Queer durch den Regenbogen - Max Appenroth - E-Book

Queer durch den Regenbogen E-Book

Max Appenroth

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Beschreibung

Eine Kleinstadt in Süddeutschland: Nachdem Ava auf einer Party beim Knutschen mit Paula gesehen wird, ist die Aufregung groß. Ava wird vor der gesamten Schule als lesbisch geoutet, gemobbt und ausgegrenzt. In Berlin soll alles besser werden. Dort findet Ava einen Ausbildungsplatz und eine neue Identität — outet sich als trans und nennt sich fortan Leo. Doch das soll nicht das letzte Coming-out in Leos Leben gewesen sein.

Ein fiktiver Roman mit autobiografischen Zügen.

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Seitenzahl: 460

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ImpressumQueer durch den Regenbogen

1. Auflage© 2023 Community Editions GmbHWeyerstraße 88–90,50676 Köln

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, ­Fernsehen, ­foto­mechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art, auszugs­weisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in ­Daten­verarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Die Inhalte dieses Buches sind von Autor*in und ­Verlag sorgfältig ­erwogen und geprüft, dennoch kann eine ­Garantie nicht übernommen ­werden. Eine Haftung von Autor*in und Verlag für Personen-, Sach- und ­Vermögens­schäden ist ausgeschlossen.

Text: Max Appenroth Redaktion: Noah Stoffers Lektorat: Kanut Kirches Projektleitung: Sarah VölkerLayout & Satz Innenteil: Joachim Buhmann

Bild- und Grafiknachweis:© Katrin Chodor: Foto Cover Autor*in Sticker© Rory Midhani: Umschlaggestaltung & Illustrationen, S. 6, S. 383© Joachim Buhmann: Chat-Bubbles und Emojis

Zitatnachweis:Kapitel 4, Songausschnitt „Weak“: Skunk Anansie – Weak, 15. Januar 1996, Album: Paranoid and Sunburnt

Gesetzt aus der Scotch Text von Neil Summerour und der Agenda von Greg Thompson

Gesamtherstellung: Community Editions GmbH

ISBN: 978-3-96096-281-6

www.community-editions.de

Für alle jungen LGBTQIA+ Menschen, die mit ihrem Dasein die Welt jeden Tag etwas bunter und offener gestalten.

Trigger-Warnung

Hallo,

es ist schön, dass du dieses Buch in den Händen hältst! Diese Geschichte ist inspiriert von vielen Erinnerungen, Begegnungen und Erfahrungen – meist schönen, aber zum Teil leider auch negativen Ereignissen. Ich möchte dich hier gerne darauf hinweisen, dass in der Geschichte stellenweise Mobbing, Anfeindungen aufgrund des Körpers (Fat-­Shaming), sexualisierte Gewalt und auch Homo- und ­Transfeindlichkeit auftauchen.

Neben einem Glossar habe ich am Ende des Buches auch eine Liste von Organisationen und Anlaufstellen zusammengestellt, bei denen du dich informieren kannst, wenn du mit ähnlichen Erfahrungen zu kämpfen hast.

Aber nun wünsche ich dir erst einmal ganz viel Spaß auf der Reise Queer durch den Regenbogen!

Dein Max

Kapitel 1

Paulas Parfüm

DER Tag im Jahr war endlich gekommen. Es war Ende Juni und so heiß, dass ich permanent einen nassen Film auf der Haut hatte und alles klebte. Jede Bewegung war eigentlich zu viel. Aber das sollte mich nicht aufhalten. Denn in dem kleinen Ort, in dem ich aufgewachsen bin, fand das größte Fest des Jahres statt: die Sommersonnen­wende. Das absolute Highlight kurz vor den Ferien und in mir machte sich die Vorfreude durch ein Wahnsinnskribbeln im Bauch bemerkbar.

Zwei Wochen vorher hatte ich mich abends, als meine Eltern vor dem Fernseher saßen, leise in den Keller geschlichen. Jetzt bloß keine falsche Bewegung machen, damit die ollen Holztreppen nicht knarzen, dachte ich mir und mein Herz pochte schneller. Schritt für Schritt tapste ich auf Zehenspitzen die alte Kellertreppe hinunter. Unten angekommen zog ich mit aller Kraft eine schwere Kiste vors Regal. Anders komme ich sonst gar nicht ans oberste Fach. Hinter den Konservendosen war schon ewig eine Flasche Baileys versteckt. „Das süße Zeug trinken die eh nicht“, murmelte ich leise vor mich hin und griff nach der Flasche, die schon völlig mit Staub bedeckt war.

„Was machst du denn da? Du weißt schon, dass das nix für 16-Jährige ist?“, rief es auf einmal hinter mir. Vor Schreck taumelte ich auf die Kante der Box und konnte mich gerade noch mit der linken Hand am Regal festhalten. Beinahe hätte ich auch noch die Flasche fallen lassen, hielt sie aber zum Glück fest genug im Griff meiner rechten Hand. Da sah ich meinen zwei Jahre älteren Bruder Olli in der Türe stehen. Mit seinem dunkelblauen Designer-Trainingsanzug mit dem goldenen Reißverschluss und der großen Kette um den Hals sah er immer ein bisschen aus wie so ein Pseudo-Gangster aus gutem Hause.

„Ich hab nur was zum Backen im Vorratsregal gesucht“, brachte ich Olli entgegen.

„Du willst wohl kaum ’n beschwipsten Schokokuchen backen? Die Story kannst du jemand anderem erzählen.“ Er hatte natürlich sofort verstanden, was hier vor sich ging, und ich merkte, wie ich knallrot wurde. Lügen konnte ich noch nie gut. „Lass das bloß nicht die Eltern merken, dass du hier den Alkohol aus dem Keller klaust.“

Ich schaute Olli an. „Du sagst denen aber nichts, oder?“

Er schüttelte den Kopf, zeigte allerdings ernst mit dem Finger auf mich und sagte: „Dafür hab ich was gut bei dir.“

In meinem Zimmer zog ich hastig eine schwarze Kiste unter meinem Bett hervor und steckte die Flasche hinein. Die Kiste schob ich anschließend ganz nach hinten unters Bett und stapelte meine drei Paar Fußballschuhe davor. Dann fiel ich aufs Bett und holte tief Luft. Das war vielleicht ein Schreck gewesen. Mit dem Baileys kann ich bei den ­anderen bestimmt punkten, malte ich mir aufgeregt aus. Aber eigentlich wollte ich ja nur eine Person beeindrucken – und das war Paula.

Paula ging gemeinsam mit meinem Bruder Olli in eine Klasse und war mit das beliebteste Mädchen der ganzen Schule. Sie war außerdem stellvertretende Schülersprecherin und ich liebte es, im Gang in der Schule hinter ihr zu laufen und Paulas blumiges Parfüm zu riechen. Durch Olli hatte ich schon ein paarmal die Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen. Bei Ollis letzter Geburtstagsparty Anfang des Jahres kam Paula sogar zu mir ins Zimmer, weil sie keinen Bock mehr hatte, mit Olli und seinen Freunden Trinkspiele zu spielen. Wir unterhielten uns gefühlt stundenlang über alles Mögliche. Paula lachte auch ständig über meine Witze. Ich war selbst überrascht davon, wie cool ich in dem Moment plötzlich gewesen war. Zum ersten Mal sagte ich anscheinend immer das Richtige.

Ich hatte die ganze Zeit so ein krasses Kribbeln in meinem Bauch und beobachtete Paula genau, als sie sich mit den Fingern durch ihre langen, dunkelblonden Haare fuhr. Und dann war da natürlich auch der Duft ihres Parfüms. Nachdem Paula weg war, hatte ich vor dem Schlafengehen extra das Fenster nicht geöffnet, nur damit ihr Geruch noch länger in meinem Zimmer blieb. Und ich konnte sie noch immer riechen, als ich das Licht ausmachte. Seit dem Abend im Januar konnte ich an nichts anderes mehr denken als an Paula.

