Während er im tropischen Northern Territory ermittelt, kann Detective Tamara Thompson nicht glauben, dass ihr Partner sich geirrt hat. Auf eigene Faust rollt sie den alten Fall noch einmal auf ... (erschienen 2007 unter dem Titel Off Road)

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Seitenzahl: 444

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Manuela Martini

Spurlos

Shane O'Connors fünfter Fall

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Prolog

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MONTAG, 11. JUNI

DIENSTAG, 12. JUNI

Mittwoch, 13. Juni

Donnerstag, 14. Juni

Freitag, 15. Juni

Samstag, 16. Juni

Sonntag, 17. Juni

Impressum neobooks

Impressum

M. Martini

Spurlos

Ein Shane O’Connor Krimi

Texte: © Copyright by
Manuela Martini

www.manuelamartini.de

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Tag der Veröffentlichung: 17.9.2014

Prolog

Ganz plötzlich kommt das Brüllen und Schreien, Donnern und Tosen, Heulen und Fauchen, nimmt von ihm Besitz, erfüllt ihn, so dass er nicht mehr denken kann. Aber das Schlimmste kommt in den kurzen Momenten der Stille zwischen dem Donnern und Brüllen: Die Stimmen. Sie nisten sich ein, lassen ihn nicht mehr los, quälen ihn, bis er ihnen gehorcht hat.

Immer hofft er auf den Widder, aber er ist noch nie erschienen.

1

Alison Griffith hatte das Seitenfenster heruntergelassen und ließ den Fahrtwind ihr kurzes, blondes Haar zerzausen, und den dünnen Schweißfilm, mit dem man in diesem Klima leben musste, auf ihrer Haut kühlen. Noch um acht Uhr am Morgen lag ein Dunstschleier in der Luft. Obwohl jetzt im Juni längst nicht die Wet-Season angebrochen war, jene sechs Monate, in denen es besonders schwül war, der Regen für das ganze Jahr fiel und im schlimmsten Fall Zyklone die Stadt bedrohten, spendete die Nacht doch so viel Feuchtigkeit, dass überall in den Gärten die weiß blühenden Frangipani, die üppigen Holunderbüsche, die fleischigen Gummibäume, und andere tropische Blumen und Büsche die Hitze des Tages überstehen konnten.

Entlang des Tiger Brennan Drives, den sie in Richtung City nahm, glitzerte um diese Uhrzeit das Meer noch silbrig. Im Laufe des Tages würde es alle Blau-Töne von türkis bis dunkelblau annehmen. Im kleinen Hafen, schaukelten ein paar Fisch-Trawler, manche alt und aus Holz, andere makellos weiß mit chromblitzenden Geländern. Doch die postkartengleiche Ansicht konnte ihre düsteren Gedanken nicht vertreiben.

Sie nahm die Anhöhe, auf der sich die City von Darwin erhob und bog dann rechts in die noch kaum befahrene McMinn-Street ein. Nach ein paar hundert Metern steuerte sie links in die Einfahrt des länglichen, einfachen Gebäudes des Frog Hollow Centers for the Arts und parkte neben dem silberfarbenen alten Holden-Modell mit der Beule am rechten Kotflügel ihrer Kollegin Meg Rowan. Sie zog den Schlüssel ab, doch anstatt wie gewöhnlich auszusteigen blieb sie sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe auf die blass gelb gestrichene Wand, vor der ein paar Büsche blühten. Sie wartete auf einen Ruck, einen Sprung der Zeit, hinüber in eine andere Gegenwart – oder in die alte Vergangenheit.

Um halb sieben heute morgen, als der Wecker klingelte, hatte sich noch alles wie sonst angefühlt. Ein böser Traum hatte sie geplagt und schlecht schlafen lassen, glaubte sie. Nach zwei oder drei Sekunden aber traf sie die Erinnerung an den vergangenen Abend mit voller Wucht. Ihr Leben war in sich zusammengestürzt, wie von Termiten befallene Holzhäuser plötzlich einknickten, obwohl man ihnen äußerlich kaum etwas angesehen hatte. Warum bloß hatte sie es nicht bemerkt? Weil sie es nicht bemerken wollte? Sie legte ihre Hände in den Schoß und schaute darauf, als könne sie die Betrachtung davor bewahren, sich ganz zu verlieren. Auf den Oberschenkeln spürte sie den Stoffhauch ihres hellgrünen vierhundertdreißig Dollar teuren Sommerkleids. Ihre gepflegten, pedikürten Füße mit den dezent perlmuttfarben lackierten Nägeln streckten sich in zweihundertfünfzig Dollar teuren Sandalen aus. Hatte sie all ihre Aufmerksamkeit auf solche Äußerlichkeiten konzentriert? Nein, da war auch Prudence, ihre siebzehnjährige Tochter, die sie liebte, da war das Haus – und - hatte sie nicht dafür gesorgt, dass alles in Ordnung gehalten, anständig gekocht wurde? Hatte sie nicht immer ihr Bestes getan – nun sicher nicht immer, aber doch meist – um ihren Mann glücklich zu machen? Und dann sein Verrat.

Sie blickte auf und sah sich selbst im Rückspiegel in die Augen. Du bist nicht die Einzige, Alison, murmelte sie, warum solltest du eine Ausnahme sein? Warum nicht?, schrie ihr Spiegelbild zurück, warum sollte ich KEINE Ausnahme sein?

Als sie ein Rinnsal von Schweiß zwischen ihren Brüsten am Bauch herunter rinnen spürte, machte sie endlich die Tür auf. Warme, feuchte Luft schlug ihr entgegen. Alles fiel ihr schwer: das Aussteigen, das Zuwerfen der Tür, ihre Schritte unter dem vorgezogenen Dach entlang und an den Eingängen der Abteilungen der verschiedenen Kunstbereiche vorbei, der Griff zur Tür des Writer’s Centers. Sie atmete tief ein und aus und hob ihr Kinn. Dann stieß sie die Tür auf.

Der vertraute Geruch nach Teppichboden, Papier, Druckertinte und elektronischen Geräten, das ungemütliche Licht der billigen Neonröhren, und die Enge des mit Kartons, Schreibtischen, Bürostühlen, Kopierern, Faxgeräten und Computern voll gestopften Raums – all das, was sie schon oft als störend empfunden hatte, liebte sie in diesem Augenblick. Hier fühlte sie sich heimischer als zu Hause.

„Hi Alison, auch so früh?“ der plumpe Körper Meg Rowans drehte sich auf einem wackligen Bürostuhl ihr zu. Sie war das Gegenteil von Alison. Unförmig, stämmig, farblos und schlecht gekleidet – und frisiert. Sie trug nie Make-up und immer flache Schuhe, die ihre in der Hitze anschwellenden Beine noch massiver erscheinen ließen. Ihre Brille war ein altes, längst aus der Mode gekommenes Modell mit zu großen und zu runden Gläsern. Ihre blasse Haut war mit rötlichen Hitzeflecken bedeckt. Das dunkelblonde Haar hatte sie einfach zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der schlaff auf ihren Nacken fiel. Meg hätte allen Grund haben können, auf sie, die attraktivere, jüngere, wohlhabende Alison, neidisch zu sein. Aber Neid, das hatte Meg ihr einmal anvertraut, war ein ihr fremdes Gefühl. Meg ging in ihrer Arbeit am Writer’s Center auf – und war glücklicht mit Nick verheiratet, einem drahtigen, nicht besonders großen Mann, der als Busfahrer für die Stadt arbeitete und der, so oft ihn Alison getroffen hatte, meist entspannt und guter Dinge war. Bevor Alison die Begrüßung erwidern konnte, sagte Meg:

„Oh – was Schlimmes?“, und sah sie mit ihren braunen Augen durch ihre große Brille an.

Alison hatte sich vorgenommen, nichts zu erwähnen, und die Sache mit sich selbst auszutragen.

„Komm, setz’ dich erst mal.“ Meg erhob sich. Ihr blaues, mit winzigen Sternchen gemustertes Kleid wogte um ihren massigen Körper als sie zur Kaffeemaschine ging. Alison ließ sich auf ihren Drehstuhl mit dem fadenscheinigen roten Stoff sinken. Ihr Widerstand fiel vollends in sich zusammen als Meg fürsorglich die Milch in der Tasse verrührte und sie ihr reichte.

„Matthew betrügt mich.“ Die Worte hörten sich fremd an. Nein, es konnte nicht sein, dass ihr, Alison, geborene van Oosterzee, so etwas passiert war.

