Queen of Clouds - Susanne Gerdom - E-Book

Queen of Clouds E-Book

Susanne Gerdom

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Beschreibung

Ihr Leben könnte gegensätzlicher nicht sein: Der junge Adelige Valentin wächst im Prunk und im Luxus der Wolkentürme auf, von Kindesbeinen an dazu erzogen, einmal seinen Vater, den mächtigen Panarchen, zu beerben. Elster ist ein Kind der Schluchten – groß geworden in den endlosen Wäldern und seit ihrer Geburt dazu verpflichtet Frondienste zu leisten und den Türmen zu dienen. Was bewegt Om, das allwissende Prinzip und Oberhaupt der Schluchter, und den Panarchen, den Herrscher der Türme, dazu, ausgerechnet diese beiden gemeinsam auf eine riskante Mission zu schicken? Zumal das Schicksal ihrer beider Völker vom erfolgreichen Ausgang dieser Aufgabe abhängt …

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SUSANNE GERDOM

QUEEN

OF CLOUDS

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2014

© 2014 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Susanne Gerdom

Lektorat: Ulrike Hübner

Covergestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, Romy Pohl, unter Verwendung von Bildmaterial von Gettyimages/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-0374-6

ISBN Printausgabe 978-3-8458-0207-7

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

ERSTES BUCH - DER ERBE

1. Es steht geschrieben: Diese Seite nach oben

2. Es steht geschrieben: Eltern haften für ihre Kinder

3. Es steht geschrieben: Kann Spuren von Nüssen enthalten

4. Es steht geschrieben: Aktion ist gleich Reaktion

5. Es steht geschrieben: Und wenn die Welt voll Teufel wär

6. Es steht geschrieben: Politik verdirbt den Charakter

7. Es steht geschrieben: Wer suchet, der findet

8. Es steht geschrieben: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich

9. Es steht geschrieben: Karnickel hat angefangen

10. Es steht geschrieben: Dem Mann kann geholfen werden

11. Es steht geschrieben: Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf

12. Es steht geschrieben: Prediction is very difficult, especially about the future

13. Es steht geschrieben: Nach dem Öffnen unverzüglich verzehren

14. Es steht geschrieben: Nachbarin! Euer Fläschchen!

15. Es steht geschrieben: Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre

16. Es steht geschrieben: Dabei sein ist alles

17. Es steht geschrieben: Feind hört mit

18. Es steht geschrieben: All you need is love, love, love is all you need

ZWEITES BUCH - DIE SCHWESTERN

19. Es steht geschrieben: Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!

20. Es steht geschrieben: Und der Haifisch, der hat Zähne

21. Es steht geschrieben: Alle Kreter lügen

22. Es steht geschrieben: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

23. Es steht geschrieben: Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen

24. Es steht geschrieben: Follow the yellow brick road

25. Es steht geschrieben: Nie sollst du mich befragen

26. Es steht geschrieben: Niemand kann zwei Herren dienen

27. Es steht geschrieben: Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen

28. Es steht geschrieben: Misswende naht mir, wo ich mich neige

29. Es steht geschrieben: Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir

30. Es steht geschrieben: Non vitae, sed scholae discimus

31. Es steht geschrieben: Die Kühlkette niemals unterbrechen!

32. Es steht geschrieben: Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!

33. Es steht geschrieben: Meines Lebens schönster Traum hängt an diesem Apfelbaum!

34. Es steht geschrieben: Sei glöcklich, du gutes Kend!

35. Es steht geschrieben: Leise, leise, fromme Weise

DRITTES BUCH - DER TURM

36. Es steht geschrieben: Und dann und wann ein weißer Elefant

37. Es steht geschrieben: Ich schnitt es gern in alle Rinden ein

38. Es steht geschrieben: Alle reden vom Wetter, wir nicht!

39. Es steht geschrieben: Freedom is just another word for nothing left to lose

40. Es steht geschrieben: Ich hab hier bloß ein Amt und keine Meinung

41. Es steht geschrieben: Der Adler ist gelandet

42. Es steht geschrieben: Verhaftet die üblichen Verdächtigen!

43. Es steht geschrieben: Es ist ein Ziel aufs Innigste zu wünschen

44. Es steht geschrieben: Eingeschränktes Halteverbot

45. Es steht geschrieben: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben

46. Es steht geschrieben: Right or wrong – my country!

47. Es steht geschrieben: O, wonder! How many goodly creatures are there here!

48. Es steht geschrieben: Manch weiser Mann ließ sich berücken, er fehlte und versah sich’s nicht

49. Es steht geschrieben: O Herr, er will mich fressen!

50. Es steht geschrieben: Das Pferd frisst keinen Gurkensalat

51. Es steht geschrieben: Ich bin nicht in der Geberlaune heut

VIERTES BUCH - DER EWIGE KÖNIG

52. Es steht geschrieben: Bei Philippi sehen wir uns wieder!

53. Es steht geschrieben: Nun sei bedankt, mein lieber Schwan

54. Es steht geschrieben: Immer den Richtungspfeilen folgen

55. Es steht geschrieben: Gott, welch Dunkel hier!

56. Es steht geschrieben: Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen

57. Es steht geschrieben: Omnia vincit amor

58. Es steht geschrieben: Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser! Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!

59. Es steht geschrieben: Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern der Müden nicht erbleichen!

60. Es steht geschrieben: Sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast

61. Es steht geschrieben: Me transmitte sursum, Caledoni!

62. Es steht geschrieben: Ich bin es müde, über Sklaven zu herrschen

DANKSAGUNG

ERSTES BUCH

DER ERBE

Jede hinreichend fortschrittliche Technologie

ist von Magie nicht zu unterscheiden.

Drittes clarkesches Gesetz

1

Es steht geschrieben: Diese Seite nach oben

Elster hing zweihundertvierzig Meter über dem Boden an den Fingerspitzen, krallte ihre Nägel in eine beinahe unsichtbare Furche in der Turmwand und angelte mit den Füßen nach der Eisenreben-Ranke, die eben noch als Halt für den Aufschwung gedient hatte. Der Trieb, nach dem sie gegriffen hatte, war noch zu jung gewesen, er hatte sich allein mit Haftwurzeln an der glatten Oberfläche gehalten und sich noch nicht weit genug in das Metall geätzt, um dort seine tieferen Wurzeln einzugraben, die auch ein Menschengewicht tragen konnten.

Elster vergeudete einen Teil ihres keuchenden Atems für einen Fluch, mit dem sie sich einen Tag Kammerarrest eingehandelt hätte, wäre er ihren Eltern zu Ohren gekommen.

Es knackte und eine leise Stimme in ihrem Ohr sagte: »βŕãμ¢ħş† đμ Ħïłƒē, €łş†ēŕ?«

»βłēïb, ω° đμ bïş†«, keuchte Elster. »|¢ħ ķ°ммē… ķłãŕ.« Sie pausierte, dann schwang sie sich an der sich lösenden Ranke zur Seite, hörte das Ächzen der Wurzeln und das Knarren des stark beanspruchten Holzes und ließ los. Ein kurzer, atemberaubender Fall, dann klammerten sich ihre Hände und Beine um den Hauptstrang der Eisenrebe. Ihre Rippen schmerzten von dem harten Aufprall, ihre Muskeln protestierten und die Abschürfungen an den Händen und im Gesicht würden in ein paar Sekunden ebenfalls anfangen zu brennen wie Feuer. Aber sie lebte und war kein Brei aus Knochen, Fleisch und Blut am Fuß des Turmes.

Sie kicherte und leckte Rost und Blut von ihren Fingern.

»Ðμ bïş† ïŕŕē«, kommentierte die kleine Stimme in ihrem Ohr.

»Ķ°ŕŕēķ†«, konstatierte sie. »Ūñđ ƒůŕ ħēμ†ē ħãbē ï¢ħ ģēñμģ. Ðēñ ®ēķ°ŕđ bŕē¢ħē ï¢ħ ãñ ēïñēм ãñđēŕēñ Ţãģ.« Auch wenn es sie ärgerte, schon wieder hinter Regenpfeifer zurückgeblieben zu sein, der den Rekord im Turmklettern nun schon beinahe vier Monate hielt.

Die kleine Stimme lachte. »Ich hole dich ab«, sagte Indigo.

»$ρēēķ! Ķēïñ Ķłãŕ†ē׆ ůbēŕ ēïñē °ƒƒēñē £ēï†μñģ!« Elster spuckte in ihre Handfläche und rieb sie an der Hose trocken, ehe sie in den Beutel mit Kreide griff. »Дbωǽŕ†ş. Ŵïŕ †ŕēƒƒēñ μñş μñ†ēñ. ©ħē¢ķ.«

»©ħē¢ķ μñđ ãμş«, bestätigte Indigo. Es knackte wieder und die Leitung sandte nur noch statisches Rauschen.

Hinunter ging es leichter, auch wenn sie anfing, müde zu werden. Sie tastete nach Halt für die Füße, suchte eine der Reben, die sich nach außen wölbten, und ließ sich für einen Moment zum Verschnaufen hineinsinken. Das eisenhaltige, in den Furchen der Rinde rostige Holz schwankte leicht unter ihrem Gewicht und wiegte sie dann, hundert Meter über dem Waldboden, wie in einer Schaukel. Elster lehnte sich in die im Wind schwingende Umarmung, klemmte ihre Füße fest in das Wurzelgeflecht und suchte in ihrer Gürteltasche nach ihren Dirrumblättern. Dirrumblätter waren ein gutes Mittel gegen den Hunger, und Hunger war etwas, womit man sich abfinden musste. Hunger und Kälte, die beiden größten Feinde der Schluchter.