Schon Tage vor dem Fest hatte ich überlegt, was ich bloß anziehen könnte. Ich wollte besonders gut aussehen und entschied mich für mein bordeauxrotes Lieblings-­Poloshirt und die neuen blauen Jeans-Shorts, die ich kurz ­vorher gekauft hatte. Ich nahm mir heute extra viel Zeit, um mich fertig zu machen. Denn ich wollte perfekt aussehen. Ich ging noch mal mit der Bürste durch meine langen Haare. Wenn die scheiß langen Dinger nicht immer so ziepen würden. Und wieder kam mir der Gedanke, die Haare endlich abzuschneiden. Vielleicht nach dem Sommer. Ich band mir die Haare fest zu einem Zopf nach hinten zusammen und sprühte so viel Haarspray drauf, dass ich husten musste.

Olli war zum Glück schon aus dem Haus und ich schlich mich rüber in sein Zimmer. Er hasste es, wenn ich ohne zu fragen an seine Sachen ging. Aber in dem Moment war mir das völlig egal. Ich wusste genau, wo seine Parfüms waren, und zog die oberste Schublade der schwarzen Kommode auf. Zwischen den vielen kleinen Duftflaschen suchte ich ein ganz Bestimmtes. Ich las mir selbst laut die einzelnen Worte auf der Flasche vor „Tommy Hilfiger – Tommy – For Men“ und sprühte mich am Hals und den Unterarmen mit dem Duft ein.

Beim Rausgehen blieb ich vor dem Spiegel noch einmal stehen und schaute mich von oben bis unten an. Du gefällst mir!, schoss es durch meinen Kopf. Ich merkte, wie sich im nächsten Moment Aufregung in meinem Bauch breitmachte. Mit Kribbelgefühl verließ ich das Haus und wandelte fast schon wie auf Wolken schwebend rüber zu Marta nach nebenan.

„Hast du den Baileys eingepackt?“, rief sie mir noch vor einem „Hallo“ entgegen.

„Sag’s doch noch ein bisschen lauter, damit auch unsere Eltern ja davon mitbekommen!“, zischte ich. Natürlich hatte ich den Baileys in meinem schwarzen Rucksack dabei und hob ihn Marta direkt vor die Nase.

Marta wusste von meiner Schwärmerei für Paula. Wir kannten uns schon seit Martas Geburt, sechs Monate nach meiner eigenen, und wir waren gemeinsam aufgewachsen, als wären wir Geschwister. Wir wussten absolut alles voneinander und hatten keinerlei Geheimnisse. Marta war etwas kleiner als ich, hatte helle Haut mit ganz leichten Sommersprossen um die Nase, lange dunkelblonde Haare mit kleinen Locken und hatte sich sogar schon mit vierzehn einen Nasenring stechen lassen dürfen. Damit sah sie unglaublich reif aus für ihr Alter und ich war neidisch darauf.

Auch Marta hatte sich für heute etwas Besonderes angezogen und Make-up aufgelegt. Außerdem hatte sie Pappbecher für den Baileys besorgt. Wir machten uns auf in Richtung Festplatz, der am Stadtrand auf einem kleinen Hügel direkt am Wald gelegen war. Auf dem Weg dorthin flimmerte die Hitze des Tages immer noch auf dem Asphalt. Ich hatte Panik, dass sich an dem dunkelroten Shirt womöglich riesige Schweißflecken unter den Armen bilden könnten. Das wäre der absolute Horror, so Paula zu begegnen. Selbstzweifel nagten an mir und die Aufregung im Bauch wich dem Gefühl von Unsicherheit. Vielleicht war das Outfit doch nicht die richtige Wahl gewesen?

Von Weitem konnte ich schon die Brücke über die Landstraße hoch zum Bergwald sehen. So hieß der Festplatz und es war an den vielen dunklen hohen Fichten auf dem Hügel unschwer zu erkennen, woher der Name kam. Als wir die Brücke überquerten und näher kamen, wurde die Musik immer lauter. Offensichtlich waren die Grills der Wurstbuden auch schon angeschmissen worden, denn man konnte die verbrennende Grillkohle riechen. Ich mochte den Geruch, weil er immer bedeutete, dass nun wirklich endlich Sommer war. Die bunten, glitzernden Lichter der drei Fahrgeschäfte waren nun auch endlich zu sehen und die Vorfreude auf den Abend kam zurück!

„Hier ist ja schon richtig was los!“, sagte ich zu Marta. Die schaute mich nur an und rief laut: „Was hast du gesagt? Ich kann dich kaum verstehen!“

Ich wiederholte mich deutlich lauter: „HIER GEHT JA SCHON RICHTIG DIE POST AB!“ Marta nickte mir mit einem aufgeregten Funkeln in ihren Augen zu.

Dann entdeckte ich neben dem Ausschank drei vertraute Gestalten. Die fehlten mir gerade noch! Das besonders ätzende Jungs-Trio aus meiner Klasse, bestehend aus Sebastian, Till und Cem – oder wie Marta und ich die drei nannten: Tick, Trick und Track –, kam direkt auf uns zu. „Na, haste mal wieder in der Männerabteilung geshoppt?“, sagte Till und grinste mich hämisch an.

„Oder gibt’s jetzt schon ’n Onlineshop für fette Mannsweiber wie dich?“, fügte Sebastian hinzu.

Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg, konnte aber nicht mehr als ein „Haltet doch die Fresse!“ rausdrücken.

Marta hakte sich in meinen linken Arm ein und zog mich mit den Worten „Komm Ava, lass die Idioten Idioten sein. Wir gehen woanders hin!“ davon.

Und da waren sie wieder, die Selbstzweifel. Diese drei Arschlöcher machten mir bei jeder Gelegenheit das Leben schwer. Als hätten die nix Besseres zu tun! Doch mit einem Mal waren Tick, Trick und Track komplett vergessen. Denn da drüben bei den bunt beleuchteten Boxautos stand sie: Paula! Mein Herz schlug sofort schneller und mein Bauch und meine Hände kribbelten. Ein Lächeln machte sich auf meinem Gesicht breit.

Auch Paula hatte mich gesehen und winkte mir sogar zu. Das beruhigte den Großflughafen der Schmetterlinge in meinem Bauch nicht gerade. Gefühlte tausend Starts und Landungen in einer Sekunde! Mir wurde ein bisschen flau im Magen. Jetzt musste ich es nur noch schaffen, Paula und ihre Freundinnen dazu zu bringen, den Baileys mit mir und Marta zu trinken. Aber wie und vor allem wo? Ich hatte eine Idee.

„Du hast doch Silkes Nummer, oder? Frag sie doch mal per WhatsApp, ob sie und die anderen Bock haben, drüben auf dem kleinen Spielplatz den Baileys mit uns zu trinken“, schlug ich vor und lief in dem Moment schon in Richtung Spielplatz los.

Marta kam mir hinterher und fragte: „Was willst du denn mit Silke? Die ist doch total langweilig und nervig.“

Wie langsam kann jemand gedanklich sein?! Ich konnte ein genervtes Seufzen nicht unterdrücken. „Verstehst du denn nicht? Wenn du Silke schreibst und sie einlädst, dann kommt Paula bestimmt auch mit rüber.“

Jetzt hatte es endlich auch bei Marta klick gemacht und sie verstand meinen Plan. Sie zog ihr Handy raus und schickte Silke eine Nachricht. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und die Gruppe rund um Silke – inklusive Paula – setzte sich in Bewegung.

Am Spielplatz angekommen, packte ich meinen Rucksack aus. Als ich den Blick hob, standen auch schon Paula, Silke und ihre Freundinnen neben mir. Und da war er wieder, dieser süße Duft von Paulas Parfüm, der mir direkt in die Nase stieg. Das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer schlimmer und ich spürte auch, wie mir auf einmal wieder fürchterlich warm wurde und meine Hände schwitzten. Aber ich durfte mir auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Ich versuchte lässig zu wirken und lächelte. Meine gespielte Gelassenheit war aber spätestens mit dem Moment hin, als ich versuchte, die Flasche zu öffnen. Ich drehte und drehte, aber meine Hände waren so nass, dass sich der scheiß Deckel kein Stück bewegte.

Fuck! Es musste schnell eine Ausrede her und ich stammelte leicht panisch: „Mist, ich bin letzte Woche beim Skaten gefallen und hab mir die Hand verletzt. Ich kann nicht richtig fest greifen und die Flasche aufmachen.“

Marta schaute mich entgeistert an. „Das hast du mir ja gar nicht erzählt!“

Das ist jetzt nicht dein Ernst, dachte ich und stieß Marta mit dem Ellbogen in die Seite.

