Quondam ... Der magische Schild - Leylen Nyel - E-Book

Quondam ... Der magische Schild E-Book

Leylen Nyel

0,0

Beschreibung

Seit Tausenden von Jahren ist Hato Herrscher über Estosia, die Unterwelt. Es ist eine düstere Welt, in der weder die Sonne, noch Mond und Sterne scheinen. Als er ein gewaltiges Heer aufstellt, um seinem jüngeren Bruder Thore nach vielen vergeblichen Versuchen endgültig die Goldene Krone der Herrschaft über Amesia, die Welt der Götter, zu entreißen, schickt Thore die Krieger Oskans nach Osiat. Ausgerechnet in der Welt der Menschen soll sich ein Magischer Schild befinden, der den Göttern Amesias zum Sieg über Hato verhelfen soll. Doch die Suche von Thores Kriegern steht unter keinem guten Stern …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 751

Veröffentlichungsjahr: 2014

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Impressum

Quondam - der magische Schild

Leylen Nyel

Copyright: © 2014 Leylen Nyel

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9246-6

Gestaltung/Art Direction: deluxe design

Umschlagmotiv/Illustration: © Melanie Meier

Prolog

Blutrot stand die Sonne am Himmel, obwohl Mittag schon vorbei war. Trübe orangefarbene und braune Schleier zogen durch die Luft. Es stank nach Pech und Schwefel. Es war so heiß, dass die Luft flirrte und alle Konturen in der Ferne im Nirgendwo zu verschwinden schienen. Wo es einmal Seen gegeben hatte, gab es nur noch große Krater im Boden. Schlammige Täler kündeten von Flüssen, die hier vor wenigen Stunden noch entlang geflossen waren. Berge, so hoch, dass ihre Gipfel den Himmel berührt hatten, waren nur noch Trümmer. Einstige sanfte Ebenen waren von tiefen Gräben durchzogen, in denen sich eine zähe braune Masse bewegte, die einmal klar werden würde, wenn sich die Unmengen von Schlamm am Boden abgesetzt haben würden, die das Wasser mit sich führte. Felsen, so groß wie Berge, verteilten sich über das ganze Land. Neue karge Gebirge waren entstanden, andere alte und bewaldete verschwunden. Nur vereinzelt reckte einer der wenigen verbliebenen Bäume seine Äste anklagend in den trüben Himmel. Ansonsten war nahezu jede Pflanze, die höher als eine Hand gewachsen war, abrasiert, unter Geröll begraben oder zerquetscht worden. Keine der ehemals vielgestaltigen und in verschiedensten Farben prangenden Blumen verströmte mehr ihren lieblichen Duft. Das Gras, einst saftig und grün, war vielerorts verbrannt und bot selbst den wenigen verbliebenen Grasfressern, die früher so zahlreich über die Ebenen gezogen waren, zu wenig Nahrung. Die Vögel fanden keine Büsche mehr, in denen sie brüten und ihre Jungen aufziehen konnten, die Fische erstickten in den schlammigen Fluten. Durch die Erschütterungen, die die auf den Boden einschlagenden Felsen verursacht hatten, waren unzählige Schlote entstanden, aus denen kochendes Wasser, heißer Schlamm oder giftige Gase entwichen. Innerhalb nur weniger Stunden war aus einer blühenden lebendigen Welt eine tote Ödnis geworden.

Nein, nicht ganz tot! Eine Frau in einem prächtigen roten Kleid, in das mit silbernen Fäden feinste Muster eingewebt waren, schritt über die Ebene auf eine Gruppe von Gestalten zu. Der Saum ihres Rockes war so lang, dass er eine kleine Staubwolke hinter ihr herzog. Sie war nicht sehr groß, schlank und hatte langes kastanienbraunes Haar, das sich in sanften Wellen über ihren schmalen Rücken ergoss. Unter sanft geschwungenen Augenbrauen hatte sie dunkle ausdrucksstarke Augen. Ihr schmales Gesicht zierte eine kleine feine Nase und sie hatte einen wohlgeformten sinnlichen Mund, der ihr etwas Jugendliches verlieh. Dabei war diese Frau älter als die Welt über deren Trümmer sie langsam auf die Gruppe zulief. Und sie war auch keine Frau, sie war eine Göttin. Gaya! Sie war die älteste und mächtigste Göttin der Welt. Der Welt, die sie einst selbst geschaffen hatte und die eigentlich aus drei Welten bestand, die übereinander lagen.

Zuoberst kam Amesia. Es lag so weit oberhalb der anderen beiden Welten, dass der Himmel zum Greifen nah erschien. Der Schatten der Götterwelt berührte niemals das unter ihr liegende Osiat, die Welt der Menschen. Ein raues, zerklüftetes und unüberwindbar scheinendes ringförmiges Gebirge, das Annorgebirge, zog sich an Amesias Grenzen entlang wie eine Stadtmauer. Viele der Berge dieses Gebirges hatten schneebedeckte Spitzen, andere waren so hoch, dass ihre Kuppeln fast immer in den Wolken lagen. Von den Hängen des Annorgebirges stürzten Wasserfälle Tausende Meter in die Tiefe und füllten die Bäche und Flüsse des eigentlichen Amesias, das innerhalb dieses Gebirgsringes lag. Hügelige sanfte Ebenen und kleinere waldreiche Gebirge lösten einander ab. Alles strebte dem Zentrum Amesias zu, wo sich ein gewaltiger Berg mit sanften Hängen über die Umgebung erhob. Dieser Berg endete nicht in einer Spitze, sondern in einem Plateau. Es war nicht sehr groß. Es einmal an seiner längsten Achse zu durchqueren, dauerte zu Fuß gerade mal einen Tag. Dieser Berg wurde Götterberg genannt, denn hier wohnten die Götter. Vom Götterberg bis zu den ersten Ausläufern der nördlichen Grenze des Annorgebirges, den Teutosbergen, brauchte ein Reiter mit einem guten Pferd zwei bis drei Wochen. Amesia war reich an Pflanzen und Tieren. Einige gab es nur hier, wie die Capinas, sanfte weiße Rehe mit blauen Augen, oder den seltenen goldenen Smaragdkatzen mit ihren grünen Streifen, die so groß waren wie ein Rind.

Andere Tiere, wie Pferde, Hirsche, Vögel, Büffel, Schweine und Rinder sowie verschiedenste Fische gab es auch in Osiat, der mittleren Welt. Sie war flächenmäßig sehr viel größer als Amesia. Am östlichen Rand von Osiat zog eine Brücke in einem gewaltigen Bogen hoch in den Himmel bis zu Amesias Ringgebirge und verband diese beiden Welten. An die südliche und westliche Grenze von Osiat brandeten die Fluten eines endlosen tosenden Meeres, des Aquanischen Meeres. Im Norden wurde diese Welt von einer Kette Feuer spuckenden Bergen begrenzt. In der Welt der Menschen gab es endlose Wüsten aus gelbem oder rotem Sand, Steinwüsten, schroffe Hochgebirge, bewaldete Mittelgebirge, sanfte hügelige Grasebenen, Moore, Flüsse, Bäche und Seen, viel Wild und eben die zweibeinigen Geschöpfe, die sehr selten und von den Göttern noch nie bemerkt worden waren, da sie sich bei deren Erscheinen immer ängstlich in ihre Höhlen verkrochen.

Die Dritte der von Gaya geschaffenen Welten war Estosia. Es war eine Welt, die Gaya in einem Felsen geschaffen hatte, der sich unterhalb von Osiat befand. Estosia wäre groß genug gewesen, ganz Osiat und Amesia in sich aufzunehmen. Es war jedoch keine schöne Welt. Nie schienen dort die Sonne, der Mond oder die Sterne. Nur von leuchtenden Steinen erhellt, fristeten dort die Lebewesen ihr Dasein, die Gaya einmal geschaffen, aber nicht für würdig erachtet hatte, sich des Sonnenlichts zu erfreuen. Es gab dort aber auch Geschöpfe, die sich für Gaya als zu gefährlich erwiesen hatten, um in Osiat oder Amesia leben zu dürfen. Oder aber Geschöpfe, die den Zorn der mächtigen Göttin auf sich gezogen hatten.