Während sie mit zusammengekniffenen Augen zum dunstigen Horizont blickte, rollten ihre Finger geschickt eins der Blätter zu einem Röllchen, das sie mit der Zungenspitze anfeuchtete und zusammendrückte. Sie nahm es zwischen ihre Lippen und fingerte nach dem Arielfeuer. Die größten Feinde? Nein, dies waren allenfalls Ärgernisse, wie wilde Tiere und Stürme. Man konnte bei ihrem Angriff sterben, aber keins von ihnen war verantwortlich für das Leid, das es verursachte. Ganz im Gegensatz zu den Türmern, die die Schluchter unter ihren Fersen zertraten. Elster knurrte und öffnete die Feuerbüchse. Die schnell heranziehenden Wolken und der auffrischende Wind verkündeten böse Neuigkeiten.

»|ñđïģ°? Ħãş† đμ đēñ Ħïммēł ģēşēħēñ? €ş ģïb† ēïñ Ŵē††ēŕ.« Sie zündete das Röllchen an und streckte sich, um die Turmwand zu be- rühren. »Ðãş Μē†ãłł νïbŕïēŕ†. $†μŕм °đēŕ Ģēωēŕ – °đēŕ bēïđēş.«

»Ģēωēŕ«, bestätigte die leise Stimme in ihrem Ohr. »€ş żïēħ† ş¢ħñēłł ħēŕãñ. $ïēħ żμ, đãşş đμ ñã¢ħ μñ†ēñ ķ°ммş†.« Elster ließ sich nicht hetzen. Sie rauchte und beobachtete den Himmel, über den dunkle Wolken heranzogen. Die Wipfel der Bäume begannen zu rauschen. Der Turm ragte aus dem Blättermeer wie ein seltsamer, astloser Baumgigant. Elster lehnte sich in der Ranke zurück und starrte hinauf. Weit über ihrem Kopf, weit über der Stelle, die sie heute hatte erreichen wollen, ging die Berankung langsam zurück und ließ das darunterliegende Metall sehen. Der Himmel und die in der Ferne zuckenden Blitze spiegelten sich darin. Elster legte den Kopf in den Nacken. Irgendwo dort oben verschwand der Turm in den dichter und dunkler werdenden Wolken. Wie weit er hinaufreichte, wusste keiner von ihnen.

»€łş†ēŕ!«, drängte Indigo. Das Knacken und Rauschen der Verbindung wurde lauter. Ein Blitz schlug einige Kilometer entfernt in den Wald ein. Es donnerte laut und der Wind frischte auf. Elster spuckte den Rest des Röllchens aus und packte die Ranken mit beiden Händen, um sich daran hinabzulassen bis zum nächsten festen Tritt. Sie hangelte sich ein Stück auf der gleichen Höhe die Turmwand entlang und fand den nächsten Abstiegspunkt. Wieder ein Blitz, schon näher. Der Donner grollte über ihrem Kopf. Das Gewitter zog schneller heran, als sie gedacht hatte. Der Wind peitschte die Wolken über den Himmel und die Baumwipfel bogen sich wie Grashalme. Die Blätter der Eisenrebe raschelten und klirrten gegeneinander.

Eine Böe riss Elster den Atem von den Lippen und zerrte sie von der Wand weg. Sie hing einen atemlosen Augenblick frei über der grün rauschenden Tiefe, dann sorgte die Elastizität der Eisenreben-Ranken dafür, dass sie zum Turm zurückschwang und sich dort an einem der Hauptstränge festklammern konnte, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte.

Knacken und Pfeifen in ihrem Ohr. Sie blinzelte, weil sich einige Strähnen aus ihrem Zopf losrissen und ihr in die Augen flogen.

»€łş†ēŕ… ķ°ммē… ħãł… đμŕ¢ħ«, drang Indigos abgehackte Stimme durch die Hintergrundgeräusche.

»βŕïñģ ïħñ ŕμñ†ēŕ! ©°ммãñđ!«, schrie Elster. Es war viel zu böig, um den kleinen Gleiter so dicht an die Wand zu fliegen, dass sie hätte einsteigen können. Das wusste auch Indigo, aber der Narr würde sich eher selbst umbringen, als sie hier an der Wand zurückzulassen. Die nächste Böe peitschte Regen in ihr Gesicht. Donner und Blitze kamen jetzt in schneller Abfolge und ließen die Welt flackern wie eine erlöschende Kerze. Elster konzentrierte sich darauf, die Füße gut zu verankern und den Griff ihrer Hand erst zu lockern, wenn die andere schon wieder fest zupackte. Eine Böe, die zum falschen Zeitpunkt kam, konnte sie von der Wand pflücken wie ein trockenes Blatt. Sie begann zu keuchen. Die Konzentration, die es ihr abverlangte, bei jedem Griff, jedem Tritt den stürmischen Wind mit einzukalkulieren, zehrte unaufhaltsam ihre Kräfte auf. Sie wagte keinen Blick nach unten zu werfen. Fuß um Fuß, Hand um Hand hangelte sie sich weiter.

Ein Donnerschlag, so laut wie eine Explosion, und der gleichzeitig herunterzuckende Blitz ließen sie ertauben und erblinden. Sie presste sich an die Wand so dicht es eben ging und schrie gegen den Donner und den herabprasselnden Regen an.

In ihrem Ohr antwortete Indigo mit einem fragenden Ruf auf ihren Schrei. »Дłłēş ģ솫, keuchte sie. »Дłłēş… ģμ†!«

Nichts war gut, aber er konnte ihr ohnehin nicht helfen.

Hand über Hand, Fuß nach Fuß. Ihre Zehen waren eisig kalt, ihre Finger wollten sich kaum noch krümmen lassen. Ein Schritt nach unten, das andere Bein nachziehen. Griff zur Seite, Finger schließen. Die Böe abwarten, die sie samt Ranke vom Turm abzureißen drohte.

Donner und Blitz, Blitz und Donner. Bleierne Erschöpfung. Ihre Muskeln schmerzten, als hätte man sie verprügelt. Ihre Zehen wurden taub. Sie kletterte weiter, obwohl sie sich am liebsten in eine der Ranken verstrickt und dort hängend das Ende des Gewitters abgewartet hätte.

Blitz, Donner. Blitz… Donner. Blitz…

Donner.

Das Gewitter zog weiter. Der Wind flaute ab. Elster erlaubte sich eine erleichterte Atempause. Jetzt noch den Rest des Abstiegs heil hinter sich bringen, nach Hause, ans Feuer…

Der Regen setzte mit einer Wucht ein, als schlüge ein Wasserfall über ihrem Kopf zusammen. Elsters Finger verloren den Halt und sie begann zu fallen.

2

Es steht geschrieben: Eltern haften für ihre Kinder

Der Panarch beugte sich konzentriert über etwas, das auf der glänzenden Platte des riesigen Schreibtisches lag.

Valentin verharrte an der Tür und nahm das Bild in sich auf: Ein Raum, so groß wie eine der Festival-Arenen. Dicke, weiche Teppiche, die in den Farben des Sonnenuntergangs glühten, schwere, dunkle, rötlich schimmernde Möbel aus dem Holz des Eisenblattbaums, eine Aussicht über Wolken und an klaren Tagen die endlosen Wipfel des Baummeers, aus dem der Turm ragte – die Gemächer des Panarchen gehörten zu den schönsten Orten dieser Welt.

Der Herr über die Welt – oder zumindest über den bekannten Teil davon – war eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung, darin waren sich alle einig. Er trug das dichte, dunkle Haar kurz geschoren wie einen Pelz und dazu einen schmalen Kinnbart. Beides hatte in den letzten Monaten begonnen, einen silbrigen Schimmer zu zeigen, aber mit einer kaum wahrnehmbaren Erschlaffung der Haut unter seinen Augen und unter dem Kinn waren dies die einzigen kleinen Anzeichen des nahenden Alters. Nichts sonst an der sehnigen Gestalt in den schlichten, dunklen Kleidern verriet Anzeichen von Schwäche oder Ermüdung. Die Schultern waren gerade und stark, die Arme lang und kräftig, die Beine stark und muskulös. Der klare Blick der blaugrünen Augen und der feste Schwung der Lippen gehörten einem willensstarken, gebieterischen Mann, der um seine Stärken ebenso wusste wie um die Schwächen seiner Gegner. Laurenz, der 27. Panarch der Familie Lecare, war ein Mann auf der Höhe seiner Macht und seines körperlichen und geistigen Vermögens. Er konnte immer noch jeden Gegner im Duell besiegen, und er war sich nicht zu schade, das auch zu beweisen.

Valentin räusperte sich leise. »Euer Gnaden«, sagte er. »Ihr habt mich zu Euch bestellt.«

Laurenz Lecare hob den Kopf und sah ihn mit einem Blick an, der aus weiter Ferne zu kommen schien, ehe er sich endlich fokussierte und Valentin zur Kenntnis nahm. Der Panarch begann zu lächeln. »Valentin«, sagte er und richtete sich auf. »Nicht so förmlich, mein Sohn.« Er streckte die Hand aus.

