Rabenaas - Sarah Adler - E-Book

Rabenaas E-Book

Sarah Adler

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Beschreibung

Wo der Himmel schwarz ist, finden wir ihn. Eine Banshee. Eine Hexe. Ein Seuchenbringer. Ein Wer-Stier. Eine Vampirin. Ein Cowboy. Eine Anti-Sphinx. Ein Teenager. Und ein Rabe. Dreitausend Jahre in der Zukunft sucht man nach Antworten in der Dunkelheit. Denn irgendwo in der Unendlichkeit des Universums lauert der meistgesuchte Dieb, Meuchelmörder und Betrüger seiner Generation - und das seit über siebenhundertsiebenunddreißig Jahren. Zeit, das zu ändern, findet der Cowboy, und trommelt die aberwitzigste Truppe Kopfgeldjäger zusammen, die man sich vorstellen kann. Es warten Ruhm und Geld. Es wartet eine Reise voller fremder Sterne, Intrigen, Weltraumpiraten, atemberaubender Kämpfe und Drachen mit Sonnenbrillen. Und es wartet eine Jagd auf Leben und Tod. Denn Corax ist gefährlich. Corax kennt keine Gnade. Und Corax wird nicht davor zurückschrecken, erneut zum Mörder zu werden. Oder?

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Rabenaas

Wie man die Schatten fängt

Sarah Adler

Copyright © 2017by

Astrid Behrendt

Rheinstraße60

51371 Leverkusen

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Viktoria Kravtschenko

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-195-5

Alle Rechte vorbehalten

Füralle,

die sich damals so energisch darüber beschwert haben,

dass mein erstes Buch nicht ihnen,

sondern meinem Hund gewidmet wurde.

Und natürlich für Ernie – den besten Hund, den esgibt.

Inhalt

0 - Corax

1 - Fionagh

2 - Mirembe

3 - Carl

4 - Geist

5 - Nix

6 - Alesander

7 - Sia

8 - Jamie

9 - Carl

10 - Nix

11 - Sia

12 - Fionagh

13 - Mirembe

13 - Teil 2

12 - Geist

11 - Mirembe

10 - Sia

9 - Fionagh

8 - Carl

7 - Nix

6 - Fionagh

5 - Mirembe

4 - Corax

3 - Fionagh

2 - Jamie

1 - Sia

0 - Corax

Glossar

Danke …

Über die Autorin

Bücher von Sarah Adler

0 - Corax

Das Unglück folgt Corax wie ein Schatten, wohin auch immer er geht. Auf samtweichen Pfoten.

Es gibt viele Schatten in den Millionen von Universen da draußen. Große, finstere Schatten grollender Gewitterwolken, die von kalten Stürmen zerfressen werden. Die schnellen, vom Wasser gebrochenen Schatten kleiner Fische. Schatten ohne Anfang und Ende – Schatten, die so scharf vom Licht umrissen sind, dass einem die Augen davon schmerzen.

In seinem Fall ist es ein ganz besonders dunkler Schatten.

Die Sonne überflutet den Platz wie Wasser, das über die Ränder einer Schüssel quillt. Die runden Tische glänzen unter den gefüllten Tellern und Tassen, Gläsern und den Dingern, die man benutzt, um Essen aufzuspießen und es sich in den Mund zu stecken. Er wird nie verstehen, wozu man so etwas Starres, Unbewegliches braucht, wenn es mit den Fingern doch viel bessergeht.

Corax lauert im Halbverborgenen und tritt unruhig von einem Bein auf das andere. Er hat einen Grund, hier zu sein, heute, an diesem sonnigen Tag, an dem die Welt noch nicht in Stücke zersprungen ist: Er ist auf einer Mission. Es wird nicht einfach sein, aber das Loch in seinem Magen treibt ihn voran, und wenn er sich vorstellt, wie das süße Gebäck auf seiner Zunge zergeht, wird ihm ganz anders vor Hunger.

Corax ist hergekommen, um einen Keks zu ergattern.

Oh je, oh je. Die vielen, vielen Weisen, in denen so ein Versuch schiefgehen kann. Er hat sie alle erlebt. Wenn man es nüchtern betrachtet, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Die erste: Er bekommt einen Keks. Die zweite: Der Tag endet in einem Blutbad. Entweder er bekommt einen Keks oder er bekommt eine Katastrophe. Das ist das Schlimme an der Sache – Corax will eigentlich keine weitere Katastrophe. Er will nur einen Keks. Und für einen Keks muss man tun, was man für einen Keks tunmuss.