Schnell ruderte sie zurück: „Ach, jetzt erinnere ich mich. Klar, dein Sturz. Das war nicht schön und …“

„Eigentlich ist gar nix passiert, nur mein Handgelenk tut jetzt halt noch weh“, unterbrach ich sie.

Und da tauchte Olli hinter dem Klettergerüst auf. „Was ist denn hier los? Bekommt ihr Luschen die Flasche nicht auf oder was?“ Olli mit seiner pöbeligen Art hatte mir gerade noch gefehlt. „Ich mach euch die Flasche auf, aber dann steht mir natürlich ein voller Becher zu.“

Na ja, besser als gar nicht trinken und vor Paula dumm dastehen. „Dann mach die Flasche halt auf, aber schau, dass du nichts verschüttest.“

Das hatte jetzt zumindest schon mal geklappt und Paula schien den Baileys gerne zu trinken, auch wenn der natürlich in der Hitze viel zu warm war. Selbst Olli war in dem Moment ungewohnt nett. Er unterhielt sich gemeinsam mit Paula und mir über das letzte Fußballspiel des VfB Stuttgart vor der Sommerpause. Paula war genauso fußballbegeistert wie ich und spielte genau wie ich in einem Team für Mädchen einen Ort weiter. Allerdings in einem Team über meinem Team, da sie ja zwei Jahre älter war als ich. Es war schön, dass es etwas gab, das uns verband. Außerdem hatte ich das Gefühl zu wissen, worüber ich redete, trotz der ganzen Aufregung.

„Ich muss mal pinkeln.“ Paula warf ihren leeren Becher auf den überfüllten Mülleimer. „Aber auch wenn’s noch nicht ganz dunkel ist, will ich irgendwie nicht alleine in den Wald“, murmelte sie verlegen.

„Ich komm mit dir!“, sprudelte es ein bisschen zu laut aus mir heraus, sodass alle mich plötzlich anschauten. „Ich muss sowieso auch“, fügte ich etwas ruhiger hinzu, wobei Letzteres sogar gelogen war.

„Pass auf, dass dich keine Zecke beißt!“, sagte Paula, als wir gemeinsam in den Wald hineinliefen. Der Boden war komplett trocken, da es länger nicht geregnet hatte, und die Äste knackten bei jedem Schritt unter unseren Füßen. Die Tannennadeln rochen intensiv und ich schaute mich um.

„Kuck mal, da drüben den Baum kannst du nehmen und ich geh hier rüber – und wenn eine Zecke kommt, dann rette ich dich!“, scherzte ich und Paula lachte. Als wir beide fertig waren, kamen wir hinter den Bäumen hervor und liefen wieder zueinander.

Wir blieben voreinander stehen und unsere Blicke trafen sich. Ich schaute in ihre Augen, die einen wunderschönen dunklen Rand um die grünen Pupillen hatten. Da war er wieder, der Parfümgeruch. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und sagte zu ihr: „Ich finde, du hast wirklich besondere Augen!“

Paula lächelte und ihr Blick wurde noch intensiver. Was im nächsten Moment geschah, überraschte mich völlig. Paula nahm auf einmal meine rechte Hand mit ihrer linken, ich spürte ihre warmen Finger und sie zog mich ganz nah an sich heran. Im nächsten Moment berührten ihre Lippen meine und sie zog mich noch etwas stärker zu sich. Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten, links und rechts und überhaupt irgendetwas war. Für ein paar Sekunden schien die Welt stillzustehen und mein Herz schlug so heftig, dass ich es wie Paukenschläge in meinen Ohren hören konnte. Das war kein Küsschen! Das war ein waschechter Kuss. Mein allererster Kuss.

Im nächsten Moment wurde ich aus dem Rausch, der durch meinen Körper schoss, durch eine bekannte Stimme gerissen. „Was macht IHR denn da?!“

Das war keine Stimme, die ich gerne hörte. Cem stand ein paar Schritte entfernt von uns zwischen zwei Bäumen am Waldrand und hatte offenbar alles gesehen. Kein Wunder, so groß wie der ist, sieht er sowieso immer alles, dachte ich mir. Aber Cems Größe war das kleinste Problem. Paula ließ sofort meine Hand los und lief schnellen Schrittes in Richtung Spielplatz. Auch Cem lief mit seinen langen Beinen in dieselbe Richtung und ich kam gar nicht so schnell hinterher, wie ich gerne wollte. Noch bevor ich Cem einholen konnte, rief der schon lauthals in die Gruppe auf dem Spielplatz, zu der sich nun auch Sebastian und Till gesellt hatten: „Ava hat Paula geküsst! Ava hat Paula geküsst!“

Ich blieb wie angewurzelt stehen, als ich das hörte, und sah, wie alle Köpfe sich zu mir drehten. Ich spürte, welches Chaos sich in mir ausbreitete. Vom schönsten Moment meines bisherigen Lebens in Sekunden in die größte Scheiße abzudriften, die mir jemals widerfahren ist, das konnte auch wirklich nur ich hinbekommen. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen, drehte mich um und rannte zurück in den Wald. Ich rannte einige Meter, bis ich heulend hinter einem Baum zusammenbrach.

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf und ich wusste gar nicht, welchen davon ich zuerst greifen sollte. Da hörte ich es auch hinter mir knacken und wie Marta meinen Namen rief. „Ich bin hier“, sagte ich schluchzend. Große Tränen liefen mir über die Wangen, tropften auf mein bordeauxrotes Shirt und hinterließen dunkle Flecken.

Marta setzte sich neben mich auf den Waldboden, nahm meine Hand und sagte erst einmal gar nichts. Ein paar Minuten vergingen, bis ich mich langsam wieder fing und sagte: „Es stimmt gar nicht, dass ICH Paula geküsst habe.“

Marta schaute mich verwundert an. „Was meinst du damit?“

Immer noch mit dem größten Chaos in mir erwiderte ich: „Sie hat MICH geküsst. Nicht umgekehrt.“

***

Montagmorgen. Und nicht nur das. Montagmorgen nach den Sommerferien. Gibt es irgendeinen beschisseneren Zeitpunkt in der Woche? Vermutlich nicht. Ich war gemeinsam mit Marta auf dem Weg zur Sporthalle. Ich schlurfte mit meinen Schuhen über den Gehweg. Mir fehlte jegliche Energie für das, was mir bevorstand.

„Wer hat sich diesen Müll denn nur ausgedacht? Die ersten zwei Stunden Montagfrüh und dann gleich Sport. Ich könnte im wahrsten Sinne des Wortes kotzen“, jammerte Marta in ihren dunklen Klamotten mit ähnlich wenig Elan in ihrer Stimme. Wenigstens war ich mit meinem Gefühl nicht allein.

Auch wenn der Fußweg zur Sporthalle schön war, direkt am kleinen Bach entlang, umgeben von Bäumen und mit Blick auf die Felder, zog sich bei jedem Schritt meine Magengrube mehr zusammen. Und das war eigentlich unabhängig von der Tageszeit, denn ich hasste den Sportunterricht abgrundtief – egal um welche Uhrzeit. Allein bei dem Gedanken an die Situation mit den anderen Mädchen in der Umkleidekabine machte sich das ekelhafte Gefühl von Panik in meinem Bauch breit und mein Atem wurde schneller. Ständig verglichen sich die anderen Mädchen oder redeten unentwegt über Typen. Jedes Mal wurde mir dann wieder bewusst, dass ich da nicht reinpasste und anders war. Zu allem Überfluss wussten seit dem Fest vor den Ferien alle von meinem fehlenden Interesse an Typen.

Was ich außerdem bei den Mädchen beim besten Willen nicht nachvollziehen konnte: Warum trug irgendjemand freiwillig Push-up-BHs? Diese hängenden Dinger am Körper störten doch sowieso die ganze Zeit! Warum dann auch noch hochpushen? Ich fühlte mich mit meinen Sport-BHs viel wohler, weil die meine Brüste wenigstens etwas flach drückten. Mit der Hand fuhr ich mir über den Brustkorb. Wenn die anderen sich beim Umziehen zum Sport nur endlich mal die dummen Kommentare sparen würden …

Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich die Pflastersteine auf dem Fußweg zählte. Alles Mögliche zu zählen, war schon seit der Grundschule eine kleine Macke von mir, mit der ich mich immer wieder ablenken konnte.

