Quicksilver - Tochter des Silbers. Gefangene der Schatten - Callie Hart - E-Book

Quicksilver - Tochter des Silbers. Gefangene der Schatten E-Book

Callie Hart

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Beschreibung

Sie hat die Macht über die Quicksilver Portale. Doch er herrscht über ihr Herz. Und er könnte es in tausend Stücke reißen. Der neue Romantasy-Bestseller, der die Community weltweit begeistert!

Berühre nie das Schwert. Öffne nie das Portal. Verliere nie dein Herz …

In ihrer dunkelsten Stunde, als sie bereits dem Tod ins Auge blickt, öffnet die junge Saeris unwissentlich ein sogenanntes Quicksilver-Portal – ein Tor zwischen den Welten. Als erster Mensch seit tausenden von Jahren gelingt ihr mithilfe eines Fae-Kriegers die Flucht nach Yvelia. Dabei gerät sie zwischen die Fronten eines jahrhundertealten Konflikts, der nicht nur die Fae, sondern auch die Menschen alles kosten könnte. Saeries hat viele Mythen und Legenden über das Land der Fae gehört – doch keine Überlieferung konnte der Schönheit des Winterpalastes gerecht werden. Oder sie auf den unwiderstehlichen Fae-Krieger vorbereiten, der ihr nicht nur das Leben gerettet hat, sondern ihr auch zeigt, wie sie ihre machtvolle Alchemistenkraft nutzen kann. Doch Fishers Loyalität gilt einzig und allein seinem Volk. Er wird ihre Magie nutzen, um das Land der Fae um jeden Preis zu schützen. Auch wenn es ihn Saeris‘ Herz kostet …

Der neue große Romantasy-Hit von US-Bestsellerautorin Callie Hart: unwiderstehliche enemies-to-lovers-Romance, rasiermesserscharfer Schlagabtausch, Action und knisternder Spice treiben den Puls in die Höhe und machen es unmöglich, dieses Buch zur Seite zu legen …

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Seitenzahl: 1123

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sie hat die Macht über die Quicksilver-Portale. Doch er herrscht über ihr Herz. Und er könnte es in tausend Stücke reißen. Der Romantasy-Bestseller, der die Community weltweit begeistert!

Berühre nie das Schwert. Öffne nie das Portal. Verliere nie dein Herz …

In ihrer dunkelsten Stunde, als sie bereits dem Tod ins Auge blickt, öffnet die junge Saeris unwissentlich ein sogenanntes Quicksilver-Portal – ein Tor zwischen den Welten. Mithilfe eines Fae-Kriegers gelingt ihr als erstem Mensch seit Tausenden von Jahren die Flucht nach Yvelia. Dabei gerät sie zwischen die Fronten eines jahrhundertealten Konflikts, der nicht nur die Fae, sondern auch die Menschen alles kosten könnte. Saeris hat viele Mythen und Legenden über das Land der Fae gehört – doch keine Überlieferung konnte der Schönheit des Winterpalastes gerecht werden. Oder sie auf den unwiderstehlichen Fae-Krieger vorbereiten, der ihr nicht nur das Leben gerettet hat, sondern ihr auch zeigt, wie sie ihre machtvolle Alchemistenkraft nutzen kann. Doch Fishers Loyalität gilt einzig und allein seinem Volk. Er wird ihre Magie nutzen, um das Land der Fae um jeden Preis zu schützen. Auch wenn es ihn Saeris’ Herz kostet …

Der große Romantasy-Hit von US-Bestsellerautorin Callie Hart: unwiderstehliche Enemies-to-Lovers-Romance, rasiermesserscharfer Schlagabtausch, Action und knisternder Spice treiben den Puls in die Höhe und machen es unmöglich, dieses Buch zur Seite zu legen …

Callie Hart hat bereits Dark-Romance-Romane veröffentlicht, die in den USA die Bestsellerlisten erobert haben. Sie bezeichnet sich selbst als Romance-süchtig und liebt es, in ihren Geschichten die dunkle, obsessive Seite der Liebe aus dem Schatten zu holen. Ihre Protagonisten sind keine perfekten Helden und lassen ihr oft keinen ruhigen Moment. Callie reist gerne, um sich von ihrer Umgebung zu neuen Geschichten inspirieren zu lassen.

Quicksilver ist Callies Romantasy-Debüt und Start einer Trilogie, wurde im Selfpublishing veröffentlicht und innerhalb weniger Wochen zum internationalen Bestsellerphänomen.

www.penguin-verlag.de

CALLIE HART

TOCHTER DES SILBERS. GEFANGENER DER SCHATTEN

Roman

Aus dem Englischen von Franca Fritz und Heinrich Koop

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Quicksilver bei Grand Central, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe by Callie Hart 2024

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Waltraud Horbas

Karten: © Sveta Dorosheva

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage

Umschlagabbildungen: © Shutterstock; Dreamstime; Envato; www.buerosued.de

Vor- und Nachsatz: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-33186-3V001

www.penguin-verlag.de

Für alle, die ihre Albträume leben, damit andere ihre Träume behalten können

Vergiss nie …Monster gedeihen in der Dunkelheit.Präge dir alles, was du hier liest, gut ein.Bereite dich auf einen Krieg vor!!

AUSSPRACHEHILFE

PERSONEN

Saeris

Säh-ris

Rusarius

Ru-sar-i-us

Omnamshacry

Om-nam-scha-krei

Iseabail

I-scha-bhal

Belikon

Bell-i-kon

Oshellith

Oh-schel-lith

Taladaius

Tal-ah-dä-us

Daianthus

Dä-an-thus

Lorreth

Lor-eth

Balquhidder-Clan

Bal-kid-der (Clan)

Te Léna

Te Le-nah

Danya

Dan-jah

ORTE

Zilvaren

Sil-wa-ren

Yvelia

I-wehl-i-ah

Cahlish

Kah-lisch

Sanasroth

Sa-nas-rot

Gilaria

Gi-lah-ri-a

Lìssia

Liss-i-a

Ammontraíeth

Ah-mon-trä-eth

Omnamerrin

Om-na-mer-rin

1DIE KLETTERPARTIE

»Es besteht wirklich kein Grund, so brutal zu werden …«

In der Stadt Zilvaren war allgemein bekannt, dass es den Tod bedeutete, wenn man eine Wache belog. Im Gegensatz zu den meisten Zilvarern wusste ich das aus erster Hand. Ich hatte es auf schmerzhafte Art und Weise erfahren: Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hatte ich gesehen, wie ein Mitglied aus der Garde der Königin in seiner goldenen Rüstung meinen Nachbarn getötet hatte, weil er die Frage nach seinem Alter falsch beantwortet hatte. Und davor – was noch viel schlimmer gewesen war – hatte ich schweigend auf der Straße gestanden, während man meiner Mutter die Kehle aufgeschlitzt hatte und ihr heißes Blut in den sonnenverbrannten Sand gespritzt war.

Als sich die Hand des gut aussehenden Wächters jetzt um meinen Hals schloss und sein wunderschön gravierter Handschuh das grelle Licht der Zwillingssonnen über mir wie ein goldener Spiegel reflektierte, war es ein Wunder, dass ich nicht nachgab und all meine Geheimnisse ausspuckte wie ein Stück überreifes Obst. Die Metallspitzen seiner Finger bohrten sich tiefer in meine Kehlgrube. »Name. Alter. Bezirk. Mach schon. Niederrangige Bürger haben keinen Zutritt zum Herz«, knurrte er.

Wie die meisten Städte war auch Zilvaren – das Große und Glänzende Banner des Nordens – der Form eines Rads nachempfunden. In den äußeren Bereichen der Stadt ragten die verschiedenen Speichen – Mauern, die die Bewohner in ihren Bezirken halten sollten – fünfzig Meter hoch über den heruntergekommenen Vierteln und der überlaufenden Kanalisation auf.

Der Wachmann schüttelte mich ungeduldig. »Antworte, Mädchen, oder ich schicke dich auf der Stelle durch das fünfte Tor der Hölle.«

Ich tippte auf seinen Panzerhandschuh, nicht annähernd stark genug, um seinen eisernen Griff um meinen Hals zu lösen, grinste und verdrehte die Augen leicht, während ich zum knochenweißen Himmel hinaufschaute. »Wie soll ich dir … irgendetwas sagen … wenn ich … nicht atmen kann … verdammt noch eins?«

In den dunklen Augen des Wachmanns brodelte Wut, und der Druck, den er auf meine Luftröhre ausübte, verstärkte sich. »Hast du eine Ahnung, wie heiß es in den Palastzellen während des Helllichts ist, Diebin? Ohne Wasser? Ohne frische Luft? Der Gestank der verrottenden Leichen bringt selbst den Haupthenker zum Kotzen. Eins kann ich dir versprechen: Du würdest innerhalb von drei Stunden verrecken.«

Die Palastzellen waren tatsächlich ein ernüchternder Gedanke. Ich war schon mal beim Stehlen erwischt worden und hatte insgesamt acht Minuten dort unten verbracht. Aber diese acht Minuten hatten mir gereicht. In der Zeit, in der die Sonnen Balea und Min uns am nächsten waren und die Nachmittagsluft vor Hitze vibrierte, wäre es kein Vergnügen, unter der Erde in dem eiternden Geschwür festzusitzen, das sich »Gefängnis unter dem Palast der Unsterblichen Königin« schimpfte. Außerdem wurde ich hier oben dringend gebraucht. Wenn ich es nicht vor Anbruch der Dunkelheit zurück zur Schmiede schaffte, würde der Deal, den ich am Abend zuvor über mehrere Stunden ausgehandelt hatte, platzen. Kein Deal bedeutete kein Wasser. Kein Wasser bedeutete, dass die Menschen, die mir am Herzen lagen, leiden würden.