Manchmal gehen die Dinge weniger schlimm aus. Manchmal sind die Tage voller Glück, das die Verheerung zur Seite drängt wie ein behäbiges Tier, das durchs hohe Gras schreitet und die Halme an sich abprallen lässt.

Er hofft, dass heute einer dieser Tageist.

Als er aus den Schatten tritt, das Herz voller kribbelnder Hoffnungen, lachen die Leute. Sie wissen nicht, was sie von ihm halten sollen, das spürt er. Sie sehen in ihm nur die endlose Schwärze der Nacht, zusammengedrängt in einem kleinen, merkwürdig geformten Körper. Aber daran hat er sich gewöhnt, und er ist gut darin geworden, Tonlagen zu verstehen. Manche von ihnen halten ihn für niedlich, das passiert ab und zu. Andere halten ihn für seltsam und lachen nur, damit sie etwas zu tun haben. Aber die meisten haben Angst. Corax findet es besser, wenn sie denken, dass er niedlich ist, denn es ist ein gutes Gefühl. Glaubt er. Zudem erhöht es die Chance auf Kekse.

Vorsichtig sieht er sich um. Sein Bild spiegelt sich in den bauchigen Gläsern, so unheimlich und fremdartig wie ein Nachthimmel ohne Sterne. Er kann nicht sauer sein, dass das Mädchen mit der sumpfgrauen Haut ihn aus misstrauischen Mondaugen betrachtet und seinen Teller näher an sich heranzieht. Vielleicht spürt es seinen Hunger. Er kann auch nicht sauer sein, dass der Junge mit dem Stachelhaar einen Stein nach ihm wirft, mit einem Lachen, das scharfkantig wie eine Scherbe ist. Es hat schon immer Jungen gegeben, die gerne Vögel jagen. Es wird immer Jungen geben, die gern mit Steinen schmeißen. Die Ausgewachsenen schütteln mit den Köpfen und geben kleine, missbilligende Laute von sich, aber sie rufen ihn nicht zurück. Das sagt alles. Vorsichtig wagt Corax sich weiter vor in das gleißende Sonnenlicht, in dem das Silberbesteck so verlockend glitzert, dass nur sein Hunger ihn davon abhalten kann, sich aus lauter Gier auf Glanz und Glimmer darauf zu stürzen. Das Kichern und Tuscheln wird lauter, als die Zuschauenden sehen, wie ruckartig und unsicher er sich bewegt. Es wächst an wie eine Welle und drängt ihn immer weiter auf die dünne Klinge zu, die tief in ihm wohnt und nach der es kein Zurück mehr gibt. Er kann die Katastrophe schon auf den Lippen schmecken – vielleicht ist es besser, wenn er wieder geht. Dann hat er sich eben getäuscht, als er dachte, dass heute ein Kekstagist.

Aber dann passiert es. Eine Frau mit leuchtend rotem Haar, durch mehrere lachende, glotzende Tische von ihm getrennt, hebt die Hand und wackelt einladend mit den Fingern. Corax kennt die Geste. Sie bedeutet: Komm doch näher und hol dir einen Keks. Die Tasse der Bluthaarigen ist randvoll mit schaumiger Milch. Auf dem weichen, mit kleinen Schnörkeln verzierten Stück Papier, das man benutzt, wenn beim Aufspießen der Nahrung etwas schiefgegangen ist, liegt er. Er zieht Corax’ Blick an wie eine Kerze den Falter – der perfekte, runde, goldgelbe Keks mit dem roten Klecks Marmelade in der Mitte.

Rotes Haar. Rote Marmelade.

Corax zögert nicht lange. Jeder, der klar denken kann, weiß, dass man sich nicht zweimal bitten lassen darf, wenn es um Kekse geht. Und er mag die Farbe Rot. Sie ist ein gutes Zeichen.

Mit drei, vier flachen Hüpfern nähert er sich dem Tisch der Fremden (hier schreien einige der Leute erschrocken auf, und das Geräusch ist wie kleine Speere, die in einen Teich gestoßen werden) und duckt sich neben den Stuhl, bis Ruhe eingetreten ist. Dann legt er behutsam, ganz sachte nur, die Fingerspitzen auf die Tischkante und richtet sich vorsichtig auf. Er hat Pflanzen gesehen, die sich der Sonne entgegentasten, und genau so fühlt er sich in diesem Moment. Er will die Bluthaarige nicht erschrecken.

Er will sich selbst nicht erschrecken.