76, 77, 78. Marta unterbrach mich: „Jetzt erzähl doch aber mal was von Italien! Die Bilder, die du mir geschickt hast, sahen so schön aus! Dieses türkisblaue Meer mit den Felsen im Wasser! Da wäre ich am liebsten sofort reingesprungen.“

Mir war so gar nicht nach Urlaubsanekdoten. Ich seufzte. „Schön wär’s gewesen, wenn du und deine Family wieder mitgefahren wärt. Ohne dich und vor allem mit den Mertens war es ein kompletter Albtraum.“

Die Mertens waren mit meiner Familie befreundet und hatten die drei anstrengendsten Kinder aller Zeiten. Die gingen mir den ganzen Urlaub sowas von auf die Nerven. Diese Nörgelei! Nie waren sie mit irgendwas zufrieden. Aber nicht nur das: Meine Mutter hatte ständig versucht, mich mit ­Andreas, dem mittleren Sohn der Mertens, zu verkuppeln. Andreas’ Mutter war von dieser Idee total begeistert und hatte bei dem Plan tatkräftig mitgewirkt.

„Du kannst dir das nicht vorstellen. Das war so peinlich! Die haben uns sogar ein Candle-Light-Dinner in einem Restaurant organisiert! Andreas war total aufgeregt und hat geschwitzt ohne Ende. Ich saß da und hab gehofft, dass ein Riesenloch im Boden aufgeht, ich darin verschwinde und nie wieder auftauche.“

„Was ist denn aus unserem Plan geworden, dass du endlich deinen Eltern im Urlaub sagen wolltest, dass du gar nicht auf Typen stehst?“, fragte mich Marta fast schon ein bisschen eingeschnappt.

Noch zu Beginn der Sommerferien hatte ich gemeinsam mit ihr tagelang den perfekten Plan geschmiedet, wie ich mich während der Ferien in Italien endlich bei meinen Eltern outen könnte. Ich wusste schon seit ich 13 bin, dass ich so gar keinen Bock auf Jungs habe und einfach andere Mädchen gut finde. Und seit dem schönsten und zugleich schlimmsten Tag meines Lebens kurz vor den Sommerferien hätte ich nun endlich auch mal bei meiner Familie mit der Sprache rausrücken müssen, bevor mir jemand damit zuvorkam.

„Mann, Marta, das ist gar nicht so leicht. Ich hab tausend Versuche gemacht, aber es ging einfach nicht. Und Olli hat mich auch die ganze Zeit nur gestresst und unter Druck gesetzt, weil er mal wieder wegen irgendwas angefressen ist.“

Olli wusste ja genau, was los war. Er hatte an dem besagten Tag vor den Sommerferien alles mitbekommen. Außerdem stand Olli unglaublich gern im Mittelpunkt und machte ständig wegen allem ein Drama. Teilweise redete er tage- oder sogar wochenlang nicht mit mir. „Der weiß doch selber schon gar nicht mehr, warum er eingeschnappt ist“, erwischte ich mich regelmäßig zu mir selbst sagend. Typen soll einer mal verstehen …

Na ja, Urlaub hin oder her, ich musste das Fiasko von vor den Ferien jetzt erst einmal ausbaden und das Schlimmste stand mir noch bevor. Marta und ich waren schon fast an der Sporthalle angekommen, als mir der Abend der Sommersonnenwende noch einmal schmerzlich durch den Kopf schoss. In mir zog sich alles zusammen. Eine Mischung aus Scham und Angst und meine Nackenhaare stellten sich bei dem Gefühl auf. Was würde mich wohl erwarten? Heute war das das erste Mal, dass ich die meisten meiner Mitschüler*innen nach dem Abend beim Fest wiedersah. In der Zeit der Ferien, in der ich nicht mit meiner Familie in Italien gewesen war, hatte ich mich förmlich zu Hause eingeschlossen, weil ich keinen Nerv hatte, auch nur einer Menschenseele aus meiner Schule zu begegnen.

Cems Gebrüll über den ganzen Spielplatz „Ava hat Paula geküsst!“ hatte sich in meinen Ohren förmlich eingebrannt. Ich hörte den Satz immer und immer wieder durch meinen Kopf schallen. Das Ereignis hatte sich noch am selben Abend unter den Mitschüler*innen fast aller Klassen rumgesprochen. Für Paula änderte sich allerdings gar nichts. Zum einen war sie an der Schule total beliebt. Und zum anderen war sie ja diejenige gewesen, die angeblich geküsst worden war und gar nicht so schnell reagieren hatte können, wie sie eigentlich gewollt hatte. Zumindest war das die Variante der Geschichte, die Paula erzählte – die sie in einer Story auf Instagram geteilt hatte. Und als hätte das allein nicht schon als Demütigung gereicht, hatte sie mich in der Story auch noch verlinkt. Selbstverständlich glaubten ihr alle an der Schule. Egal was ich gesagt hätte, dem dicken Ding, das den utopischen Wunschgedanken hatte, eines der hübschesten Mädchen der Schule abzubekommen, hätte sowieso niemand geglaubt.

Marta und ich standen vor der Umkleidekabine.

„Ich kann da nicht reingehen“, sagte ich.

Sie sah mich mitfühlend an. „Ach, mach dir nix draus. Die haben das bestimmt schon alle wieder vergessen.“ Wir wussten beide, dass das lächerlich war. Als hätte jemand DAS Ereignis des Jahres vergessen. Ich hätte natürlich leugnen können, dass ich lesbisch war. Aber damit hätte ich alles vermutlich nur noch viel schlimmer gemacht. Da musste ich jetzt durch …

Die Tür fühlte sich heute deutlich schwerer an als noch vor den Ferien und ich drückte mit aller Kraft dagegen. Sofort kam mir der altbekannte Geruch entgegen, den ich die Sommerferien über definitiv nicht vermisst hatte. Eine Mischung aus Schweiß, nassem Gemäuer und Reinigungsmittel, die sich zu einem ekelhaften, schweren Dunst vermischten, bei dem man das Gefühl hatte, so gar kein Krümelchen Sauerstoff mehr abzubekommen. Gepaart mit dem sowieso schon flauen Gefühl in meinem Magen stieg mir die Panik in den Kopf und ich hatte das Gefühl, ich könnte jeden Moment umkippen.

Als die anderen Mädchen mich sahen, schnappten sich diejenigen, die oben ohne dastanden, schnell ihre Shirts und hielten sie sich vor die Brust.

„Boah Leute, das ist jetzt aber echt ein bisschen übertrieben“, zischte Marta. Ich stand da wie angewurzelt, noch mit der Türklinke in der rechten Hand. Ich spürte, wie die Hitze in meinem Körper aufstieg und in meinem Kopf ankam. Ich wurde knallrot.

„Du kannst dich hier nicht mehr umziehen“, sagte eines der Mädchen aus meiner Klasse. „Kannst ja rüber zu den Jungs gehen“, hörte ich aus einer anderen Ecke. Ich starrte auf den Boden und wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Kopf war auf einmal komplett leer.

Noch immer mit der Türklinke in der Hand holte ich tief Luft. In einem Lesben-Forum hatte ich kürzlich erst einen Beitrag von einem anderen Mädchen gelesen, das sich in der Schule geoutet hatte und auch von Problemen in der Kabine schrieb. In meinem Kopf begann es zu rattern, ich wollte mich an einen Wortlaut einer anderen Forums-Userin erinnern, die in ihrer Antwort Tipps gegeben hatte, was man sagen könnte. Ich hob langsam den Kopf und schaute in den Raum. Man hörte lediglich das Rattern der Lüftungs­anlage, die schon seit Monaten nicht richtig funktionierte und offen­sichtlich während der Ferien nicht repariert worden war.