Sosehr es mich auch ärgerte: Ich gab nach. »Lissa Fossick. Vierundzwanzig. Single.« Ich zwinkerte ihm zu, aber der Mistkerl drückte nur noch fester zu. Dunkle Haare und blaue Augen waren in der Silberstadt kein alltäglicher Anblick; er würde sich definitiv an mich erinnern. Das Alter, das ich ihm genannt hatte, stimmte, genau wie mein erbärmlicher Beziehungsstatus, aber das galt nicht für den angegebenen Namen. Meinen richtigen Namen … den würde ich auf keinen Fall kampflos preisgeben. Dieser Mistkerl würde sich in die Hose machen, wenn ihm bewusst wurde, dass er die Saeris Fane in den Fingern hatte.

»Bezirk?«, fragte der Wachmann fordernd.

Lebendige Götter, war der beharrlich! Er würde sich gleich wünschen, er hätte nie gefragt. »Dritter Bezirk.«

»Dri…« Der Wachmann stieß mich in den glühenden Sand. Der extrem heiße Staub versengte mir die Kehle, und beim nächsten Atemzug hielt ich mir den Ärmel meines Hemds vor den Mund. Aber der Sand ließ sich auf diese Weise nur begrenzt herausfiltern; ein paar Körnchen drangen immer durch den Stoff.

Hastig taumelte der Wachmann zurück. »Die Bewohner des dritten Bezirks stehen unter Quarantäne. Die Strafe für das Verlassen des Bezirks ist … ist …«

Es existierte keine Strafe für das Verlassen des dritten Bezirks; niemand hatte es je zuvor gewagt. Diejenigen, die das Pech hatten, sich in den schmutzigen Gassen und stinkenden Seitenstraßen meines Viertels durchzuschlagen, starben in der Regel, bevor sie auch nur an Flucht denken konnten.

Während der Wachmann über mir aufragte, verwandelte sich sein Zorn in etwas, das eher wie Angst wirkte. In diesem Moment bemerkte ich den kleinen Pestbeutel, der an seinem Gürtel hing, und erkannte, dass er – wie Tausende andere in Zilvaren – ein Gläubiger war. Panisch hob er den Fuß und ließ seinen schweren Stiefel in meine Seite krachen. Der Schmerz raubte mir den Atem, als er erneut ausholte.

Aber das war bei Weitem nicht meine erste Tracht Prügel. Normalerweise konnte ich genauso gut einstecken wie der nächstbeste unterdrückte Betrüger, aber heute Nachmittag hatte ich definitiv keine Zeit, Madras fanatischen Anhängern gefügig zu sein. Ich musste dringend etwas erledigen, und mir lief die Zeit davon.

Mit einer raschen Drehung schnellte ich vorwärts und packte den Wachmann knapp unterhalb seines Knies – eine der wenigen Stellen, an denen er nicht durch seine schwere goldene Rüstung geschützt war. Heiße Tränen schossen mir in die Augen. Ich lieferte eine solide und überzeugende Vorstellung ab, aber andererseits hatte ich ja auch genug Übung. »Bitte, Bruder! Schick mich nicht dorthin zurück. Sonst werde ich sterben. Meine ganze Familie hat das Röcheln.« Ich hustete zur Bekräftigung – ein trockenes Rasseln, das nicht annähernd so klang wie der feuchte, verschleimte Husten eines Sterbenden.

Aber der Wachmann hatte vermutlich noch nie jemanden mit Röcheln gesehen. Er starrte auf die Stelle, an der sich meine Hand um den Stoff seiner Hose schloss, und sein Mund klappte vor Entsetzen auf.

Eine Sekunde später durchbohrte die Spitze seines Schwerts mein Hemd, genau zwischen meinen Brüsten. Etwas mehr Druck auf das Heft seiner Waffe, und ich wäre nur noch eine weitere tote Diebin gewesen, die in den Straßen von Zilvaren verblutete. Im ersten Moment dachte ich, er würde es tatsächlich tun – doch dann sah ich, wie er die Situation durchdachte und erkannte, was alles auf ihn wartete, wenn er mich tötete.

In den anderen Bezirken wurden die Toten normalerweise auf den Straßen der Verwesung überlassen, aber in den von Bäumen gesäumten, begrünten Alleen des Herzens galten andere Regeln. Zilvarens wohlhabende Elite war zwar nicht in der Lage, den von den heißen Westwinden herbeigetragenen Sand fernzuhalten, aber sie würde es nicht dulden, dass eine kranke Pestratte auf einer ihrer Straßen verrottete. Wenn dieser Wachmann mich tötete, müsste er meine Leiche sofort entsorgen. Und seiner Miene nach zu urteilen, war das eine gefährliche Aufgabe, die er nicht übernehmen wollte. Denn da ich aus dem dritten Bezirk stammte, war ich weitaus gefährlicher als jeder normale, alltägliche Taschendieb: Ich war ansteckend.

Der Wachmann riss sich den Panzerhandschuh von der Hand – die Hand, mit der er mich halb erwürgt hatte – und ließ ihn in den Sand fallen.

Das polierte Metall begann zu summen, als es auf dem Boden aufschlug. Es sang in meinen Ohren, und im nächsten Moment lösten sich all meine Pläne in Luft auf. Man hatte mich dabei erwischt, wie ich einen winzigen Rest verbogenen Eisens von einem Marktstand mitgehen ließ. Ich hatte meine Chancen abgewogen und war zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das Risiko lohnte – denn ich wusste, dass der kleine Barren mir einen ordentlichen Gewinn einbringen würde. Aber das hier? So viel kostbares Metall, einfach auf den Boden geworfen, als wäre es nichts wert? Da konnte ich nun wirklich nicht widerstehen.

In der nächsten Sekunde bewegte ich mich mit einer Geschwindigkeit, mit der der Wachmann nicht gerechnet hatte: Mit einer geschmeidigen, explosiven Bewegung sprang ich vorwärts und griff nach dem Panzerhandschuh. Das Ding war atemberaubend schön, von einem wahren Meister kunstvoll gefertigt. Die winzigen Goldringe, zu einem kettenhemdartigen Material miteinander verbunden, waren bekanntermaßen undurchdringlich für Klingen oder Magie. Aber das Gewicht des Handschuhs, die massive Menge an Gold, aus der die Rüstung bestand … es war unvorstellbar, dass ich jemals wieder so viel Gold in den Händen halten würde.

»Halt!« Der Wachmann stürzte sich auf mich, doch er war zu langsam.

Ich hatte mir den Panzerhandschuh bereits geschnappt und mir über die Hand gestülpt und sprintete auf die Herz-Mauer zu, so schnell mich meine Beine trugen.

»Haltet das Mädchen auf!« Der gebrüllte Befehl der Wache hallte über den gepflasterten Hof, aber niemand gehorchte. Die Menge, die sich bei meiner Festnahme versammelt hatte, um das Spektakel zu beobachten, war bei der Erwähnung des dritten Bezirks wie verängstigte Kinder auseinandergestoben.

Potenzielle Rekruten für die Garde von Königin Madra gingen durch eine harte Schule. Diejenigen, die sich für das zermürbende, achtzehnmonatige Ausbildungsprogramm qualifizierten, wurden wiederholt halb ertränkt und mit jeder Art von Kampfkunst, die in den staubigen Bibliotheken der Stadt verzeichnet war, windelweich geprügelt. Nach ihrem Abschluss konnten sie unvorstellbare Schmerzen ertragen und beherrschten ihre Waffen so gut, dass sie in einem Duell unschlagbar waren. Sie waren Maschinen. In der Kaserne, auf dem Trainingsplatz, würde ich keine vier Sekunden einen Kampf gegen einen voll ausgebildeten Wachmann überleben. Königin Madras Ego verlangte, dass ihre Gardisten die Besten der Besten waren. Aber Madra war gierig und beinahe unersättlich. Ihre Männer mussten nicht nur die Besten sein. Sie mussten auch am besten aussehen, und die Rüstung eines Wachmanns war von größter Bedeutung. Zugegeben, auf dem Trainingsplatz hätte mich das Arschloch, das mich beim Eisendiebstahl erwischt hatte, in kürzester Zeit fertiggemacht. Aber wir waren nicht auf dem Trainingsplatz. Wir waren draußen im Herz, und es war Helllicht, und dieser arme Mistkerl war in seiner ganzen prunkvollen Rüstung so beweglich wie ein Festtagstruthahn kurz vor dem Anschneiden.

Mit all dem Metall an seinem Körper konnte er nicht rennen.

Er konnte nicht mal joggen.

Und er konnte definitiv nicht klettern.

Ich stürmte in Richtung der Ostmauer und bewegte meine Arme und Beine so schnell, wie es mein schmerzender Körper zuließ. Ein kräftiger Sprung … und dann prallte ich auch schon gegen den bröckelnden Sandstein der Mauer, wobei mir durch die Wucht sämtlicher Sauerstoff aus der Lunge gepresst wurde.