Meg zog sich einen anderen, in der Mitte des Raums abgestellten Bürostuhl heran. „Bist du sicher?“

Alison nickte – und dann erzählte sie Meg alles.

Gestern war sie mit ihrer Schwester Christine im Deckchair-Cinema gewesen, einem unterhalb der City, nicht weit von der Stokes Hill Wharf, dem Kai an dem sich Restaurants angesiedelt hatten, entfernt gelegenen sehr beliebten Open-Air-Kino. Sie traf sich nicht oft aber doch in regelmäßigen einmonatigen Abständen mit ihrer jüngeren Schwester. Hätten sie in einer größeren und mehr Unterhaltung bietenden Stadt als Darwin gelebt, wusste Alison, hätten sie sich seltener getroffen. Sie waren einfach zu verschieden. Alles an der sechs Jahre jüngeren Christine war schriller und auffälliger als an ihr. War Alisons Haar honigblond, war das von Christine wasserstoffblond, trug Alison kurze Kleider, waren die von Christine geradezu obszön kurz und auch grell gemustert. Christine wog ein paar Kilo mehr als Alison und das machte sie, die auch fast zehn Zentimeter kleiner war, kompakter: Ihr Hals wirkte gedrungener, ihre Schultern waren breiter und ihre Füße größer.

Dennoch: Christine war durchaus nicht unattraktiv. Sie bewegte sich geschmeidig auf ihren dünnen Absätzen, hatte ein ansteckendes Lachen und brachte in jede langweilige Barbecueparty Schwung. Sie hatte kein Glück bei den Männern – nein, Alison berichtigte sich - sie hatte vielleicht zu oft Glück. Ihre Liebschaften lösten sich in nicht allzu großen Abständen ab und geheiratet hatte sie nur einmal. Phil, einen ehemaligen Cricket-Spieler. Diese Heirat hatte den Bruch mit ihrem Vater herbeigeführt. Dieses Ereignis lag nun schon acht Jahre zurück. Seitdem hatte sie an keiner einzigen Familienfeier mehr teilgenommen. Ihr Vater wiederum, seiner jüngeren Tochter was Dickköpfigkeit anging, nicht nachstehend, hatte nach dem Bruch jegliche finanzielle Unterstützung eingestellt. Nach den unterschiedlichsten Jobs war Christine seit einem halben Jahr in einem Friseurladen beschäftigt, und Alison hatte den Eindruck, dass ihr dieser Beruf endlich Spaß machte.

Sie hatten sich gerade mit einem Drink in die bequemen Liegstühle fallen lassen, und warteten mit der hereinbrechenden Dämmerung auf den Beginn des Films, als Christine den Strohhalm ihres Cocktails aus dem Mund schnippte und in beiläufigem Ton begann: „Ach, übrigens, Alison …“ Sie brach ab und ihr Blick flüchtete sich auf die Rücken der vor ihnen Sitzenden.

Alison erwartete Christines Bitte um eine finanzielle Hilfe, die sie natürlich so schnell wie möglich zurückzahlen würde. In Gedanken überschlug sie bereits einen Betrag, den sie entbehren könnte. Das auf ihren und Matthews Namen laufende Konto hätte sie nie ohne seine Zustimmung anzurühren gewagt. Und Matthew hätte ganz sicher nicht zugestimmt.

„Wie viel brauchst du?“, fragte Alison also, als Christine nicht weiter sprach. Da erst kehrte Christines Blick wieder zu ihr zurück. In ihren Augen lag ein seltsames Glühen und im Nachhinein fragte sich Alison, ob Christine diesen Moment besonders genoss. „Ich brauche kein Geld.“

Alison ignorierte den spitzen Unterton.

Christine saugte an ihrem Strohhalm.

„Ich hab’ übrigens deinen Matthew mit einer jungen Frau gesehen. Das Ganze wirkte ziemlich ... äh ... vertraulich.“

An das, was dann geschehen war, konnte sich Alison nur noch vage erinnern. Sie war wütend geworden, hatte Christine beschimpft, Matthew schlecht zu machen, und war dann aufgesprungen und gegangen. Ziellos war sie durch die Stadt gefahren, und erst, auf dem langen Stuart Highway entlang des Flughafengeländes war ihr klar geworden, dass ihre Schwester nichts dafür konnte.

Irgendwann fuhr sie heim, legte sich ins gemeinsame Bett. Spät in der Nacht als sie ihn kommen hörte, kauerte sie sich an den äußersten Rand des Bettes und stellte sich schlafend. Doch Matthew ging ins Gästezimmer. Am Morgen konnte sie ihm nicht in die Augen sehen. Sie fragte sich, ob dies derselbe Mensch war, den sie vor achtzehn Jahren geheiratet hatte, und wann sie aufgehört hatte, ihn genau anzusehen.

2

„Er weiß nicht, was er an dir hat!“ Meg schüttelte heftig den Kopf. Die roten Flecken auf ihrer Haut waren dunkler geworden, wie immer, wenn sie sich aufregte. Christine hatte ihr sogar den Namen der Frau genannt. Sie hieß Valerie Tate und war zweimal Kundin im Friseursalon gewesen.

„Wie alt?“, wollte Meg wissen.

„Sechsundzwanzig.“ Das war die nackte, bittere Wahrheit.

„Mein Gott, Schätzchen, und jetzt?“

Alison zuckte mit den Schultern. Diese Frage hatte sie sich auch gestellt – und nicht nur einmal.

„Hast du es Matthew gesagt?“

„Nein.“

„Sag’s ihm! Stell’ ihn vor die Wahl: du oder sie!“

Das hätte Alison sicher auch einer Freundin in dieser Situation geraten. Doch eine merkwürdige Lähmung hatte sie befallen, die sie dazu zwang, zuzusehen anstatt zu handeln.

„Alison! Das darfst du dir doch nicht gefallen lassen!“

Auch das hätte sie der Freundin gesagt. Ein Klopfen an der Tür ließ sie beide herumfahren.

„Wer hat sich denn schon so früh zu uns verirrt?“ Meg hob verwundert die Brauen. „Na gut, reden wir später weiter.“

Alison nickte. Sie war ganz froh für den Themenwechsel.

„Nur herein!“, rief Meg fröhlich.

Das erste, was die beiden Frauen zu sehen bekamen war ein von der Sonne gebräuntes Gesicht, mit eckigem Kinn, weichen, geschwungenen Lippen und strahlenden Augen, die vom jahrelangen Zukneifen im hellen Licht Falten umspielten. Ein ehemaliger Segler, dachte Alison, oder Tennis-Spieler – dazu passten sein hellblaues Poloshirt und die weißen Hosen.

„Oh, ich wollte nicht stören…“ Er lächelte charmant, nein, er strahlte. Seine Stimme war angenehm.

„Brett!“ Meg wandte sich an Alison. „Alison, das ist Brett Horkay! Vielgereister Romancier, Journalist, Sprachlehrer, Höhlenforscher und …“ Sie lachte kokett. „Hab’ ich was vergessen?“

„Und guter Freund!“ Jetzt lachte er und zeigte in seinem großen Mund weiße Zähne. Er war sicher einen Meter fünfundachtzig groß und hatte einen durchtrainierten Körper. Wie alt mochte er sein? Vierzig?

„Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Brett.“ Alison streckte ihm steif ihren Arm entgegen. Seine Hand war warm und fest. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ob sie Matthew nicht eins auswischen, und eine Affäre mit dem erstbesten Mann anfangen sollte.

„Willst du einen Kaffee, Brett?“ Meg stand bereits auf, „das ist Alison, meine geschätzte Kollegin. Sei ein bisschen nett zu ihr, sie hat´s gerade nicht leicht.“

Alison warf Meg einen strafenden Blick zu, den diese nur mit einem Augenbrauenhochziehen und einem lapidaren Schulterzucken abtat, und auf die Kaffeemaschine zusteuerte.

„Oh, das tut mir leid“, er lächelte – wie Alison fand, ein wenig zu mitfühlend. Sie winkte ab. „Reden wir von etwas anderem.“

Er nickte verständig und verschränkte die blond behaarten Arme vor der breiten Brust.

„Meg ist manchmal etwas taktlos!“

Meg rollte die Augen und reichte ihm einen Becher Kaffee. Er nahm ein paar Schlucke ohne sich hinzusetzen während Meg Alison berichtete, dass Brett bei ihr und ihrem Mann wohnte, genauer gesagt im „Granny Apartment“: zwei Zimmern neben der Garage und der offenen Waschküche, unter dem auf Pfählen stehenden Haus.