Schlimme Dinge passieren, wenn Corax erschrickt.

Er reckt den Hals, legt nachdenklich das Kinn auf den Tisch und schenkt der Frau ein Lächeln, wie es ihm seit Langem nicht mehr auf die Lippen gekommen ist – breit und sorglos, nur für diesen einen Moment, in dem der Keks in der Sonne strahlt wie ein Versprechen. Kekse machen alles möglich. Zögerlich streckt die Bluthaarige die Hand aus, und Corax läuft das Wasser im Mund zusammen, als er auf die leuchtende Marmeladeninsel starrt, gefangen in einem Meer aus süßemTeig –

– und die Hölle bricht herein, laut und schmerzhaft. Der Jäger wirft sich auf ihn, Tische und Stühle und Gäste von den Beinen fegend, und Corax’ Welt ertrinkt in dem Brodeln seines Zorns. Wie hat er ihn gefunden? Die Frage hat keinen Zweck, denn sie duckt sich furchtsam unter den Fäusten, die ihm in die Seite gestoßen werden. Es ist nicht wichtig, wie der Jäger ihn gefunden hat – der Jäger findet ihn immer. Und er ist gekommen, um ihn zu töten.

Da. Er hat doch gesagt, es gibt eine Katastrophe.

Später wird er sich daran erinnern, wie die Bluthaarige entsetzt aufspringt und zur Seite hechtet, als es passiert. Wie ihr rotes Haar von ihrem Kopf rutscht und in einem eleganten Bogen durch die Luft segelt. Es breitet sich aus wie die Fangarme einer sonnenuntergangsfarbenen Qualle und dreht sich mühelos um die eigene Achse. Und landet auf dem Tablett eines schimpfenden Kellners. Später wird er sich daran erinnern, dass ihr Haar unter der Perücke rabenschwarz ist, wie er selbst.

SchwarzesHaar.

SchwarzerRabe.

Es wäre ein gutes Zeichen gewesen.

Später, wenn er nicht länger mit dem Gesicht voran zu Boden gepresst wird, während dumpfe, hasserfüllte Schläge auf seinen Rücken prasseln wie Hagel, wird er darüber lachen.

1 - Fionagh

Hier ruft der Tod, Sumpflichter sind hilfreiche Leselampen und ein Fremder mit einem Cowboyhut hat keine Manieren.

In Wirklichkeit trug die Bluthaarige einen Namen und eine Perücke eigentlich nur in Ausnahmefällen. Tatsächlich war sie schon immer stolz auf ihr silberweißes Haar gewesen (auch wenn es sich ständig verknotete und ihr an den meisten Tagen furchtbar auf die Nerven ging). Das war der springende Punkt: Weiß. Nicht Schwarz. Und auch nicht Rot. Zumindest zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte begann.

Zu dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte begann, war Fionagh Fanshawe, ihres Zeichens Privatdetektivin, dem Raben noch nie begegnet. Im Grunde genommen wusste sie noch nicht einmal, dass er existierte. Es war ein überraschend harmonisches Leben gewesen. Später würde sie es vermissen.

Die Geschichte begann aus mehreren Gründen an jenem ereignisreichen Tag, an dem das ganze Schlamassel seinen Lauf nahm. Zum einen hatte sie schon den ganzen Morgen über merkwürdige Vorahnungen gehabt, die zwischen ihren Zähnen steckten wie abgesplitterte Zahnstocher. Und zum anderen war da der Besucher.

Im Nachhinein wünschte sie sich in schlaflosen Nächten, sie hätte damals das alte Schild an der Haustür aufgehängt. Das, auf dem in verblichenen Lettern zu lesen war: Geschlossen (auch für Lebensformen, die telepathisch dazu imstande sind, Türen zu öffnen. Bitte unterlassen Sie dies. Mentale Schlossknackerei ist laut §935 StGG seit vier Jahren verboten, und wir würden nur ungern unseren Zentauren auf Sie loslassen).

Inzwischen war der Paragraph schon seit sieben Jahren gültig. Das Schild musste wirklich dringend ausgewechselt werden – damals hatten sie ja noch keine Ahnung gehabt, wie gut die Detektei laufen würde. Dennoch, wie alles andere im Leben – bis auf die unbestrittene Schmackhaftigkeit sahnegefüllter Karamellkracher vielleicht – war gut lediglich eine Ansichtssache.