»Au, au, au.« Ich hatte das Gefühl, als hätte Elroy einen Hammer aus der Schmiede genommen und ihn direkt in meinen Solarplexus geschleudert. Und an die Blutergüsse, mit denen ich am nächsten Morgen aufwachen würde – vorausgesetzt, ich wachte tatsächlich auf –, wollte ich lieber gar nicht denken. Dafür blieb keine Zeit mehr. Rasch schob ich meine Finger in einen schmalen Spalt zwischen den massiven Sandsteinblöcken, biss die Zähne zusammen und zog mich hoch. Meine Stiefel suchten nach Halt, fanden ihn. Aber meine rechte Hand …

Dieser verdammte Panzerhandschuh.

So ein dämliches Design.

Das Gold klirrte, und der Widerhall des Metalls war wie ein Sirenengesang, als ich damit gegen die Wand schlug und versuchte, mich an etwas festzuhalten und mich hochzuziehen. Aber die Kraft meiner Finger – geschickt, schlank, wie geschaffen für das Knacken von Schlössern, das Entriegeln von Fenstern, das Zerzausen von Haydens dichtem Haar – würde nicht ausreichen, wenn ich mein Handgelenk nicht beugen konnte. Und das gelang mir nicht.

Verflucht!

Wenn ich überleben wollte, blieb mir keine andere Wahl: Ich würde den Panzerhandschuh fallen lassen müssen. Aber dieser Gedanke war absurd. Der Handschuh wog mindestens vier Pfund. Vier Pfund Metall. Diese Menge konnte ich nicht einfach so zurücklassen. Der Handschuh war mehr als nur ein Stück gestohlene Rüstung. Er war die Ausbildung meines Bruders. Nahrung für drei Jahre. Ein Passierschein aus Zilvaren hinaus, nach Süden – dorthin, wo die Helllicht-Winde, die über die trockenen Hügel fegten, zwanzig Grad kühler waren als hier in der Silberstadt. Uns würde genug Geld übrig bleiben, um uns ein kleines Haus zu kaufen. Nichts Aufsehenerregendes. Nur ein wetterfestes Dach über dem Kopf. Etwas, das ich Hayden hinterlassen konnte, sobald – nicht falls – die Gardisten mich irgendwann doch schnappten.

Nein, der Verzicht auf diesen Handschuh würde mich etwas kosten, das viel wertvoller war als mein Leben; er würde mich Hoffnung kosten, und ich war nicht gewillt, diese aufzugeben. Eher würde ich mir den Arm auskugeln.

Also machte ich mich an die Arbeit.

»Mach dich nicht lächerlich, Mädchen!«, brüllte der Wachmann. »Du wirst abstürzen, bevor du auch nur die Hälfte der Mauer erklommen hast!«

Wenn der Gardist ohne seinen Handschuh in die Kaserne zurückkehrte, würde das Konsequenzen haben. Zwar hatte ich keine Ahnung, welche, aber das Ganze würde definitiv nicht gut für ihn enden. Doch von mir aus konnte man dem Arschloch die Hände abhacken und ihn bis zum Hals im Sand eingraben, um in der Hitze des Helllichts zu braten: Ich wollte nur noch nach Hause.

Der Schmerz strömte von meinen Fingerspitzen wie ein Feuerstrang meinen Arm hinauf und loderte in meiner Schulter, als ich mich hochzog, mit den Füßen strampelte und die Wand hinaufstieg. Ich zielte auf einen Teil des Gesteins, der abgenutzt, aber stabil aussah. Oder zumindest so stabil, wie ich es nur erhoffen konnte. Wenn man dem Wind genug Zeit ließ, fraß er alles in dieser Stadt, und er hatte sich seit Jahrtausenden an Zilvaren die Zähne ausgebissen. Der Sandstein war trügerisch. Die Gebäude und Mauern der Stadt sahen solide aus, doch der Schein trog. In der Vergangenheit hatte bereits ein einziger harter Tritt ganze Häuser zum Einsturz gebracht. Zwar wog ich nicht übermäßig viel, aber das spielte eigentlich keine Rolle. Ich riskierte Leib und Leben, als ich mich jetzt gegen das Mauerwerk stemmte.

Mein Magen machte einen Satz, während ich durch die Luft segelte … und ballte sich dann fest zusammen, als ich gegen die Mauer prallte. Adrenalin schoss durch meine Adern, als drei Wunder gleichzeitig geschahen.

Erstens: Die Mauer hielt.

Zweitens: Ich hatte mit der linken Hand einen fantastischen Halt gefunden.

Drittens: Meine Schulter war nicht ausgekugelt.

Fußhalt. Fußhalt. Fuß…

Verflucht!

Das Herz blieb mir in der Kehle stecken, als ich mit der Sohle meines linken Stiefels von der Mauer rutschte und mein ganzer Körper hin und her baumelte.

Das leise Keuchen einer Frau durchbrach die Stille unter mir. Also hatte ich anscheinend doch einige Zuschauer.

Aber ich schaute nicht nach unten.

Ich brauchte einen Moment, um mich zu beruhigen, dicht gefolgt von einigen unterdrückten Flüchen, bevor ich mich sicher genug fühlte, um weiterzuatmen.

»Mädchen! Du bringst dich noch um!«, rief der Wachmann.

»Vielleicht. Aber was ist, wenn nicht?«, rief ich zurück.

»Dann hast du deine Zeit trotzdem vergeudet! In der ganzen Stadt gibt es keinen einzigen Hehler, der dumm genug ist, Teile einer gestohlenen Rüstung zu kaufen.«

»Ach, komm schon. Ich glaube, ich kenne sogar ein paar persönlich!«

Was jedoch nicht stimmte. Ganz gleich, wie schlimm die Lage war, wie viele Familien verhungerten und starben, niemand in ganz Zilvaren würde es wagen, mit etwas so Gefährlichem wie diesem Handschuh an meinem Unterarm zu handeln. Aber das spielte keine Rolle – denn ich hatte nicht vor, das Ding zu verkaufen.

»Ich werde dich nicht weiterverfolgen. Du hast mein Wort. Lass den Handschuh fallen, dann lass ich dich laufen!«

Ich schnaubte verächtlich. Und dabei hieß es doch immer, die Wachen hätten keinen Sinn für Humor. Dieser hier war ein verdammter Komödiant.

Ein weiterer Sprung. Ein weiterer stechender Schmerz. Ich berechnete die Flugbahn, so gut ich konnte, immer darauf bedacht, den am wenigsten löchrigen Abschnitt des Mauerwerks anzusteuern. Als ich endlich hoch genug über den Straßen des Herzens war, gönnte ich mir den Luxus, mich einen Moment zu sammeln. Würde ich den Handschuh verlieren, wenn ich ihn an das andere Handgelenk anlegte? Und noch viel wichtiger: Würde ich mich mit meinem schwächeren Arm an der Mauer festhalten können, während ich den Tausch vornahm? Es gab zu viele Variablen, aber nicht genug Zeit, um sie alle durchzukalkulieren.

»Was glaubst du denn, wie du auf der anderen Seite wieder runterkommst, Kind?«

Kind? Ha! Was für ein unverfrorener Mistkerl! Sein Geschrei klang jetzt leiser. Inzwischen war ich etwa fünfzehn Meter über dem Boden – nah genug, um die Mauerkrone zu sehen. Weit genug von der Straße entfernt, dass mir der kalte Schweiß ausbrach, als ich hinunterblickte.

Der Wachmann hatte nicht unrecht: Der Abstieg von der Mauer war genauso gefährlich wie der Aufstieg, aber der Prügelknabe der Unsterblichen Königin dort unten war in ein gutes Zuhause hineingeboren worden. Er war im Herz aufgewachsen. Seine Eltern schlossen ihre Haustür nachts nicht ab. Dieser Mann war nicht mal auf die Idee gekommen, die Mauern zu erklimmen, die ihn vor dem undankbaren, ansteckenden Pöbel auf der anderen Seite schützten.

Ich dagegen hatte mein halbes Leben damit verbracht, über diese Mauern zu klettern, von einem Bezirk zum nächsten zu schlüpfen und Wege an Orte zu finden, an denen ich nichts zu suchen hatte.

Darin war ich sehr gut.

Außerdem machte es Spaß.

Ich schaffte den Rest der Kletterpartie in weniger als zwei Minuten. Der Panzerhandschuh schlug hart in die winzige Sanddüne ein, die sich auf der Mauerkrone gesammelt hatte. Als ich mich über den Vorsprung hievte und das Gold lebendig wurde, begannen die Quarzpartikel im Sand zu vibrieren und schwebten bebend einen Millimeter über dem Sandstein.

Ich erstarrte, und mir stockte der Atem bei diesem seltsamen Anblick.

Nein. Nicht hier. Nicht jetzt …

Während ich mich an der Mauer hochzog und rittlings daraufsetzte, begann der Panzerhandschuh zu flüstern und zuckte hin und her. Die Quarzpartikel stiegen hoch und immer höher.

Sie sieht uns.

Sie spürt uns.

Sie sieht uns.

Sie spürt uns.

Sie …

Rasch schlug ich eine Hand auf den Handschuh, woraufhin das gestohlene Stück Rüstung erstarrte. Die glitzernden Quarzpartikel fielen zurück in den Sand.

»Ich werde dich finden, Mädchen! Ich schwöre es! Lass den Handschuh fallen, oder mach dir einen Feind fürs Leben!«

Endlich war es so weit: Ein Hauch von Panik schwang in der Forderung des Wachmanns mit. Die Erkenntnis um seine Situation hatte ihn eingeholt. Ich würde nicht in den Tod stürzen. Und ich würde auch nicht aus Versehen den Panzerhandschuh fallen lassen, den er angewidert zu Boden geworfen hatte, als ihm klar wurde, dass er eine Pestratte angefasst hatte.