Gaya hatte die Götter inzwischen erreicht, denn nichts anderes waren die zwölf Gestalten, die staubig, verschwitzt und abgekämpft auf sie gewartet hatten. Ehrfürchtig verneigten sie sich vor Gaya. Viele waren um einiges größer als sie, doch niemand hätte es gewagt, nicht vor ihr das Knie zu beugen. Gaya konnte jedwede Gestalt annehmen. Ihre Kräfte waren größer als die aller vor ihr knienden Götter zusammen. Mit einem Fingerschnippen hätte sie jeden von ihnen ohne Mühe in den Staub verwandeln können, den der aufkommende Wind in kleinen Säulen um sie herumtanzen ließ. Die Gestalt einer zierlichen Frau in kostbaren Kleidern war ihr eben nur die liebste. Mit einer Handbewegung erlaubte sie den Göttern, sich wieder zu erheben. „Was ist hier geschehen?“, fragte sie streng. „Wir haben gespielt“, antwortete Dioran betreten, ein Gott mit einem runden freundlichen Gesicht, das ein mächtiger Vollbart umrahmte. Sein kurzes lockiges braunes Haar klebte ihm verschwitz am Schädel. Er hatte eine kurze breite Nase und kluge dunkle Augen, einen breiten kräftigen Brustkorb und baumstarke Arme und Beine, und war fast zwei Köpfe größer als Gaya. Allerdings neigte er zu einem Bauchansatz, was er mit einem weiten locker gebundenen Hemd zu verbergen suchte. Seine Hose aus grobem Stoff wies an seinem linken Hosenbein einen Riss vom Knie bis zu seinem Fuß auf, der in einer Sandalette aus festem Rindsleder steckte. Gayas Augen funkelten bedrohlich. „Ihr habt gespielt?“, vergewisserte sie sich, als habe sie sich verhört. Die Götter nickten verlegen. „Seht ihr das?“, wollte sie mit mühsam unterdrückter Wut wissen und wies mit dem Arm um sich. „Die Götter haben gespielt und die Welt liegt in Trümmern!“, rief sie so laut, dass alle Götter zusammenzuckten. „Warum habt ihr nicht in Amesia gespielt? Gab es dort nicht genug Raum für Euer Spiel oder wolltet ihr nicht, dass eure Paläste hinterher so aussehen?“, fauchte sie, deutlich leiser, aber nicht minder bedrohlich. „Das ging nicht, Herrin. Fraya bekommt gerade ihren zweiten Sohn und Thore und Yuron sind bei ihr. Wir wollten sie nicht stören“, erklärte kleinlaut Xyntina, eine dralle vollbusige Göttin mit einem langen roten Zopf und grünen Augen.

„Wann haben sie sich zurückgezogen?“, verlangte Gaya zu wissen. „Vor vier Tagen“, gab Witan zur Antwort, ein Gott mit langem blauschwarzem Haar, Augen so dunkel wie Kohlen und elfenbeinfarbener Haut. Er war von schlanker Statur, seine feingliedrigen Hände waren schmutzig. „Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch“, murmelte Gaya vor sich hin und musterte jeden einzelnen der vor ihr versammelten Götter und Göttinnen mit einem scharfen Blick. Thore und Fraya gehörten zu den ersten Göttern, die Gaya einst geschaffen hatte, Yuron war ihr erster Sohn. Sie galten der alten Göttin als die Vernünftigsten. Diejenigen, die ihre Brüdern und Schwestern immer gebremst hatten, wenn diese aus lauter Langeweile auf übermütige Ideen gekommen waren. Ihre Abwesenheit erklärte, weshalb das Spiel der Götter diesmal derart außer Kontrolle geraten war. Sie waren auch die einzigen der Götter, die eine dauerhafte Verbindung eingegangen waren. Alle anderen Götter und Göttinnen pflegten untereinander lose Liebschaften, betrachteten sich gerade einmal als Gefährten für eine gewisse Zeit. Deshalb war auch nur Thore und Fraya das Glück beschieden, Kinder zu haben. Die anderen Götter wollten sich noch Zeit lassen, bevor sie den Götterberg in Amesia mit ihren eigenen Nachkommen bevölkerten. Sie hatten nicht erwartet, dass Gaya an diesem Tag die Zeit dafür auslaufen ließ.

Mit lauter Stimme rief die Urmutter ungeduldig nach Thore. Wenige Augenblicke später erschien er. In seiner Begleitung befanden sich Fraya, Yuron und ein unbekannter junger Gott. Obwohl er erst zwei Tage alt war, kniete vor Gaya ein Kind in der Gestalt eines erwachsenen jungen Mannes. „Herrin, das ist unser Sohn Eyrin!“, stellte ihn Thore nicht ohne Stolz vor. „Erhebt euch!“, befahl Gaya. Mit einem freundlichen Lächeln musterte sie den Neuankömmling. Er war nur ein Fingerbreit kleiner, aber genauso muskulös und breitschultrig wie sein älterer Bruder. Beide hatten ihre hohe kräftige Statur als Thores Erbe erhalten. Das dunkelblonde Haar hatte Eyrin ebenfalls von seinem Vater, die türkisfarbenen Augen von seiner Mutter. Auch das breite, kantige Kinn, die starke Nase und der schön geformte Mund wiesen auf Thore hin. „Du bist, wie dein Bruder, sehr nach deinem Vater geraten. Wenn du auch noch seine stahlblauen Augen hättest, könnte man glauben, du seiest Yuron“, stellte Gaya fest und streichelt Eyrin sanft die Wange. „Das ist wahr“, bestätigte Fraya lächelnd. „Aber beim nächsten Mal wird es eine Tochter. Sie wird mir ähnlich sehen. Thore ist damit einverstanden.“ Sie warf ihrem Gemahl einen zärtlichen Blick zu. „Es wird kein nächstes Mal geben!“, sagte Gaya leise. Frayas Lächeln erstarb. „Seid ihr denn blind? Sechzehn Götter sind mehr als genug, um die Welt zu zerstören, die ich geschaffen habe. Meine Welt!“, fuhr sie mit immer lauter werdender Stimme fort, die letzten Worte schrie sie fast. Die Götter erstarrten, Thore und Fraya sahen sich betroffen um.

„Eure Leiber sollen verdorren! Keine von euch wird je wieder ein Kind in diese Welt setzen!“, dröhnte Gayas Stimme über die Ebene. Sechs Blitze fuhren aus ihrer Hand, je einer in den Körper einer Göttin. Schmerzvoll krümmten sie sich zusammen, Aurina, Xyntina, Idalia, Bodina, Fraya und Lysina. Erschüttert hielt Thore seine Gemahlin in den Armen. „Wieso bestraft Ihr die Frauen, wieso Fraya?“, rief er entsetzt. „Schweig, Thore! Ich bin noch nicht fertig!“, fuhr ihn die alte Göttin mit zornesfunkelnden Augen an. „Von jetzt ab werdet ihr keine Liebe mehr füreinander empfinden! Auch rein körperliche Liebe miteinander wird euch zuwider sein! Ihr werdet euch von nun an nur noch mit Wesen paaren können, denen ihr bisher keine Beachtung geschenkt habt!“ Während sie diese furchtbaren Worte sprach, ging sie von einem zum anderen. Dabei hielt sie ihre Hand jedes Mal so lange an deren Herz, bis sie deren Augen stumpf und gleichgültig ansahen. Sie hatte ihre Hand gerade an Yurons Herz gelegt, da fiel Thore vor ihr auf die Knie. Verwundert unterbrach Gaya ihr Tun. „Herrin! Ich flehe Euch an! Nehmt mir nicht meine Liebe zu Fraya! Sie ist meine Frau, meine Geliebte, Gefährtin, Mutter meiner Söhne. Sie ist mein besseres Ich! Sie ist alles für mich! Nehmt mir nicht ihre Liebe! Wenn Ihr nicht anders könnt, dann verwandelt mich wieder in den Staub, aus dem Ihr mich geschaffen habt. Ich kann ohne Fraya nicht leben!“ „Sieh an! Mein aufbrausender Thore hat auch eine sanfte Seite. Wer hätte das gedacht?“, bemerkte die alte Göttin spöttisch, aber ihre Augen blickten nicht mehr ganz so hart. „Und du? Was sagst du zu den Liebesschwüren deines Mannes?“, fragte sie Fraya. „Herrin! Bitte nehmt mir nicht meinen Mann“, konnte Fraya nur leise sagen. Sie war von Thores Worten überwältigt. Zwar hatte sie immer gespürt, dass sie Thore viel bedeutete, aber dass seine Gefühle für sie so tief gingen, hatte sie nicht erwartet. „Überlege es dir gut!“, warnte Gaya. „Trotz seiner hübschen Worte wird er dich betrügen. Er wird mit einer anderen einen Sohn zeugen. Von Deiner Kraft wird es abhängen, ob dieser Bastard Fluch oder Segen für Amesia wird, ob Amesia eines Tages überleben oder zugrunde gehen wird. Bist du wirklich stark genug, das zu ertragen?“ Ohne Zögern antwortete Fraya: „Das bin ich!“ „Nun gut! Ich war ohnehin fertig. Thore, du kannst wieder aufstehen.“

Gaya wandte sich wieder den anderen Göttern zu. „Ihr seid alle meine Kinder. Und wie Kinder habt ihr euch aufgeführt. Damit ist jetzt Schluss. Ich werde jedem von euch eine Aufgabe übertragen, die eure ganze Kraft fordern wird. Ihr werdet diese Welt wieder aufbauen und denen übergeben, für die ich sie geschaffen habe“, verkündete sie. „Für wen?“, fragte Woldan, ein Gott mit kurzem stacheligen grünem Haar, rehbraunen Augen, einem spitzen Gesicht und einer schlanken drahtigen Figur. Gaya sah ihn strafend an. „Diese dort!“, sagte sie und drehte sich um. „Kommt hervor!“, rief sie laut. Hinter einem Felsen am Rande einer Geröllhalde traten zögernd zitternde halb nackte zweibeinige Geschöpfe hervor. Hunderte, Tausende, es wurden immer mehr. Unsicher liefen sie auf die Gruppe der Götter zu. Sie waren von dem in der Luft schwebenden Staub rot überpudert, viele von ihnen husteten. Manche hatten lange Haare, anderen schien der Kopf kahl geschoren worden zu sein. Wieder andere trugen ihr Haar kurz oder zu Zöpfen geflochten. Die Götter konnten Männchen und Weibchen in der immer größer werdenden Gruppe erkennen. Einige Weibchen trugen Kinder auf ihren Armen. Sie alle waren kaum größer als Gaya. Nur einige der Männchen schienen deutlich größer als die alte Göttin zu sein. „Das ist nah genug!“, befahl Gaya. Die Menge kam etwa dreihundert Meter vor der Gruppe der Götter zum Stehen. Ängstlich schmiegten sie sich aneinander und warfen verstohlene Blicke zu den Göttern herüber.