Aber zurück zu einem gewissen verhängnisvollen Tag. Es wäre zu viel des Klischees gewesen, ihn als »ein Tag wie alle anderen« zu bezeichnen. (Wer genau hinschaut, muss erkennen, dass kein Tag dem anderen gleicht.) Tatsächlich war es einer von der nervenaufreibenden Sorte, die für Kreaturen wie Fionagh von einem elektrischen Knistern durchsetzt war, das einem das Haar zu Berge stehen ließ und sich hartnäckig zwischen den Sekunden hindurch wob, bis die Stimmung angespannter war als eine zu straff sitzende Hose. Als es auf den Nachmittag zuging, hatte Fionagh bereits fünf der acht Tassen Kaffee fallen lassen, die Mirembe ihr zubereitet hatte. Natürlich nicht mit Absicht – es war alles nur diesem verdammten Knistern geschuldet. Es lag ihr immerzu in den Ohren, bis sich ihre Trommelfelle unter seiner Last bogen und Blasen schlugen. Es begleitete sie, wohin auch immer sie ging. Das Wort Privatsphäre schien es nicht zu kennen. Es war das Geräusch des Todes, und leider konnte der Tod ziemlich aufdringlichsein.

»Fanshawe.«

Ach ja, richtig. Sie war, sämtlichem Wunschdenken zum Trotz, nicht die einzige Person im Universum. Schluss mit der Tagträumerei! Schläfen reiben, Kopf schütteln, lächeln, das Knistern ignorieren. Der Tod war etwas, über das sie in der Mittagspause nachdenken konnte. Viel wichtiger war jetzt, dass sie eine Kundin hatten.

Diese war nicht amüsiert. »Hast du mir überhaupt zugehört?«

Fionagh räusperte sich ausgiebig und raschelte mit höchstmöglicher Wichtigkeit und Professionalität mit den wild durcheinanderfliegenden Papieren auf ihrem Schreibtisch herum. Weshalb sie das Gefühl hatte, dass dies ihr den Anschein verlieh, sich hochmotiviert auf den Fall stürzen zu wollen, wusste sie nicht genau … aber es war eine große, dicke Lüge. Sie war noch nie weniger begeistert gewesen, sich an die Arbeit zu machen, und das aus gutem Grund.

»Ja. Ja, ich verstehe schon. Alles notiert, siehst du? Hier. Stephanie Konstantopoulus’ Küchenmaschine ausgerissen. Wir werden uns darum kümmern.«

Stephanie Konstantopoulus kniff die türkisfarben umrandeten Augen zusammen.

»Sie ist nicht ausgerissen«, zischte sie mit düsterer Miene, wobei sich eine Strähne ihrer kompliziert verschlungenen Hochsteckfrisur aufrichtete und Fionagh misstrauisch anstarrte. »Ich sagte dir bereits, Fanshawe, sie ist auf mich programmiert. Sie gehorcht nur meiner Stimme. Eine elektromagnetische Sperre hindert sie daran, sich ohne meinen direkten Befehl vom Fleck zu rühren. Es handelt sich um einen ausgeklügelten Diebstahl! Jemand will wohl meine neue sieben mal sieben-Funktion ausspionieren. Hah! Maschinell verarbeitetes Mehl war noch nie fluffiger.«

Dazu wollte Fionagh nichts weiter sagen. Sie nahm behutsam Kaffeetasse Nummer acht vom Fensterbrett hinter dem Tisch und stand auf, das Gesicht dem strahlend gold-blauen Himmel zugewandt. Der Grund für das unangenehme Schweigen war eine noch viel unangenehmere Erinnerung, in der Stephanie Konstantopoulus’ lunarbetriebener Allzweckschäler die Hauptrolle spielte. Vor etwa zwei Monaten hatte er mit Bravour bewiesen, dass er durchaus auch dazu in der Lage war, Haut zu schälen. Menschliche Haut. Von den Wangen argloser Passanten. Es war ein peinlicher Vorfall gewesen.

Fionagh nippte an ihrem Kaffee und verzog leicht das Gesicht, obwohl es eigentlich ein sehr schmackhafter Kaffee war – mit schön viel schaumiger Schlagsahne. Sie hätte beim Trinken allerdings viel lieber in netteren Erinnerungen geschwelgt.

Stephanie Konstantopoulus schien ihre Gedanken zu erraten, denn inzwischen stand ihr gesamtes Haar zu Berge und funkelte Fionagh finster an. Ein grauenvoller Anblick.

»Geht es etwa immer noch um diesen dämlichen Schäler?«, schnappte sie. Fionagh hatte große Lust, sie daran zu erinnern, dass der dämliche Schäler ihr die miesesten Schlagzeilen seit der Sache mit Elf-Zehen-Jim eingebracht hatte, aber sie tat es nicht, da sie sich im Allgemeinen für höflich hielt.