Alle Augen waren auf mich gerichtet und ich fühlte mich förmlich von den Blicken der anderen durchbohrt. Ich räusperte mich und begann zunächst mit leiser, zittriger Stimme zu sagen: „Na und? Dann stehe ich halt auf …“ Ich holte noch einmal tief Luft und richtete mich auf. Meine Stimme wurde fester. „Dann stehe ich halt auf Mädchen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich deswegen alle Frauen scharf finde oder auf Weiber wie euch stehe.“

Am Gesichtsausdruck der anderen konnte ich erkennen, dass sie damit nicht gerechnet hatten. Ich fühlte den Mut in mir wachsen, ging nun endlich komplett in die Kabine und hörte die Türe hinter mir ins Schloss fallen. Eine meiner Klassenkameradinnen fragte mich ganz empört: „Hä, wa­rum denn nicht? Was ist denn so schlimm an uns?“

Ich holte gerade Luft und wollte etwas sagen, da stellte sich Marta vor mich und brachte der versammelten Menge energisch entgegen: „Erst soll sich Ava woanders umziehen und dann seid ihr angepisst, weil sie euch nicht geil findet? Merkt ihr denn eigentlich, wie bescheuert ihr euch verhaltet? Ava steht auf Mädchen. Was soll’s? Leben wir denn noch im Mittelalter, oder was? Kommt mal klar!“

Dafür liebte ich meine beste Freundin Marta. Auch wenn sie manchmal echt auf dem Schlauch stand, wusste sie in solchen Situationen einfach immer genau das Richtige zu sagen. Ich lächelte sie an und formte mit den Lippen ein tonloses „Danke“.

Langsam kam wieder Bewegung in die Kabine und die anderen Mädchen zogen sich weiter um. Manche zwar noch etwas verhalten und mit dem Körper von mir abgewandt, aber das war dann wohl mein offizielles Coming-out in der Schule. Jetzt fehlt nur noch meine Familie. Und mein Kopf fing direkt wieder an zu rattern.

Der erste Schultag war geschafft. Ich war völlig k. o. und wollte einfach nur noch zu Tante Bärbel zum Mittagessen. Ich war schon viel zu lange nicht mehr bei ihr gewesen. Sechs Wochen Ferien bedeuteten nämlich auch, dass ich meistens zu Hause gegessen hatte und nicht wie sonst während der Schulzeit bei ihr. Nach den Ferien hatte meine Mutter als Personalleiterin eines großen Pharmaunternehmens wieder alle Hände voll zu tun. Mein Vater, dem die örtliche Buchhandlung gehörte, war sowieso den ganzen Tag in seinem Laden.

Deswegen kümmerte sich Tante Bärbel ums Mittagessen. Sie wohnte etwa auf halber Strecke von der Schule zu mir nach Hause in einer kleinen Sackgasse. Ihr Haus stand etwas fernab von der ruhigen Straße. Vor lauter Pflanzen und Bäumen musste man es erst einmal in dem ganzen Grün suchen. Aber ihr Garten sah immer etwas verwunschen aus, mit den vielen Pflanzen, die sich an den kreativsten Figuren und Steingebilden hochrankten. Die von Tante Bärbel selbst gemachten bunten Fantasiefiguren erinnerten ein bisschen an kleine Trolle mit bunten hochgestellten Haaren. Sie hatte für jede Person aus unserer Familie eine Figur getöpfert. Meine hatte Haare in einem dunklen Türkis, meiner Lieblingsfarbe.

Schon als ich in der Auffahrt ankam, strömte mir der herzhafte Geruch des Mittagessens entgegen und ich hörte einen lauten Schwarm Spatzen im Gebüsch neben dem Haus zwitschern. Ich sog den Duft des Essens tief ein. Mit jedem Schritt wurde er intensiver und ich versuchte zu erschnuppern, was es wohl geben würde. Ob sie wohl mein Lieblingsessen gekocht hat? Tante Bärbel musste mich schon gehört haben, als ich durchs Gartentor kam. Genau in dem Moment, als ich meinen Arm ausstreckte, um mit meinem rechten Zeigefinger auf den weißen runden Knopf der Klingel zu drücken, öffnete sie schon die Haustüre.

„Ava!“, rief Tante Bärbel mir laut entgegen, als hätte sie der ganzen Nachbar*innenschaft mitteilen wollen, dass ich angekommen war. Mit ihren weit ausgebreiteten Armen zog sie mich zu sich und drückte mich fest an sich. Ich nahm wahr, dass sie gekocht hatte, bemerkte aber auch den wohlig warmen, vertrauten Geruch, der sie immer umgab. Herzlichkeit wäre wohl das Wort, wenn man Tante Bärbel mit nur einem Begriff beschreiben müsste.

Mir fiel auf, wie perfekt ihre kleinen braunen Locken gestylt waren. Wahrscheinlich war sie die letzten Tage erst wieder beim Haareschneiden, dachte ich mir. Zusammen mit ihrer großen goldenen Brille sah sie immer recht schick aus. Und dass wir einer Familie entstammen, sah man auf jeden Fall auch an unserer Körperform. Sie war nämlich auch ganz schön kräftig, genau wie ich.

Tante Bärbel merkte sofort, dass etwas vorgefallen sein musste, und noch mit festem Griff ihrer warmen Hände an meinen Schultern fragte sie mich: „Was ist los, mein Kind? Ist irgendetwas in der Schule passiert?“

Ihr konnte man nichts vormachen. Sie wusste immer sofort, wenn etwas mit mir nicht stimmte. Ich schaute sie an und merkte, wie mir die Tränen langsam in die Augen stiegen. Ich konnte gar nichts sagen und da drückte mich Tante Bärbel wieder fest an sich und flüsterte mir leise ins Ohr, sodass es kitzelte: „Hier in der kleinen Bärbel-Welt bist du sicher! Hier kann dir niemand etwas tun.“ Das sagte mir Tante Bärbel schon seit ich ein kleines Kind war und sie hatte Recht damit. Nirgends fühlte ich mich sicherer als an diesem Ort. Genau wie jetzt, hier in Tante Bärbels warmen und festen Armen.

Ich schloss meine Augen und atmete durch die Nase tief ein. Ich spürte, wie mein Brustkorb sich mit Luft füllte, und setzte an: „Tante Bärbel, ich muss dir was sagen.“

Sie rümpfte die Nase, was sie immer tat, wenn ihre große goldene Brille wie jetzt in diesem Moment viel zu weit heruntergerutscht war, und schaute mich mit ihren großen braunen Augen an. „Du kannst mir immer alles sagen. Das weißt du.“

Ich holte noch einmal tief Luft und sagte in schnellen Worten: „Ich mag keine Jungs, ich stehe auf Mädchen.“

Ich konnte es in dem Moment erst gar nicht deuten und war verunsichert, als Tante Bärbel auf einmal ein ganz ­zufriedenes Lächeln im Gesicht hatte. „Wenn’s nur das ist, meine Kleine, dann ist das doch etwas Wunderschönes! Es geht ja schließlich um die Liebe. Deine Liebe! Und du entscheidest für dich ganz allein, wem du diese schenken möchtest.“ Ich spürte wie mir gefühlt ein ganzes Gebirge vom Herzen fiel. Ich umarmte Tante Bärbel wieder und merkte in diesem Moment, wie hungrig ich doch war. Ich hatte heute wegen dem ganzen Trubel noch gar nichts gegessen und mein Magen machte auf einmal ein lautes Geräusch. Tante Bärbel lachte. „Komm, ich glaube, das ist unser Zeichen, dass da jemand hungrig ist. Ich hab dir auch dein Lieblingsessen gekocht. Es gibt Putenkeulen mit Bandnudeln.“

***

Man merkte, dass uns der Winter so langsam bevorstand. Auf dem Weg zur Schule hatte ich mich dann doch geärgert, dass ich nicht die dickere dunkelgrüne Daunenjacke angezogen hatte, wie meine Mutter vorgeschlagen hatte. Ich lief gemeinsam mit Marta wie jeden Morgen dieselbe Strecke. Es hatte über Nacht geregnet und die Straße war nass, sodass mir bei jedem Schritt kleine Wassertropfen hinten ans Hosenbein spritzten. Bald konnte ich merken, wie der immer feuchter werdende Stoff meiner Jeans sich kalt an meine Waden presste. Toller Start in den Tag. Ich war tief in meinen Gedanken versunken und Marta musste das gespürt haben.

„Was geht dir denn durch den Kopf?“, fragte sie. „Du bist so still heute.“

Sie hatte Recht, es gab tatsächlich etwas, das mich sehr beschäftigte. „Ich bin ja seit dem Sommer in diesem Lesben-Forum Lesarion angemeldet. Da gibt es seit ein paar Tagen eine hitzige Diskussion darüber, ob trans Männer sich im Forum beteiligen dürfen oder nicht.“

„Trans was?“ Marta blieb für einen Moment stehen und schaute mich verdutzt an.