„Was sind das für Wesen?“, erkundigte sich Watan. Sein langes blaues Haar, das fast bis auf den Boden reichte, hüllte ihn ein wie ein Umhang. Er hatte feine ebenmäßige Gesichtszüge und eine Hakennase. Sein schmaler Mund war schön geschnitten, er hatte eine schlanke hohe Figur, sodass er sich zu Recht als einer der am besten aussehenden Götter bezeichnen konnte. Am auffälligsten waren jedoch seine Augen, die je nach Stimmungslage die Farbe wechselten, von Grün bei Trauer über helles Blau bei Freude zu tiefem Dunkelblau, wenn er wütend war. Derzeit hatte er graublaue Augen, ein Zeichen von mäßigem Interesse. „Das sind Menschen!“, erklärte Gaya feierlich. „Osiat gehört ihnen von jetzt ab allein! Götter und Menschen können nicht gemeinsam in einer Welt leben, das habt ihr mir heute gezeigt. Ihr werdet euch nach Amesia zurückziehen und nur noch als Gäste nach Osiat zurückkehren. Und ich erwarte von euch, dass ihr euch wie anständige Gäste benehmt.“ „Gaya, jetzt gehst du aber zu weit! Osiat ist doch viel zu groß für diese paar … Menschen!“, ließ sich Hato empört vernehmen. Er gehörte wie Thore zu den älteren Göttern. Er hatte ein grobes, kantiges Gesicht mit stark ausgeprägten Wangenknochen und graue Augen. Er war groß und kräftig gebaut, mit einem Hang zur Fülle. Seine Vorliebe für gute Speisen begann, erste Spuren an seinem Körper zu hinterlassen. Sein beginnendes Doppelkinn verbarg er hinter einem langen Vollbart, der sorgsam gestutzt war und bis auf seine Brust reichte. Alles in allem war er aber trotzdem noch eine beeindruckende Erscheinung. Gaya maß ihn mit einem scharfen Blick. Es war nicht das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber im Ton vergriff. Keiner der anderen Götter hätte es gewagt, Gaya so respektlos anzusprechen. Das Wissen um sein Alter und seine Stärke hatte ihn anmaßend werden lassen. Schon lange hatte er von der alten Göttin gefordert, ihm einen besonderen Platz unter den Göttern einzuräumen. Aufsässig starrte er sie an. Spannung lag in der Luft. Jeder rechnete damit, dass Gaya Hato auf der Stelle für seine Unverschämtheit bestrafen würde. Doch Gaya seufzte nur und wendete sich wieder an die anderen Götter. „Es mögen wenige sein. Aber sie sind fruchtbar. Sie werden bald wieder ganz Osiat bevölkern und ihr werdet für sie sorgen!“ Den aufkommenden Protest der Götter erstickte Gaya im Keim mit einer herrischen Geste.

„Ich habe euch aus Stein …“, sie blickte zu Dioran, „… Wasser …“, ein kurzer Blick zu Watan, „… dem Holz der Bäume…“, Gayas Hand lag kurz auf Woldans Schulter, „… oder den Sternen geschaffen“, und sie nahm Aurina und Lysina an die Hand. „Jeder von euch hat eine bestimmte Gabe, die er jetzt einsetzen wird, um den Menschen das Leben erträglicher zu machen. Sie werden euch dafür respektieren, verehren, anbeten, euch um eure Hilfe anflehen. Ihre schönsten Töchter werden euch gehören. Und sie werden es auch sein, die euch eure Nachkommen schenken werden, wenn ihr sie gut behandelt.“ „Das ist ungerecht! Was ist mit uns? Werden wir keine Nachkommen haben?“, erboste sich Lysina, eine sehr schlanke Göttin mit kupferfarbenem schulterlangem welligen Haar und dunklen Augen in einem zarten weißen Gesicht. Mit ihren fein geschwungenen Augenbrauen und dem roten Mund mit den vollen breiten Lippen unter der schmalen, wenn auch etwas zu langen Nase, waren sie und ihre Zwillingsschwester Aurina die unumstritten schönsten Göttinnen. „Nein, meine Schöne! Die Göttinnen bleiben ohne Nachkommen!“, antwortete Gaya mit einem bösen Lächeln. „Aber ich verspreche dir, es werden sich genug stattliche Männer für deinen Spaß finden. Du wirst nicht leer ausgehen.“ Lysina lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge. Aurina hielt ihre sterngeborene Schwester zurück. „Lysina, glaubst du etwa, dass Gaya nicht weiß, dass wir niemals Kinder haben wollten?“ Betroffen schwieg Lysina. Mit ihren goldenen Augen bat Aurina Gaya um Vergebung für ihre Schwester. Gaya nickte gnädig und wandte sich an den blauhaarigen Gott.

„Watan, du bist von nun an der Gott des Wassers, der Meere, Seen und Flüsse! Sorge dafür, dass das Wasser schnell wieder klar wird, damit Mensch und Tier ihren Durst stillen können und bald wieder Fische in den Seen, Meeren und Flüssen leben können!“ Mit diesen Worten überreichte sie ihm einen bläulich-grünen Stein in der Größe eines Kinderkopfes, aus dem klares Wasser lief. Watan verneigte sich vor Gaya und versprach, sich sofort an die Arbeit zu machen.

„Woldan, du wirst der Gott des Waldes und der Jagd“, bestimmte sie. „Lasse Wälder entstehen, wo es jetzt nur Ödnis gibt und fülle sie mit Wild. Sei den Menschen bei der Jagd hold, auf dass sie nie wieder Hunger leiden müssen.“ „Das verspreche ich!“, antwortete Woldan ernst und griff nach dem goldenen Bogen, dem Köcher mit den Pfeilen und dem silbernen Jagdhorn, die Gaya für ihn bereithielt. „Dioran! Du bist der Gott der Felsen, der Steinmetze und der Bildhauerkunst! Bringe den Menschen bei, wie sie den Stein bearbeiten müssen, um sich Häuser bauen zu können. Dann müssen sie nicht mehr nach Höhlen suchen, in denen sie hausen können. Später kannst du die Fähigsten von ihnen in der Bildhauerkunst unterweisen, damit auch sie ihre Bauwerke nach ihrem Geschmack verschönern können.“ Damit übergab sie Dioran einen gewaltigen Hammer und einen Meißel.

„Aurina und Lysina! Ihr werdet die Göttinnen der Morgenröte und der Abendröte. Mit den Farben, die ihr an den Himmel malt, werdet ihr die Menschen zu Beginn ihres Tagwerkes erfreuen und am Abend für ihren Fleiß belohnen!“ Als Attribut für ihre Aufgabe übergab sie jeder der Schwestern einen goldenen Pinsel. Der Griff des Pinsels von Aurina war mit einer Sonne verziert, der von Lysinas Pinsel mit einer Mondsichel.

Gaya wandte sich an einen stillen Gott mit einer kräftigen breiten Brust, muskulösen Armen und kurzen Beinen. Er hatte eine olivfarbene Haut und ein grobes Gesicht. Sein kurzes schwarzes kräftiges Haar stand wirr von seinem Kopf ab. Sein Mund mit den wulstigen Lippen war fast immer geschlossen, er lächelte sehr selten, ein Lachen hatte noch niemand bei ihm gesehen. Seine aufmerksamen schwarzen Augen wurden von zwei geraden buschigen Augenbrauen beschattet. Sein ohnehin nicht sehr ansehnliches Gesicht zierte eine breite Knollennase. „Burno! Du bist ab heute der Gott des Feuers und der Schmiedekunst! Lehre die Menschen, das Feuer zu beherrschen und bringe ihnen die Wärme in ihre Häuser! Zeige ihnen, wie sie Eisen, Stahl, Kupfer, Gold und Silber bearbeiten müssen, damit sie es zu ihrem Nutzen verwenden können. Wirst du das für mich tun?“, fragte Gaya, der Burno in seiner Hässlichkeit leidtat. Sie wusste, wie oft er Ziel des Spotts der anderen Götter gewesen war. Sie hatte ihre Aufgabe an ihn als Frage formuliert, weil sie gesehen hatte, dass er als einziger der Beteiligten tiefes Bedauern über die Zerstörung Osiats empfand. „Herrin! Ihr ehrt mich!“, antwortete Burno mit tiefer kehliger Stimme. Gaya lächelte und übergab ihm eine brennende Fackel und einen schweren Schmiedehammer.