»Er ist auf der Hauptstraße Amok gelaufen«, erinnerte sie die Kundin taktvoll.

Stephanie Konstantopoulus verschränkte trotzig die Arme und starrte an die Decke, die dunkelblau geschuppten Lippen zu einem Schmollmund verzogen. »Wir sind heute aber wieder empfindlich, was? Kein Grund, überzureagieren. Es war nur ein kleiner, harmloser Schäler.«

»Von dem du mir versprochen hast, dass er bloß auf meinen Befehl hin anspringen würde.«

»Du hast ›schneiden‹ gesagt!«

»Ich sagte ›kleiden‹, im Sinne von: Nächstes Mal müssen wir uns aber wirklich verkleiden, Mirembe, sonst kommt der Typ, den wir hier schon seit vier Stunden verfolgen, uns am Ende noch auf die Schliche – er guckt schon so komisch! Warte mal, was wackelt denn da in meiner Tasche? Aaarrghhh!«

Die Dame im Sessel jenseits des Schreibtisches legte einen spektakulären vierfachen Augenverdreher hin. Ihr Haar tat es ihr dutzendfach nach. »Jaja – woraufhin der Schäler dir aus der Tasche sprang, neun Passanten tätlich angriff, der Verdächtige im anschließenden Chaos entkam und du froh warst, eine Risikoversicherung mit einer Extraklausel für magisch-technische Unfälle abgeschlossen zu haben. Ich kenne die Geschichte. Allerdings habe ich dich auch vorgewarnt, dass der Schäler noch nicht ganz ausgereift war. Die Stimmfunktion inbegriffen. Konnte ja nicht wissen, dass du ihn bei der Arbeit mit dir herumträgst, so was von leichtsinnig. Ich hatte dich gewarnt, dass du vorsichtig mit ihm sein sollst. Du hast gewusst, dass er auf ›Kampfgemüse‹ programmiert war. Das tendiert dazu, sich zu wehren. So ein Schäler muss sich gegen eine Horde Schwertpastinaken eben durchsetzen können!«

Dieser verdammte Schäler. Seit Monaten stritten sie sich jetzt schon wegen der blöden Geschichte, aber Fionagh wollte einfach nicht verstehen, wozu ein Gemüseschäler eine eingebaute Killerfunktion brauchte. Natürlich war ihr bewusst, dass sie die Sache auch einfach auf sich hätte beruhen lassen können – aber sich über den Schäler zu streiten, bedeutete immerhin, sich nicht sofort auf die Suche nach Stephanie Konstantopoulus’ Küchenmaschine begeben zu müssen.

»Vielleicht ist die Maschine ja ebenfallsnicht ganz ausgereift«, begann sie und biss sich sofort auf die Zunge. Es gab Dinge, die man schon bereute, bevor man sie überhaupt ausgesprochen hatte. Dies war der König aller Fehltritte, oder zumindest ein äußerst hochrangiger Fürst. Stephanie Konstantopoulus holte tief Luft. Dann holte sie noch tiefer Luft. Dann brüllte sie ohrenbetäubend drauflos und übertönte für ein paar Sekunden sogar das rastlose Sirren des Todes.

»Diese Küchenmaschine ist das Projekt meines Lebens!«, zeterte sie aufgebracht, die schwimmflossigen Hände wild in der Luft herumfuchtelnd. »Wie kannst du es wagen, Fanshawe! Monatelang habe ich an ihr herumgetüftelt!«

»Klirr«, kommentierte Mirembe das Geschehen fröhlich von ihrem Platz im Korbsessel aus. Fionagh starrte betroffen auf die achte Kaffeetasse des Tages, die nun in Scherben zu ihren Füßen lag. Stephanie Konstantopoulus räusperte sich verlegen.

»Oh«, machte sie. »Das tut mir jetzt aber leid. Ich konnte ja nicht wissen, dass du heute einen deiner Tagehast.«

»Nicht schlimm!« Das war natürlich Mirembe. Fionagh hätte es niemals »nicht schlimm« gefunden, dass sie schon wieder mit Tassen um sich warf. Es war nicht professionell. Nach all den Jahren hätte man erwarten können, dass sie sich inzwischen ein bisschen besser im Griff hatte, aber ihre Nerven vibrierten und sangen wie falsch gespannte Geigensaiten aus gedrehtem Katzendarm. Sie stand untätig (und panisch von einem Bein auf das andere tretend) herum, während Mirembe sich das krause Haar aus dem dunklen Gesicht strich, leichtfüßig aus dem Sessel sprang und zu ihr hinüberschlenderte. Zeit für ihre große Show. Fionagh ließ sich resigniert seufzend auf das Fensterbrett sinken und sah zu. Hexen gaben immer so furchtbar gernean.