„Ich hatte zuerst Hemmungen, Brett, die Bude anzubieten …“, sagte sie und legte aus verschiedenen Kartons die Seiten des Writer’s Festival – Programms zusammen.

„Es ist vollkommen okay!“ Er wandte sich dabei an Alison, „ich habe schon in ganz anderen Unterkünften geschlafen!“

Meg lachte.

„Ich nehme an in einer Hütte in Papua Neuguinea oder einem Erdloch in Sumatra … Brett ist viel zu anständig, um sich zu beschweren, stimmt’s?“

Aha, anständig und rücksichtsvoll ist er auch noch? Alison merkte, wie sie gereizter wurde.

„Was hältst du davon?“

Alison sah Megs Blick auf sich gerichtet. „Was, wovon?“

„Schätzchen, wo warst du mit deinen Gedanken? Ich habe vorgeschlagen, morgen ein Barbecue zu veranstalten. Du kommst doch?“

„Morgen? Oh, da hab’ ich meine Eltern eingeladen.“ Äußerst unpassend diese Einladung, dachte Alison. Wie sollte sie die Fassade der glücklichen Ehefrau aufrechterhalten?

„Dann eben heute. Nick könnte uns einen Lammbraten machen. Das ist seine Spezialität. Na, was haltet ihr davon?“

„Eine ganz großartige Idee, Meg!“ sagte Brett, und Alison nahm seinen Blick wahr, den er ihr zuwarf.

„Ich weiß nicht Meg. Ich …“ Sie musste zuerst wieder zu sich selbst finden.

„Ach, wenn du magst, dann kommst du einfach“, sagte Meg. „Übrigens, wie sieht es heute Mittag aus, Brett? Wir könnten alle drei in der Stadt was essen, asiatisch, in der Mall.“

Brett stellte den Becher auf den Tisch. „Ich wollte eigentlich in die Northern Territory Art Gallery.“

„Ach – die läuft dir ja nicht weg!“

„Du mir auch nicht, oder?“

Meg zog ihr weites Kleid in die Breite. „Seh ich so aus?“

Als Brett gegangen war, ließ sich Meg ächzend auf ihren Stuhl fallen. Sie nahm die Brille ab und wischte sie mit einem Taschentuch ab.

„Unverheiratet. Noch nicht einmal geschieden – und gut riechen tut er auch noch!“ Sie seufzte übertrieben. „Interessant, abenteuerlustig, gebildet – er will sein eigener Herr bleiben.“ Sie setzte ihre Brille wieder auf und lächelte hintergründig. „Und ganz nebenbei, soll er im Bett auch nicht schlecht sein!“

„Meg!“

Meg klatschte in die Hände. „So, nun muss ich mich aber mal an die Arbeit machen!“, und drehte sich zum Computer. „Du gefällst ihm“, sagte sie noch.

Alison sah diesen vor Kraft und Lebenslust sprühenden Mann vor sich. Er hatte ihr noch ein Lächeln, ein gewisses Lächeln zugeworfen, bevor er ging. Ein angenehmer Schauer rieselte über ihren Körper und überlagerte für Sekunden Demütigung und Wut.

3

Der Staatsanwalt hatte ihn gewarnt. „Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Wenn Sie spürt, dass Sie unsicher werden, macht Sie sie fertig. Alex Winger ist `ne Knallharte.“

Die Einschätzung war nicht übertrieben, und Shane machte sich auf den nächsten Angriff gefasst.

„Detective, als Sie ins Haus stürmten, hatten Sie weder einen Haftbefehl, noch einen Durchsuchungsbefehl, korrekt?“ Die Stimme der Anwältin war schneidend und durchdringend, dabei hätte sie in ihrer tiefen Tonlage durchaus auch angenehm klingen können.

Shane versuchte seinen Ärger herunterzuschlucken. Was zum Teufel hatte er in diesem Zeugenstand zu verlieren? Und warum musste er sich dieser arroganten Anwältin mit den kalten blauen Augen aussetzen? Sie wandte ihren Blick von ihm auf das Papier in ihrer Hand, berührte kurz die altertümliche blonde Lockenperücke auf ihrem schulterlangen, dunklen Haar. Dabei klimperten ihre schmalen Goldarmreifen. Sie tat alles, um ihn durch ihre scheinbare Gelassenheit und ihre Interesselosigkeit zu einer unbedachten Äußerung zu verleiten. Er kannte das Spiel.

„Korrekt“, antwortete er.

„Sie trugen Zivil, Detective?“

„Ich trage immer Zivil. Ich bin Detective der Mordkommission, seit über …“

„Wir wissen, was Sie sind, Detective.“ Alex Winger schnitt ihm das Wort ab, ohne ihn anzusehen.

Shane sah auf die andere Seite des Raums, wo sich die mit einer Glasscheibe vom übrigen Raum abgetrennte Kabine befand, in der zwei Sheriffs den Angeklagten bewachten. Der Angeklagte, Muhammad Solea, ein Schwarz-Afrikaner aus Nigeria, erweckte in seinem blütenweißen Hemd und der gelbschwarz gestreiften und sorgfältig geknoteten Krawatte, mit dem kurz geschorenen Haar und der Goldrandbrille den Anschein eines ehrbaren Bankangestellten. Verdammter Mistkerl, dachte Shane.

„Detective O’Connor“, drang Alex Wingers laute Stimme wieder durch den Raum, „Sie klopften also an die Tür des Hauses, in dem Sie den Angeklagten, meinen Mandanten, vermuteten? Korrekt?“

„Wir vermuteten nicht, wir wussten …“ Er brach ab. „Ja, ich klopfte.“

Ein kaum merkliches spöttisches Lächeln flog über ihr Gesicht ohne ihn wirklich anzusehen. Sie klimperte mit den Armreifen.

„Sie klopften? Nun: Sie schlugen mit der Faust an die Tür. Mehrmals. Als Ihnen die völlig verängstigte Aborigine-Lady öffnete, zeigten Sie nicht Ihren Ausweis, richtig?“

„Wir wussten, dass der Mörder im Haus …“

„Sie zeigten nicht Ihren Ausweis …!“

Er ballte seine rechte Hand zur Faust. „Nein. Ich zeigte ihn nicht.“

„Wie war die Reaktion der Frau?“

„Ich kann mich nicht genau erinnern. Wir standen unter Zeitdruck …“

Shane sah zum Staatsanwalt hinüber, der nervös auf seinem Sessel herum rutschte. Ganz anders als der Richter in seiner roten Robe, der in seinem Sessel kauerte als ob er schliefe. Wieder das Klimpern der Armreifen.

„Nun, Detective, ich sage Ihnen, wie Ihre Reaktion aussah: Die Aborigine-Lady war starr vor Schreck. Denn sie verstand nicht, was Sie wollten, sie war nicht in der Lage einzuschätzen, ob Sie von der Polizei waren oder ein Krimineller. Sie trugen weder Uniform, noch zeigten Sie einen Ausweis. Sie stürmten mit gezogener Waffe an ihr vorbei!“ Die Anwältin setzte die Brille auf und zitierte aus ihren Unterlagen: „Die Aussage der Aborigene-Lady: Der Mann mit der Waffe stieß mich an die Wand. Der Mann“, sie sah kurz auf, „das sind Sie, Detektive O’Connor – ich fahre fort“, Sie las weiter: „Ich prallte an die Wand, ich schrie, der Mann mit der Waffe riss die Tür zum Schlafzimmer auf. Ich hörte Poltern und Schreie. Der Mann rief: Auf den Boden, du Schwein! Dann krachte es und ich hörte dumpfe Schläge. Dann kam der Mann mit Muhammad heraus. Muhammad trug Handschellen und blutete aus der Nase und aus dem Mund.“ Sie setzte die Brille ab und sah auf. „Detective O’Connor, Sie haben nicht nur die Aborigine-Lady eingeschüchtert und verletzt, Sie haben auch meinen Mandanten, gegen den zu diesem Zeitpunkt kein Haftbefehl vorlag, körperlich versehrt. Er hatte eine gebrochene Nase und verlor einen Schneidezahn. Gehen Sie bei Ihren Festnahmen immer so vor?“ Provozierend direkt sah sie ihn mit ihren eisblauen Augen an.

Warum legte dieser verfluchte Staatsanwalt keinen Einspruch ein?

„Einspruch!“, kam es endlich.

„Stattgegeben“, brummte der Richter und machte eine müde Handbewegung.