„Bodina, Tochter des Windes!“ Eine flachbrüstige Göttin, mit ihrem kurzen weißblonden Haar und der schlanken Gestalt einem Knaben viel ähnlicher als einer Frau, verneigte sich vor der Urmutter. „Du wirst die Götterbotin. Es gibt niemanden, der schneller als du die Nachrichten der Götter überbringen kann.“ Als Zeichen der ihr zugedachten Aufgabe erhielt Bodina ein Paar Schwanenflügel. „Du wirst der Gott der Weisheit und Schriftkunst“, sagte sie zu Witan, dem Gott mit dem langen blauschwarzen Haar. „Schenke den Menschen das geschriebene Wort, damit sie an ihre Nachfahren weitergeben können, was sie gelernt haben. Gib ihnen die Weisheit zu erkennen, was richtig und falsch ist!“ Mit diesen Worten reichte ihm Gaya eine Rolle Pergament und eine goldene Schreibfeder. Witans schwarze Augen leuchteten vor Freude und Stolz, als er sich vor ihr dankbar verneigte.

„Idalia!“ Nachdenklich blieb Gaya vor einer zierlichen Göttin stehen. Idalia lächelte verlegen. Sie lächelte immer, war immer lustig, Trauer schien sie nicht zu kennen. Am liebsten sang sie mit einer engelsgleichen Stimme oder malte ein Bild in den Sand, um es sofort wieder zu zerstören, damit sie ein Neues malen konnte. „Du kannst nichts anderes sein, als die Göttin der schönen Künste. Singe, male, tanze für die Menschen. Nimm dir so viele Schülerinnen und Schüler von ihnen, wie du magst. Bringe die Freude an schönen Dingen in ihre Herzen.“ „Das werde ich!“, versicherte Idalia und nahm eine goldene Leier aus den Händen Gayas entgegen.

In Thore machten sich zunehmend Sorge und Unmut breit. Seine Blicke, die er den verschüchterten Menschen zuwarf, wurden immer finsterer. Gaya hatte bei allen Aufgaben, die sie an die Götter verteilt hatte, die Menschen in den Vordergrund gestellt. Die Götter hatten ihnen den Lebensraum zu bereiten, ihre Lehrer zu sein oder sie zu erfreuen. Die Vorstellung, dass er, seine Frau und seine Söhne auch in den Dienst der Menschen gestellt werden sollten, missfiel ihm unübersehbar. Fraya versuchte, ihn mit einem Händedruck zu beruhigen, was ihr diesmal nicht besonders gut gelang. Sie spürte, dass Thore mühsam um Beherrschung rang, als sich Gaya an Eyrin wandte. „Eyrin! So jung … So unschuldig …“, sagte sie sanft zu ihm. Eyrin sah sie trotzig an. Er war zwar erst vor zwei Tagen geboren worden, doch war er schon vollkommen erwachsen. Bereits zwei Stunden nach seiner Geburt glich er einem zehnjährigen Knaben, konnte sprechen, laufen und reiten. Nach weiteren sechs Stunden war er so groß wie sein Bruder und konnte genauso gut lesen und schreiben wie er. An seinem zweiten Lebenstag hatten ihn Eltern und Bruder in Amesia herumgeführt und ihm alles über die Geschichte dieses einzigartigen Ortes und seine Bewohner erzählt, bis sie von Gaya gerufen worden waren. Yuron trat einen Schritt auf seinen jüngeren Bruder zu und legte ihm schützend die Hand auf die Schulter. Eine Geste, die Gaya sehr wohl wahrnahm und mit einem Lächeln bedachte. „Nimm dieses Schwert!“, sagte sie und reichte Eyrin ein flammendes Schwert. Vorsichtig griff er danach. „Mit diesem Schwert wirst du alle verteidigen, die so sind wie du. Die Unschuldigen, die Ungeküssten, die Jungfrauen! Eile zu ihnen, wann immer sie dich um deine Hilfe anflehen.“ Staunend betrachtet Eyrin die golden schimmernde, gezackte und von kleinen Flammen umgebene Schneide des Schwertes. „Du musst noch lernen, wie man ein Schwert führt!“, fuhr sie fort. „Yuron, das ist deine Aufgabe! Lehre ihn die Kunst des Schwertkampfes! Du wirst von nun an seiner Seite bleiben. Du wirst die Unschuldigen schützen und die Schuldigen verurteilen. Als oberster Richter der Götter wirst du blind sein …“ „Nein!“ riefen Thore und Fraya wie aus einem Mund. Fraya fiel vor der Urmutter auf die Knie. „Herrin, bitte nicht das! Nehmt meinem Sohn nicht sein Augenlicht!“, flehte sie mit Tränen in den Augen. „Haltet ihr mich etwa für grausam?“, fragte Gaya scharf. Jeder der anwesenden Götter hätte diese Frage bedenkenlos mit „Ja“ beantwortet. Doch keiner hielt es für ratsam, einen Ton zu sagen. Yuron stand bleich vor Gaya und wagte kaum zu atmen. „Du musst keine Angst haben“, richtete sie sich wieder an Thores Sohn. „Du wirst nur während der Verhandlung blind sein. Du wirst Kläger und Beklagten anhören, die Worte ohne Ansehen der Person abwägen und danach dein Urteil fällen. Doch es wird nur wenige Verbrechen geben, die schwerwiegend genug sein werden, um von dir gerichtet zu werden. Hast du dein Urteil gesprochen, erhältst du dein Augenlicht wieder. Aber sei gewarnt! Fällst du ein ungerechtes Urteil, wirst du für immer blind bleiben!“ In Thores Gesicht arbeitete es heftig und Fraya lief eine Träne über die Wange, als Yuron die Augenbinde aus schneeweißer Seide von Gaya entgegennahm. Noch bevor er etwas sagen konnte, befahl die alte Göttin streng: „Thore, knie nieder!“ Widerstrebend beugte er das Knie vor ihr. Fraya, die immer noch vor Gaya kniete, warf Thore einen erschrockenen Blick zu. „Thore, du bist stark, mutig und ehrlich. In den letzten fünftausend Jahren hast du bewiesen, dass dein Wort von deinen Brüdern und Schwestern gehört wird“, sagte Gaya, während sie Thore die Hand auf sein volles dunkelblondes Haar legte. Der sah sie fragend mit seinen stahlblauen Augen an. „Fraya! Du bist sanft, klug und gerecht. Du bist bewandert in den Heilkünsten und kannst damit viel Gutes bewirken“, fuhr sie fort, ohne auf Thores stumme Frage zu achten. „Gemeinsam habt ihr alles, was ein guter Herrscher haben muss.“ Plötzlich hielt sie zwei goldene Stirnreife in der Hand. Sie waren mit zierlichen Gravuren versehen, in der Mitte saß ein kostbar gefasster großer Rubin. „Nehmt diese Kronen als Zeichen eurer Herrschaft über Amesia! Eure Aufgabe ist es, die Welt der Menschen beschützen!“, sagte sie feierlich. „Fraya, bewahre die Menschen vor Krankheiten und helfe den Frauen, wenn sie ihre Kinder bekommen. Denke immer daran, es könnten die Kinder der Götter sein.“ Mit diesen Worten setzte sie Fraya den kleinen Stirnreif auf das Haupt. Mit großer Geste zeigte sie den anderen Göttern Thores Krone.

„Halt ein!“, rief Hato mit dröhnender Stimme. „Thore ist zwar mein Bruder, aber ich bin älter und stärker als er. Diese Krone gehört mir!“ Gaya verhielt tatsächlich mitten in der Bewegung und schien zu überlegen. „Du hast mir jeden Spaß genommen, über diese Welt zu laufen. Gib mir wenigstens eine Krone dafür!“, setzte Hato grimmig nach. Gaya lächelte und setzte Thore den goldenen Reif auf sein Haar. „Eine Krone möchtest du?“, fragte sie Hato leise. Der nickte heftig mit finsterem Blick. „Gut, du sollst deine Krone haben“, beschied sie ihn zur Überraschung aller. In der Hand hielt sie einen Stirnreif aus Eisen. Er war grob gearbeitet und wies keinerlei Verzierungen auf. „Knie nieder!“, befahl sie streng. Hato erbleichte und wich vor der Göttin zurück. „Nein, nicht diese! Die Goldene!“, stammelte er entsetzt. Mit ihrem magischen Blick zwang ihn Gaya auf die Knie. „Hato! Du bist von nun an der Herrscher über Estosia! Deine Untertanen sind die Geschöpfe der Nacht! So lange Thore die goldene Krone trägt, darfst du Estosia nicht verlassen!“, rief sie mit lauter Stimme. „Herrin! Lasst Gnade walten! Ihr könnt ihn doch nicht allein nach Estosia schicken!“ Xyntina hatte sich vor der alten Göttin auf die Knie geworfen, wie sie es vorher bei Fraya gesehen hatte. Mit dieser Geste hoffte sie, Gaya milde zu stimmen. Eigentlich hatte sie ihren ganz eigenen Kopf und hielt jegliche Art von Ehrbezeugung für unnötigen Unsinn.