Ich zuckte mit den Achseln und sagte: „Ich weiß auch nicht so recht, was das bedeutet. Aber ich glaube, das sind Männer, die mal Frauen waren.“

„Moment mal, aber bedeutet lesbisch sein denn nicht, dass Frauen auf Frauen stehen? Und warum wollen sich denn jetzt Männer in einem Forum für Frauen beteiligen?“

Ich konnte Martas Gedanken nachvollziehen.

„Ich versteh das auch nicht ganz. Aber manche sind da schon echt hart mit den Sachen, die sie da gegen die Männer sagen“, sagte ich, während wir weiterliefen und am Ende der Straße schon das große Schultor in Sichtweite kam.

„Und was ist das Problem?“, hakte Marta nach.

„Anscheinend sollen wohl die trans Männer das Frauentum verraten, weil sie zur Gegenseite übergelaufen sind. Aber ich hab echt keinen Plan, was das soll.“ Ich zuckte mit den Schultern.

Marta schüttelte den Kopf. „Also ich seh das so, dass sie sie selbst sein wollen, anstatt irgendwen zu verraten. Immer diese unnötigen Dramen überall.“

Auch wenn Lesarion für mich ein Ort war, an dem ich zumindest online mal das Gefühl hatte, nicht alleine zu sein, merkte ich, dass manche Einstellungen der Frauen im Forum sehr aggressiv waren. Vor Kälte zupfte ich mir den Kragen meiner Jacke höher und zog meine Schultern näher zu meinen Ohren. „Ich find’s teilweise eh krass, wie gemein manche Leute online sind und was die sich trauen zu sagen. Ich werd da auch ständig für meine langen Haare blöd angemacht.“

Dieser Punkt traf mich tatsächlich immer wieder, da ich mir sowieso gerne die Haare kürzer schneiden lassen wollte, mich aber bis jetzt noch nicht getraut hatte.

Ich blieb stehen und blickte Marta an. „Vielleicht sollte ich mir die Haare wirklich abschneiden, was denkst du?“

Mit den Händen in den Taschen ihres dicken Mantels stieß mich Marta lächelnd mit dem Ellbogen sanft in die Seite. „Ich glaube, kurze Haare würden dir super stehen! Du hast das perfekte Gesicht dafür!“

Ich schmunzelte bei Martas Aussage. Vielleicht sollte ich das wirklich mal angehen.

In der Schule angekommen standen die anderen Mitschüler*innen unserer Klasse teilweise noch vor dem Tor und rauchten. Mir stieg der Qualm in die Nase und ich schüttelte den Kopf. „Ich frag mich immer, woher die die Kohle haben, um die ganzen Kippen zu bezahlen.“

Die braunen Backsteinfliesen auf dem Boden des Schulgebäudes waren nass und der Hausmeister war bemüht, mit seinem dreckigen Wischmop hinter den hereinströmenden Schüler*innen hinterher zu wischen. „Vorsicht! Lauft langsam!“, rief er immer wieder. Der Bäcker musste für den Pausenverkauf auch schon den Ofen angeschmissen haben, denn das Foyer mit den hohen Decken, in denen die unteren Klassen die gebastelte Herbstdeko schon aufgehängt hatten, roch nach frischen Brötchen. Mir knurrte der Magen. Während ich noch überlegte, ob mein Taschengeld für einen Snack in der Pause reichte, sah ich Paula um die Ecke biegen. Sie trug dezenten Lippenstift und lächelte ein bisschen albern. Und dann sah ich den Kerl, dem das Lächeln galt. Groß, bestimmt schon Oberstufe, mit richtig breiten Schultern. Er ging neben ihr her.

„Ist das Karl?“, fragte Marta neugierig und reckte den Hals.

„Keine Ahnung“, brummte ich mürrisch. Mir war der Appetit vergangen.

In der ersten Stunde war Mathe angesagt. Wir kamen ins Klassenzimmer und ich lief rüber zu meinem Platz am Fenster. Bevor ich mich setzte, blieb ich kurz am Fenster stehen und schaute hinaus. Der Baum vor dem Fenster war schon ganz kahl geworden und hatte nur noch vereinzelt ein paar braune Blätter an den Ästen. Eine Amsel saß auf einem Ast nicht weit vom Fenster und als ich mich bewegte, flog sie davon. Einfach ins Warme fliegen, das wäre manchmal genau das Richtige.

Meine Jacke wollte ich erst gar nicht ausziehen, denn morgens wurden die Heizungen erst mit Schulbeginn angemacht und die Zimmer in der Schule waren fast genauso kalt wie es draußen war.

„Boah, ich hasse diese scheiß schwäbische Sparsamkeit! Wollen die, dass wir in der Schule erfrieren? Wer soll bei der Kälte denn klar denken und lernen können?“, sagte ich mürrisch, als Marta sich rechts neben mir platzierte.

„Jetzt übertreib mal nicht so“, setzte mir Marta entgegen und schaute mich mit gerunzelter Stirn an.

Vielleicht hatte sie recht. Ich merkte, dass ich angespannt war. Wir sollten heute die Mathe-Arbeit der letzten Woche zurückbekommen. Am aufgeregten Gemurmel um mich ­herum merkte ich aber auch, dass nicht nur ich nervös war. In dem Moment kam unser Lehrer Herr Kreis zügig ins Zimmer gelaufen. Er legte schwungvoll einen Stapel Blätter auf den Tisch, sodass ein kleiner Windstoß bei mir ankam. 7:45 Uhr und schon so viel Energie, das sollte mir auch mal passieren. Zum Glück war neben dem Fenster auch die Heizung, und ich spürte an meinem linken Bein die Wärme, die sich langsam ausbreitete.

„Also ich muss schon sagen, dass mich der Schnitt der Klassenarbeit sehr überrascht hat. Und das nicht im guten Sinne. Bei einigen war es ja zu erwarten, dass wie gewohnt nichts kommt. Aber dass wir bei einer 2,8 im Schnitt liegen, hat mich schockiert“, wetterte Herr Kreis in seinem breiten schwäbischen Dialekt los, ohne guten Morgen zu sagen.

Ich lehnte mich rüber zu Marta und flüsterte: „Vielleicht sollte er sich mal fragen, ob das nicht auch an seinen Lehrmethoden liegt …“

„Gerade du, Ava, solltest hier jetzt besser mal deinen Mund halten“, sagte Herr Kreis mit seiner festen, tiefen Stimme. Es war auf einmal mucksmäuschenstill im Klassenzimmer und man hörte nur den Wind von draußen gegen die Fenster pusten. Er nahm den Stapel Blätter vom Tisch, leckte an seinem rechten Daumen und Zeigefinger und blätterte durch den Stapel. Etwa bei der Hälfte angekommen, zog er zwei zusammengetackerte Blätter heraus und kam zu mir herüber. Er baute sich demonstrativ vor mir auf: fast zwei Meter groß, graue Haare und grauer Schnauzer, den linken Arm in die Hüfte gestemmt. Ich schaute an ihm hoch und merkte, wie ich mit rundem Rücken immer kleiner wurde. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit einem klatschenden ­Geräusch knallte Herr Kreis mir die zwei Zettel auf den Tisch, sodass ich zusammenzuckte und so weit es ging auf meinem Stuhl zurückrutschte.

„Du kannst es einfach nicht. Du kannst es wirklich nicht und jede Mühe von uns Lehrkräften ist bei dir schlichtweg verloren“, wetterte Herr Kreis und funkelte mich von oben herab an. Ich wurde immer kleiner und kleiner und senkte meinen Blick. Ohne auch nur einmal zu blinzeln starrte ich auf die Blätter und sah eine große, eingekreiste rote Sechs. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken und alles zog sich in mir zusammen. Als wäre das nicht schon demütigend genug gewesen, hörte ich es hinter mir kichern. Als Herr Kreis sich umdrehte und zurück in Richtung Tafel ging, flüsterte Till hinter mir zu Cem: „Nicht nur dick, sondern auch noch doof.“ Beide lachten.

Ich saß still da und starrte immer noch auf die große rote Sechs. Das macht den Lehrer*innen wahrscheinlich auch noch Spaß, so sadistisch zu sein. Marta legte mir ihre linke Hand auf den Unterarm und schaute mich mitleidig an. Aber wir kannten das beide ja schon. Mathe war nie meine Stärke gewesen und ich hoffte nur, dass das nicht schon wieder bedeuten würde, dass ich zum Halbjahr versetzungsgefährdet war.