Valentin ging über die Teppiche, die jedes Geräusch seiner Schritte verschluckten, und ergriff die Hand seines Vaters, um sie zu küssen. Sein Blick fiel auf den Tisch und das, was der Panarch dort so konzentriert betrachtet hatte. Ein kleiner brauner Vogel lag dort, die Füße mit gekrümmten Krallen steif in die Höhe gereckt, die Flügel halb ausgebreitet. Seine Augen waren starr und gläsern, blickten tot – was auch kein Wunder war, denn der Bauch des Vögelchens war geöffnet worden und ein Teil seiner Eingeweide lag neben ihm auf dem Tisch.

»Wieder ein rares Exemplar?«, fragte Valentin, der die seltsamen Neigungen seines Vaters kannte.

Der Panarch nickte und griff nach der Pinzette und dem kleinen Skalpell. »Ein Zwergbräunling«, sagte er. »Der Jäger hat ihn von einem Schluchter bekommen. Sie sind selten geworden.« Er griff vorsichtig mit der Pinzette in den geöffneten Bauch des Vogels und zog einen kleinen, graubräunlichen Klumpen heraus, den er mit dem Skalpell abtrennte. »Die Leber«, sagte er. »So klein und so giftig, dass man damit den halben Turm töten könnte, wenn sie in die Wasserversorgung geriete.« Er wendete das winzige Organ dicht vor seinen Augen hin und her und lächelte. »Gib mir das Präparateglas an.«

Valentin tat es und sah schweigend zu, wie sein Vater die kleine Vogelleber mit großer Sorgfalt in das Glas fallen ließ und es verkorkte. Dann wischte er sehr gründlich seine Hände an einem scharf riechenden Lappen ab und nickte Valentin zu. »Du hast dich duelliert?«

Valentin fragte sich nicht, woher sein Vater das wusste. »Der jüngere Marcus. Er war kein echter Gegner.«

»Gut, sehr gut.« Der Panarch legte seine Hand auf Valentins Schulter und schob ihn zum Fenster. »Möchtest du etwas trinken?«

Valentin akzeptierte ein Glas Wein und den ihm angebotenen Platz in dem breiten Ledersessel. Er nippte an seinem Glas und beobachtete wachsam seinen Vater, der sich selbst umständlich aus einer Kristallkaraffe bediente.

»Wie geht deine Ausbildung voran?«, fragte der Panarch und ließ sich ihm gegenüber nieder.

»Ich denke, es gibt keinen Grund zur Klage.« Valentin drehte den Stiel seines Glases in den Fingern. »Was mich betrifft, würde ich mich gerne etwas eingehender mit der Geschichte der Rauen Jahre befassen. Damals fielen die Türme 18 bis 21 und die Chronisten berichten über den Vorgang nur sehr unkonkret. Ich würde gerne herausfinden … « Er unterbrach sich, weil sein Vater offensichtliche Langeweile zeigte. »Aber das ist nicht wichtig«, sagte er.

Der Panarch ließ seinen Blick wieder auf Valentin ruhen. »Sehr schön, sehr schön«, sagte er geistesabwesend. »Hatte ich nicht deinen Erzieher ersucht, ebenfalls bei mir vorzusprechen?«

Valentin stellte behutsam das Glas ab, aus dem einige Tropfen auf seine Hand gespritzt waren. »Ich bitte darum, ihn zu entschuldigen«, sagte er. »Alban ist unpässlich, aber alles, was meinen Unterricht betrifft, könnt Ihr mit mir besprechen und ich werde es getreulich an ihn weitergeben.«

Der Blick des Panarchen fokussierte sich und wurde unangenehm klar und kalt. »Er ist unpässlich?«

Valentin schluckte. »Ja, Euer Gnaden. Er hat wohl etwas gegessen, das ihm nicht bekommen ist.«

Laurenz Lecares Blick bohrte sich förmlich in das Innere seines Sohnes. »Gegessen? Oder vielmehr – getrunken?«

»Gegessen«, erwiderte Valentin fest. »Ich verbürge mich für ihn, Euer Gnaden.«

Der Panarch lehnte sich zurück und faltete die Hände vor dem Mund. Sein Blick löste sich nicht von Valentins Gesicht, und der fühlte sich mittlerweile so hilflos und aufgespießt wie eine der vielen bunten Schmetterlinge, die seines Vaters Sammelkästen füllten.

Endlich entließ der Panarch ihn aus seiner Aufmerksamkeit. Er beugte sich vor und nahm sein Glas auf. »Du bist loyal«, sagte er und trank. »Ich schätze Loyalität, vor allem bei meinen Söhnen.«

Valentin erlaubte sich auszuatmen. »Er ist ein guter Lehrer.«

»Das ist er.« Laurenz Lecare hob die Brauen. »Sonst hätte ich ihn längst in die Untergeschosse verbannt oder hinrichten lassen.« Er schwieg und betrachtete die Strahlen der untergehenden Sonne, die sich in seinem Glas brachen.

»Ich möchte, dass du dich mit den Legenden um Turm Null beschäftigst«, sagte er unvermittelt. »Auch das gehört zu unserer Geschichte und wird oft vernachlässigt. Ein zukünftiger Panarch muss über diese unsere Ursprünge alles wissen, was es zu wissen gibt.«

Valentin zog die Brauen zusammen. »Das sind Kindermärchen«, sagte er unwillig. »Niemand, den ich kenne, glaubt an diesen legendären Turm Null und diese alberne Endzeitprophezeiung. Was oben ist, wird fallen! So ein Blödsinn!«

Der Panarch hob die Hand. »Es mögen Märchen sein, aber jeder weiß, dass sich in Legenden ein Körnchen Wahrheit verbirgt. Wir leben in schweren, sehr schweren Zeiten. Das Wissen unserer Vorväter könnte den Schlüssel zu unserem Heil bergen.«

Valentin sah ihn verblüfft an. »Schwere Zeiten?«, wagte er zu fragen. Was meinte sein Vater damit? Nichts im alltäglichen Ablauf deutete auf »schwere Zeiten« hin. Die Türmer lebten im Überfluss, es mangelte ihnen an nichts. »Gibt es einen Konflikt mit den Südtürmern?« Das war die einzige Erklärung. Die Türme im Süden, die an das Südliche Konglomerat grenzten, probten alle paar Generationen den Aufstand und lehnten sich gegen das Panarchat auf. War es schon wieder so weit?

Laurenz Lecare schüttelte knapp den Kopf und wandte sich um. »Du, Mädchen«, sagte er scharf, »lass Uns allein!«

Valentin, dem bislang entgangen war, dass er nicht allein mit seinem Vater war, sah erstaunt, dass sich aus dem riesigen Bett am anderen Ende des Raumes eine junge, schwarzhaarige Frau in einem hellen Nachtgewand erhob. Sie knickste, griff nach einem dunkelblauen Mantel und warf ihn über ihre hinreißenden Kurven. Als sie die weite Kapuze über ihre Locken zog, traf Valentin ein Blick aus mokkabraunen Augen, der ihm das Blut ins Gesicht schießen ließ.

Er konnte die Augen nicht von ihr wenden, als sie auf bloßen Füßen hüftschwingend zur Tür ging, dort noch einmal in einen tiefen Knicks versank und dann die Tür hinter sich schloss.

»Das … «, sagte er, »welche Eurer Gespielinnen war das? Ich glaube, ich kenne sie noch nicht.«

Der Panarch lächelte schwach. »Ein neues Mädchen aus den Untergeschossen. Mein Haushofmeister fand, ihre Schönheit sei in der Küche verschwendet.« Er trank und stellte sein Glas ab. »Gefällt sie dir? Ich kann sie anweisen, dich zu besuchen, wenn du das möchtest. Ich finde, dir stünde ein wenig mehr Erfahrung in Liebesdingen durchaus zu Gesicht.«

Valentin schluckte wieder. »Danke«, sagte er heiser. »Ich möchte Euch nicht Eures Vergnügens berauben, Vater.«

Laurenz Lecare nickte knapp und hatte das Thema schon vergessen, als er sich nun vorbeugte und einige Schriftstücke aus der Schublade des kleinen Tisches zwischen ihnen zog. »Kein Konflikt mit den Südtürmen«, sagte er, »obwohl ich täglich damit rechne. Es wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt für die Renegaten, sich erneut von Uns lossagen zu wollen.«

»Also was …?«

»Unterbrich mich nicht!«

Valentin sank tiefer in seinen Sessel und faltete die Hände in einer unwillkürlichen Nachahmung der vorigen Geste seines Vaters. Er nickte schweigend und entschuldigend.

Der Panarch holte Luft und stieß sie wieder aus. »Wir sehen uns einer Bedrohung gegenüber, die wir keinem unserer Feinde anlasten können«, sagte er. »Aber sie ist nichtsdestoweniger ernst, ernster als alles, was die Türme je bedroht hat.«

Valentin kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Sein Vater war ein starker, mutiger und weitblickender Herrscher, den so leicht nichts erschüttern konnte. Solche Worte aus seinem Mund zu hören, erschreckte Valentin mehr, als er sagen konnte.

Der Panarch reichte ihm die Schriftstücke und hielt sie noch einen Moment lang fest, als Valentin schon danach gegriffen hatte. Er sah Valentin eindringlich an. »Studiere diese Aufzeichnungen«, sagte er. »Richte dein Augenmerk vor allem auf die Zahlen und Tabellen. Ich möchte, dass du eine Analyse erstellst und mir vorträgst. Das ist deine erste richtige Prüfung, mein Sohn. Erweise dich des Amtes würdig, das nach meinem Tod auf dich wartet.«

Valentin nickte und räusperte sich. »Noch sehr lange nicht, Vater«, sagte er.