Die Anwältin räusperte sich. „Sie sind äußerst brutal vorgegangen, Detective. Warum haben Sie nicht Ihre Marke gezeigt und meinen Mandanten einfach festgenommen?“

Nein, er würde nicht in ihre Falle tappen – er sagte so sachlich er konnte:

„Sie werden mit Sicherheit meine Akte gründlich studiert und dabei festgestellt haben, dass dieses Vorgehen eine Ausnahme war. Es war Gefahr im Verzug. Es bestand Fluchtgefahr. Wir hatten noch keinen Haftbefehl, weil wir den wichtigsten Hinweis in dem Moment bekamen, als wir uns zwei Straßen vor dem angeblichen Aufenthaltsort des Täters befanden. Da wollten wir nicht zurückfahren.“

„Sie hätten jemanden benachrichtigen können, Detective. Sie benutzen doch sicher so wie ich, auch hin- und wieder ein – wie nennt man das Ding, das man inzwischen überall mit herumtragen kann? – Handy, nicht wahr?“

„Einspruch, Euer Ehren, das …“ Der Versuch des Staatsanwaltes scheiterte kläglich. Eine Handbewegung des Richters ließ ihn verstummen. „Einspruch abgelehnt, fahren Sie fort, Mrs. Winger, aber ersparen Sie uns Ihre Polemik.“

„Ja, Euer Ehren. Danke.“

Die Assistentin, die neben Winger stand, in schwarzen langen Hosen und weißer, konservativer Bluse, beugte sich zu ihrer Chefin und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf diese nickte. Die Assistentin drückte einen Ordner an sich und ging auf ihren hohen Schuhen mit schnellen, bestimmten Schritten zum Ausgang. Sie glich ihrer Chefin in auffallender Weise: schulterlanges, dunkles, glattes Haar, blasse Haut, blaue Augen. Shane war sicher, Alex Winger war eine verdammte Narzistin.

„Detective O’Connor“, fuhr Winger fort, „Sie haben seit einem Jahr gesundheitliche Probleme. Sie wurden bei einer Schießerei, verletzt.“

Was sollte das jetzt?

„Ja.“

„Damals wurde Ihr langjähriger Partner erschossen. Sie überlebten. Ihr Bein, Ihr Arm sind noch immer nicht wieder vollständig in Ordnung.“

Er antwortete nicht. Es war keine Frage. Es war eine Tatsache.

„Nicht nur Ihre psychische Verfassung hat gelitten, auch Ihre körperliche.“

Wieder antwortete er nicht, dachte an seine Schmerztabletten und seine Narben. Der Staatsanwalt starrte ihn ausdruckslos an. Shanes Wut wuchs. Er hatte einen Mörder und Dealer gestellt, warum stahlen sie seine Zeit?

„Detective O’Connor, könnte man annehmen, dass Sie infolge Ihrer psychischen und körperlichen Situation heftiger und aggressiver reagiert haben?“ Ihre Stimme hatte einen mitfühlenden Unterton bekommen.

Nein, so billig war er nicht zu haben. Sein Puls lag sicher bei 90, er fühlte sein Blut kochen, und seine Schläfen pochten, aber er hielt sich unter Kontrolle.

„Meine Verletzungen sind so gut wie auskuriert. Ich hätte auch vor Jahren in diesem Fall nicht anders gehandelt. Es ging darum, den Mörder zu fassen, ihn an einer Flucht zu hindern. Und das ist uns gelungen.“

Den Punkt hatte er gemacht.

„Mit wir“, fuhr die Anwältin unbeeindruckt fort während sie das Schreiben überflog, „meinen Sie: sich selbst und Detective Tamara Thompson.“

„Korrekt.“ Seine Partnerin war im Moment bei einer Fortbildung in London und bereits per Videokonferenz im Verhandlungsraum befragt worden. Shane warf einen Blick schräg hinter sich auf die Jury: Ein Haufen nachlässig gekleideter Männer und Frauen, die in drei Reihen auf der dem Angeklagten gegenüberliegenden Seite des Raums saßen. Einige von ihnen unterhielten sich leise miteinander. Von den elf Personen erweckten nur vier den Eindruck, sich ihrer Rolle und Aufgabe bewusst zu sein. Mindestens zwei hätten Junkies sein können: Ausgemergelte Gestalten mit farblosem, dünnen Haar und dürren Beinen in abgetragenen Shorts.

Der Richter lehnte sich ein wenig nach vorn.

„Sofort, Euer Ehren!“ Alex Winger blätterte überraschend nervös in einem Schnellhefter.

Der Staatsanwalt hatte den Blick auf seine Unterlagen konzentriert, zog dabei an den weiten Ärmeln seiner Robe, und schob sich die gelockte Perücke aus der Stirn. Die breite Tür aus dunklem Holz öfffnete sich, Wingers Assistentin kam zurück. Der strapazierfähige dunkelrote Teppich schluckte das Geräusch ihrer hart aufsetzenden Absätze. Sie gab ihrer Chefin ein Papier.

„Mrs. Winger …?“

„Entschuldigen Sie, Euer Ehren!“ Tatsächlich war sie für Sekunden aus der Ruhe gebracht worden, doch jetzt sah sie auf, nahm ihre Brille ab.

„Detective O’Connor, vor fünf Jahren“, begann sie dann langsam und musterte ihn arrogant, „haben Sie einen Journalisten angegriffen und ihm ins Gesicht geschlagen. Korrekt?“

Er holte Luft. Beruhige dich, sagte er sich, sonst hat sie dich genau da, wo sie dich haben will.

„Einspruch!“ Der Staatsanwalt sprang auf als sei er plötzlich aus einem Traum erwacht, doch der Richter sagte nur gelangweilt, „Einspruch abgelehnt, fahren Sie fort, Mrs. Winger!“

„Danke, Euer Ehren. Sie haben ihm also ins Gesicht geschlagen.“ Der kühle Blick der Anwältin ließ nicht von ihm ab.

„Es gab eine Vorgeschichte, er hatte …“

„Sie haben ihm ins Gesicht geschlagen, korrekt?“ Ihr Ton wurde schärfer. Er kapitulierte.

„Korrekt.“

„In diesem Fall war weder Gefahr im Verzug noch hatte der Journalist jemanden getötet oder hatte dies vor. Richtig?“

Er nickte. Ein kaum merkliches Zucken ihres Mundwinkels verriet ihren Triumph. Sie hatte ihn endlich da, wo sie ihn haben wollte: auf dem Boden. Nun musste sie nur noch wie ein Jäger den Fuß auf die erlegte Beute stellen.

„Detective O`Connor“, sie setzte ihre Lesebrille ab, und sah ihm in die Augen. Komm’ schon, dachte er, komm’ schon, bringen wir’s hinter uns. Versetz’ mir den Todesstoß!

Sie lächelte mitfühlend.

„Sie haben im Grunde selbst eingesehen, dass Sie den Anforderungen physisch und psychisch nicht mehr gewachsen sind.“ Sie ließ die Akte sinken. „Sie haben genau zwei Wochen nach der Festnahme meines Mandanten Ihre vorzeitige Entlassung aus dem Polizeidienst eingereicht.“ Sie genoss die plötzliche Aufmerksamkeit aller im Raum befindlichen Menschen. „Das ist doch korrekt, oder?

Sie hatte ihn erlegt. Er war tot. „Das ist doch korrekt, oder?“, wiederholte sie. Er nickte endlich, nahm sich zusammen, und sagte so klar wie möglich: „Das ist korrekt, ja.“

„Sie sind nur noch“ sie sah auf ihre Notizen, „ja, Sie sind noch genau sieben Tage Detective der Homicide Squad Queensland. Und dann“, ihr Lächeln wurde intensiver, er konnte ihren Anblick kaum noch ertragen. Er zwang sich, den Blick nicht abzuwenden. Nein, diesen Triumph wollte er ihr nicht auch noch gönnen. Er wollte mit offenen Augen sterben.

„Und dann“, fuhr sie fort, „sind Sie Pensionär. Frührentner, ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig.“ Er hatte versucht, so emotionslos wie möglich zu antworten. Er hoffte, es war ihm einigermaßen gelungen.

Ihr zufriedenes Nicken, ihr triumphales Lächeln - dann Schluss.

„Danke, Detective. Keine weiteren Fragen.“

Auch der Staatsanwalt hatte keine weiteren Fragen, und Shane durfte den Zeugenstand verlassen. Als Shane heute Morgen in Darwin angekommen war, hatte ihn der Staatsanwalt auf die Anwältin vorbereitet. Er hatte nicht untertrieben.

Geschlagen aber irgendwie erleichtert stieß Shane die schwere Holztür des Gerichtssaals auf und atmete durch als sie sich hinter ihm schloss, und er im großen, lichtdurchfluteten Foyer stand.