Ich war ihm durch die Finger geschlüpft, und er konnte nichts weiter tun, als einem Geist am Himmel Drohungen nachzuschreien. Denn ich war schon verschwunden. Der Idiot da unten wäre nicht der erste Feind, den ich mir unter Madras Männern gemacht hatte, aber ich hatte nicht vor, noch einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Ich war viel zu sehr mit all den unglaublichen Sachen beschäftigt, die ich aus seinem beeindruckenden Handschuh fertigen würde.

Aber zuerst musste ich das wunderbare Stück einschmelzen.

2GLASMACHER

»Nein, kommt nicht infrage. Nicht hier. Nicht in meinem Ofen.«

Elroy funkelte mich an, als wäre ich eine Schlange mit vier Köpfen, von der er nicht wusste, welcher Kopf ihn zuerst angreifen würde. Ich hatte den alten Mann schon Tausende Male verärgert, auf hundert verschiedene Arten, aber dieser missbilligende Blick war neu: eine Mischung aus Enttäuschung und Angst. Und für einen kurzen Moment zweifelte ich an meiner Entscheidung, das Gold in die Werkstatt zu bringen.

Aber wohin hätte ich es sonst bringen sollen? Auf dem Dachboden über der Schenke, wo Hayden und ich die letzten sechs Wochen geschlafen hatten, wimmelte es von Kakerlaken, und es stank schlimmer als in einem Dachsbau. Wir hatten durch eine beschädigte Stelle im rissigen Schieferdach einen Weg in das Mirage gefunden. Natürlich waren wir leise, wenn wir uns dort hineinschlichen, um zwischen den verrotteten, längst vergessenen Weinkisten und mottenzerfressenen Stapeln schwerer Zeltplanen zu schlafen, und bis jetzt hatte man uns noch nicht entdeckt. Aber mein Bruder und ich wussten genau: Es war nur eine Frage der Zeit, bis man uns fand und die Besitzer des Wirtshauses uns mit dem spitzen Ende einer Klinge von ihrem Dachboden vertrieben. Uns würde keine Zeit bleiben, unsere Sachen zu holen. Zwar hatten wir außer der Kleidung, die wir am Leib trugen, keine Habseligkeiten. Doch den Panzerhandschuh dort zu verstecken, wäre töricht gewesen.

Elroys Werkstatt war der einzige Ort, an den ich ihn bringen konnte. Denn egal wie: Ich musste einen der Öfen benutzen. Mir blieb keine andere Wahl. Wenn ich das Metall nicht einschmelzen und etwas anderes daraus fertigen würde (und zwar verdammt schnell), wäre der Handschuh ein Mühlstein um meinen Hals, der letztendlich zu Folter und anschließendem Tod führte.

»Es ist schon schlimm genug, dass ich Jarris Wade vor einer Stunde sagen musste, dass du nicht da warst. Er war extrem wütend. Behauptete, du hättest irgendeine Absprache mit ihm nicht eingehalten. Aber dann tauchst du mit diesem Ding hier auf. Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«

Die Verzweiflung in Elroys Stimme ließ mich bedauern, dass ich ihm den Handschuh gezeigt hatte.

»Warum hast du ihn überhaupt mitgehen lassen? Madras Vipern werden auf der Suche danach den gesamten Bezirk fein säuberlich durchkämmen. Wenn sie dich finden, werden sie dir auf dem Platz die Haut von den Knochen abziehen, damit es jeder sehen kann. Und Hayden wird direkt neben dir stehen. Und was ist mit mir? Selbst wenn sie mir glauben, dass ich nichts damit zu tun hatte, werden sie mir die Hände abhacken, weil ich dieses Ding überhaupt unter meinem Dach geduldet habe. Wie soll ich ohne Hände meinen Lebensunterhalt verdienen, du dummes, dummes Mädchen?«

Elroy bestritt seinen Lebensunterhalt mit der Herstellung von Glas. Da ihm Sand im Überfluss zur Verfügung stand, hatte er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, der beste Glasmacher und Glaser in ganz Zilvaren zu werden. Allerdings waren nur die Bewohner des Herzens reich genug, um sich Fenster leisten zu können. Aber im dritten Bezirk gab es Leute, die an anderen Dingen interessiert waren – Dinge, die sich ebenfalls in einem Ofen schmieden ließen. Einst hatte Elroy illegale Waffen für die Rebellenbanden hergestellt, die für Madras Sturz kämpften: grobe Schwerter aus Eisenresten, aber vor allem Messer. Die Klingen waren kürzer und benötigten weniger Stahl. Auch wenn das Roheisen von minderwertiger Qualität war, ließ es sich doch so scharf schleifen, dass es einen Mann zu seinen Schöpfern senden konnte. Aber im Laufe der Jahre war das Dasein als Aufständischer im Inneren von Zilvaren immer schwieriger geworden.

Nirgendwo gab es frische Lebensmittel. Auf den Straßen kratzten sich die Kinder wegen eines Stücks altbackenen Brots gegenseitig die Augen aus. Tauschgeschäfte und Handel bildeten inzwischen die einzige Überlebensmöglichkeit im dritten Bezirk. Oder man flüsterte einem Gardisten Geheimnisse über seine Nachbarn ins Ohr. Die Bewohner des Dritten waren – wenn sie nicht gerade im Sterben lagen – ständig hungrig, und es gab nicht viel, was eine hungernde Person nicht behaupten würde, nur um den Schmerz eines leeren Bauchs zu lindern.

Nachdem Elroy Madras Gardisten zu viele Male nur knapp entkommen war, hatte er verkündet, dass er keine bösartigen, nadelspitzen Messer mehr herstellen würde, und mir untersagt, derartige Waffen in seinen Feuern zu schmieden. Wir würden Glasmacher sein und sonst nichts.

»Ich bin fassungslos. Fassungslos. Ich … ich kann es einfach nicht begreifen …« Der alte Mann schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was du dir dabei gedacht hast. Hast du auch nur eine Ahnung, was für ein Unheil du über uns gebracht hast?«

Während meiner Kindheit war Elroy ein Riese von einem Mann gewesen. Eine Legende, selbst unter den gefährlichsten Verbrechern im dritten Bezirk. Größer als die meisten, breitschultrig und mit mächtigen Rückenmuskeln unter dem schweißnassen Hemd. Eine Naturgewalt. Eine Felssäule, in einen Berg gehauen. Unerschütterlich. Unzerstörbar. Erst vor Kurzem hatte ich erkannt, dass er in meine Mutter verliebt gewesen war. Denn nach ihrem Tod hatte ich miterleben müssen, wie er nach und nach, Stück für Stück, verkümmerte. Er wurde zu einem Schatten seiner selbst. Der Mann, der jetzt vor mir stand, war kaum wiederzuerkennen.

Seine schwielige Hand zitterte, als er auf das polierte Metall zeigte, das auf dem Tisch zwischen uns glitzerte wie eine Höllensünde. »Du wirst das Ding zurückbringen. Genau das wirst du tun, Saeris.«

Ich schnaubte belustigt. »Die vergessenen Götter und alle vier verdammten Winde wissen, dass ich das nicht tun werde. Nicht nach allem, was ich durchgemacht habe, um den Handschuh in die Finger zu bekommen. Ich habe mir fast das Genick gebrochen …«

»Ich werde dir das Genick brechen, wenn das Ding nicht innerhalb der nächsten Viertelstunde von hier verschwunden ist.«

»Glaubst du ernsthaft, ich gehe einfach zu den Wachen und überreiche ihnen den Handschuh?«

»Mach dich nicht lächerlich! Bei den Göttern, warum musst du so absurd reagieren? Sobald die Zwillinge hinter dem Horizont verschwinden, steigst du wieder auf die Mauer und wirfst das Ding zurück ins Herz. Einer dieser inzüchtigen Mistkerle wird es finden und es den Gardisten zurückgeben, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Sie werden nicht mal ahnen, wie viel das verdammte Ding wert ist.«

Zähneknirschend verschränkte ich die Arme vor der Brust und versuchte, das Gefühl meiner hervorstehenden Rippen unter dem Stoff meines Hemds zu ignorieren. Schweiß kribbelte auf meiner Haut. Das bedeutete, dass ich Feuchtigkeit verlor – was ich mir eigentlich nicht leisten konnte. Ich hatte meine Wasserration in einer Wand auf dem Dachboden des Mirage versteckt, weil ich das Risiko nicht eingehen wollte, dass mich jemand beim Taschendiebstahl überfiel. Und in der Werkstatt war es wie immer höllisch heiß.