Der Panarch lächelte nicht. »Das wissen allein die Götter.«

Valentin verneigte sich tief und ging zur Tür, an der die Stimme seines Vaters ihn noch einmal aufhielt. »Ich möchte, dass du morgen Abend an dem Essen mit den Senatoren teilnimmst. Auch das wird künftig zu deinen Aufgaben zählen.«

Valentin schnitt eine Grimasse, bevor er sich umwandte und den Kopf neigte. »Ich höre und gehorche, Hochedler«, erwiderte er und wartete die Handbewegung ab, mit der sein Vater ihn entließ.

3

Es steht geschrieben: Kann Spuren von Nüssen enthalten

Sie fiel. Alles in ihr schrie danach, blind die Hände nach irgendeinem rettenden Halt auszustrecken, aber sie wusste, dass ihr die messerscharfen Kanten der Eisenreben-Blätter die Finger bis auf die Knochen zerfleischen würden. Sie musste warten, bis sie in die weniger stark belaubte Region unterhalb der Baumwipfel eintauchte. Und dann blieb ihr natürlich nicht mehr als ein Wimpernzucken, um sich vor dem Aufprall zu retten. Wahrscheinlich würde sie sich die Schultern auskugeln bei dem Versuch, sich festzuhalten.

Elster biss die Zähne zusammen und sah durch die Tränen, die der Wind aus ihren Augen riss, die Baumwipfel rasend schnell näher kommen. Jeden Moment …

Ein lautes Fauchen ließ ihre Ohren klingeln und eine unsichtbare Faust packte sie unvermutet und schleuderte sie zur Seite. Der Luftwirbel trieb sie ein Stück aufwärts, sie stand für eine Millisekunde in der Luft, dann setzte sich der Fall fort.

Es knackte in ihren Ohren, dann hörte sie: »Ħãb đï¢ħ!«

Wieder das Fauchen, dann schob sich der kleine Gleiter scheinbar langsam unter sie, glich seine Geschwindigkeit der ihren an und fing sie so sanft auf, als wäre sie nur von einer kopfhohen Mauer ins Gras gesprungen.

Elster lag rücklings quer über dem brüchigen Leder des rechten Sitzes und starrte mit panisch aufgerissenen Augen in den Himmel, während sich das Verdeck über ihr schloss. Die letzten Tropfen platschten auf ihre Stirn, dann war es dunkel bis auf die gelb und grün leuchtenden Anzeigen der Instrumententafel. An einem Lederriemen baumelte die Gabel vom Dach. Indigo hatte sie dort angebracht, obwohl er sonst nicht viel vom Alten Glauben hielt. Aber man konnte ja nie wissen, wann man ein bisschen Unterstützung brauchen konnte, und heute hatte die Gabel ihr anscheinend Glück gebracht. Sie sollte dem Heiligtum mal wieder einen Besuch abstatten und ein paar Opfergaben dort lassen.

»Herzlich willkommen an Bord«, sagte Indigo. In seiner Stimme zitterte die Anspannung.

Der Gleiter bockte und gab hustende Geräusche von sich.

»Bring ihn runter«, flüsterte Elster, ihrer Stimme noch nicht wieder vollkommen mächtig.

Indigo beugte sich über das Ruder und lenkte den schlingernden Gleiter mit seinen großen, zuverlässigen Händen in einer weiten Spirale zum Boden. Elster seufzte und schloss die Augen. Hinter ihrer Stirn fühlte sie immer noch den rasenden, sausenden Fall und hörte das Heulen des Sturmes.

»Du hättest landen müssen«, sagte sie nach einer Weile. »Ich will nicht undankbar klingen, aber es war Selbstmord, bei diesem Wetter oben zu bleiben.«

Er knurrte gleichmütig und kämpfte mit dem bockenden Ruder. »Dein Vater hätte mich umgebracht«, sagte er nach einer Weile, in der er sich auf die trudelnde Maschine konzentriert hatte.

Elster öffnete die Augen und sah ihn an. Indigo, ihr ältester, bester Freund. Der Bruder, den sie nicht hatte. Breite Schultern, große Hände, ein Brustkorb wie ein Schmied, lockiges dunkles Haar, dunkelblaue Augen und ein kräftiges Kinn. Er wirkte langsam und ein wenig begriffsstutzig, weil er ruhig war, wenig sprach und gründlich nachzudenken pflegte, ehe er etwas sagte. Aber Elster wusste, dass hinter dieser breiten, glatten Stirn ein Verstand arbeitete, der auch große und schwere Brocken zu feinem Sand zermahlen konnte, wenn man ihm nur die Zeit dazu ließ.

Sie streckte die Hand aus, die schmutzig und blutverschmiert war, mit abgeschürften Knöcheln und gebrochenen Nägeln, und legte sie auf sein Knie. »Danke«, sagte sie. »Ich wäre tot. Oder so zerschlagen, dass die Schamanen mich für ein paar Wochen in die tiefe Kaverne gesperrt hätten.« Sie schauderte. Einmal war sie nach einem Sturz dort hingebracht worden, tief unter die Erde, in Kälte und Dunkelheit und in einen hypnotischen Dämmerzustand versetzt, der weder Schlaf noch Bewusstlosigkeit war. Schlimme Träume hatten sie dort verfolgt.

Indigo nahm ihre Hand und drückte sie vorsichtig. »Geht schon klar«, sagte er und lächelte sie an. »Du hättest das Gleiche für mich getan.«

»Aber ich hätte es versaut«, murmelte Elster. Sie wäre mit dem Gleiter beim Versuch, ihn aufzufangen, gegen die Turmwand geprallt.

»Den Trick musst du mir zeigen«, sagte sie. »Wie du mich von der Wand weggesaugt hast.«

Er grinste, das konnte sie im Augenwinkel sehen. »©ãķēωãłķ«, sagte er.

»Das sagst du.« Elster lächelte. Er war ein großartiger Steuermann. Sie war der Captain, immer und unter allen Umständen – aber er war ihr bester Mann.

Die Maschine hustete laut und ging aus. Elster stemmte die Füße gegen die Seitenwand. Sie waren in einen langsamen Gleitflug übergegangen und den Rest der Strecke bis zu ihrem Versteck am Totenkopfhügel konnten sie ohne Motorenunterstützung zurücklegen. Der Wind war abgeflaut, der Regen machte es schwieriger, aber es blieb immer noch genug Levitationsmagie in den Tragflächen zurück, um den Gleiter in der Luft zu halten, bis Indigo ihn auf den Boden brachte.

»Wir müssen die Sammler aufladen lassen«, sagte sie und hielt sich an den Riemen über ihrem Kopf fest.

Indigo nickte knapp. Die Sehnen an seinen Unterarmen traten wie Seile hervor. Die Gleitphase kurz vor der Landung war ein Kraftakt.

»Ich wollte, ich könnte es selbst tun«, sagte sie düster und zog mit zwei Fingern an ihrer weißen Strähne. Noch war sie nicht offiziell in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen worden, denn ihre Magie hatte sich noch nicht offenbart. Sie würde ohnehin nie zu den Magiern oder Schamanen des Schluchtervolkes gehören, die Anzeichen waren deutlich zu sehen. Schwarze Haare, eine dunkle Haut und dunkle Augen – sie war nur buchstäblich um eine Haaresbreite davon entfernt geboren worden, gänzlich ohne magische Fähigkeiten durch ihr Leben gehen zu müssen, wie auch Indigo und seine ganze Familie.

Der Gleiter setzte mit einem harten Ruck auf und schlitterte über den Boden. Seine Kufen rissen das weiche Moos bis auf den Felsboden auf. Sie kreischten wie verwundete Tiere, und Funken stoben hoch und verglommen glühwürmchengleich im Dämmerlicht des Waldes. Indigo lachte und fluchte und zerrte an dem Hebel, der ihre Rutschpartie abbremsen sollte.

Elster fackelte nicht lange und packte ebenfalls zu, dicht über seinen Fäusten. Gemeinsam gelang es ihnen, den Hebel einrasten zu lassen und damit die bremsenden Keile vor die Kufen zu bringen. Es holperte stark, und der Gleiter legte sich quer, rutschte noch ein paar Meter und kam endlich zum Stehen.

»Gute Landung«, sagte Elster und schüttelte ihre Hände. Sie lächelte Indigo an, der erleichtert zurückgrinste. »Danke, Großer. Du hast mir da oben den Hintern gerettet.«

»Nicht der Rede wert«, sagte er und klopfte ihr kurz auf den Rücken.

Elster öffnete die Klappe und sprang aus dem Gleiter. »Schieben wir ihn schnell ins Versteck«, sagte sie. »Ich befürchte, dass man uns dieses Mal gesehen haben könnte.«

Indigo packte schweigend an. Sie schoben das Gefährt, das aussah wie ein großer Kinderschlitten mit Flügeln, vor ein haushohes, teilweise abgestorbenes Gestrüpp aus Stachelbirnen und Efeuranken. Indigo zog an dem vertrockneten Gewirr, das sich öffnen ließ wie eine Tür, und sie drückten den Schlitten mit zusammengefalteten Flügeln in die entstandene Höhlung.

»Gut«, schnaufte Indigo und wollte das tarnende Gestrüpp wieder vor den Schlitten schieben, aber Elster hob die Hand. Sie kniete sich hin und öffnete mit geschicktem Griff eine Klappe in der hinteren Abdeckung.