„Xyntina!“ Gaya sprach die vor ihr kniende Göttin sanft und freundlich an, aber ihre Augen blickten kalt. „Soweit ich weiß, hast du deine Brüder und Schwestern zu diesem zerstörerischen Spiel angestiftet. Warst du es nicht, die vorgeschlagen hat, herauszufinden, wer von ihnen der Stärkste ist?“ Die dralle Göttin nickte und versuchte, beschämt dreinzuschauen, aber ihre blitzenden grünen Augen straften sie Lügen. „Du kannst nichts anderes, als Zank und Streit zu stiften! Nur das bereitet dir Freude!“, fauchte Gaya. Xyntina machte eine abwehrende Handbewegung. „Herrin, so ist das nicht! Ich wollte doch nur …“ „Halt den Mund!“, fuhr sie Gaya an. „An dir ist nichts außer Falschheit und Bosheit! Du bist die Göttin der Zwietracht!“ Xyntina öffnete den Mund, aber kein Laut drang über ihre Lippen. „Du hast für Hato gebeten, weil er dein Gefährte war. Du sollst erhört werden. Er wird nicht allein in Estosia sein. Du wirst ihn begleiten. Aber zur Strafe für dein Vergehen wirst du die Unterwelt jedes Jahr für vier Wochen verlassen und dich daran erinnern, was du verloren hast!“, rief Gaya mit zornfunkelnden Augen. „Hinfort, Ihr zwei!“, rief sie und schlug in die Hände. Xyntina und Hato waren augenblicklich verschwunden.

Die anderen Götter schwiegen entsetzt. Niemand rührte sich. „Was habe ich getan?“, stöhnte Gaya auf einmal auf und schlug die Hände vors Gesicht. Leise erhoben sich Thore und Fraya. Unsicher blickten sich die Götter an. Die zerlumpten und verdreckten Menschen sahen zu den Göttern hinüber. Ihre Angst hatte scheinbar nachgelassen. Sie standen nicht mehr so dicht gedrängt beieinander, die mutigsten von ihnen waren sogar noch ein Stück nähergekommen und warfen ihnen neugierige Blicke zu. „Zurück!“, rief Thore in herrischem Ton. Er war eine stattliche Erscheinung, über zwei Meter groß mit breiten Schultern und starken muskulösen Armen. Der Rubin an seine Krone funkelte blutrot in der Sonne. Furchtsam wichen die Menschen zurück. Die Aussicht, dass eine Menschenfrau einmal sein Kind unter dem Herzen tragen würde, machte ihn nicht gerade zu einem Freund der Menschen. Er wollte lieber ausreichenden Abstand zu ihnen wahren.

Gaya nahm die Hände vom Gesicht. Sie schien um Jahre gealtert und ihre Augen blickten traurig. Das war ein Ausdruck, den man selten bei ihr sah. „Herrin, was ist mit Euch“, erkundigte sich Fraya besorgt. „Wie konnte ich nur der Zwietracht erlauben, je wieder in diese Welt zu kommen“, rief sie, zornig über sich selbst, aus. „Das führt zu Unfrieden zwischen den Menschen. Und Unfrieden bedeutet Krieg! … Martan!“ Ein Gott mit einem ovalen strengen Gesicht trat vor Gaya hin. Das lange braune Haar trug er in einem kunstvoll geflochtenen Zopf. Seine freundlichen braunen Augen wurden von kräftigen Augenbrauen beschattet. Er hatte einen schmalen Mund und eine kräftige Nase. Martan war ein wahres Kraftpaket. Gedrungener gebaut als Thore, aber genauso stark und muskulös. „Du wirst zwei Gegensätze in dir vereinen“, bestimmte Gaya. „Du bist von nun an der Gott des Krieges und der Fruchtbarkeit. Stehe den Starken in ihren Kriegen bei und führe sie zum Sieg. Aber sorge anschließend dafür, dass die zerstörten Felder schnell wieder fruchtbar werden. Lasse die Frauen viele Kinder bekommen, damit es nie dazu kommt, dass sie sich gegenseitig ausrotten.“ Gaya reichte Martan ein goldenes Schwert und einen Ährenkranz aus Silber. Zögernd nahm er die Attribute seiner Aufgabe entgegen und verneigte sich.

„Erlaubt Ihr mir eine Frage, Herrin?“ Gespannt sah er die mächtige Göttin an. Gaya hob erstaunt die Augenbrauen, dann nickte sie gnädig „Warum sind Euch die Menschen so wichtig. Warum beauftragt Ihr uns, so viel für sie zu tun? Wir sind doch Götter wie Ihr!“ „Götter wie ich?“, fuhr Gaya auf. Im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in einen riesigen grellbunten Wirbel, der sich in rasender Geschwindigkeit um seine eigene Achse drehte und Menschen und Götter gleichermaßen mit sich fortriss. Immer schneller drehte sich der Wirbel und das Land unter ihren Füßen löste sich auf. Er zog sie immer weiter mit sich in die Höhe, bis um sie herum nichts weiter war als grenzenlose Schwärze. Schwerelos schwebten sie dahin. Es gab kein Oben und kein Unten. „Ich bin Gaya!“, hörten sie ihre dröhnende Stimme, sehen konnten sie sie nicht. „Ich bin das Nichts, aus dem alles entstand und in das alles vergeht, wenn das Ende gekommen ist!“, verkündete sie unheilvoll. „Nichts und niemand ist wie ich!“

Urplötzlich löste sich die Spirale wieder auf und die Götter standen allein mit Gaya am Fuß des Götterberges in Amesia. Die Menschen waren verschwunden. „Meine Kinder! Ihr glaubt, ihr seid wie ich? Ihr glaubt, ihr seid unsterblich?“, fragte sie spöttisch. „Wenn du von einer Aarusschlange in den Hals gebissen wirst … dann bist du tot!“ Mit dem Zeigefinger tippte sie Dioran an. Es war nur eine kleine Bewegung, und doch ging der kräftig gebaute Gott zu Boden. „Wenn dir ein anderer Gott das Herz aus dem Leibe reißt und in einem Feuer verbrennt … dann bist du tot.“ Mit einem Plumps landete Woldan neben Dioran. „Aber wenn es keine Menschen mehr gibt, wenn sie aufhören, an euch zu glauben und euch nicht mehr anbeten … dann, meine Kinder, dann ereilt euch der wahre Tod! Nichts und niemand kann euch dann noch retten, nicht einmal ich! Also achtet gut auf sie und sorgt dafür, dass sie euch niemals vergessen!“ „Das werden wir!“, versprachen die Götter im Chor. „Gut!“ Gaya nickte zufrieden. „Dann macht euch jetzt an die Arbeit! Und beeilt euch. Die Menschen werden in Osiat, so wie es jetzt ist, nicht lange überleben können!“ Eilig liefen die Götter davon.

„Fraya, Thore! Auf ein Wort!“, befahl sie dem neu gekrönten Herrscherpaar. „Ihr seid jetzt nicht nur die obersten Götter in Amesia, sondern auch die Beschützer der Menschen. Beschützt sie vor allem vor der Schwarzen Magie, die in Estosia wohnt. Sie sind wie Yuron und Eyrin. Sie sind jetzt eure Kinder, wie ihr die Meinen seid.“ Thore schnaubte. „Sollen sie vielleicht auch noch in Amesia wohnen dürfen, diese … Menschen?“ „Ich weiß, du magst sie nicht. Noch nicht …“, sagte Gaya nachsichtig zu Thore. „Ihr werdet Amesia weiterhin für Euch haben. Ich habe die Welt der Götter mit einem magischen Nebel umgeben, den nur ihr durchqueren könnt … oder diejenigen, denen ihr erlaubt, nach Amesia zu kommen“, fügte sie schelmisch hinzu. „Wer sollte das sein?“, knurrte Thore. „Du wirst schon sehen“, antwortete Gaya geheimnisvoll. Dann maß sie Fraya mit einem langen Blick. „Du hast eine wunderbare Gabe, Fraya. Du kannst Wunden heilen und anderen den Schmerz nehmen, nur mir kannst du nicht helfen“, sagte sie leise. „Die Wunden dieser Welt sind meine Wunden. Wenn aus Gedankenlosigkeit ganze Landstriche zerstört werden, spüre ich ihren Schmerz. … Wenn Habsucht und Gier die Welt regieren, spüre ich ihren Schmerz. … Wenn jemandem aus Grausamkeit ein Leid geschieht, spüre ich seinen Schmerz. … Das ist der Grund, weshalb ihr mich oft über so lange Zeit nicht zu Gesicht bekommt. Ich ziehe mich auf meine Insel zurück, die so weit von hier entfernt ist, dass ich den Schmerz ertragen kann. Dort kann ich schlafen und mich ausruhen, bis mich wieder irgendeine Torheit meiner Kinder hierher zurückruft.“ „Herrin, wir werden dafür sorgen, dass es keine Torheiten mehr geben wird!“, versprach Thore. „Dieses Versprechen wirst du nicht halten können! Trotzdem danke ich dir“, widersprach Gaya. „Sorge nur dafür, dass es nie wieder so schlimm wie heute wird! … Thore, sie haben ganz Osiat in nur vier Stunden zerstört“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Fraya und Thore schwiegen betroffen. Tränen hatten sie bei Gaya noch nie gesehen. Sie waren sich der großen Ehre bewusst, die ihnen Gaya gewährte. Sie offen hatte sie sich und ihre Gefühle noch keinem ihrer Kinder gegenüber gezeigt. Aber Gaya war noch nicht fertig. „Meine Insel heißt Konh Ka Bin und liegt im Penquanischen Meer. Das liegt noch hinter dem Aquanischen Meer, das an Osiats Grenzen schlägt. Diese Insel ist mein großes Geheimnis … und jetzt eures. Dort könnt ihr mich finden, wenn ihr mich braucht.“

Kapitel 1

Ein Spinnennetz, groß wie ein Wagenrad, spannte sich zwischen einer Hütte und dem dahinter stehenden Baum. In der Abendsonne glänzte es, als wäre es aus feinsten Silberfäden gewoben worden. In seiner Mitte saß eine dicke bernsteingelbe Spinne, die ruhig auf einen unachtsamen Falter wartete. Sie brauchte sich nicht lange zu warten. Am Waldrand, der mit vielen Wildblumen gesäumten war, flogen viele Schmetterlinge von Blüte zu Blüte und labten sich an dem süßen Nektar. Das geschäftige Treiben der tagaktiven Insekten wich langsam der vorabendlichen Ruhe und die ersten Fledermäuse begannen sich scharf gegen den rosa gefärbten Abendhimmel abzuzeichnen. Ein verspäteter Falter gaukelte träge durch die von Düften schwere Luft, als er durch das für ihn unsichtbare Netz der Räuberin gestoppt wurde. Verzweifelt zappelte er um sein Leben, doch die Spinne war im Nu bei ihm und sicherte sich ihre nächste Mahlzeit durch einen blitzschnellen giftigen Biss. In aller Seelenruhe spann sie ihr Opfer ein und hängte es dann zu den übrigen Insekten, die sie bereits im Laufe des langen Tages gefangen hatte.