Oft hatte er in seinem Berufsleben vor Gericht aussagen müssen, und er hasste es noch genauso wie am Anfang. Nicht selten musste man sich von arroganten Anwälten wie der letzte Dreck behandeln lassen. Doch das war sein vorletzter oder vielleicht letzter Auftritt gewesen. Morgen würde er zurück nach Brisbane fliegen, und in einer Woche wäre er kein Detective mehr. Dann konnten sie ihn alle mal.

4

Auf den Sitzgruppen vor der holzgetäfelten, breiten Tür des Gerichtssaals hockten zusammengesunken zwei Aborigines und schliefen. Die Präsenz der Aborigines im Stadtbild Darwins war deutlich stärker als in Brisbane, das fiel Shane jedes Mal auf, wenn er nach Darwin kam. Inzwischen beanspruchten die Aborigines 90 Prozent des gesamten Northern Territory als ihr Land. Hier oben hatte die Landrechtsbewegung in den sechziger Jahren ihren Anfang genommen, hier oben versuchten Aborigines, in abgelegenen Gebieten von Arnhemland ihren eigenen Weg zu gehen. Kein Wunder, dass Darwin und das Northern Territory einen Touristenmagnet für all die zivilisationsmüden Europäer und Amerikaner darstellte, die die romantische Vorstellung von der Existenz des „edlen Wilden“ mit verzweifeltem Trotz verteidigten.

Shane stützte sich auf das Geländer, das den Durchbruch vom ersten Stock zur Eingangshalle umgab, und betrachtete das Fußbodenmosaik dort unten. Die Milchstraße – aus Tausenden von Keramiksteinchen in verschiedenen Blau- und Grautönen zusammengesetzt. Man hätte den Supreme-Court durchaus für ein Museum halten können: überall waren Kunstwerke auf diesen riesigen, von keinen Säulen verstellten Etagen platziert, an den Stirnseiten gaben große Glasflächen den Blick auf Palmen frei, auf die türkisblaue Arafura-Sea und auf den tropischen Himmel.

Er war am Morgen durch die Lobby spaziert und hatte sich die Kunstwerke angesehen. Die Totenpfähle der Aborigines von Tiwi-Island, einer Insel, die nur fünfzehn Minuten Flugzeit von Darwin entfernt lag; die großformatigen Dot-Paintings der Tribes aus den Wüstengebieten; die filigranen Abbildungen auf Rindenstücken aus der Region von Arnhem-Land, einige Bilder, die an den bekannten Maler Albert Namatjira erinnerten, des Aborigines, der ins Gefängnis bekommen war, weil er Alkohol gekauft hatte, der angeblich zu einem Totschlag geführt hatte. Namatjira war kurz nach seiner Gefängnisstrafe gestorben. Waren die Bilder hier ein Mahnmal? Die Kunst hier eine Art Wiedergutmachung für all die Grausamkeiten, die die Weißen den Ureinwohnern angetan hatten? Oder fehlte es ganz einfach an einer eigenen Identität? Worauf hätten sich auch all die Griechen und Chinesen einigen sollen, die im 19. und 20. Jahrhundert hier eingetroffen waren, um nach Gold zu suchen, nach Perlen zu tauchen oder Handel zu treiben?

Ein Sheriff, ein bulliger Typ mit rötlicher Haut und Borstenhaarschnitt, dessen hellblaues Hemd über seinem Bizeps spannte, hielt einen Pappbecher unter den Trinkwasserbrunnen an der Wand zwischen den Türen zweier Gerichtssäle.

Shane sah auf die Armbanduhr. Kurz nach halb zwölf. Was für eine Zeitverschwendung, hier in Darwin zu sein – fünf Stunden Flugzeit von Brisbane entfernt. Und das alles nur, weil ihn vor Monaten die Jagd nach dem Mörder wenige Kilometer hinter die Grenze Queenslands ins Northern Territory geführt hatte. Er hatte die zuständige Polizei benachrichtigt, doch die Entfernungen waren so groß, dass sie es erst zehn Minuten nach Shanes Aktion eingetroffen waren. Der Fall war klar. Muhammad Solea hatte Cannabis und Kava, das aus einer Wurzel gewonnen wurde und vor allem im südpazifischen Raum als Droge verbreitet war, an Aborigines verkauft. Der Verkauf zu einem festgelegten Preis war bis zu einer bestimmten Menge sogar erlaubt – sofern man eine staatliche Genehmigung dafür besaß. Doch Muhammad besaß keine, verkaufte darüber hinaus zu viel und zu einem höheren Preis. Shane hatte ihn nicht wegen seiner Drogendeals gejagt sondern wegen eines Mordes an einem anderen Dealer. Der Mord war bewiesen. Nun ging es der Verteidigung darum, Verfahrensfehler aufzudecken, um ein milderes Urteil herauszuschinden oder gar das gesamte Verfahren neu aufrollen zu können.

Das Geräusch einer sich öffnenden Saaltür ließ ihn sich umdrehen.

„Hi, Shane!“ Er sah eine kleine, kräftige Frau in einem orangefarbenen Sommerkleid winkend auf ihn zukommen. Er erkannte sie sofort: Louise Woolfe, die Rechtsanwältin, die vor Jahren in Brisbane gearbeitet, dann geheiratet und ins Northern Territory gezogen war.

„Hi Louise!“

Sie stand mit ihren vollen ein Meter fünfzig vor ihm.

„Detective O’Connor!“ Lachend boxte sie ihm in die Rippen. Eine Angewohnheit, die sie schon damals in Brisbane gehabt hatte, und die ihr den Spitznamen Nudge eingebracht hatte. „Ich wusste schon, dass du kommst.“ Sie zwinkerte ihm zu, „die Buschtrommeln!“

Rote, korallenähnliche Ohrringe schaukelten als sie den Kopf zur Seite legte und Shane von oben bis unten musterte. „Und, auf der Jagd?“ Sie zwinkerte wieder und versetzte ihm erneut einen Knuff in die Rippen. „Ich habe gehört, dass die Frau dieses Muhammad Solea regelmäßig nach Nigeria fliegt, mit Bündeln von Bargeld.“

„Ja, das scheint kaum ein Geheimnis zu sein. Er soll islamische Vereinigungen damit unterstützen – mit dem Geld, das er von den Aborigines bekommt. Das wiederum bekommen sie von unserer Steuer.“

Sie schüttelte den Kopf. „Und – kriegt ihr ihn dran?“

„Ja.“ Er nickte. „Obwohl, seine Anwältin ist ein scharfer Hund.“

Sie lachte laut auf und brachte eine Reihe schiefer Zähne zum Vorschein.

„Ja! Alex Winger - „The Shark“.

Er sah ihre kalten Augen vor sich. „Wie passend.“

„Hast du diese wilde Horde Geschworener gesehen?“ Sie machte eine Bewegung nach links. „Weißt du, ich bin ja auch für lässige Kleidung, aber …“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Das ist das Northern Territory, Shane. Ich musste mich erst mal dran gewöhnen. Genauso wie an das permanent schöne Wetter in der Dry-Season und diesen Regen und die schrecklichen Stürme in der Wet-Season. Wann fliegst du zurück?“

„Morgen Nachmittag.“

„Ach, schade. Heute Abend hab’ ich keine Zeit, aber morgen. Wir hätten mal wieder einen drauf machen können!“ Sie brachte einen verruchten Augenaufschlag zustande.

„Was würde dein Mann wohl dazu sagen, Louise?“

Sie rollte mit den Augen. „Der ist froh, wenn er in Ruhe an seinen Autos rumbasteln kann. Da wir gerade beim Thema sind: was machen Kim und Pam?“

„Sie wohnen jetzt oben an der Sunshine Coast. Kim hat wieder geheiratet.“ Frank, einen fetten Reifenhändler, hatte er sagen wollen, hielt aber noch rechtzeitig den Mund.