»Der Sammler!«, sagte Indigo. »Ich habe ihn vergessen.«

Elster zog die Klemmen ab und nahm das Kästchen unter den Arm.

»Digo!«

Der Ruf ließ Elster herumfahren. Indigo schloss hastig das Versteck und stellte sich dann breitbeinig vor das Gestrüpp.

Der Anblick der schmächtigen Gestalt, die jetzt herangelaufen kam, ließ beide erleichtert aufatmen.

»Lächler«, sagte Indigo. »Du hast uns zu Tode erschreckt.«

Der Junge blieb vor ihnen stehen und schnaufte. »Ich wollte euch warnen«, keuchte er. »Einer der Alten hat euch gesehen.«

Indigo und Elster warfen sich alarmierte Blicke zu. »Was hat er gesehen?«, fragte Elster, die sich als Erste fasste.

»Den Gleiter, wie er um den Turm flog und dann hier runterging.«

Elsters gerunzelte Stirn glättete sich. »Das ist in Ordnung, es könnte ein Greiferschlitten gewesen sein.«

»Zu klein«, murmelte Indigo.

»Auf die Entfernung? Vom Dorf aus war das doch ein Mückenschiss.«

Die jungen Männer lachten. »Aber wir sollten verschwinden«, sagte Elster. »Und möglichst irgendwas zu essen mitbringen.« Ihr Blick schweifte über das lichte Unterholz. »Lächler, kontrolliere die Fallen dort drüben. Ich sehe mal nach, ob irgendwer meine Pilzstelle entdeckt hat. Und den Nussstrauch.«

Indigo hockte sich auf einen verrottenden Baumstamm und zündete sich ein Dirrumblatt an. Elster konnte deutlich seinen Magen knurren hören. Sie warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Indigo war groß und muskulös, er brauchte mehr Nahrung als der dünne kleine Lächler. »Ich bringe dir Nüsse«, rief sie und winkte ihm zu.

Die Pilzstelle lag gut versteckt in einer Senke hinter einem dornigen Gebüsch. Elster schlängelte sich fluchend hindurch und leckte an den tiefen Kratzern, die sie sich an ihren ohnehin zerschundenen Händen zuzog. Sie zerrte ihr Messer aus dem Gürtel und begann die violetten Jämmerlinge zu schneiden. Sie hatte keinen Korb bei sich, also zog sie ihre nasse Jacke aus und sammelte die Pilze darin. Ihr Blick flog über das Gebüsch. Der Nussstrauch verbarg sich hinter diesem weiß blühenden Geranke, und wenn sie Glück hatte, fand sie noch ein paar Nüsse in seinem schütteren Geäst.

Wenig später kehrte sie zerkratzt und mit trockenen Blättchen übersät zu Indigo zurück, der gerade den letzten Rest seines Röllchens in den weichen Waldboden trat. »Hier«, sagte sie und leerte ihre Hosentaschen.

Indigo lächelte breit und begann damit, die harten Nussschalen mit den bloßen Fingern aufzuknacken. Elster sah ihm fasziniert dabei zu.

Indigo streckte ihr die schwielige Handfläche hin, auf der goldbraun die glatten Nusskerne schimmerten. Elster nahm eine und steckte sie in den Mund. »Der Rest gehört dir«, sagte sie und genoss den bitterscharfen Geschmack, den das harte Nussfleisch beim Kauen über ihre Zunge schickte. »Willst du auch einen Pilz?«

Lächler tauchte aus dem Gebüsch auf und schwenkte einen grünpelzigen Säbler in der einen und süße Wurzeln in der anderen Hand. »Glückstag«, rief er. »Es gibt Fleisch!«

Elster lachte und klatschte ihn ab. »Los, sucht Kräuter«, kommandierte sie. »Das ist unser Glückstag, unser verdammter Glückstag!«

Winter erwartete sie auf dem Dorfplatz. Sie hatte ihre Strickjacke eng um den Leib gezogen und fröstelnd die Arme um die Taille geschlungen. Seit sie mit ihrer Ausbildung begonnen hatte, fror Winter eigentlich immer. Es hatte eine Zeit gegeben, in der Elster sie bedauert und sich nachts in ihrer beider Bett eng an ihre Zwillingsschwester geschmiegt hatte, um ihr etwas von ihrer eigenen Wärme abzugeben.

Aber das war lange vorüber. Wenn Winter nun für ihre kurzen Besuche hier im Dorf war, schliefen sie immer noch in einem Bett, aber nun drehten sie sich den Rücken zu oder lagen Fuß an Kopf.

Winter, ihre Zwillingsschwester. Geboren zur gleichen Stunde, ein Ei und ein Schoß, ein Atemzug und ein erster gemeinsamer Schrei. Winter, die Gesegnete, die Elster jeden Tag vor Augen führte, was hätte sein können.

Elster spürte unvermutet einen scharfen Stich des Bedauerns, als sie die schmale, helle Gestalt ihrer Schwester erblickte. Was war geschehen, dass sie sich nicht mehr liebten, sondern mit Argwohn und Eifersucht in den Augen betrachteten? Winter mit ihrem weißen Haar und den goldenen Augen, der zarten, durchsichtigen Haut und dem empfindsamen Beben ihrer Glieder. Schon lange war den Schluchtern kein Kind geschenkt worden, dessen Begabung so deutlich von der ersten Sekunde an zu erkennen war. Sie war von allen harten Arbeiten befreit worden, nachdem die Schamanen des Prinzips ins Dorf gekommen waren, um die Kinder mit den weißen Haaren zu prüfen. Sie hatten es verkündet: Winter würde die Schamanin sein, die die Familien anführen würde, wenn Om einmal von ihnen ging. Om, das Prinzip, die das Oberhaupt aller Schluchter war und so alt … so alt.

Es war eine Ehre für ihre Familie und eine Ehre für das ganze Dorf, und Winter wurde von da ab behandelt wie eine Prinzessin. Vor einem Jahr war sie abgeholt worden, um ihre Ausbildung zu beginnen, und kam nur noch zu seltenen Besuchen zurück in ihre Heimat. Das alles konnte Elster ihr nicht vergeben, obwohl sie selbst wusste, wie dumm und kindisch ihr Groll war.

Sie seufzte und ging mit den beiden jungen Männern im Schlepptau auf Winter zu. »Gibt es etwas?«, fragte sie schroff. »Wartest du auf mich?«

Winter verschränkte die Arme noch enger und sah sie durch weiße Wimpern trotzig an. »Ich hatte ein Gefühl«, sagte sie. »Eine böse Ahnung. Aber nun sehe ich, dass es dir gut geht, und lasse dich in Ruhe.« Sie warf ihr weißes Haar über die Schulter und stakte durch den Matsch zum Haus zurück.

Elster bemerkte die Seitenblicke, die Lächler und Indigo ihr zuwarfen. Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. »Was steht ihr hier herum? Ab in die Küche«, sagte sie.

Sonne klatschte vor Freude in die Hände, als sie den Säbler und die Pilze sah. Elster tat es in der Seele weh, das eingefallene, graue Gesicht ihrer Mutter zu sehen. Sonne wurde von einem bösen Husten geplagt und hatte stärker abgenommen, als es allein die schmale Kost verursachen konnte. Die Schamanin des Dorfes kümmerte sich um Sonne, sie hatte sie schwitzen lassen und ihr bittere Tränke eingeflößt, aber der Husten wollte nicht weichen.

Elster nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie vorsichtig an sich. Zerbrechlich und leicht wie ein kleiner Vogel, dachte sie. »Leg dich hin, Mama«, sagte sie sanft. »Wir übernehmen das Kochen. Lächler und Indigo essen mit uns.«

Sonne nickte und strich sich mit einer müden Geste das ergrauende Haar aus der Stirn. »Danke«, sagte sie. »Ich fühle mich heute ein wenig schwach.« Sie tappte zum Nebenraum, wobei sie vor der Gabel, die an der Wand hing, zwei Finger hob. Sonne vergaß nie, die Alten zu ehren, egal, wie schlecht es ihr selbst ging.

Indigo häutete den Säbler und nahm ihn aus, wobei er vorsichtig die giftigen Teile entfernte und beiseitelegte, damit sie vergraben werden konnten. Er hatte die breiten, geschickten Finger eines Mechanikers. Lächler putzte die Pilze und die Wurzeln und Elster hackte die Kräuter. »Salz«, sagte sie sehnsüchtig. »Ich könnte morden für Salz.«

Lächler blickte auf und tat das, was ihm schon als Säugling seinen Namen eingebracht hatte. »Ich habe Salz«, sagte er. »Genug für einen Säbler. Eingetauscht für zwei Wandler und einen Sammler.«

Elster bedeutete ihm, sich zu sputen. Lächler rannte los und kehrte wenig später mit einem kleinen Beutel zurück, aus dem er zwei gefaltete Papierbriefchen zog.

Elster und Indigo sahen ihm andächtig zu, wie er das grünliche Fleisch mit großer Sorgfalt innen und außen mit dem kostbaren Salz einrieb. Dann öffnete er das zweite Briefchen und ließ Elster daran riechen. Sie stöhnte vor Freude.

»Krummsaat«, sagte sie. »Oh, Lächler, du bist gerade zu meinem besten Freund befördert worden.«

Indigo zog eine betrübte Grimasse, aber seine Augen lachten.

Dann kochte der Säbler in der Brühe, und sie setzten sich auf die Bank vor dem Haus, um zu rauchen und den Sonnenuntergang über den Baumwipfeln zu betrachten.