Wenigstens ist heute Mittwoch, ging mir durch den Kopf, als ich von Tante Bärbel am späten Nachmittag nach Hause lief. Mittwochs war immer Fußballtraining angesagt, sodass ich nach dem Scheißtag in der Schule wenigstens etwas Dampf ablassen konnte. Zu Hause angekommen, lief ich direkt die Holztreppe hoch. Ich hatte ein gemütliches Zimmer unter dem Dach, in dem mein Bett versteckt in einer Ecke stand. Meinen Kleiderschrank hatte ich direkt neben der Tür platziert, sodass er einen zusätzlichen Sichtschutz auf mein Bett bot. An den Wänden hingen bunte Poster von den Foo Fighters, Metallica und Iron Maiden, meinen absoluten Lieblingsbands. Ich hörte Schritte auf der Treppe vor meinem Zimmer und im nächsten Moment kam meine Mutter herein und stellte einen großen, grünen Wäschekorb mit meinen gewaschenen und fein säuberlich zusammengelegten Klamotten ab. Sie hatte noch die schicke Kleidung von der Arbeit an. Als Personalleiterin eines großen Pharmaunternehmens ging meine Mutter immer sehr modisch gekleidet arbeiten: mit glatt geföhnten blonden Haaren bis kurz unter die Ohren und perfektem Make-up. Nachmittags kümmerte sie sich dann noch um den Haushalt und das Abendessen, sodass sie eigentlich immer mit irgendetwas beschäftigt war.

„Danke, Mama. Sind da auch meine Trainingssachen drin?“, sagte ich zu ihr, während ich auf dem Boden kniete und meine Sporttasche unter dem Bett hervorzog.

Sie lächelte zu mir rüber: „Deswegen bringe ich dir die Wäsche ja, weil ich weiß, dass du deine Sachen gleich brauchst.“

Ich sah auf meinem pinken Wecker neben dem Bett, dass es schon drei Minuten vor 18 Uhr war. „Ich muss mich beeilen. Papa kommt mich bestimmt gleich abholen, wenn er die Buchhandlung geschlossen hat.“

Im Rausgehen drehte sich meine Mutter noch einmal um und sagte: „Ich frage mich immer, wie du von den Iron-Maiden-Postern mit den toten Gestalten keine schlechten Träume bekommen kannst.“

Sie hatte recht, die Bilder waren in der Tat etwas gruselig. Aber ich mochte auch die fantasievolle Art, in der Eddie als Bandmaskottchen von Iron Maiden dargestellt wurde.

In meinen Gedanken versunken, ob ich wohl jemals Iron Maiden live auf einem Konzert sehen würde, hörte ich es draußen hupen. Das muss Papa sein! Ich schnappte mir meine neongrünen Nike-Stollenschuhe von unter dem Bett und griff nach meiner Sporttasche. Ich lief in die Einfahrt hi­naus und stieg zu ihm in die silberne Mercedes-Benz A-Klasse, die er schon seit ein paar Jahren fuhr.

„Wie war’s in der Schule?“, fragte er mich, als wir gemeinsam losfuhren.

„So wie immer“, antwortete ich nichtssagend und fragte mich, ob ich den Duft von dem gelben, nach Vanille riechenden Wunderbäumchen, das am Rückspiegel im Auto hing, mochte oder doch eklig fand. Es erinnerte mich ein bisschen an Paulas Parfüm. Ein trauriger Gedanke. Jetzt, da Paula neuerdings fest mit Karl aus der Abschlussklasse zusammen war, hatten sich meine Fantasien gänzlich verabschiedet, dass sich der Kuss noch mal wiederholen könnte. Auch mein Vater schien mit seinen Gedanken schon wieder woanders zu sein, denn er murmelte etwas vor sich hin, das ich nicht verstand. Umso besser, dann musste ich zumindest nicht über die schlechte Mathe-Klassenarbeit sprechen. Grundsätzlich unterhielt ich mich gerne mit meinem Papa. Er konnte gut zuhören und auch wenn er sich manchmal etwas Zeit ließ mit seinen Antworten, was mich teilweise zur Weißglut brachte, waren diese aber immer irgendwie schlau. Mein Papa sprach stets mit ruhiger Stimme und war das komplette Gegenteil von meiner Mama, die immer ­emotional, manchmal auch übertrieben reagierte. Vielleicht ergänzen sie sich deswegen so gut.

Das Training war der perfekte Ausgleich. Selbst das Warmlaufen in der kalten Luft draußen auf dem Platz machte mir heute nichts aus, obwohl ich es eigentlich hasste. Papa und Trainer Jürgen standen gemeinsam mit dem Co-Trainer Chris am Seitenrand. Jürgen erklärte uns einen Spielzug, den er für die kommende Rückrunde im neuen Jahr entwickelt hatte. Ich war hochkonzentriert dabei und schloss den Spielzug am Ende mit einem glanzvollen Tor unten rechts in die Ecke ab. Jürgen, Chris und Papa jubelten am Seitenrand. Nach dem Training lief ich noch fünf Extrarunden um den Platz. Mit meiner Leistung und dem Extralauf war das heute vielleicht die Chance gewesen, Jürgen weiter zu beeindrucken und in der nächsten Saison sogar Teamkapitänin zu werden. Die anderen Mädchen mussten sich schon alle umgezogen haben, denn ich konnte sie nicht mehr auf dem Platz sehen. Nur Papa und Jürgen standen noch an der Seite des alten hellblau angestrichenen Flachbaus, der als Vereinsheim diente und schon deutlich bessere Tage gesehen hatte. Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht lief ich in Richtung Umkleidekabinen. Gerade war das Flutlicht auf dem Platz ausgegangen und der Rasen vor mir war durch das Licht vom Vereinsheim gerade noch erkennbar. Direkt neben der Eingangstüre zur Kabine im Schatten vom Haus sah ich, wie eine Zigarette aufglühte, konnte aber erst noch kein Gesicht dazu erkennen. Meine Schritte wurden etwas langsamer und ich versuchte im Dunkeln das Gesicht der Person auszumachen. Links neben dem Vereinsheim außer Sichtweite hörte ich leise Papas und Jürgens Stimmen, was mir ein sicheres Gefühl gab. Als ich allmählich näher kam, erkannte ich an der dürren Figur und der engen schwarzen Adidas-Trainingshose mit den weißen Streifen an der Seite, dass Chris dort im Dunkeln stand. Ich blieb stehen und schaute ihn an. Er warf seine Kippe knapp vor meinen Füßen auf den Boden und kam auf mich zu. Chris stoppte kurz vor mir und drückte die noch glühende Zigarette mit seinem Schuh aus. Er stand nun zwischen mir und der Türe der Umkleidekabine, in der meine Sporttasche lag. Mir war kalt geworden, denn vom Training und den extra gedrehten Runden war ich nass geschwitzt und es mussten heute Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen. Ich bekam Gänsehaut und verschränkte die Arme vor meinem Körper.

„Ist dir etwa kalt?“, fragte er.

No shit, Sherlock, dachte ich mir. „Ja, ein bisschen.“

Er kam noch ein Stück näher auf mich zu und legte seinen Arm um meine Schulter „Komm, ich wärm dich auf.“

Im wahrsten Sinne des Wortes stand ich da wie festgefroren, noch mit den Armen verschränkt vor meinem Bauch. In Chris’ Atem knapp neben meinem Gesicht roch ich den Rauch seiner Zigarette und ekelte mich. Sein Arm hing locker über meiner Schulter, mit der Hand direkt vor meiner Brust. Was will der denn jetzt von mir?!

„Ich hab dich heute beim Training genau beobachtet. Wirklich beeindruckende Leistung“, sagte Chris zu mir.

Mehr als ein leises „Danke“ brachte ich nicht hervor und merkte, wie mein ganzer Körper sich in der Situation ­anspannte.

„Du hast das Zeug, es im Fußball weit zu bringen, Ava. Ich kann dich dabei unterstützen.“ Ich schaute ihn an. Chris grinste breit und zwinkerte mir mit dem linken Auge zu. „Vielleicht kannst du mich dann auch ein bisschen unterstützen.“ Als er das aussprach, spürte ich, wie die Hand, die über meiner Schulter hing, leicht nach meiner Brust griff. In mir stieg Panik auf und ich starrte Chris mit großen Augen an. Auch wenn es nur ein Bruchteil einer Sekunde war, fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Was sollte ich bloß tun?