Ich konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft ich hier bei den Blasebälgen das Bewusstsein verloren hatte. Und es war mir ein absolutes Rätsel, wie Elroy das aushielt. Einen Moment lang zollte ich dem Mann den Respekt, den er verdiente, und dachte über seine Forderung nach. Doch dann malte ich mir aus, wie sich wohl eine kühle Brise aus dem Süden anfühlen würde und welchen Freudentaumel ein voller Magen auslösen könnte. Und wie herrlich ein Federbett sein mochte und wie eine Zukunft für Hayden aussehen würde. Das alles ließ meine Zuneigung zu dem Mann, der einst meine Mutter geliebt hatte, bis zur Bedeutungslosigkeit schwinden. »Ich kann das nicht tun.«

»Saeris!«

»Ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht. Du weißt, dass wir so nicht weitermachen können.«

»Ich weiß, dass es besser ist, sich hier ein Leben hart zu erkämpfen, als im verdammten Sand zu verbluten! Willst du das etwa? Auf der Straße sterben, vor Haydens Augen? Und dann verrottet dein Körper in der Gosse wie der deiner Mutter, stinkend und von den Krähen zerpflückt?«

»Ja! Ja, natürlich will ich das!« Ich schlug mit der Faust auf den Tisch, woraufhin der Panzerhandschuh hochhüpfte und eine Kaskade von Regenbogen an die Wände warf. »Ja, ich will sterben und Haydens Leben ruinieren. Dein Leben. Ich will, dass man mich vor aller Augen hinrichtet. Dass jeder im Bezirk mich als das Glasmacher-Lehrmädchen kennt, das dumm genug war, Madras Wache zu bestehlen, und dadurch sein Leben verlor. Das ist genau das, was ich will!«

Nie zuvor hatte ich in diesem Ton mit Elroy gesprochen, wirklich noch nie. Aber der Mann hatte einen Verlust nach dem anderen durch die Taten der Gardisten erlitten. Menschen, die er geliebt hatte, waren aus ihren Betten gezerrt und ohne Gerichtsverfahren hingerichtet worden. Sein eigener Bruder war kurz vor meiner Geburt verhungert – während eines besonders harten Jahres, weil Madra keine Lebensmittel aus dem Herz in die anderen Viertel der Stadt senden wollte. Die reichsten Untertanen der Königin hatten weiterhin rauschende Feste gefeiert, exotische Speisen aus Ländern weit jenseits dieses Reichs gegessen und seltene Weine und teure Whiskys getrunken, während die Menschen in Zilvaren auf den Straßen verhungerten oder von Seuchen geplagt verreckten. Elroy hatte das alles mit eigenen Augen gesehen. Selbst jetzt überlebte er nur mit Mühe von Woche zu Woche. Wenn die Gardisten nicht gerade an seine Tür klopften, um sich zu vergewissern, dass er keine Waffen herstellte, dann traten sie sie ein, um nach mythischen Magieanwendern zu suchen, die gar nicht existierten. Und Elroy ließ das alles geschehen. Er saß einfach nur da und tat nichts.

Er hatte aufgegeben. Aber das würde ich keinesfalls akzeptieren.

Elroys dichte, grau gesträhnte Brauen zogen sich zusammen, seine Augen verfinsterten sich. Vermutlich wollte er gerade eine weitere Schimpftirade loslassen und mich ermahnen, dass ich den Gardisten aus dem Weg gehen und keine Aufmerksamkeit auf mich lenken sollte. Und dass es ein verdammtes Wunder war, wenn es einem hier in diesem Bezirk gelang, dem Tod einen weiteren Tag zu entkommen. Ein Wunder, für das er den Schöpfern jeden Abend dankte, bevor er auf seiner beschissenen Pritsche einschlief. Doch er sah das Feuer in mir schwelen, bereit, außer Kontrolle zu geraten, und ausnahmsweise ließ ihn das innehalten.

»Du weißt, dass ich gekämpft habe. Ich habe genauso gekämpft, wie du jetzt kämpfen willst. Ich habe alles gegeben, alles geopfert, was mir lieb und teuer war, aber diese Stadt ist eine Bestie, die sich von Elend, Schmerz und Tod ernährt, und sie ist nie satt. Wir können uns ihr in den Rachen werfen, bis niemand mehr übrig ist, aber das wird nichts ändern, Saeris. Die Leute werden leiden. Werden sterben. Madra herrscht seit tausend Jahren über diese Stadt. Sie wird so leben, wie sie immer gelebt hat, und die Bestie wird weiter und weiter fressen und immer mehr verlangen. Dieser Kreislauf wird ewig so weitergehen, bis der Sand diesen verfluchten Ort verschluckt und nichts mehr von uns übrig bleibt als Geister und Staub. Und was dann?«

»Dann wird es die Leute gegeben haben, die für etwas Besseres gekämpft haben, und die Leute, die sich alles gefallen ließen«, fauchte ich. Wütend schnappte ich mir den Panzerhandschuh und wollte damit aus der Werkstatt stürmen, aber Elroy hatte noch ein wenig Kraft und Schnelligkeit in sich. Er packte meinen Arm und hielt mich lange genug zurück, um mir in die Augen zu sehen. »Was ist, wenn sie dich aufspüren und erkennen, wozu du in der Lage bist?«, fragte er in flehentlichem Ton. »Die Art und Weise, wie du Metall beeinflussen kannst …?«

»Das Ganze ist ein Taschenspielertrick, Elroy, nichts weiter. Es hat nichts zu bedeuten.« Doch bereits in dem Moment, als mir die Worte über die Lippen kamen, wusste ich, dass ich log. Es hatte durchaus etwas zu bedeuten. Manchmal zitterten Gegenstände um mich herum. Gegenstände aus Eisen, Zinn oder Gold. Einmal war es mir sogar gelungen, einen von Elroys Dolchen zu bewegen, ohne ihn zu berühren, sodass er, auf der Parierstange balancierend, um seine eigene Achse gewirbelt war. Aber welche Rolle spielte das schon? Ich erwiderte Elroys verärgerten Blick. »Wenn sie mich aufspüren, werden sie mich aus einer ganzen Reihe anderer Gründe hinrichten, bevor sie mich deswegen töten.«

Elroy schnaubte. »Ich bitte dich nicht um deinetwegen. Auch nicht um meinetwegen. Ich bitte dich für Hayden. Er ist noch nicht so wie wir. Der Junge kann noch immer lachen. Ich will nur, dass er sich diese Unschuld noch ein bisschen länger bewahrt. Aber wie soll er das, wenn er zusehen muss, wie seine Schwester gehängt wird?«

Ich riss meinen Arm los, spürte, wie ein Muskel an meinem Kiefer zuckte und sich tausend kalte, harte Beleidigungen darum drängten, um als erste aus meinem Mund hervorzuplatzen. Aber nach einem Moment legte sich meine Wut. »Hayden ist zwanzig Jahre alt, El. Irgendwann muss er der Wirklichkeit ins Auge sehen. Und ich tue es für ihn. Alles, was ich tue, ist nur für ihn.«

Elroy seufzte und versuchte nicht länger, mich aufzuhalten.

In mancher Hinsicht waren Hayden und ich uns durchaus ähnlich. Beispielsweise, was unsere Körpergröße betraf. Wir waren beide groß und schlaksig. Außerdem hatten wir denselben Sinn für Humor und waren beide unerreicht im Nachtragen. Und wir liebten den salzigen, sauren Geschmack der eingelegten Bitterfische, mit denen die Skiffhändler gelegentlich von der Küste zurückkehrten. Aber abgesehen von unseren gemeinsamen Eigenheiten und der Tatsache, dass wir die meisten Personen in einem überfüllten Raum überragten, hatten wir nicht viel gemein. Während ich dunkelhaarig war, schimmerte sein Haar hellblond. Dazu war es extrem lockig und unglaublich dicht. Seine Augen leuchteten in einem satten, dunklen Braun und hatten eine Sanftheit, die meinen blauen Augen fehlte. Das Grübchen in seinem Kinn stammte von unserem verstorbenen Vater, die stolze, gerade Nase von unserer toten Mutter. Sie hatte ihn immer ihr Sommerkind genannt. Und obwohl sie in ihrem ganzen Leben keinen Schnee gesehen hatte, war ich genau das Gegenteil für sie gewesen: ihr Eissturm. Distanziert. Kalt. Beißend.

Es dauerte nicht lange, bis ich Hayden fand. Probleme folgten ihm gern auf dem Fuß, und ich war eine Expertin darin, sie aufzuspüren. Deshalb überraschte es mich nicht, dass ich fast über ihn stolperte: Er lag lang ausgestreckt und blutend im Sand vor dem Haus der Kala. Das Kala, wie es von den meisten genannt wurde, war einer der wenigen Orte im Bezirk, wo man Essen und Trinken gegen Waren statt gegen Geld tauschen konnte. Wer leere Taschen und einen leeren Magen hatte, konnte auch mit einigen der verrufeneren Typen im Wirtshaus um Lebensmittel spielen – sofern er oder sie mutig oder dumm genug war. Und da Hayden und ich nie Geld oder Gegenstände zum Tauschen hatten und mein Bruder ein unverschämt guter Kartenspieler war (vermutlich der zweitbeste in ganz Zilvaren – nach mir), ergab es durchaus Sinn, dass er hier war und versuchte, jemandem einen Krug Bier abzuknöpfen.

Glühend heiße Sandböen wehten über Hayden hinweg, sammelten sich in kleinen Wehen im zusammengeknüllten Stoff seines Hemds, auf dem sich noch immer die Handabdrücke desjenigen abzeichneten, der ihn gepackt und aus dem Wirtshaus geworfen hatte. Eine unflätige Gruppe Feiernder kam vorbei, die Halstücher zum Schutz gegen die Zwillingssonnen und den Sand über die Gesichter gezogen, und trat einfach über ihn hinweg, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Schließlich war ein junger Mann, der mit aufgeplatzter Lippe und einem blauen Auge in der Gosse lag, in diesem Teil der Welt keine Seltenheit.