»Wo ist Winter?«, fragte Indigo nach einer Weile. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen dem dünnen Rauchfaden nach, der seine Lippen verließ.

Lächler räusperte sich, sagte aber nichts.

Elster lehnte sich an die warme Hauswand und streckte die Beine lang aus. Sie schnippte den Stummel ihres Röllchens in den Matsch. »Keine Ahnung«, sagte sie abweisend. Es war anscheinend ihr Schicksal, dass sie beim Gedanken an eine ihrer Schwestern voller Trauer, Zorn und Groll sein musste. Sie beneidete Indigo und Lächler, die beide ohne Geschwister leben durften. Überhaupt waren die drei Töchter von Turff und Sonne eine seltene Erscheinung im Dorf. Es war ungewöhnlich, dass ein Ehepaar mehr als ein Kind bekam, und sehr oft blieben Paare sogar kinderlos.

Das war früher nicht so gewesen, jammerten die Alten. Kinder waren wichtig, denn sie sorgten dafür, dass auch die Alten noch etwas zu essen bekamen. Aber mittlerweile waren Kinder selten geworden, und Elster vermutete, dass das einfach daran lag, dass sie alle ständig Hunger hatten.

Nicht, dass die Wälder sie nicht mit allem versorgten, was eine Dorfgemeinschaft zum Leben – zum guten Leben! – benötigte. Auf den mühsam gerodeten Flächen rundum wuchsen Knollen und das struppige Getreide, aus dem das dunkle, harte Brot gebacken wurde. Außerdem gab es Weidegrund für die Schafe und Ziegen, die in guten Jahren prächtig gediehen. Aber die Milch und das Fleisch waren für die Türmer reserviert und von allem anderen holte der Turm sich noch zusätzlich seinen Zehnt. Von allem.

Elster löste ihre geballten Fäuste. Von allem. Auch von den wenigen Kindern, die dem Dorf geboren wurden. So hatte ihre älteste Schwester Jett ihre Tochter verloren. Die Greifer waren in ihren glänzenden Schlitten gelandet und hatten den Zehnt geholt, und die kleine, strahlende Amber hatte dazugehört, obwohl ihre Mutter geschrien und geweint hatte, als würde ihr das Herz aus dem Leib gerissen. Ein Jahr lang hatte sie um Amber getrauert, und dann war sie selbst gegangen, um niemals wiederzukehren.

Wendel, ihr Mann, hatte den Schicksalsschlag nicht verwinden können. Er war eines Tages auf der Suche nach kostbaren Artefakten weit in die Alten Kammern vorgedrungen und von dort nicht zurückgekehrt. Er hatte den Grundsatz vernachlässigt, nach dem niemand alleine in die Tiefe gehen durfte. Vielleicht hatte er sich dort unten ertränkt aus Gram über den Verlust seiner Tochter und seiner Frau.

Elster seufzte tief und flocht einen dünnen Zopf aus ihrer weißen Haarsträhne.

Indigo nahm Elsters Hand und drückte sie. Sie blickte auf und nickte ihm zu, zwang die Tränen zurück und lächelte. »Sehen wir nach der Suppe«, sagte sie.

4

Es steht geschrieben: Aktion ist gleich Reaktion

Valentin ließ den Degen um seine Hand wirbeln, während er rückwärts vor Cosimo hertänzelte. Er wischte mit der freien Hand über seinen Nacken und drehte die schweißfeuchten Haare zusammen. »Er hat versucht, mich reinzulegen«, sagte er lachend. »Dieser komplette Idiot hat wahrhaftig versucht, mich reinzulegen, und noch dazu mit so einem abgenutzten Trick.«

Cosimos Sommersprossen tanzten, als er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen verzog. »Idiot«, stimmte er seinem Freund zu. »Darauf wäre vielleicht meine kleine Schwester reingefallen, aber … « Er unterbrach sich und das Grinsen verschwand von seiner Miene und machte einem betroffenen Ausdruck Platz. »Ich wollte sagen, natürlich konnte er dich nicht täuschen, Val«, stotterte er. »Du bist einfach besser als er. Und klüger. Jeden anderen hätte er damit überrumpelt, ganz klar.«

Valentin hob das Kinn. »Darauf kannst du einen Eid schwören«, sagte er kalt. Er klemmte den Degen unter den Arm und setzte stumm seinen Weg fort.

»Wollen wir was essen gehen?«, fragte Cosimo und hob die Schultern fast bis zu den Ohren. Sein grünes, goldbesticktes Hemd spannte über seinem breiten Brustkorb und den Bizepsen. »Ich habe vor dem Unterricht gefrühstückt, und das ist Stunden her!«

Valentin vergaß seinen Groll und lachte. Er klatschte dem Freund auf den festen Bauch. »Du bist der verfressenste Mensch, der mir je begegnet ist«, sagte er vergnügt. »Aber meinetwegen, ich begleite dich. Bis zum Treffen mit den Senatoren ist noch reichlich Zeit, und ich esse besser vorher etwas, weil ich dort garantiert keinen Bissen herunterbekomme.«

»Prima«, sagte der Rothaarige erleichtert. Er ging etwas schneller, die Aussicht auf Nahrung schien ihn zu beflügeln.

Valentin fiel ein wenig hinter ihm zurück und dachte über das vorangegangene Duell nach. Sein Halbbruder Rufus hatte ihn jetzt zum dritten Mal herausgefordert und war dreimal besiegt worden. Damit musste er Valentin jetzt für drei Monate der offiziellen Sperrfrist mit seinen Forderungen in Ruhe lassen – was ihn aber sicherlich nicht daran hindern würde, Valentin irgendwo aufzulauern.

Seit sein Vater Valentin auch offiziell zum Nachfolger ernannt hatte, musste er sich beinahe täglich mit jemandem duellieren. Dazu kamen die Trainingskämpfe und das monatlich anberaumte kleine Festival, nicht zu vergessen die großen Festivals, die alle drei Monate stattfanden. »Brot und Spiele«, murmelte er. Das waren Albans Worte gewesen, die er mit diesem angedeuteten Verziehen seiner Mundwinkel und einem winzigen Verengen der Augen begleitet hatte. Spöttisch, ein wenig angewidert. Valentins Erzieher hielt wenig davon, seinen Rang und Platz in der Gesellschaft von seinen Fechtkünsten oder dem Gebrauch anderer Waffen bestimmen zu lassen.

Sie betraten einen der Gänge, die wie Speichen eines Rades vom Außenring zur »Nabe«, dem zentralen Treppenhaus des Turmes, führten. »Fahren oder laufen wir ein paar Stockwerke?«, fragte Valentin, obwohl er Cosimos Antwort bereits kannte.

Der hob die Finger an die Stirn und zeigte mit der anderen Hand auf die über fünfzig im Kreis um die Nabe angeordneten Aufzugschächte. »Blöde Frage«, sagte er überflüssigerweise.

»Cosimo, wenn du nicht aufpasst, wirst du so fett wie Senator Andoni«, zog Valentin ihn auf.

Cosimo schnaufte gekränkt. Der Senator war sein Onkel, ein sanftmütiger und ruhiger Mann mit einem Verstand, der so scharf war wie ein Messer. Cosimo hatte dagegen den Verstand seines Vaters geerbt, und der war bekanntlich nicht der schärfste Dolch im Gürtel.

Valentin legte seinem Freund versöhnlich den Arm um die Schultern. »Entschuldige«, sagte er. »Ich bin ein bisschen nervös. Der Panarch hat schon seit Tagen unerklärlich schlechte Laune.«

Cosimo drückte seinen Arm. »Ich habe gehört, dass er Streit mit seiner Favoritin hat«, murmelte er.

Valentin zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Lady Sylvia ist eine Zicke.« Vor seinem inneren Auge tauchte die schwarzhaarige Schönheit mit den braunen Augen auf, die zurzeit das Bett des Panarchen wärmte. Es war kein Wunder, dass Lady Sylvia schäumte.

Sie blieben vor dem westlichen Aufzug stehen und Valentin betätigte den Rufknopf. Sie warteten schweigend. Das Surren der Räder und Treibriemen seufzte wie ein zartes Echo des Sturms, der am gestrigen Tag über dem Turm geheult hatte. Valentin gefiel es an solchen Tagen, sich das Toben der Elemente vorzustellen, in dem der Turm so still und unerschütterlich aufragte.

Ein Glöckchen erklang, dann glitt die Aufzugtür auf. »Nach Euch, Euer Lordschaft.« Cosimo vollführte einen formvollendeten Kratzfuß. Valentin lachte und gab ihm einen Stoß, dass sein Freund vorwärtstaumelte und beinahe mit dem Kopf gegen den Türrahmen stieß.

»Blödian«, sagte Cosimo friedlich und betrat die Kabine, um dort auf einem der samtbezogenen Sitze Platz zu nehmen.

Sie stiegen zweihundert Stockwerke weiter oben aus und betraten die nordöstliche Speiche. Die klarstahlverkleidete Außenwand, auf die sie zugingen, ließ strahlenden Sonnenschein ein und bot einen atemberaubenden Ausblick auf die Wolken, über denen sie sich befanden. Valentin ertappte sich dabei, dass er zu pfeifen begann.

Das Liedchen verstummte jäh, als ihnen ein Mann entgegenkam. Sein Gang war unsicher und schwankend, er hielt den Kopf gesenkt und taumelte mehrmals gegen die Wand des Ganges.