„Tja. So geht es? Und du?“ Sie knuffte ihm wieder in die Seite und zwinkerte viel sagend. „Nichts Neues in Sicht?“

„In Sicht schon.“ Er dachte an Carol, die gerade ihre zweite Woche auf Vanuatu verbrachte. Seit einem Jahr verband sie eine lockere Beziehung. Sie lebte an der Sunshine Coast, er in Brisbane. An den Wochenenden, an denen er nicht arbeiten musste, sahen sie sich. Manchmal blieb sie auch ein paar Tage in Brisbane. Sie schmiedeten keine Zukunftspläne. Shane wusste, dass auch Carol Angst davor hatte, sich an jemanden zu binden und Versprechungen zu machen, die sie vielleicht nicht halten könnte,

„Tja, schade, warum bleibst du nicht länger hier? Abgesehen von diesen Geschworenen ist es gar nicht so übel und noch ist die Wet-Season nicht da.“ Sie griff in ihre aus rotem und orangefarbenem Bast geflochtene Umhängetasche. Pandanus nannte man die Gräser, erinnerte er sich, die von Aborigine-Frauen gesammelt, getrocknet, gefärbt und dann zu Körben und Taschen verarbeitet und inzwischen in Galerien verkauft wurden. „Hier, meine Nummer, wenn du mal wieder hier bist.“ Er nahm die blütenweiße Visitenkarte und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Louise schien etwas hinter seinem Rücken zu beobachten. Er drehte sich um. Aus dem Gerichtssaal kamen der Staatsanwalt und hinter ihm die Anwältin in ihren schwarzen Roben.

„Sieht nach Pause aus.“ Louise zog die Augenbrauen hoch. „Ich muss leider los. Eine ziemlich große Betrugssache in der Wasserwirtschaft. Mit eingeflogenen Sachverständigen und allem. Teure Angelegenheit, Saal sechs.“ Sie holte zu einem Knuff aus, überlegte es sich dann aber anders und sagte nur: „Alles Gute! Und es war schön, dich mal wieder zu treffen!“

Sie ging los, reckte ihren Hals, winkte, worauf sich jemand am anderen Ende der weitläufigen Halle von den Sesseln erhob. Der Mann wollte ihr die Tür öffnen, aber Louise war schneller, und er konnte ihr nur noch folgen und die Tür hinter sich zufallen lassen. Shane glaubte den Mann schon mal irgendwo gesehen zu haben, doch er kam nicht darauf, wo und wann.

Alex Winger steuerte auf Shane zu. Sie trug lange schwarze Hosen unter ihrer Robe, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht mit der glatten, faltenlosen Haut war genauso hart wie im Gerichtssaal. Dabei war sie keine unattraktive Erscheinung, ganz und gar nicht. Das dunkle Haar und die blauen Augen, der wohlgeformte Mund, die leicht geschwungenen Augenbrauen, der ovale Gesichtsschnitt – all das hätte sie durchaus auch anziehend wirken lassen können, doch sie schien alles daran zu setzen, diesen Eindruck nicht zu erwecken – warum auch immer. Vielleicht, dachte er, glaubte sie, an Autorität zu verlieren, wenn sie diese Härte aufgäbe.

„Es läuft ja prima für Sie“, sagte er.

The Shark blieb vor ihm stehen. Ihr Mundwinkel zuckte kurz, doch das war schon alles.

„Leute wie Sie, Detektive, bringen die Polizei in Verruf. Sie sind selbstherrlich, selbstgerecht und rücksichtslos, nur weil sie ein Schießeisen und eine Marke haben.“ Ihre blauen Augen blitzten angriffslustig, ihre leicht rosafarbenen Lippen waren gespannt.

„Wäre es Ihnen lieber, Leute wie Ihr Mandant liefen frei herum?“, rief er ihr nach.

5

Gleich links vom Qantas-Gebäude begann der Park, in dem einige Ruinen - die Reste des historischen Darwin - standen und sich in Richtung Arafura-Sea der moderne kastenförmige Bau, des Supreme Court erhob. Die hohen, schlanken Säulen, die die Vorderfront bestimmten, verliehen ihm das Nötige ehrwürdig Konservative.

Alison war etwas klar geworden: Sie musste dieser Frau ins Auge sehen. Sie musste wissen, wer sie war. Christine hatte gesagt, sie arbeite im Gericht. Das Parliament House lag nur wenige Straßen vom Writer’s Center entfernt.

„Ich muss vor der Mittagspause noch was erledigen, Meg!“, sagte sie und nahm ihre Handtasche.

„Bringst du mir ein Sandwich mit?“

„Was für eins?“

„Was du kriegen kannst. Ich bin heute nicht wählerisch!“

Alison nahm den Wagen, fuhr zurück auf die McMinn Street und parkte in der Bennett Street. Auf dem Weg durch den kleinen Park überlegte sie, ob sie Christine anrufen solle. Sie brauchte Unterstützung, eine Aufmunterung, jemanden, der ihr sagte, dass es richtig war, was sie nun tun würde. Sie hätte auch Meg fragen können, aber vielleicht hatte sie es nicht getan, weil sie ahnte, dass Meg ihr davon abgeraten hätte. „Sprich zuerst mit Matthew“, hätte Meg gesagt, und das klang auch vernünftig. Aber sie wollte nicht vernünftig sein. Sie war wütend. Mit Matthew würde sie später reden, heute Abend.

Entschlossen blieb sie im kühlen Schatten unter den Bäumen stehen und wählte Christines Nummer.

„Hast du einen Moment Zeit?“

Die Antwort kam zögernd, um nicht zu sagen, widerwillig.

„Was ist los?“ Im Hintergrund hörte Alison Föngeräusche. Sie verdrängte den Gedanken, dass sie in einem unpassenden Augenblick angerufen haben könnte. Jetzt hatte ihre sonst geübte Rücksichtnahme keinen Platz.

„Weißt du, wo ich gerade bin? Vor dem Supreme Court. Ich will sie sehen.“

„Alison“, kam es im leicht genervtem Tonfall. „Die Tussi ist mehr als zehn Jahre jünger, also frisch und knackig. Da kannst du noch so oft in die Gym rennen, den Kampf hast du doch schon verloren. Warum haust du Matthew nicht einfach die Wahrheit um die Ohren? Sag’ ihm, was du weißt und stell’ ihn vor die Wahl: Du oder die Scheidung!“

„Und wenn er sich für sie entscheidet?“ Sie hatte gar nicht so laut werden wollen.

Christine lachte auf. Es war ein kurzes, böses Lachen, das Alison an ihre Jugendzeit erinnerte. Da hatte Christine oft so gelacht, wenn sie Alisons Kleider angezogen oder ihren Lippenstift benutzt hatte.

„Er ist nicht der einzige Mann auf diesem Planeten, Alison!“

„Und wenn ich mit ihr rede?“

„Mit wem? Valerie Tate?“ Christines Stimme überschlug sich, als sei diese Idee das aller Idiotischste, das sie jemals gehört hatte. Dann aber senkte sie ihre Stimme. „Ich meine, warum schickst du nicht jemanden zu ihr? Jemanden, den sie ernst nehmen muss.“

„Willst du damit sagen, dass sie mich nicht ernst nimmt?“ Alison wurde immer klarer, dass es ein Fehler war, ihre Schwester anzurufen.

„Ach, Alison, komm schon!“ Christine stöhnte. „Pass’ auf, ich hab’ nicht ewig Zeit, aber wenn du unbedingt bei dieser Schnecke Eindruck machen willst, dann geh’ nicht selbst hin, sondern beauftrage jemanden. Leute, die ihre Rechnungen nicht bezahlen, die kriegen doch auch Besuch von solchen – na, wie heißen sie noch?“

„Inkasso-Unternehmen.“

„Genau. Ich denke dabei aber an die von der übleren Sorte, an die, die zwei Schlägertypen losschicken, die nicht zimperlich sind, die keine Probleme haben mit ´nem gebrochenen Finger oder ´nem ausgekugeltem Arm.“ Alison hörte ihre Schwester kichern.

Die Vorstellung, dass zwei brutale Kerle einer Frau die Finger brachen oder den Arm ausrenkten, entsetzte sie.

„Nein, Christine, ich kann das nicht!“

„Klar, kannst du das!“ Christine war auf von ihrer Idee begeistert. „Ich sag’ dir, so ein Typ vor der Tür kann schon ganz schön was bewirken! Er wird ihr nur eine kleine Kostprobe geben, die sie schnell überwunden hat. Aber sie wird sich dran erinnern. Dann verfolgt er sie ein paar Mal und schon kriegt sie es mit der Angst zu tun. So toll kann Matthew gar nicht sein, dass sie das alles ihm zuliebe erträgt!“

„Nein ...“

„Mein Gott, Alison!“ Der Fön im Hintergrund wurde endlich ausgeschaltet, „erst rufst du mich an und jammerst mir die Ohren voll, und dann machst du den Rückzieher! Sei doch einmal in deinem verdammten Leben nicht Daddys Liebling!“

„Lass’ Dad aus dem Spiel!“

„…und Dad“, fuhr Christine unbeirrt fort, „kriegt von all dem doch gar nichts mit! Du wirst es dir mit dem lieben Sugardaddy schon nicht verderben!“

„Du bist gemein, Christine.“ Hätte sie sich nicht denken können, dass Christine insgeheim triumphierte, dass sie, die Vorzeige-Schwester und Lieblingstochter auch einmal einen Schicksalsschlag ertragen musste?