Ich postierte mich vor den Füßen meines Bruders und verschränkte die Arme vor der Brust, wobei ich den Beutel mit dem Handschuh sorgfältig an meine Hüfte drückte. Taschendiebe und Handtaschenräuber waren hier ebenfalls keine Seltenheit. Und eine Bande hungriger Straßenratten würde nicht zögern, blitzschnell einen Raubüberfall durchzuführen, wenn sie vermutete, dass die potenzielle Beute es wert war. Dann trat ich gegen Haydens staubigen Stiefel. »Schon wieder Carrion?«

Langsam öffnete Hayden ein Auge und stöhnte, als er mich sah. »Ja, schon wieder … Man sollte doch meinen … der Mistkerl hätte … was Besseres zu tun, als mich windelweich zu prügeln.« Die Art und Weise, wie er seine Rippen umklammerte, deutete darauf hin, dass vermutlich ein paar gebrochen waren.

Erneut stieß ich mit der Stiefelspitze gegen seinen Fuß, dieses Mal deutlich fester. »Man sollte doch meinen, du hättest deine Lektion gelernt und würdest dich inzwischen von ihm fernhalten.«

»Argh! Saeris! Zum Teufel, wo bleibt dein Mitgefühl?«

»In Carrions Gesäßtasche, gleich neben dem Geld, das ich dir für Wasser gegeben habe.« Einen Moment dachte ich darüber nach, ihm die andere Seite seiner Rippen zu brechen, aber das verlegene Lächeln, das er mir schenkte, dämpfte meine Wut. Er hatte nun mal diese Art an sich. Mein Bruder war häufiger dumm und unvorsichtig, als ich zählen konnte, aber es fiel mir schwer, ihm lange böse zu sein. Widerstrebend streckte ich ihm meine Hand entgegen und half ihm auf die Beine.

Nach einigem Murren und Jammern klopfte Hayden sich den Staub von Hemd und Hose und setzte ein wölfisches Grinsen auf, das andeuten sollte, er hätte den Schmerz in seinen Rippen überwunden und fühlte sich wie neugeboren. »Wenn du mal eine Münze hast, könnte ich das Geld für das Wasser und das rote Halstuch, das Elroy mir geschenkt hat, bestimmt zurückgewinnen.«

»Ha! Träum weiter, Kumpel.« Ich lief um ihn herum und joggte die Stufen zum Wirtshaus hinauf.

Wie üblich war das Kala bis auf den letzten Platz gefüllt und stank nach altem Schweiß und gebratenem Ziegenfleisch. Ein Dutzend Köpfe drehten sich in meine Richtung, als ich den Schankraum betrat, und ein Dutzend Augenpaare weiteten sich, als deren Besitzer erkannten, wer gerade hereinkam. Hayden war hier täglich zu finden, aber ich verirrte mich nur dann in diese Schenke, wenn ich einen schlechten Tag hatte. Ich kam nur hierher, um Dampf abzulassen. Um zu vögeln. Um zu kämpfen. Hinter den sonnenverbrannten Händen der Stammgäste machten die wildesten Gerüchte über mich die Runde: dass ich einen Mann entweder flachlegen oder aber bewusstlos schlagen würde – je nachdem, in welcher Stimmung ich war, wenn ich meinen Hintern an der Theke parkte.

Heute setzte ich mich jedoch nicht an die Theke. Stattdessen spähte ich über den betrunkenen Pöbel hinweg und reckte den Hals auf der Suche nach einem Farbtupfer in all dem schmutzigen Weiß, Grau und Braun.

Und da war er auch schon. An einem Tisch auf der anderen Seite der Schenke, mit drei seiner dämlichen Freunde, den Rücken zur Ecke, um die Menge im Auge zu behalten: Carrion Swift – der berüchtigtste Spieler, Betrüger und Schmuggler der ganzen Stadt. Darüber hinaus war er auch ungewöhnlich gut im Bett … der einzige Mann in Zilvaren, der mich jemals dazu gebracht hatte, seinen Namen aus Lust und nicht aus Frust zu schreien. Seine schimmernden rotbraunen Haare wirkten in der schwach beleuchteten Schenke wie ein Leuchtfeuer.

Ich steuerte direkt auf ihn zu, aber mein Weg wurde mir schnell von einer müde aussehenden Frau Anfang vierzig versperrt, die eine riesige Holzkelle schwang.

»Nein«, sagte sie.

»Tut mir leid, Brynn, aber er hat geschworen, dass er ihn in Ruhe lässt. Was soll ich denn machen? Ihn einfach so davonkommen lassen?«

Brynn hatte zwar einen Nachnamen, aber niemand kannte ihn. Wenn man sie danach fragte, sagte sie jedes Mal, sie hätte ihn als Kind verloren und sich nicht die Mühe gemacht, danach zu suchen. Mit einem Familiennamen sei man leichter aufzuspüren. Und damit hatte sie natürlich recht. Leute, die es nicht besser wussten, versuchten, sie – als Besitzerin von Haus der Kala – mit diesem Namen anzusprechen, in der Annahme, sie hätte den Laden nach sich selbst benannt. Doch sie funkelte sie nur an und zeigte ihnen die Zähne. Dort, wo sie herkam, bedeutete Kala Bestattung, und Brynn mochte es nicht, mit dem Tod gleichgesetzt zu werden.

»Mir ist es egal, ob er damit durchkommt oder nicht.« Sie warf Hayden einen finsteren Blick zu, der sich auf meinen Fersen in die Schenke zurückgeschlichen hatte und ziemlich verlegen aussah. »Er weiß, dass Carrion betrügt, und ich will nicht, dass hier noch eine Schlägerei ausbricht. Nicht heute Nacht. Ich musste schon zwei Stühle zum Flicken in den Hinterhof werfen, dank dieses Mistkerls und deines idiotischen Bruders …«

»Ich bin kein Idiot!«, protestierte Hayden.

»Doch, das bist du«, beharrte Brynn. »Und du hast ab sofort ein vierundzwanzigstündiges Hausverbot. Verschwinde wieder nach draußen. Wenn deine Schwester zahlt, lasse ich dir einen Krug Bier auf die Treppe bringen.«

»Ich denke gar nicht dran, irgendwas zu bezahlen«, entgegnete ich.

Hayden besaß die Frechheit, eine enttäuschte Miene zu ziehen. »Tja, aber ohne dieses Halstuch geh ich nicht«, sagte er. »Wenn ich ohne das Ding nach Hause laufe, scheuert mir der Sand die Lunge wund.«

»Dann solltest du besser die Luft anhalten. Na los, raus mit dir!« Brynn fuchtelte drohend mit der Kelle, und mein Bruder wurde blass. Misstrauisch beäugte er den übergroßen Löffel, als hätte er heute bereits Bekanntschaft damit gemacht und wüsste, was er anrichten konnte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Brynn ihm das blaue Auge verpasst hatte und nicht Carrion.

»Ich hole dein Halstuch. Und jetzt verschwinde und warte draußen auf mich«, forderte ich ihn auf.

»Du wirst dir das Ding nicht mit Gewalt nehmen«, warnte Brynn und drohte jetzt mir mit der Kelle. Aber diese hatte nicht die gleiche Wirkung auf mich, und das wusste die Wirtin. Eine Waffe musste schon wesentlich glänzender und viel schärfer sein, um mir auch nur ein Stirnrunzeln zu entlocken. Brynn ließ die Kelle sinken und entschied sich für eine sanftere Vorgehensweise. »Ich meine es ernst, Saeris. Ich bitte dich. Bewahre den Frieden, wenn auch nur um meinetwillen. Ich bin bereits jetzt mit den Nerven am Ende, und dabei ist es noch nicht mal acht.«

»Du hast mein Wort. Ich werde keine weiteren Möbelstücke zertrümmern, mir schnell das holen, weswegen ich hier bin, und wieder verschwunden sein, bevor du es auch nur merkst.«

»Ich nehme dich beim Wort.« Offensichtlich glaubte Brynn nicht, dass ich mein Versprechen halten würde, gab aber trotzdem seufzend den Weg frei.

Hayden warf mir einen Blick zu, der mich anflehte, für ihn zu bürgen – er musste immer drängeln. Aber ich würde mich hüten, diesen bettelnden Augen nachzugeben.

»Raus. Jetzt sofort. Und halt das hier fest. Verlier es bloß nicht aus den Augen.« Ich drückte ihm meinen Beutel an die Brust und spürte einen Anflug von Panik, als Hayden ihn entgegennahm. Es war eine Sache, mit einem riesigen Handschuh aus Gold, in einem Beutel versteckt, durch den Bezirk zu laufen. Aber es war etwas völlig anderes, mit einem so wertvollen Stück Schmuggelware vor Carrion Swift zu stehen. Der Mann war zu allem fähig. Seine Finger waren flinker und leichter als die Morgenbrise. Er hatte mich aus meiner Unterwäsche herausgequatscht – vielleicht der größte Coup, der je in Zilvaren stattgefunden hatte und über den die Leute sich monatelang das Maul zerrissen hatten. Ich wollte nicht riskieren, dass er etwas Interessantes in meinem Beutel witterte und versuchte, es mir abzuknöpfen.

»Ich brauche zehn Minuten«, teilte ich Hayden mit.

Er verzog das Gesicht, verließ aber die Schenke.