»Verdammt«, fluchte Valentin, als er ihn erkannte. Er ließ seinen Degen fallen und sprintete vor, um den Stolpernden aufzufangen und vor einem Sturz zu bewahren.

»Ist er verletzt?«, rief Cosimo, der den Degen aufgehoben hatte und jetzt zu ihm aufschloss. »Kannst du Blut sehen, eine Wunde?«

Valentin hatte den Mann unter den Achseln gepackt und hielt ihn aufrecht. Er fluchte wieder. »Du hast es mir gestern versprochen«, sagte er und schüttelte den Mann. »Verdammt, Alban, du weißt, was der Panarch mit dir machen wird!«

Der Mann hob mühsam den Kopf. Sein schmales Gesicht mit dem kurzen Bart war gerötet, die braunen Augen blutunterlaufen. »Scheiß drauf«, murmelte er und begann die Augen zu verdrehen. Seine Beine gaben nach und er sackte in Valentins festem Griff zusammen.

»Bleib wach!«, sagte Valentin scharf. »Du klappst mir hier nicht zusammen, Alban. Auf die Füße!«

Das Kommando erreichte seinen Zweck. Alban stemmte sich hoch und schob Valentin würdevoll von sich. »Kann stehen«, sagte er und machte zwei unsichere Schritte, die ihn erneut gegen die Wand prallen ließen. Er stand da, die Hände aufgestützt, ließ den Kopf sinken und gab ein Geräusch von sich, das Valentin hastig zurückspringen ließ. »Oh nein«, sagte er und wich noch weiter zurück. »Alban, das ist des Guten zu viel!«

Cosimo würgte synchron mit Alban und wandte sich ab. »Alle guten Götter«, murmelte er. »Ich dachte, er hat das im Griff.«

Valentin zwang sich, erneut auf Alban zuzugehen und seinen Arm zu nehmen. »Fertig?«, fragte er nicht sonderlich freundlich. »Reiß dich zusammen, Mann. Komm schon.«

Ohne der bräunlichen Lache auf dem polierten Boden weiter Beachtung zu schenken, zog er den Schwankenden mit sich. Bedienstete würden sich darum kümmern, dafür waren sie schließlich da.

»Pack mit an«, sagte er, als Alban immer schwerer auf ihm lastete.

Cosimo hechtete an seine Seite und griff nach Albans herabbaumelnden Armen. »Lass los«, sagte er kurz. »Ich hab ihn. Wehe, du kotzt mich voll, Mann.« Er wuchtete sich den stöhnenden Mann über die Schulter und grinste Valentin an. »Wohin mit ihm?«

»In sein Quartier.« Valentin runzelte die Stirn. »Ich kann ihn so nicht herumlaufen lassen.«

»Der läuft nicht mehr«, gab Cosimo zurück. »Wir können ihn einfach hier irgendwo in eine der Nischen setzen … «

Valentin hob die Hand und sein Freund verstummte. »In sein Quartier«, wiederholte er. »Schaff ihn zu den Aufzügen.«

Eine Viertelstunde später waren sie mit Alban zwei Stockwerke tiefer auf der Nordseite angelangt. Cosimo atmete etwas schwerer und grummelte leise. »Ich hätte ihn oben sitzen lassen«, murmelte er.

Valentin warf ihm einen zornigen Blick zu. »Du weißt, was ihm blüht, wenn der Panarch ihn so sieht.«

»Das interessiert mich nicht«, muckte Cosimo auf. »Wenn er volltrunken durch den Turm tanzt, ist das sein Problem.«

Valentin schluckte seine Antwort hinunter. Im Grunde hatte Cosimo ja recht. Alban wusste, dass er sich keinen Fehltritt mehr leisten durfte. Es war Valentin ein Rätsel, warum Alban geradezu auf die Bestrafung zu drängen schien.

»Rein mit ihm«, sagte er und öffnete die Tür. Stickige Luft schlug ihm entgegen. Die Räumlichkeiten, die zu den Speichen hin gelegen waren, hatten keine Fenster, deshalb tastete er nach dem Schalter für das Licht. Es knackte und die in den Wänden verborgenen Lampen wurden langsam heller. Das war ein Vorgang, den Valentin nicht mehr bewusst zur Kenntnis nahm. Woher das Licht kam, was es speiste, wieso es keine Hitze ausstrahlte – als kleinen Jungen hatten ihn diese Fragen so sehr beschäftigt, dass er sich deshalb sogar in die unteren Etagen des Turmes gestohlen hatte, um die geheimnisvollen Maschinen zu sehen, die all das bewirkten.

Gefunden hatte er endlose, düstere Gänge, Hallen voller Apparaturen, schäbig gekleidete, sich bei seinem Anblick stumm an die Wände drückende Schluchter, die so düster und gedrückt, so traurig und so ärmlich und krank aussahen, dass Valentin noch lange danach in seinen Träumen von diesem Anblick geplagt worden war.

Alban hatte ihn aus dieser Unterwelt gerettet, und er konnte nicht vergessen, wie dankbar er gewesen war, als sein Erzieher ihn an die Hand genommen und von dort weggebracht hatte, wieder hinauf ins Helle, ins Warme, in die Schönheit. Später war Alban mit ihm dorthin zurückgekehrt, um ihm zu zeigen, wie die unteren Geschosse des Turmes beschaffen waren, aber da war Valentin schon einige Jahre älter gewesen und hatte sich nicht mehr ganz so sehr gegruselt.

»Leg ihn auf sein Bett«, befahl er Cosimo. »Behandle ihn nicht so grob, Cosimo. Es geht ihm schon schlecht genug.«

Cosimo tat, wie ihm befohlen wurde. Er ließ Alban auf das schmale Bett fallen und dehnte seine Schultern. »Ich ziehe ihn aber nicht aus«, sagte er.

Valentin schüttelte den Kopf und deckte den Bewusstlosen zu. »Lösch das Licht«, sagte er und wartete, bis Cosimo ihm die Tür öffnete.

Valentin hatte sich in die steife Galauniform gezwängt, die er schon seit Monaten nicht mehr getragen hatte. Nur zu höchstoffiziellen Anlässen wie zum Geburtstag des Panarchen und zur Eröffnung des Festivals am Staatsfeiertag musste er sie tragen und hasste es vom ersten bis zum letzten Moment.

Er stand vor dem Spiegel, schob ungeduldig die Hände des Dieners beiseite und schloss den hohen, kratzigen Kragen selbst. Er seufzte. Cremiges Weiß und schimmerndes Gold, feuerfarbene und königsblaue Paspelierungen und Stulpen, ein Dreispitz mit goldenen und roten Federn, glänzende Stiefel, Epauletten und goldgeflochtene Achselstücke und Fangschnüre … er sah aus wie ein verdammter Papagei!

Valentin drehte sich um und knurrte seinen Diener an: »Da sind deine Fingerabdrücke auf den Epauletten.«

Der Mann seufzte erschreckt und beeilte sich, das blanke Metall mit einem weichen Lappen auf Hochglanz zu polieren. Valentin wartete ungeduldig und sagte dann: »Dreispitz.« Er schnippte mit den Fingern und klemmte die Kopfbedeckung unter seinen Arm. Der Degen schlug hart gegen den Stiefelschaft, als er sich wieder zum Spiegel umdrehte. »Mantel.«

Der Diener legte ihm den in weichen Falten bis zu den Fersen fallenden, königsblauen Umhang über die Schultern und richtete ihn penibel aus. Valentin sah seinem düster dreinschauenden Spiegelbild in die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Was für ein Aufstand für ein Abendessen mit ein paar lausigen Senatoren! Er zupfte an seiner schwarzen Stirnlocke und seufzte wieder.

»Räum auf und verschwinde«, sagte er barsch und marschierte mit knallenden Absätzen hinaus. Wie sehr er diese Stiefel hasste. Es war unmöglich, sich darin leise und geschmeidig zu bewegen, und auch der feste Stoff der Uniform und all die verdammten Zierborten und Paspeln engten seine Beweglichkeit unerträglich ein. Es war, als trüge er Kleider aus Holz und Metall.

In düsterem Brüten ging er die Speiche hinab und achtete nicht auf die leichten Schritte, die ihm folgten.

Er hatte es Cosimo häufig genug eingebläut: Achte auf die dunkle Stelle an der Kreuzung, kurz bevor die Speiche in die Nabenhalle übergeht. Wenn dich jemand überrumpeln will, wird er es dort tun. Die Speiche verengt sich und das Licht aus der Halle blendet dich für einen Moment. Wenn der Angreifer geschickt ist, drängt er dich gegen die Wand und blockiert deinen Degenarm …

Valentin keuchte und warf sich herum. Wie hatte er so unvorsichtig und dumm sein können, dermaßen gedankenverloren, taub und blind durch die Speiche zu stolpern? Der Arm, der sich um seinen Hals legte, drückte auf seinen Kehlkopf, und allein der steife Kragen bewahrte ihn davor, unter Erstickungskrämpfen gegen den unsichtbaren Gegner ankämpfen zu müssen. Die Degenscheide klemmte nutzlos zwischen ihm und der Wand. Er beugte sich vor, um den anderen abzuschütteln und nach dem Dolch in seinem Stiefel zu angeln, knurrte tief und verzweifelt und verfluchte einmal mehr die steife Uniform, deren Jacke mit dem schweren Gürtel ihn jetzt erfolgreich daran hinderte, den Griff der Waffe zu erreichen.