„Hör’ zu, Schwesterherz“, sagte Christine, „wenn du nichts unternimmst, dann verschon’ mich in Zukunft mit diesem Bullshit. Ich muss jetzt weitermachen.“ Ohne sich zu verabschieden legte sie auf.

Alison fühlte sich noch niedergeschlagener als vor dem Telefonat. Eben noch war sie voller Elan auf das Gerichtsgebäude zugegangen, fest entschlossen, ihrer Widersacherin zu begegnen. Jetzt würde sie am liebsten zurück zum Wagen schleichen.

Komm’ schon, Alison, sieh ihr in die Augen!

Sie straffte Rücken und Schultern und hob ihr Kinn, wie schon einmal heute Morgen. Dann stieg sie die breiten Stufen zum Gerichtsgebäude hinauf.

Der Mann vom Sicherheitspersonal lächelte freundlich als sie auf ihn zukam. Sie fragte nach Valerie Tate.

„Die Verhandlung hat noch nicht wieder angefangen. Vielleicht treffen Sie sie noch oben.“

Sie wollte schon losstürmen, als er auf ihre Handtasche zeigte.

„Die muss ich noch untersuchen.“ Sie überließ sie ihm. „Und wenn ich Sie bitten dürfte.“ Er wies auf den Metalldetektor. Bebend vor Unruhe ging sie durch den Rahmen. Glücklicherweise piepste nichts, und es war offensichtlich, dass sie weder unter ihrem dünnen Sommerkleid noch in ihren Schuhen eine Waffe oder eine Bombe versteckt haben konnte. Er gab ihr die Tasche zurück.

„Saal Nummer neun, erster Stock!“

Sie lief zur Treppe, was ihr als der schnellere Weg erschien als den Aufzug zu nehmen. Der Teppich, mit dem die Stufen und auch die obere Etage ausgelegt waren, schluckte jedes Geräusch. Jetzt erst wurde ihr klar, dass sich sowohl im Erdgeschoss wie auch im ersten Stock die Räume nur an den Seiten befanden; und die Mitte, diese große, hunderte von Quadratmetern große Fläche ganz ohne Säulen und Zwischenwände auskam. An der kürzen Vorder- und Rückfront boten große Glasflächen den Blick nach draußen. Vor der Scheibe, hinter der Palmen wogten und das Meer türkisblau leuchtete, hoben sich auf einer Sitzgruppe die Silhouetten von vier Personen ab. Zwei davon waren Frauen. Sie hatten das Gesicht in ihre Richtung gewandt.

Woher sollte sie wissen, wer Valerie Tate war – vielleicht befand sie sich im Gerichtssaal? Sie bemerkte einen Sheriff im blauen Hemd, der am Treppengeländer lehnte.

„Entschuldigen Sie!“

Er sah auf. Sein Gesicht war sonnenverbrannt.

„Ich suche Valerie Tate.“

Er hob die Hand und deutete auf die Sitzgruppe.

„Die Linke von den beiden.“

Alison wäre am liebsten wieder umgekehrt. Sie holte Luft und ging auf die Sitzgruppe zu. Beide Frauen sahen sich ähnlich: glattes, dunkles, schulterlanges Haar, gleichmäßige Züge, unauffällige Nase – und beide trugen Schwarz. Die Ältere trug eine schwarze Robe, Valerie Tate eine weiße Bluse. Valerie Tate - die Sechsundzwanzigjährige, die mit ihrem Mann schlief.

„Ms Tate?“, fragte sie als sie bis etwa zwei Meter herangekommen war. Tatsächlich sah die junge Frau auf. „Ich muss mit Ihnen sprechen.“ Alison achtete nicht auf die anderen drei Personen, in deren Unterredung sie eben geplatzt war. Valerie Tate sah sie an als ahne sie, wen sie vor sich hatte. Hatte Matthew ihr ein Bild gezeigt: Und das ist meine Frau?

„Ma’am“, das war die Ältere. „Wir sind gerade in einer Besprechung.“ Ihr Ton war autoritär.

„Es ist wichtig.“ Alison sah dabei Valerie Tate an, die endlich aufstand, eine Entschuldigung murmelte und ihr zum Fenster mit dem Palmen- und Meerausblick folgte. Dort angekommen drehte sich Alison zu ihr um.

Valerie Tates Gesicht war verschlossen und arrogant.

„Ich bin Alison Griffith, Matthews Frau.“

Das Gesicht zeigte keine Regung. Kein Hochziehen der Augenbrauen, kein Erbleichen, kein Erröten, dieselbe starre Miene, derselbe nichts sagende Blick.

„Wir sind seit achtzehn Jahren verheiratet, wir haben eine Tochter. Wir haben unser gemeinsames Leben. Lassen Sie meinen Mann in Ruhe. Sie sind jung genug. Suchen Sie sich jemand anders.“ Ihre Stimme hatte gezittert, aber was spielte das für eine Rolle? Ihre Worte waren klar und deutlich gewesen.

Endlich veränderte sich Valerie Tates Ausdruck. Alison bemerkte ein leichtes Zucken der Mundwinkel.

„Alison, es tut mir leid. Aber Matt liebt mich.“ Sie sprach ohne Angst, ohne Aggressivität, ohne Hochmut – als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, dass Matthew nicht seine Frau sondern sie, Valerie Tate, liebte.

Alison schluckte ihre Wut herunter und erwiderte:

„Wenn Sie ihn auch lieben, dann lassen Sie ihn in Ruhe. Sie zerstören sein Leben!“

Valerie Tate lächelte nachsichtig.

„Alison, Matt ist verrückt nach mir. Ich bin schwanger. Er will sich scheiden lassen.“

Alison brachte kein Wort hervor.

„… es tut mir leid für Sie, Alison, wirklich.“

Diese Person brachte es auch noch fertig, aufrichtig zu klingen.

„Und jetzt entschuldigen Sie mich, Alison, ich habe eine wichtige Verhandlung vorzubereiten.“ Valerie Tate drehte sich auf dem Absatz um und ging gelassen zurück zur Sitzgruppe.

Alison schluckte. Oh, wie hatte sie sich blamiert! Sie hätte vor Wut schreien können! Und dann hätte Sie etwas darum gegeben, im Erdboden zu versinken! Die drei anderen Personen standen auf und steuerten auf eine breite Tür auf der linken Seite zu. Valerie Tate warf ihr noch einen kurze Blick zu, dann verschwand auch sie hinter der Tür.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen dachte Alison an die Schlägertypen; und dann hakte sich ein Gedanke in ihrem Hirn fest: wie würde sich Matthew wohl fühlen, wenn er von seiner jungen Geliebten verlassen würde?

Sie fuhr wieder ins Büro, besorgte im letzten Augenblick Megs Sandwich, brachte irgendwie den Nachmittag herum und fällte schließlich eine Entscheidung. Sie würde heute Abend etwas Besonderes kochen, sie würde herausfinden, ob er sie noch immer liebte – und dann würde sie Matthew ganz offen fragen, warum er sich von ihr abgewendet hatte. Und vielleicht, dachte sie, vielleicht haben wir ja noch eine Chance...

6

Jeannies Finger glitten an ihrem Hals entlang, über die Kette aus kirschgroßen perlmutt-schimmernden Perlen der Arafura See. Die Rundung fühlte sich wunderbar kühl und glatt auf ihrer Haut an. Sie hörte das sanfte Schlagen der Wellen in der einsamen Bucht, in der diese Perlen gewachsen waren, sie schmeckte das Salzwasser auf der Zunge, spürte den Wind in ihrem Haar. Was war schon ein Diamant, scharf geschliffen, glasklar und hart gegen den sanften, im Licht changierenden Glanz einer organisch geformten Perle? Sie verließ den Laden durch den Hinterausgang. Sie vergewisserte sich, dass sie abgeschlossen und das Sicherheitssystem aktiviert hatte. In wenigen Minuten würde ein Wachmann alles überprüfen und im Laufe der Nacht in regelmäßigen Abständen vorbeischauen. Sie sah auf die große Standuhr, direkt vor sich in der Fußgängerzone. Kurz vor sieben. Genug Zeit, um in die Knuckey-Street zu laufen. Der Himmel war ein Meer aus rosafarbenen Wolken.