Nur wenige Schritte hinter der Hütte begann ein Wald, in dem schnell wachsende Nadelbäume und verschiedenste Laubbäume wild durcheinander wuchsen. Am häufigsten gab es hier den Farusbaum. Er hatte eine silberne glatte Rinde. Seine lichte Krone ermöglichte es vielen Pflanzen, unter ihm zu gedeihen, da sie genug Licht bekamen. Hier wuchsen kleine geduckte Sträucher so dicht, dass sie sich wie ein grüner Teppich zwischen den Stämmen ausbreiteten. Sie trugen im Herbst wohlschmeckende blaue Beeren, die sowohl die Tiere des Waldes als auch die Menschen wegen ihrer Süße schätzten. Der kleinere und ebenfalls nicht seltene Acenisbaum sorgte mit seinem prächtigen Herbstlaub für Farbtupfer in Gold, Orange und Rot, die dieser Jahreszeit immer einen ganz besonderen Zauber verliehen. Sein Holz war besser zu verarbeiten als das des Farusbaumes, weshalb er vor allem für die Herstellung von Möbeln aller Art geschlagen wurde. Das Holz der verschiedenen Nadelbäume fand als Feuerholz und als Bauholz Verwendung. Es stand auch eine Kostbarkeit in diesem Wald. Mitten auf einer Lichtung befand sich ein mehrere Hundert Jahre alter und fast bis in den Himmel reichender Escalinbaum. Sein eisenhartes Holz trotzte jedem Sturm, die dicke borkige Rinde schützte ihn von allen Unbilden des Wetters. Wie er hierhergekommen war, wusste niemand. Dieser Baum war Thore, dem obersten Gott, geweiht und bildete den Mittelpunkt des heiligen Hains, der nahe jeder menschlichen Siedlung lag. Hier, in diesem stillen dichten Wald hatte es jedoch nie eine Siedlung gegeben. Seit Menschengedenken gab es immer nur zwei Holzfäller, die in einfachen Hütten an gegenüberliegenden Enden dieses großen Waldstücks wohnten. Es befand sich ganz im Süden von Farusan, dem südlichen der vier Königreiche, in das sich Osiat aufteilte. Regiert wurde das Waldland, wie Farusan auch von den Menschen der anderen Länder genannt wurde, von Narus, dem Weisen. Seinen Untertanen war es erlaubt, in den schier endlosen Wäldern und in den karstigen Gebirgen auf die Jagd zu gehen. Die kleinen Felder hinter den Hütten und Häusern der Menschen, die mühsam gerodet worden waren und noch mühsamer von dem wieder zurückdrängenden Wald frei gehalten werden mussten, reichten nicht aus, um sie ausreichend zu ernähren. Schon nach wenigen Jahren war der Boden ausgelaugt und das kleine Stück Freifläche wurde dem Wald zurückgegeben. An anderer Stelle wurde dann ein neues Stück gerodet, um etwas Getreide und Gemüse anzubauen. So kam es, dass Menschen, Tiere und Häuser stets auf Wanderschaft schienen. Von Farusan eine Karte anzufertigen oder Straßen zu bauen, hätte keinen Sinn gemacht. Es konnte vorkommen, dass eine menschliche Siedlung innerhalb nur weniger Jahre an einem Ort entstand, wuchs und wieder verschwunden war. Ganz im Norden von Farusan gab es ein breites fruchtbares Tal, in dem die Königsstadt Elphos an den Ufern des Lekaros lag. Diese Stadt und die einfachen Hütten der Holzfäller in den Wäldern waren die einzigen Horte menschlichen Lebens in Farusan, deren Lage sich nicht veränderte. Elphos wurde über den Fluss mit allem versorgt, was seine Bewohner zum Leben brauchten, die Holzfäller und ihr Familien begnügten sich mit dem, was ihnen der Wald schenkte.

Aus dem Schornstein der Holzfällerhütte stieg eine kleine weiße Rauchsäule fast senkrecht in den Abendhimmel, bevor der Wind in Höhe der Baumspitzen bizarre Kringel zauberte, die sich rasch auflösten. Vor der Hütte stand eine Bank, unter der sorgfältig etwas Feuerholz gestapelt lag. Etwas abseits befand sich ein kleiner Backofen mit einem Holzgestell zum Abkühlen der Brote. Ein kleiner Gemüsegarten, durch einen einfachen Holzzaun vor Verbiss durch die Waldtiere geschützt und ein kleines Feld, auf dem etwas Getreide wuchs, sowie ein Brunnen vervollständigten das kleine Anwesen. In der Hütte gab es nur einen einfachen Wohnraum mit einer Feuerstelle, über der die Hausherrin Sybille die einfache Gerstensuppe für das Abendbrot kochte. In der winzigen Schlafkammer stand ein selbst gezimmertes Bett, gerade groß genug für sie und ihren Mann Loran. Eine Holztruhe enthielt die wenige Wäsche, die das Paar besaß. Alle Möbel, das Geschirr und das Besteck hatte Loran selbst aus dem Holz des Acenisbaumes gefertigt. Ein einfacher Tisch, vier Holzstühle, ein kleiner Schemel und an der Wand ein kleines Regal, in dem ein paar Tontöpfe mit eingelegten Beeren und getrockneten Pilzen standen, mehr Einrichtung gab es in dem Wohnraum nicht. Ihr größter Schatz waren ein kleines Fässchen mit ausgelassenem Schweineschmalz und ein kleines Döschen mit Salz. Nur an besonderen Tagen gönnten sie sich eine Scheibe Brot, die sie dick mit Schmalz bestrichen und anschließend genüsslich mit ein paar Salzkörnern verfeinerten.

Heute war ein so besonderer Tag. Sie hatten vor zehn Jahren geheiratet. Obwohl überall bekannt war, dass Loran ein armer Bursche ist, hatte sich Sybille als junges Mädchen sofort in den gut aussehenden Naturburschen mit den sanften braunen Augen verliebt, als er das erste Mal in ihr Dorf gekommen war, um etwas Holz zu verkaufen. Auch ihm war das sommersprossige rothaarige Mädchen aufgefallen, das ihn keck mit ihren grünen Augen gemustert hatte. Sie hatten fünf lange Jahre warten müssen, bis Sybilles Eltern ihre Einwilligung in die Ehe erteilten. Sie hatten sich einen anderen Schwiegersohn und ein leichteres Leben für ihre Tochter gewünscht. Außerdem war der Dunkle Wald, an dem Loran wohnte, den Menschen in Maintabur nicht geheuer. Sybille hatte jedoch treu zu ihm gestanden und so hatte vor zehn Jahren die einfache Hochzeit stattgefunden. Sie hatte ihre Entscheidung nie bereut, auch wenn das Leben am Wald einsam und einfach war. Es gab nur einen Punkt, der sie sehr betrübte. Obwohl sie sich sehr zugetan waren, hatten sie keine Kinder und so langsam gaben sie die Hoffnung auf, dieses Glück noch erfahren zu dürfen.