Als ich mich auf den Weg zu Carrion machte, unterbrachen die Gäste im Kala ihre Würfelspiele und lautstarken Unterhaltungen. Alle Augen folgten mir bis zum Tisch des Gauners. Funkelnde blaue Augen tanzten vor Belustigung, als Carrion meinen Blick erwiderte. Sein Haar schimmerte kupfer- und goldfarben, als wäre jede Strähne ein feiner Draht aus genau den Metallen, die für Königin Madra so kostbar waren. Carrion war breitschultrig und immer die mit Abstand größte Person im Raum. Und er verströmte eine Selbstsicherheit, die Mädchen in ganz Zilvaren ein Seufzen entlockte. Ich gab es nur ungern zu, aber es war genau dieses Selbstbewusstsein, das mich in sein Bett gelockt hatte. Ich wollte es widerlegen, ihm zeigen, dass seine Selbstsicherheit nur eine Fassade war. Damals war ich fest entschlossen gewesen, sein Ego zu zerstören, sobald ich mit ihm fertig war. Doch dann hatte er das Undenkbare getan und bewiesen, dass seine Angeberei berechtigt war. Mehr als nur berechtigt. Allein der Gedanke daran brachte mein Blut in Wallung. Der Mann war ein Dieb und ein Lügner und viel zu selbstverliebt. Ich meine, wer, der auch nur annähernd bei klarem Verstand war, trug so einen Aufzug? In einer Schenke voller Barbaren, die einem die Kehle aufschlitzen und die dreckigen Stiefel von den Füßen klauen würden, sobald sie einen nur ansahen? Carrion war verrückt.

»Arschloch«, sagte ich steif zur Begrüßung.

Er grinste, und mein Magen machte einen Satz, der mich unterdrückt fluchen ließ. »Sonnenschein«, erwiderte er. »Schön, dich zu sehen. Ich hätte nicht gedacht, dass wir noch mal … Zeit miteinander verbringen würden.«

Seine Freunde lachten wie Idioten und stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen an. Selbst sie wussten, dass Carrion mich damit reizen wollte. Ein verbaler Stich in die Rippen. Bei unserer letzten Begegnung war ich aus seinem Bett geklettert, hatte mein Kleiderbündel an die Brust gedrückt und auf sämtliche vergessenen Götter und alle vier Winde geschworen, dass ich lieber sterben würde, als eine Wiederholung der Show mitzuerleben, die er für mich gerade abgezogen hatte. In diesem Moment hatte er gewusst, dass er gewonnen hatte. Und das anmaßende Arschloch hatte sich nicht gescheut, es laut auszusprechen. Hatte mir gesagt, dass ich bald wiederkommen würde, auf der Suche nach mehr. Woraufhin ich ihm in anschaulichen Worten mitgeteilt hatte, dass ich ihm seinen verdammten Schwanz abreißen würde, wenn er jemals wieder versuchen sollte, sich mir damit zu nähern. Oder so was in der Art.

Jetzt kam ich direkt zur Sache und ignorierte seine Freunde und seine anzügliche Bemerkung. »Du hast versprochen, dass du nicht mehr mit Hayden spielst.«

Carrion legte den Kopf schräg, und sein Blick wanderte nach oben, als müsste er erst darüber nachdenken. »Habe ich das versprochen?«, fragte er ungläubig. »Das klingt ganz und gar nicht nach mir.«

»Carrion.«

Der Mistkerl holte scharf Luft und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Sie hat meinen Namen gesagt.« Er tat so, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. »Ihr habt es alle gehört. Sie hat meinen Namen gesagt.« Erneut erntete er Gelächter von seinen infantilen Komplizen.

»Du hast nicht nur dein Wort gebrochen, du hast ihn auch noch windelweich geprügelt, Carrion.«

»Ach, komm schon. Sei nicht so übellaunig.« Er streckte die Hände aus, Handflächen nach oben, Finger gespreizt. »Hayden hat mich angefleht, mit ihm Karten zu spielen. Wie hätte ich da Nein sagen können? Und wenn ich ihn windelweich geprügelt hätte, hätte dein kleiner Bruder nicht gerade eben noch schmollend an der Theke gestanden, oder? Er würde noch immer auf der Straße liegen und Blut in den Sand spucken. Ich habe ihn nur …«, Carrion überlegte, »… einmal geschlagen. Vielleicht zweimal. Das war bestenfalls eine leichte Tracht Prügel. Und was ist schon eine leichte Tracht Prügel unter Freunden?«

»Hayden ist nicht dein Freund. Er ist mein Bruder. Sich mit ihm anzulegen, verstößt gegen die Regeln.«

Carrion beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und wackelte auf extrem aufreizende Weise mit den Augenbrauen. »Ich bin noch nie einer Regel begegnet, gegen die ich nicht verstoßen wollte, Sonnenschein.«

»Wir hatten eine Abmachung. Ich erinnere mich genau daran, dass ich gesagt habe, ich würde mich nicht in deine Versorgungslinien zum und vom Herz einmischen, woraufhin du versichert hast, du würdest nicht mehr mit Hayden spielen.«

Carrion runzelte die Stirn. »Ja, ich schätze, da klingelt was bei mir.«

Diese Frechheit. Diese Dreistigkeit. Diese unfassbare Unverfrorenheit. »Also warum spielst du dann noch mit ihm?«

»Vielleicht ist mein Gedächtnis in letzter Zeit etwas lückenhaft«, überlegte Carrion laut.

»Du bekommst tatsächlich sehr oft einen Schlag auf den Kopf.«

»Oder aber …«, setzte er an und schwenkte das Bier in seinem Krug, »ich wusste, dass ich dich zu sehen bekommen würde, wenn ich mit Hayden spiele. Und vielleicht wollte ich mir diese Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen.«

»Du hast meinem Bruder die Rippen gebrochen, nur damit du mich zu sehen bekommst?« Irgendwie musste ich ihn falsch verstanden haben. So verrückt konnte Carrion nicht sein, dass er Hayden aus so einem lächerlichen Grund verletzte.

Carrions Tonfall klang plötzlich scharf: »Nein, Saeris. Ich habe ihm die Rippen gebrochen, weil er versucht hat, mich mit einem deiner Messer zu erstechen, als ich keine weitere Runde spielen wollte. Nicht mal dein Bruder kommt damit durch.«

Mein Schock lag wie ein kaltes, totes Gewicht in meiner Magengrube. »Er würde nicht …«

»Doch, er hat mich angegriffen.« Carrion leerte sein Bier in einem Zug. Als er den leeren Krug absetzte, war sein charmantes Lächeln zurückgekehrt. »Jetzt, da du hier bist, kannst du auch was mit mir trinken. Schwamm drüber und so weiter.«

Es war erstaunlich, wie schnell Carrion von einer Gefühlslage zur nächsten wechseln konnte. Genauso beeindruckend wie seine Fähigkeit, sich selbst etwas vorzumachen, wann immer es ihm passte.

»Ich trinke nicht mit dir. Es spielt keine Rolle, ob Hayden deine Reaktion verdient hat oder nicht. Wahrscheinlich hat er dich nur mit dem Messer bedroht, weil er sein Halstuch zurückhaben wollte. Was nicht nötig gewesen wäre, wenn du ihn nicht zum Spielen ermutigt hättest!«

»Du magst Whisky, richtig? Klingt ein Doppelter gut?« Carrion erhob sich.

»Carrion! Ich trinke nicht mit dir!«

Der gut aussehende Teufel versuchte, einen Arm um meine Taille zu legen, aber ich war schon mit Aasgeiern, die viel schneller waren als er, mühelos fertiggeworden. Blitzschnell duckte ich mich und schaffte einen Abstand von drei Schritten zwischen uns, wobei es mich in den Fingern juckte, nach meinen Messern zu greifen – denjenigen, die Hayden sich nicht »geliehen« hatte. Aber ich hatte Brynn mein Wort gegeben, dass ich keinen Kampf anzetteln würde.

Carrions Blick wanderte an meinem Körper hinab, und sein Lächeln wurde breiter, als seine Augen über meine Hüften glitten.

Im nächsten Moment traf mich die Erinnerung an seine Zunge, die über meine Hüften glitt, wie aus dem Nichts und sandte eine Woge heißes Blut in meine Wangen.

»Du bist hübsch, wenn du rot wirst.« Dem verdammten Dieb entging auch nichts. »Ich sag dir was: Setz dich zu mir und trink was mit mir, dann gebe ich dir Haydens Halstuch.«

»Nein, kommt nicht infrage.«

»Nein?« Er wirkte aufrichtig erstaunt.

»Eine Viertelstunde mit dir an einem Tisch ist mehr wert als ein schäbiges Halstuch, du Mistkerl.«

»Wer hat denn was von fünfzehn Minuten gesagt? Du weißt doch, dass ich mir gern Zeit lasse, wenn ich mich amüsiere.«

Heilige Märtyrer! Ich tat mein Bestes, um die anderen Erinnerungen zu unterdrücken, die versuchten, sich in den Vordergrund zu drängen. Carrion wollte mich mit seiner beiläufigen Bemerkung daran erinnern, wie lange er mit seiner Zunge zwischen meinen Schenkeln beschäftigt gewesen war. Wie lange er sein eigenes Vergnügen zurückgehalten hatte – als wäre es seine verdammte Aufgabe –, während er sich meiner Lust widmete. Aber diese Genugtuung würde ich ihm nicht schenken.

»Ein Drink. Fünfzehn Minuten. Und ich will auch die Münzen zurück, die du Hayden abgeknöpft hast. Und noch fünf obendrauf für die Unannehmlichkeit, dieselbe Luft wie du atmen zu müssen.«

Carrion zog eine Augenbraue hoch und musterte mich.

Ich wusste bereits, dass mir das, was ihm gleich über die Lippen kommen würde, nicht gefallen konnte.