Sie atmete den süßen Blütenduft, der die Luft erfüllte ein und musste lächeln. Es tat gut, nach einem Arbeitstag im Laden, lange Schritte zu machen. Sie marschierte, die Handtasche umgehängt, über das Ende der Fußgängerzone, am Qantas Gebäude vorbei, wo sie sonst ihren Wagen parkte. Doch heute hatte Seb, ein Kollege, sie zu Hause abgeholt und zur Arbeit mitgenommen, da ihr Wagen in der Reparatur war und sie sich am Abend mit einer Freundin verabredet hatte, die sie abholen und später nach Hause fahren würde. Ihre Absätze klackten auf dem Beton des Bürgersteigs. Die drückende Hitze lastete auf der Stadt und würde sich erst langsam in den Nachtstunden abkühlen.

Jeannie freute sich auf den Abend im Pub in der Mitchell Street. Der Tag war erfolgreich gewesen. Sie hatte einem Kunden eine sechstausend Dollar teuere Perlenkette verkaufen können und zwei Kundinnen jeweils ein Paar Ohrringe. Ein guter Tag, an dem sie ihr Image als eine der besten Verkäuferinnen wieder einmal hatte beweisen können.

Sie ging auf der linken Straßenseite der Bennett Street entlang und bog in die McLaughlan Street ein. Im Café Roma saß niemand draußen. Früher am Tag fanden sich auf den Bänken dort auf der schattigen Terrasse stets junge Leute, meist Backpacker, aber auch Angestellte der umliegenden Büros. Zahlreiche Verwaltungen waren hier in den Hochhäusern untergebracht, wusste Jeannie. Zum Dekorationsgeschäft in der Knuckey Street, in der ihre Freundin arbeitete und sie gleich erwartete, würde sie höchstens noch vier Minuten brauchen. Sie sah auf die Uhr, merkte, dass sie zu früh dran war und verlangsamte ihren Schritt.

Auf einmal hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Ruckartig drehte sie sich um. Etwa fünf Meter hinter ihr blieb erschrocken ein Mann stehen. Sie musterte ihn. Er war attraktiv, sein gut geschnittenes, Gesicht, überhaupt seine ganze Erscheinung wirkten jugendlich. Sein Alter konnte sie schlecht schätzen, die Sonne hatte sein Gesicht gegerbt.

Er lächelte. „Alles in Ordnung?“

Sie zögerte.

„Sie haben mich erschreckt als Sie sich so plötzlich umdrehten“, sagte er.

Noch immer war sie skeptisch.

„Hören Sie, ich gehe jetzt einfach weiter, ja?“ Schon machte er einen Schritt.

„Halt!“ Sie lächelte jetzt auch. „Entschuldigen Sie, ich hatte mal ein wirklich schlechtes Erlebnis, und … und jetzt dachte ich, Sie verfolgen mich.“

„Schon in Ordnung.“ Er zögerte nun auch. „Nun, da wir uns schon über den Weg gelaufen sind“, er lächelte mit einer Spur Verlegenheit, „was halten Sie von einem Drink?“

Gerade eben hatte sie sich noch auf ihre Freundin gefreut, doch jetzt war sie auf diesen Mann neugierig geworden.

„Oder vielleicht morgen?“, fragte er rasch als er ihr Zögern bemerkte.

„Ja. Morgen passt.“ Und wenn er nur schnellen Sex wollte? Nein, einen solchen Eindruck macht er nicht. Aber wenn – schaden würde es ihr auch nicht schaden. Viel zu lange schon hatte sie darauf verzichtet.

„Wie wär’s unten am Meer, an der Stokes Hill Wharf? Um sieben?“

Stell’ wenigstens eine Bedingung, sagte ihr eine innere Stimme.

„Halb acht wäre mir lieber.“

„Okay.“ Er nickte. „Und wo?“

„Der, der zuerst kommt, sucht einen Platz. Wir finden uns schon.“

Beim Abschied lächelte er, und sie lächelte zurück. Ihr Schritt wurde leichter federnder. Sie spürte wieder die Perlen auf ihrer Haut und genoss das angenehme Kribbeln, das ihren Körper überlief.

7

Unkonzentriert und fahrig steuerte Alison durch den Feierabendverkehr der City. Im asiatischen Lebensmittelladen besorgte sie Kokosmilch, Thaibasilikum, Austernpilze und frische Chilischoten, um dann endlich um kurz nach halb sieben vor die Garage ihres Hauses zu rollen. Als sie in die Küche kam, klingelte ihr Handy. Matthew las sie auf dem Display.

„Hi, Darling“, seine Stimme klang unnatürlich gut gelaunt. Welche Lüge hätte er parat? Sie wartete.

„Ich musste nun doch schon nach Broome. Ich wollte auf dich warten, doch dann rief Erol an und meinte, wir müssten unbedingt heute Abend noch diesen Typen von der Firma treffen – du weißt schon, diesen Typen, der …“

Es war ihr egal, wie der „Typ“ hieß. Sie war sicher, er existierte nicht.

„Ich bin dann morgen Nachmittag – oder, oder spätestens am frühen Abend wieder zurück.“

Sie wollte jetzt einfach auflegen, sich die Lügen und die Heuchelei nicht mehr anhören. Ihr Vorsatz, ihre Hoffnung waren dahin.

„He, Darling, du bist doch jetzt nicht sauer, oder? Es ist doch für uns! Ich tue das alles doch nur für uns – und für Prudence. Ich liebe dich.“

Sie hätte am liebsten das Handy in die Ecke geworfen, aus Wut darüber, dass er so schamlos log, doch sie sagte: „Gute Nacht.“

„Gute Nacht? Willst du nicht, dass ich dich heute noch mal anrufe?“

„Nein. Ich gehe früh ins Bett. Ich bin ziemlich erledigt.“ Warum schleuderte sie ihm nicht die Wahrheit ins Gesicht: Warum Valerie Tate?

„Schlaf’ dich aus. Gute Nacht, Darling.“ Wahrscheinlich war er sogar erleichtert, dass er in der Nacht nicht mehr zu Hause anrufen und lügen müsste.

Sie ließ die Tüten auf der Arbeitsplatte stehen, setzte sich an den Esstisch, vergrub den Kopf in die Hände und heulte. Als keine Tränen mehr kamen, stellte sie sich vor, wie zwei Schlägertypen die Tür eintraten und Valerie Tate die Finger brachen.

Sie griff zum Telefon. Ihre Schwester war auf der Heimfahrt, sie saß im Auto.

„Christine. Ich hab’s mir überlegt. Ich will, dass jemand Valerie Tate ganz klar zu verstehen gibt, dass sie mit Matthew Schluss machen soll!“

„He, du hast dich also durchgerungen! Das wird aber was kosten. Ich rede mal mit Phil.“

Als sie auflegte, fühlte sie sich etwas besser. Das Gefühl, ohnmächtig der Entwicklung der Dinge – und ihres Lebens – gegenüberzustehen, hatte sich gewandelt. Sie spürte wieder, dass sie die Dinge in der Hand hatte. Jeder ist für sein Glück verantwortlich, fiel ihr ein. Ja. Sie hatte gerade eben etwas für ihres – und das für Matthew – und Prudence getan. Sie verstaute die Einkäufe und rief Meg an, ob sie zum Abendessen kommen dürfe. Eine halbe Stunde später parkte sie vor Megs und Nicks Haus.

„Hi, Alison!“ Meg empfing sie mit offenen Armen. „Wir haben kurzerhand unsere Barbecueparty auf heute verlegt und noch ein paar Leute eingeladen. Nun, einen kennst du ja schon.“ Alison folgte Megs Blick hinauf zur Veranda. Dort, am oberen Ende der Treppe lehnte Brett Horkay am Geländer und lächelte zu ihr herunter.

Damals hätte er es erkennen müssen, das Zeichen. Das Zittern, das erst seine Füße, dann seine Beine und schließlich seinen ganzen Körper schüttelte! Noch wäre Zeit gewesen – doch er wollte das Zittern nicht spüren und den Riss in der Wand nicht sehen, wollte nicht wahrhaben, dass alles seinetwegen geschah.

Er hat die Warnung nicht erkannt. Vielleicht hätte er noch alles verhindern können, dachte er und hob den Blick.

Die spindeldürren Äste hielten den Mond gefangen. Die Stimme hallte in seinem Kopf, und er murmelte: „Ja, gleich.“ Er packte den Plastikumhang und das Messer aus der Einkaufstüte aus, zupfte die Handschuhe zurecht, zog den Plastikumhang über, nahm das Messer und kniete sich. Kaltes Mondlicht beschien das weiße Fleisch.

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