Wieder warf er sich herum, hoffte, den Angreifer gegen die Wand schmettern zu können, aber der wich geschmeidig aus, und nun drückte sich die scharfe Spitze eines Dolches gegen sein Kinn und wanderte langsam tiefer. »Gibst du auf?«, flüsterte eine Stimme in sein Ohr.

Er stand still und hörte das Pochen seines Herzens, das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, spürte das Kitzeln der Schweißperlen, die über seine Schläfe liefen. Wer war es? Einer seiner Halbbrüder, der ihm endlich den Garaus machen wollte? Ein schneller, sicherer Stoß mit dem Dolch und Valentin läge sterbend in seinem eigenen Blut. Wie hatte er sich nur so sicher fühlen können? Musste er diesen einen Moment der Unaufmerksamkeit nun gleich mit seinem Leben bezahlen?

Er glaubte die Stimme seines Vaters zu hören, der kühl bemerkte: »So ist es, Sohn. Es ist immer genau dieser eine Moment, der dich das Leben kosten wird.«

»Ich ergebe mich«, krächzte er und hilflose Wut ließ Tränen in seine Augen steigen. Noch war er nicht verloren. Ein kurzer Moment, in dem der andere zögerte, kurz bevor er zustieß, mochte ausreichen, damit er sich befreien konnte. Er zwang sich, seine Muskeln erschlaffen zu lassen.

Der Druck des Messers wich von seiner Kehle, und ein Lachen erklang, das ihm gleichzeitig vor Erleichterung die Knie wanken und ihn vor Wut aufschreien ließ. Er fuhr herum und drückte die Angreiferin gegen die Wand, deren pfefferminzgrünes Auge vor Lachen sprühte. Über dem linken Auge trug sie wie immer eine Klappe, heute passend zum Anlass und zu ihrem Abendkleid eine edelsteinbesetzte.

»Du!«, fauchte er und Speichel sprühte von seinen gebleckten Zähnen. »Du … was hast du dir dabei nur gedacht?«

»Ich dachte, ich helfe dir dabei, einen öden Abend ein wenig spannender zu gestalten.« Seine Cousine lachte, schob ihn von sich und steckte den Dolch zurück in die Scheide an ihrem Schenkel. »Na«, rügte sie ihn und gab ihm einen Klaps mit ihrem Fächer. »Man schaut einer Dame doch nicht dabei zu, wie sie ihre Waffen richtet.«

Sie ordnete mit zwei geschickten Griffen ihr dunkelblondes Haar und reichte ihm ihren Arm. »Geleitet mich also zu diesem sicherlich sterbenslangweiligen Abendessen, mein unvorsichtiger Cousin.«

Valentin drehte sich weg und tupfte hastig den Schweiß von seiner Stirn. »Leona, du bist eine echte Pest«, stieß er hervor.

»Danke gleichfalls, Euer Liebden.« Sie erwartete stoisch und lächelnd, dass er ihren Arm nahm, was er zähneknirschend tat.

»Frauen haben sich raffinierter und subtiler Methoden zu bedienen«, knurrte er. »Gift ist ein angemessenes Mittel. Meinethalben auch der tückische Anschlag mit einem Stilett. Aber doch nicht ein Hinterhalt … « Er verstummte, als sie lachte. »Am Ende forderst du noch jemanden zum Duell«, fauchte er.

»Und ich würde die meisten von euch schlagen«, gab Leona zuckersüß zurück.

Valentin musste wider Willen lachen. Er hob die Hand und rief den Aufzug. »Marcus den Jüngeren auf jeden Fall«, gab er zu. »Er ist so ungeschickt wie ein Mädch … « Er verschluckte hastig den Rest.

Leona musterte ihn spöttisch von der Seite. »Ah?«, sagte sie nur.

Die aufgleitende Tür bewahrte ihn davor, eine schlagfertige Antwort finden zu müssen.

5

Es steht geschrieben: Und wenn die Welt voll Teufel wär

Elster hegte einen ebenso tiefen Hass auf die Türmer wie jeder andere junge Schluchter in ihrem Dorf, daran zweifelte sie keine Sekunde. Wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, einen Wolkenturm zu vernichten, ihn dem Erdboden gleich zu machen, ihn einfach verschwinden zu lassen – mit all den Menschen, die darin lebten –, sie hätte es getan.

Indigo schwang neben ihr die Hacke, um den trockenen, harten Boden des kleinen Feldes für die nächste Aussaat aufzulockern. Auf diesem und dem benachbarten Feld arbeiteten alle jungen Leute des Dorfes, die nicht mit anderen Fronarbeiten beschäftigt waren: Die Ziegen wollten gehütet sein, jemand musste Käse und Butter machen, die Schafe scheren, ernten, Steine brechen und Ziegel brennen, Pilze suchen, Getreide mahlen und Brot backen, Holz hacken, spinnen, weben, schlachten, pökeln und Wurst herstellen … und wofür? Damit all das, was dabei entstand, in den gefräßigen Schlund des Turmes wanderte und die Türmer immer fetter mästete, während sie hier in den Schluchten sich die Hände wund und den Buckel krumm schuften mussten und dabei hungerten. Wann hatte sie das letzte Mal eine Wurst oder ein richtig großes, kein bisschen schimmliges Stück Käse gegessen? Sie konnte sich nicht daran erinnern.

Trotzdem widerstrebte es Elster, sich einer der zahlreichen Gruppen anzuschließen, die Rebellion, Aufstand und Widerstand gegen die Türme predigten und planten. »Dazu bin ich einfach zu realistisch«, sagte sie zu Indigo und betrachtete die blutige Blase in ihrer Handfläche.

»Realistisch?«, fragte er, ließ die Hacke fallen und hockte sich auf seine Fersen. Er strich das schweißfeuchte Haar aus seiner Stirn, wobei er einen Streifen Erde darüber verteilte, und zog die Brauen zusammen. »Was soll das heißen? Dass ich verrückt bin?«

Elster lachte und streckte ihren schmerzenden Rücken. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Ihr Mechaniker, ihr seid die Normalen unter all diesen wirrköpfigen und wildäugigen Verschwörern und Geheimbündlern, keine Frage.« Sie grinste und griff wieder nach ihrer Hacke.

»Du machst dich über mich lustig.«

»Merkt man das?« Elster gab ihm einen Stoß und beugte sich vor, um weiterzuarbeiten.

Indigo überraschte sie damit, dass er nach ihrer Hand griff und sie zwang, innezuhalten und ihn anzusehen. Sein Blick war so ernst und eindringlich, dass er das Lächeln aus ihrem Gesicht vertrieb.

»Was?«, fragte sie schroff. »Digo, starr mich nicht so an, das macht mich kribbelig.«

»El«, sagte er und stockte, suchte nach Worten, »du … du solltest nicht einfach so vor dich hin leben. Du brauchst etwas, woran du glaubst, wofür du arbeiten kannst. Wofür du leben kannst!«

»Sterben, meinst du wohl«, neckte sie ihn, obwohl sie sich unbehaglich fühlte wegen seiner Ernsthaftigkeit. »Hör auf, Digo. Lach doch wieder. Ich mag es nicht, wenn du so tragisch guckst.«

Er beugte sich näher und sein Atem strich über ihre Wange. Einen kurzen, panischen Moment lang fürchtete sie, er würde sie küssen, aber er flüsterte nur: »Wir wollen nicht sterben, El. Aber leben, endlich leben! Leben wie ein Mensch, nicht wie ein Tier oder ein Sklave. Wir schuften für die Türme und sie nehmen uns zum Dank unsere Kinder. Du hast es doch selbst miterlebt, wie Jett daran verzweifelt ist, dass sie ihr Amber entrissen haben. Hast du jemals darüber nachgedacht, was ist, wenn dir das Gleiche geschieht wie deiner Schwester? Wenn sie dir dein Kind wegnehmen und du es nie wiedersehen wirst?«

Elster wand sich in seinem Griff. »Hör auf damit«, sagte sie scharf. »Ich werde keine Kinder bekommen, dann bin ich auf der sicheren Seite. Außerdem braucht man einen Mann dazu und ich will auch keinen Mann.«

Er sah sie verletzt an und ließ sie los. »Gut, dann wäre das ja ein für alle Male geklärt«, sagte er kalt. Er hackte so wütend in den Boden, dass die Erde vor seinen Schlägen ängstlich wegzuspringen schien.

»Digo«, sagte Elster und griff nach seinem Arm. »Es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint, wie … « Sie stockte. Das war eine Lüge und sie beide wussten es. Sie hatte es ganz genau so gemeint und in Kauf genommen, dass sie ihn damit verletzte. Sie ließ die Hand sinken und sah ihm nach, wie er sich verbissen voranarbeitete. Indigo war der beste Freund, den man sich wünschen konnte, und sie hätte ihren linken Arm für ihn gegeben, ebenso, wie er jederzeit bereit gewesen wäre, für sie zu sterben. Es stimmte sie traurig und machte sie gleichzeitig wütend, dass er seit Kurzem darauf bestand, mehr für sie zu empfinden. Warum wollte er unbedingt eine so großartige Freundschaft aufs Spiel setzen wegen einer so dummen, kindischen, überflüssigen Regung wie Liebe?

»Indigo«, rief sie zornig. »|¢ħ ēñ†ş¢ħμłđïģē мï¢ħ bēï đïŕ, ãbēŕ ï¢ħ ķŕïē¢ħē đïŕ ñï¢ħ† ħïñ†ēŕħēŕ!«