»Saeris, wenn ich gewusst hätte, dass ich deine Zeit kaufen kann, wäre ich bankrott und du eine sehr reiche Frau. Und du hättest die letzten drei Monate auf dem Rücken verbracht und mich angefleht, dich härter ranzunehmen und …«

»Noch ein Wort, und ich schneide dir deine verdammten Eier ab, Dieb«, knurrte ich.

Was Carrion Swift an Manieren fehlte, machte er durch gesunden Menschenverstand wett. Er wusste, wann er im Begriff war, eine Grenze zu überschreiten, die Blutvergießen nach sich ziehen würde. Sein Haar schimmerte rot, dann golden, dann dunkelbraun, als er die Hände hochhob und resigniert den Kopf neigte. »Na gut, na gut. Das Halstuch, die Münzen und fünf extra, weil du gierig bist. Setz dich. Bitte. Ich hole dir den Drink.« Er deutete auf seinen Tisch, als wollte er, dass ich mich zwischen ihn und seine Kumpane zwängte. Aber es gab einige Dinge, die ich für meinen Bruder und ein sauberes Glas Wasser tun würde, und noch mehr Dinge, zu denen ich nicht bereit war. Also suchte ich mir eine leere Sitzecke drei Tische weiter und setzte mich stattdessen dorthin.

Ich würde Hayden umbringen. Ihn totschlagen. Was hatte er vorgehabt? Hatte er tatsächlich versucht, Carrion zu erstechen? Der Junge war nur dreieinhalb Jahre jünger als ich, aber er benahm sich, als wartete er noch immer darauf, dass er in den Stimmbruch kam. Irgendwann musste er aufhören, so leichtsinnig zu sein, und anfangen, die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken. Noch während ich darüber nachdachte, hallten Elroys Worte in meinem Kopf wider, die meinen eigenen erschreckend ähnlich waren.

Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was du dir dabei gedacht hast. Hast du auch nur eine Ahnung, was für ein Unheil du über uns gebracht hast?

»Hier.« Carrion stellte ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit vor mir ab; das verdammte Ding war fast bis zum Rand gefüllt.

»Das ist nicht nur ein Drink.«

»Der Whisky ist in einem Glas«, erwiderte er. »Deshalb handelt es sich um einen einzigen Drink.«

Wenn ich dieses Glas vollständig leerte, würde ich zum Miragezurücktaumeln und dann beim Versuch, den Dachboden zu erreichen, vom Dach fallen und mir das Genick brechen. Trotzdem nahm ich den Drink und trank einen kräftigen Schluck. Schließlich bestand keine Chance, die nächsten Minuten einigermaßen zu überstehen, wenn ich nicht wenigstens leicht angeheitert war. Der Whisky brannte die ganze Kehle hinunter und entzündete ein Feuer in meinem Magen, aber ich weigerte mich, eine Reaktion zu zeigen. Der Gedanke, dass Carrion Swift jedem, der es hören wollte, erzählte, ich würde keinen Alkohol vertragen, war das Allerletzte, was ich jetzt brauchte.

»Und?«, fragte ich fordernd. »Was willst du?«

»Was meinst du damit, was ich will? Deine Gesellschaft natürlich.«

Ich erkannte einen Lügner, wenn ich einen sah, und der Mann, der mir gegenübersaß, war ein Profi auf dem Gebiet. »Spuck’s schon aus, Carrion. Du hättest mich nicht zum Bleiben bequatscht, wenn du dabei nicht irgendwelche Hintergedanken hättest.«

»Kann ich nicht einfach von deiner Schönheit bezaubert sein? Kann ich nicht einfach nur dasitzen und dem engelsgleichen Klang deiner Stimme lauschen?«

»Ich bin nicht schön. Ich bin schmutzig und müde, und in meiner Stimme schwingt jede Menge Sarkasmus und Ärger mit. Also lass uns einfach zur Sache kommen, okay?«

Carrion schnaubte belustigt. Dann hob er sein eigenes (wesentlich kleineres) Glas Whisky an die Lippen und trank einen Schluck. »Vor drei Monaten warst du viel lustiger, weißt du das? Du bist so grausam. Ich musste ständig an dich denken.«

»Ach, jetzt hör schon auf. Mit wie vielen Frauen hast du in der Zwischenzeit geschlafen?«

Er kniff die Augen leicht zusammen und setzte eine verwirrte Miene auf. »Was hat das denn damit zu tun?«

Jetzt wurde es allmählich nervig. Ich schob ihm das Glas entgegen und machte Anstalten, mich zu erheben.

»In Ordnung! Bei den Märtyrern, du hältst dich aber auch nicht lange mit Vorreden auf.« Er holte tief Luft. »Jetzt, da du es erwähnst: Es gibt da tatsächlich etwas, worüber ich mit dir sprechen wollte.«

»Ich bin schockiert.«

Carrion ignorierte meinen Tonfall und fuhr fort: »Ich habe vorhin etwas sehr Interessantes gehört. Mir ist zu Ohren gekommen, dass eine rabenhaarige Rebellin aus dem dritten Bezirk einen Wachmann brutal angegriffen und ein Stück seiner Rüstung gestohlen hat. Einen Panzerhandschuh. Ist das zu fassen?«

Hm. Das Arschloch liebte diese Spielchen. Seine lässige Miene und seine extrem entspannt wirkenden Muskeln verrieten mir alles, was ich wissen musste. Natürlich war ihm klar, dass ich den Panzerhandschuh an mich genommen hatte. Aber das würde ich selbstverständlich nicht zugeben. So dumm war ich nicht. »Ach wirklich? Aber … wie denn? Es ist den Bewohnern des dritten Bezirks doch gar nicht möglich, ihr Viertel zu verlassen.« Ich trank einen weiteren Schluck Whisky.

Einen Moment lang starrte Carrion mich nur an. Versuchte, mich zu durchschauen. Natürlich kaufte er mir meine vorgetäuschte Unwissenheit nicht ab, aber er hatte wohl auch nicht vor, mitten im Kala offen mit Anschuldigungen um sich zu werfen. »Ich weiß. Unfassbar, nicht wahr?«, erwiderte er lässig. »Verrückt. Und noch verrückter ist der Gedanke, dass das arme Mädchen jetzt versucht, da draußen einen Platz zu finden, an dem es ein so großes Stück Gold verstecken kann. Es heißt, sie hätte es hierher in den Bezirk gebracht.« Er lachte leise. »Aber natürlich … hätte sie das bestimmt nicht getan. Das wäre viel zu gefährlich gewesen.«

»Definitiv. Unglaublich gefährlich«, pflichtete ich ihm bei.

»Sie hätte es an einen sicheren Ort gebracht. Irgendwohin, wo die Gardisten nicht nachsehen würden.«

»Zweifellos.«

»Glaubst du, dass ein Mädchen, das dumm genug ist, einen Wachmann anzugreifen und zu bestehlen, die Geistesgegenwart besitzt, seine Beute an einem sicheren Ort zu verstecken?«

Ich wurde von dem überwältigenden Drang gepackt, Carrion das attraktive Gesicht zu zerkratzen; es brauchte all meine Selbstbeherrschung, um mich zurückzuhalten. »Ich glaube nicht, dass das Mädchen dumm ist. Wenn überhaupt, dann halte ich sie für mutig«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich glaube eher, dass der Wachmann versucht hat, sie zu verhaften, und dabei seine verdammte Rüstung in den Sand fallen ließ. Ich glaube …«

»Aber hat sie das Gold an einen sicheren Ort gebracht?«, zischte Carrion. »Wir können bis in alle Ewigkeit über die Handlungen dieses Mädchens diskutieren, wenn es allerdings im Bezirk ein Problem gibt …«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. »Was kümmert dich der dritte Bezirk? Du wohnst doch gar nicht mehr hier, Carrion. Jeder weiß, dass du dir eine gemütliche kleine Wohnung unterhalb der zweiten Speiche genommen hast.«

»Ich habe ein Lagerhaus außerhalb dieses Bezirks«, entgegnete er mit leiser Stimme. »Es ist der sicherste Weg, meine Waren von einem Bezirk zum nächsten zu transportieren. Aber ich wohne hier, damit ich mich um meine Großmutter kümmern kann. Das weißt du doch. Gracia, schon vergessen? Du hast sie mal kennengelernt. Graue Haare? Hitziges Temperament?«

»Ja, ich kenne Gracia, Carrion.«

Er beugte sich vor, und der Blick in seinen Augen wirkte jetzt scharf. »Diese goldenen Dreckskerle werden ein mächtiges Höllenfeuer auf diesen Ort herabregnen lassen, wenn sie davon überzeugt sind, wir hätten etwas, das ihnen gehört, Saeris. Das weißt du ganz genau. Morgen früh wird ein Strom von Blut durch diese Straßen fließen, falls dieses Mädchen die Beute hierhergebracht hat.«

Er hatte nicht ganz unrecht. Die Gardisten waren allmächtig. Sie mussten sich nicht vor vielen Dingen fürchten, aber sie hatten eine Heidenangst vor der Königin. Ihre Reaktion würde schnell und brutal erfolgen, wenn sie auch nur ahnten, dass der Panzerhandschuh hier war. Der Panzerhandschuh, den ich hierhergebracht hatte. Plötzlich wirkte Elroys Bestürzung gar nicht mehr so übertrieben. Wenn ausgerechnet Carrion besorgt auf die ganze Sache reagierte, dann sollte ich meinen Plan vielleicht noch mal überdenken. Oder sagen wir lieber, mir überhaupt erst einmal einen Plan einfallen lassen.