„Das Essen ist fertig!“ rief Sybille in der Tür stehend in den Wald. Es gab hier in der Einsamkeit nur Loran und sie, er würde es hören. Es dauerte auch nicht lange, da betrat er das Haus. Sybille hatte zur Feier des Tages ein paar Blumen gepflückt und in einem Holzbecher auf den Tisch gestellt. Zufrieden sah sich Loran in seinem blitzsauberen Haus um. Auch wenn sie einfach lebten, Sauberkeit war in ihrem Heim oberstes Gebot. Verlegen reichte Loran seiner Frau eine Pflanze mit spitzen schwarz-grünen Blättern und einem Blütenstand an dem sich Hunderte winziger rot-gelber Blüten ausgebildet hatten. Er hatte sie in der Nähe des Escalinbaumes gefunden. Sorgsam hatte er darauf geachtet, dass er die Wurzeln des heiligen Baumes nicht verletzte, als er sie für seine Frau ausgegraben hatte. „Für die beste Ehefrau, die sich ein Mann wünschen kann.“ „Oh, eine Waldorchidee!“, rief sie erfreut und gab ihrem Mann dankbar einen Kuss. „Du kannst sie in die Nähe vom Haus pflanzen. Dann hast du sie immer im Blick und kannst dich noch lange daran freuen“, erklärte er bescheiden. Es war ihm wichtig, ihr eine kleine Freude zu bereiten und ihr zu zeigen, dass er sie immer noch wie zu ihrer Hochzeit liebte. Große Geschenke konnte er ihr nicht machen. Umso mehr freute es ihn, dass sie dankbar für jede Art von Aufmerksamkeit seinerseits war. Ihr Geschenk an ihn war der für ihre Verhältnisse festlich gedeckte Tisch mit den Schmalzbroten und der Gerstensuppe, in die sie diesmal sogar ein Stück Speck hineingeschnitten hatte. Vergnügt nahmen sie ihr Mahl ein, als plötzlich herrisch an die Tür geklopft wurde. Fragend sahen sie einander an. Sie hatten keinen Besuch erwartet. „Hoffentlich ist nichts bei Kiran passiert“, flüsterte Sybille ängstlich. Kiran war der befreundete Holzfäller, der am anderen Ende des Waldes mit seinem Sohn Jolin wohnte. Manchmal kam er zu Besuch, doch es war bereits viel zu spät, um zu dieser Zeit nur für einen Freundschaftsbesuch durch den jetzt finsteren Wald zu laufen. Ratlos zuckte Loran mit den Schultern und beeilte sich, die Tür zu öffnen.

Verwundert sah er auf die Frau, die vor dem Haus stand. Sie war zierlich, hatte dunkle ausdrucksstarke Augen und ein schönes Gesicht mit einem wohlgeformten sinnlichen Mund. Sie schien etwas älter als Sybille zu sein. Das kostbare Kleid, das unter ihrem einfachen Umhang aus edlem Tuch hervorschaute, ließ darauf schließen, dass sie von hohem Rang sein musste. Sie trug am Arm einen großen kunstvoll geflochtenen Korb, in dem ein wenige Tage altes Kind schlief. Es war von einer weißen Decke aus feinster Wolle bedeckt. Prüfend musterte sie Loran von Kopf bis Fuß, der sich ehrfürchtig vor ihr verneigte und sie ins Haus bat. Wortlos betrat die Frau die Hütte und sah sich Sybille, die sich ebenfalls erhoben hatte, genauso aufmerksam an, wie sie vorher Loran betrachtet hatte. Sie schien zufrieden und setzte sich wie selbstverständlich an den Tisch. „Ihr habt keine Kinder?“, fragte sie, ohne sich selbst vorzustellen. „Dieses Glück war uns leider nicht vergönnt“ antwortete Loran verlegen. Die Traurigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Sybille schlug beschämt die Augen nieder. Sie gab sich die Schuld dafür, dass ihre Ehe kinderlos geblieben war. „Das ist Catalina. Sie braucht ein Zuhause. Wäret ihr bereit, sie an Kindes statt anzunehmen und wie eure eigene Tochter großzuziehen?“, wurden die zwei von ihrer ungewöhnlichen Besucherin gefragt. Sprachlos vor Überraschung ließ sich Sybille zurück auf ihren Stuhl fallen. Hilfe suchend blickte sie zu ihrem Mann. Der sah sie traurig an und schüttelte unmerklich den Kopf. Sybille traten vor Enttäuschung Tränen in die Augen. Aber Loran hatte recht. Es wäre einfach zu schön gewesen, wenn sich zumindest auf diese Weise ihr lang gehegter Wunsch nach einem Kind erfüllt hätte. Dem kostbaren Korb und der vornehmen Kleidung ihrer Besucherin nach zu urteilen, musste dieses Kind etwas Besonderes sein. Es gab bestimmt jemanden, der nach ihm suchen würde und ihnen nicht glauben würde, dass eine ihnen unbekannte Frau ihnen dieses Mädchen geschenkt hatte. Loran sah die Enttäuschung auf Sybilles Gesicht, die auch die Seine war. Auch er hätte sich nur zu gern dieses kleinen Geschöpfes angenommen. „Herrin, das geht nicht! Was ist, wenn ihre Eltern oder ihre Familie sie zurückhaben wollen?“ erklärte er vorsichtig. Er wollte die edle Besucherin nicht kränken.

„Ihre Eltern sind tot. Sie hat niemanden auf der Welt, der sich um sie kümmern kann“, war die prompte Antwort. Sybille warf ihrem Mann einen hoffnungsvollen Blick zu. Auch in Loran regte sich Hoffnung, aber seine Bedenken waren noch nicht zerstreut. „Herrin, wie sollen wir den Nachbarn erklären, dass wir plötzlich ein Kind haben?“, wand er ein. „Ihr habt keine Nachbarn!“, antwortete die Frau und ihre Augen funkelten spöttisch. „Deine Frau war seit einem Jahr nicht mehr in eurem Dorf. Wie heißt es gleich? Maintabur?“, fuhr sie fort, als hätte sie Lorans nächsten Einwand vorausgesehen. „Herrin, wer seid Ihr, dass Ihr all dies über uns wisst?“, fragte er verblüfft. Die Frau blickte ihn eindringlich an, bevor sie antwortete. „Es ist besser für euch und das Kind, wenn ihr nicht wisst, wer ich bin!“, erklärte sie streng. Sybille und Loran erschraken gleichermaßen bei dieser Antwort. Sie wollten in nichts Unrechtes hineingezogen werden. Die Frau spürte die Furcht ihrer Gastgeber und überlegte. Sie hatte die Beiden bewusst als Pflegeeltern für Catalina ausgewählt, weil sie weitab von anderen Menschen ein einfaches Leben führten und sie ihr ehrlich und anständig erschienen. Und sie wusste, wie sehr sie sich ein Kind wünschten. Dass das Ehepaar trotzdem zögerte, das Kind ohne weitere Erklärungen anzunehmen, überzeugte sie einmal mehr, die richtige Wahl getroffen zu haben. Loran und Sybille sollten alles über Catalina und ihre Herkunft erfahren, was sie wissen mussten, um sich zu entscheiden.

„Setz dich!“, forderte sie Loran auf, der noch immer mitten im Raum stand. Zögernd setzte er sich zu den Frauen und sah seine Besucherin gespannt an. „Ich werde euch Catalinas Geschichte erzählen“, sagte sie und blickte ernst, erst zu Sybille und dann zu Loran. „Ihr werdet auch erfahren, wer ich bin.“ Unsicher blickten sich der Holzfäller und seine Frau an. „Herrin, Ihr hattet doch gesagt, es sei besser für uns, wenn wir das nicht wüssten!“, fragte Sybille schüchtern nach. Es war das erste Mal, dass sie das Wort ergriff. Ihre Besucherin lächelte mild. „Das ist richtig!“, bekräftigte sie. „Doch ich bin mit einer großen Bitte an euch herangetreten und ihr habt ein Recht, den Grund hierfür zu erfahren. Mit dem Wissen, das ich euch gebe, könnt ihr dann eure Entscheidung treffen. Ich werde euch jedoch die Erinnerung an das, was ihr von mir erfahren habt, anschließend wieder nehmen. Ihr werdet morgen früh erwachen und ein Kind haben, das in einem Korb vor eurer Tür stand …“ Sie machte eine Pause und warf ihren Gastgebern einen prüfenden Blick zu. „… oder ihr werdet vergessen haben, dass ich euch heute Abend besucht habe. Seid ihr dazu bereit?“ Nachdenklich kratzte sich Loran am Kopf. Sybille hatte sich bereits entschieden und sah ihren Mann flehentlich an. Um ihrer stummen Bitte Nachdruck zu verleihen, griff sie sie nach seiner Hand. Zärtlich nahm er ihre Hand und blinzelte seine Besucherin wissend an. „Wir haben doch keine Wahl. Wenn wir jetzt Nein sagen, nehmt Ihr uns doch auch die Erinnerung an euren Besuch, nicht wahr Herrin?“ Die lachte hell auf. Es war ein fast fröhliches Lachen, doch ihre Augen blickten hart. „Loran, du bist ein kluger Bursche“, erkannte sie an. Der lächelte verlegen und rückte ein Stück näher an seiner Frau heran. „Herrin, bitte erzählt uns die Geschichte“, bat er und drückte ermutigend Sybilles Hand. Seine Frau erwiderte seinen Händedruck. So machten sie sich gegenseitig Mut für das, was jetzt kommen würde. Sie hatten das ungute Gefühl, dass es sich bei Catalinas Geschichte nicht um eine fröhliche Erzählung handeln würde.

„Ich bin Gaya und Catalina ist das Kind meiner Tochter Cara“, begann die Besucherin des Paares gleich mit einem Paukenschlag. Erschrocken wollten Loran und Sybille aufspringen und sich tief vor Gaya verneigen. „Bleibt sitzen!“, befahl sie herrisch. Gehorsam blieben die beiden sitzen und senkten den Blick, wie es Menschen vorgeschrieben war, wenn sie einem Gott gegenüberstanden. „Seht mich an, wenn ich mit euch rede. Ich will eure Augen sehen!“, herrschte Gaya ihre Gastgeber an. Schüchtern hoben Sybille und Loran den Blick. Gaya zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, das seine Wirkung nicht verfehlte. Die Eheleute hielten sich zwar immer noch an den Händen, doch sie sahen Gaya gespannt und nicht mehr ganz so ängstlich an. Was Gaya ihnen nun erzählte, zog sie sie ganz in ihren Bann.