Ich stieß Chris von mir weg und lief schnell die fehlenden drei Schritte in die Umkleidekabine und schloss die Türe hinter mir. Hier rein wird er mir ja wohl nicht folgen! Womit ich zum Glück recht hatte. Ich packte so schnell ich konnte meine Straßenklamotten in meine Tasche und blieb in meinen verschwitzten Trainingssachen. Mein Atem ging schnell und ich fühlte ein Gefühl von Übelkeit in mir aufsteigen.

Ach, verfickte Scheiße! In der Eile und mit meinen zittrigen Händen war mir meine Sprudelflasche aus Glas mit einem lauten Klirren auf den Boden geknallt und in tausend Scherben zersprungen.

„Das ist mir jetzt auch egal. Hier komm ich eh nie wieder her“, murmelte ich vor mich hin und steckte meine Fußballschuhe als Letztes in die Tasche.

Mein Herz klopfte stark, als ich zur Türe ging und diese langsam öffnete. Ich schaute vorsichtig nach draußen. Erst nach links. Dann nach rechts. Chris war nicht zu sehen. Hastig lief ich auf den Steinplatten am Vereinsheim entlang. Kalt liefen mir die Tränen über die Wangen. Da hörte ich wieder die Stimmen von Papa und Jürgen. Bevor ich zu ihnen um die Ecke ging, wischte ich mir mit dem ­Ärmel von meiner roten Trainingsjacke einmal übers Gesicht. Mit gesenktem Kopf lief ich schnellen Schrittes mit meiner schwarzen Tasche über der Schulter an den beiden vorbei.

„Komm, Papa, ich will jetzt nach Hause“, sagte ich hastig, ohne die beiden anzusehen „Tschüss Jürgen, danke fürs Training.“

Als ich schon auf halber Strecke zum Auto war, schnappte ich die Worte meines Papas in der Entfernung auf: „Die Jugend, immer ist irgendetwas Dramatisches, das eines großen Abgangs bedarf.“

Wenn du auch nur einmal eine Ahnung von irgendwas hättest, schoss mir mürrisch durch den Kopf. Ich roch in der Kälte, dass jemand in der Nähe wohl noch mit Kohle heizte. Immerhin hatte Papa von Weitem schon mal die Fernbedienung fürs Auto betätigt. Ich sah die orangen Lichter der Blinker hinten am Auto aufleuchten und das Innenlicht im Auto angehen. Am Auto angekommen, streckte ich meine Hand gerade nach dem Griff der Beifahrer*innentür aus, als ich mitten in die halbgefrorene Matschpfütze direkt neben dem Auto trat.

Verdammte Kacke! Ich schaute an mir hinunter und sah, dass mein Schuh völlig verdreckt war. Ich spürte im nächsten Moment, wie die kalte Feuchtigkeit langsam meine Socke durchzog. Ich bekam Gänsehaut und eine unglaubliche Wut breitete sich in mir aus. Ich war wütend auf mich selbst – nicht nur wegen der Pfütze. Wieso zum Henker habe ich das gerade mit Chris zugelassen? Ich hatte ja bereits von Julia aus meinem Team gehört, dass er ihr nach dem Training vor zwei Wochen die Hand ihrer Aussage nach deutlich zu nah am Schritt auf den Oberschenkel gelegt hatte. ­Daraufhin hatte ich mir geschworen, dass mir so etwas nie passieren würde. Schon gar nicht von so einem ekelhaften Typen, der gerade mal fünf Haare über der Oberlippe hatte, das als Schnauzbart bezeichnete und auch noch damit angab.

Hinter mir hörte ich Papas schwere Schritte auf dem steinigen Parkplatz. In meiner Wut riss ich die Autotür schwungvoll auf und schleuderte meine Sporttasche zwischen den Vordersitzen hindurch auf die Rückbank. Ich ließ mich auf den Sitz fallen und knallte die Beifahrer*innentür mit einem lauten Wumms zu. Im gleichen Moment stieg Papa ins Auto ein.

„Mann, Ava! Was soll das denn?“, wetterte er direkt laut los. „Deine Schuhe! Ich hab erst letztes Wochenende das Auto sauber gemacht. Denkst du etwa, ich mach das zum Spaß?!“

In mir zusammengesunken saß ich auf dem Sitz. Der Kragen meiner dicken Winterjacke verdeckte mein halbes Gesicht. Ich spürte, wie mir eine Flut von Tränen in die Augen schoss. „Lass mich doch einfach in Ruhe mit deinem scheiß Auto! Ich hab gerade andere Probleme als ’ne matschige Fußmatte.“ Ich drehte meinen Kopf weg von meinem Vater in Richtung Fenster und brach in Tränen aus. Dicke salzige Tropfen strömten mir über die kalten Wangen und der Rotz lief mir aus der Nase über meine Lippen. Ich sah meinen Vater im Fenster, das den erleuchteten Innenraum widerspiegelte. Er saß wie versteinert neben mir. Das Bild wurde vor lauter Tränen immer verschwommener. Ich schloss meine Augen und biss vor Wut so fest meine Zähne zusammen, dass mein Unterkiefer krampfte. An dem Rascheln seiner Winterjacke und einem sich öffnenden Reißverschluss hörte ich, dass mein Papa sich bewegte. Im nächsten ­Moment tippt er mir sanft auf die linke Schulter und reichte mir ohne etwas zu sagen eine Packung Taschentücher. Ich drehte den Kopf und schaute kurz zu ihm auf. Seine warmen braunen Augen unter den grauen Augenbrauen schauten mich sorgenerfüllt an.

„Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber wenn du dafür bereit bist, kannst du immer mit mir sprechen“, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme.

Auch wenn mein Papa oft nicht mitzubekommen schien, was gerade um ihn herum geschah, wusste er doch immer ganz genau, was er sagen sollte, wenn es wirklich wichtig war. Ich griff nach den Taschentüchern und wischte mir den weiter aus der Nase herauslaufenden Rotz ab. Als mein Vater den Motor anschmiss und zurücksetzte, drehte ich meinen Kopf wieder zum Fenster und schaute auf zu den vorbeirauschenden Straßenlaternen. Die Lichter gingen bald über in das Leuchten einzelner Sterne, als wir die Ortschaft verließen und der Motor von der steigenden Geschwindigkeit auf der Landstraße lauter wurde.

Kapitel 2

Über den Tellerrand hinaus

Zu Hause schleuderte ich meine Schuhe von den ­Füßen in die Ecke der Garderobe und ließ meine Jacke auf die Bank im Flur fallen. Es roch nach gekochtem Essen und ich hörte meine Mutter aus der Küche rufen: „Da seid ihr ja endlich! Ich warte schon seit zwanzig Minuten auf euch. Die Schnitzel in der Pfanne sind jetzt völlig trocken!“

Auch wenn ich mich jeden Abend auf das Ergebnis der Kochkünste meiner Mutter freute, war mir heute Abend so gar nicht nach Essen geschweige denn Gesellschaft zu­mute. Ich wollte allein sein, Metallica hören und mich unter meiner Bettdecke verkriechen. Als ich gerade auf die Treppe nach oben abbiegen wollte, stand meine Mutter im Flur: „Ava, was soll das denn? Warum lässt du deine Jacke und deine Schuhe einfach so rumfliegen?“

Im Hintergrund hörte ich meinen Vater leise zu meiner Mutter sagen: „Karin, lass sie. Ihr geht’s gerade nicht so gut.“

Papa hat’s wenigstens geschnallt, dachte ich mir. Aber Mama ließ nicht locker. Sie stand da, mittlerweile in ihren bequemen Hausklamotten, die aber immer noch aussahen, als wären sie vom Laufsteg der letzten Berliner Fashion Week, und stemmte beide Hände in die Hüften. Ihre Stimme wurde fester. „Ich hab dir und deinem Bruder beigebracht, wie man easy Ordnung halten kann. Wie willst du das denn deinen Kindern mal beibringen, wenn das schon im Hausflur scheitert?“

Jetzt reicht’s! Ich hab die Schnauze voll von dem Gelaber!