Catalinas Mutter war eine Tochter Gayas gewesen. Sie war ihrer Mutter Gehorsam schuldig und hätte dankbar in dem goldenen Käfig leben müssen, in den Gaya ihre Töchter sperrte, zu deren eigenem Schutz, wie sie sagte. So empfanden das zumindest Loran und Sybille, als sie hörten, welch strengen Regeln und Geboten Cara bei ihrer Mutter unterlegen gewesen war. Gaya übte uneingeschränkte Kontrolle über einfach jeden Lebensbereich der Tochter aus. Doch Cara hatte sich aus Liebe zu einem Mann gegen ihre Mutter aufgelehnt und beschlossen, mit ihm und ihrem Kind in Osiat ihr eigenes Leben zu leben. „Sie hat sich gegen mich und für einen Mann entschieden! Das ist einfach unvorstellbar!“, rief Gaya empört. Sie war aufgesprungen und lief aufgeregt in der engen Hütte hin und her. Es war überdeutlich, dass sie noch immer über diese Entscheidung ihrer Tochter aufgebracht war. Sybille sah Gaya verstört an. Auch sie hatte sich gegen den Rat ihrer Eltern für Loran entschieden. Doch sie hatte das nie als Abkehr von ihren Eltern empfunden. Im Gegenteil, ihre Mutter und ihr Vater hatten ihren festen Platz in ihrem Herzen. Loran war einfach nur noch dazugekommen. Sybille hatte auch nie den Eindruck, dass ihre Eltern die Liebe ihrer Tochter zu einem Mann als Zurückweisung empfanden. Fragend sah sie zu ihrem Mann, der nachdenklich die Augenbrauen zusammengezogen hatte. Gayas heftige Reaktion war auch ihm ein Rätsel. Ratlos zuckte er mit den Schultern. Gaya hatte sich inzwischen wieder soweit beruhigt, dass sie mit ihrer Erzählung fortfahren konnte. „Ich war so wütend auf Cara, dass ich ihr den magischen Schutz verweigert habe, mit dem ich sonst für die Sicherheit meiner Tochter gesorgt habe. Wenn sie sich aus Liebe in Gefahr begeben wollte, so sollte sie das ruhig tun. Ich wollte, dass sie einsieht, dass ich recht habe und mich um Verzeihung bittet. Ich habe die Gefahr, in der sie schwebte, unterschätzt und sie war einfach zu stolz, mich um Hilfe zu bitten.“ Gaya lächelte bitter. Die Gefahr, in die sich Cara begeben hatte, kam jedoch nicht von dem Mann, den sie liebte.

Morlan, ein mächtiger Magier aus Estosia, hatte sich in Cara verliebt und offiziell bei Gaya um die Hand ihrer Tochter angehalten. Empört hatte ihn Cara abgewiesen. Niemals würde sie sich mit einem Mann vermählen, der ein Meister der Schwarzen Magie ist und von dem bekannt war, dass es ihm das größte Vergnügen bereitete, andere zu quälen. Morlan hatte diese Kränkung nicht vergessen. „Vor ein paar Tagen ist dann das Unglück geschehen“, sprach die Göttin nach einer kurzen Pause weiter. „Ich bin sicher, es war Morlan, der Cara und ihren Mann getötet hat. Niemand sonst hätte sie überwältigen können. Cara hat seine Anwesenheit spüren können. Deshalb ist es ihnen noch gelungen, ihr Kind zu verstecken. Zuerst hat er dann wohl Dimendes getötet, sonst wäre er nie an meine Tochter herangekommen.“ „Das war Caras Mann!“, erklärte sie ungeduldig auf Lorans fragenden Blick. „Ich bin sofort zu ihr geeilt, als ich ihre panische Angst und dann ihren Todeskampf gespürt habe. Er hat sie ganz langsam erwürgt. Wahrscheinlich hat es ihm Freude bereitet, zuzusehen, wie das Leben aus Caras Augen wich. Vielleicht hatte er auch gehofft, dass sie ihm doch noch sagen würde, wo Catalina war. Doch sie war lieber in den Tod gegangen, als ihre Tochter diesem Mann zu übergeben. Sie hat ihm nicht verraten, wo sie ihr Kind versteckt hatte. Und ich! Ich bin zu spät gekommen! Ich konnte sie nicht mehr retten“, beendete Gaya tonlos ihren Bericht. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.

Sybille und Loran hatten ihr atemlos zugehört. Voll Mitleid lugten sie in den Korb. Das Kind hatte blonden Flaum auf dem Köpfchen und war in ihren Augen das hübscheste Kind, das sie je gesehen hatte. Es hatte einen sehr schön geformten Mund und eine niedliche Stupsnase. Gerade rieb es sich im Schlaf mit den winzigen Fäusten die Augen, ohne sie zu öffnen, und schlief dann mit einem erleichterten Seufzer weiter. Gaya war dem Blick des Paares gefolgt. „Morlan war schon geflohen, als ich dort eintraf, aber seine Magie lag noch über dem Ort. Daher weiß ich, dass er dieses Verbrechen begangen hat. Zum Glück hat er Catalina nicht gefunden. Ich habe sie auch erst nach langer Suche finden können. Sie lag versteckt in diesem Korb in einer tiefen Felsspalte und hatte die ganze Zeit keinen Laut von sich gegeben, als hätte sie gespürt, dass sie in höchster Gefahr geschwebt hatte.“ Voll Stolz blickte sie auf das Kind, das jetzt erwacht war und sie mit ungewöhnlich dunkelblauen Augen ansah. Eine Weile herrschte Stille in dem kleinen Raum. Loran strich sich nachdenklich über das Gesicht und Sybille konnte ihren Blick nicht mehr von dem Korb wenden. Gaya musterte ihre Gastgeber, während sie ihnen Zeit gab, das Gehörte zu verarbeiten. „Warum wir? Ihr habt gesagt, dieser Morlan ist ein mächtiger Magier. Wir sind nur einfache Leute und keiner Magie mächtig, um dieses Kind schützen zu können. Wäre sie da nicht besser bei Euch aufgehoben?“, fragte Loran. Gaya nickte zufrieden. Der Holzfäller war zwar ein einfacher, aber kein dummer Mann, und er hatte gut zugehört. „Gerade deshalb habe ich euch gewählt. Catalina soll als einfaches Menschenkind ohne jegliche Magie aufwachsen. Niemand würde sie bei einem einfachen Holzfäller und dessen Frau vermuten. Das ist ihr größter Schutz. Da ihr so einsam wohnt, könnt ihr sie gut als euer leibliches Kind ausgeben, ohne dass jemand Verdacht schöpfen würde“, antwortete Gaya ruhig. Endlich wich die Anspannung aus Lorans Gesicht und seine Augen leuchteten vor Freude. „Seid ihr bereit, sie bei euch aufzunehmen?“, wiederholte Gaya ihre Frage. „Herrin, habt Dank für Euer Vertrauen! Wir werden ihr all unsere Liebe schenken und sie zu einem anständigen Menschen erziehen“, antwortete Loran ohne zu zögern und Sybille nickte eifrig. Glücklich strahlte sie ihren Mann an. Sie hatte sich schon bei ihrem ersten Blick in den Korb in das kleine Wesen verliebt und war froh, dass es ihm offensichtlich ebenso ergangen war.

Gaya lächelte dünn. Zum ersten Mal, seit sie die Hütte betreten hatte, erschien so etwas wie ein warmes Leuchten in ihren Augen. „Ihr erweist mir einen großen Dienst“, erwiderte sie freundlich. „Als Dank für eure Freundlichkeit werdet ihr euch von jetzt an keine Sorgen mehr um euer Auskommen machen müssen. Euer Feld wird fruchtbar sein und ihr werdet nie wieder Hunger leiden. Baut einen Stall. Ihr werdet morgen eine Kuh erhalten, die euch Milch für das Kind geben wird.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und wandte sich zur Tür. „Herrin!“, rief ihr Sybille hinterher und warf einen kurzen Blick zu Loran, der ihr ermutigend zunickte. „Ihr dürft noch nicht gehen. Ihr müsst uns doch noch die Erinnerung an Catalinas Geschichte nehmen.“ Gaya verharrte und schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Sie hatte ein letztes Mal die Rechtschaffenheit des Paares geprüft und war nicht enttäuscht worden. Hätte ihr Sybille nicht hinterher gerufen, hätte sie den beiden sämtliche Erinnerung an ihren Besuch genommen. Allerdings hätte sie dann für Catalina ein neues Zuhause suchen müssen. Das hätte sie sehr verärgert, denn sie wollte das Kind so schnell wie möglich in Sicherheit wissen. Wie das Ganze für Loran und Sybille am Ende ausgegangen wäre, ist schwer vorherzusagen, denn eine verärgerte Gaya ist unberechenbar. Doch so drehte sich die Göttin wieder zu den beiden um und trat auf sie zu. „Schließt eure Augen und habt keine Angst“, forderte sie sie auf. Gehorsam taten der Holzfäller und seine Frau, wie ihnen befohlen. Beide spürten Gayas Hand auf ihrem Gesicht und hörten, wie sie leise fremdartig klingende Worte vor sich hinmurmelte. Dann wurde es für beide Nacht.