»Na, dann wollen wir doch mal sehen«, sagte ihre Mitarbeiterin fachmännisch, während sie sich hinabbeugte und die Kaffeepfütze einen Moment lang mit höflichem Interesse musterte. Dann, vor den Augen der peinlich berührten Kundin, erhoben sich die Scherben in die Höhe und setzten sich fein säuberlich zusammen. Einen Augenblick später folgte ihnen der Kaffee, löste sich Tropfen für Tropfen vom Boden ab und formte in Ellenbogenhöhe einen dunklen, sahnedurchsetzten Ball. Wie ein kleiner schwarzer Planet drehte er sich behäbig um die eigene Achse.

»Den kann man noch trinken«, behauptete Mirembe kühn. Es war eine Diskussion, die sie inzwischen an die hundert Mal geführt hatten, und sie folgte immer dem gleichen Muster.

»Er war auf dem Boden«, entgegnete Fionagh pflichtbewusst.

Mirembe seufzte ganz nach Drehbuch. »Na schön.« Sie legte die Stirn in Falten, dachte einen Moment angestrengt nach, und im nächsten Augenblick verdichteten sich – nur ein paar Fingerbreit unterhalb des Kaffeeplaneten – eine Handvoll Schmutzpartikel, ein paar Chipskrümel und einige Staubflusen. Die Hexe strahlte. »Jetzt ist er wieder sauber.«

»Den trinke ich nicht! Der war auf dem Boden.«

»Also gut. Wie du willst. Dann trinke ich ihn eben fürdich.«

Vorsichtig senkte sich der Kaffeeball in die auf wundersame Weise geheilte Tasse, die Mirembe fröhlich aus der Luft pflückte und sie an ihre Lippen hob. Der Staub entsorgte sich ganz von allein in Fionaghs Papierkorb. Stephanie Konstantopoulus starrte.

»Ich muss jetzt zurück nach Hause«, räusperte sie sich nach einem Moment der unangenehmen Stille. »Sagt mir Bescheid, wenn es Neuigkeiten von meiner Maschine gibt. Ich vertraue auf euch. Ihr wisst ja: Ingwergeruch lockt sie an. Vorsicht mit Ofenhandschuhen. Und tragt auf keinen Fall grüne Gürtel. Ihr meldet euch, ja?«

»Machen wir«, beruhigte Mirembe sie kaffeeschlürfend. »Und jetzt ist es wahrscheinlich besser, wenn du gehst, bevor

Fionagh noch den Rest unseres Porzellangeschirrs zusammenschlägt.«

Fionagh, der ehrlich gesagt wirklich ein wenig danach zumute war, etwas (oder vielleicht sogar jemanden) zusammenzuschlagen, verabschiedete sich steif und wartete darauf, dass sich die Tür hinter Stephanie Konstantopoulus’ in blaue Seide gekleidetem Rücken schloss. Jetzt würde Mirembe gleich sagen –

»Mann, sieht die vielleicht gutaus!«

Fionagh musste gegen ihren Willen lächeln. In Mirembes Augen sahen die meisten Lebewesen gut aus. Es war ganz praktisch, eine Expertin in Sachen Ästhetik zur besten Freundin zu haben, denn Fionagh selbst konnte meistens nicht zufriedenstellend erkennen, ob jemand als schön galt oder nicht. Die Maßstäbe waren verwirrend, zumal sie sich von Spezies zu Spezies unterschieden. War es nun gut oder schlecht, wenn man Unmengen an schwefelgelbem Schleim produzierte? Niemand schien es so recht zu wissen.

»Jetzt mal ehrlich, Fionagh, ist sie nicht umwerfend?«

»Sie hat Eidechsen als Haare«, merkte Fionagh mit einem leisen Hüstelnan.

»Wunderschöne, golden glänzende Eidechsen!«

»Aber dennoch Eidechsen.«

»Ach, Schlangen sind doch überbewertet. Es kann eben nicht jeder eine Medusa sein. Ein Haupt voller Schlangen? Das sind unrealistische Schönheitsstandards, denen man sich nicht unterwerfen sollte. Ich mag die Eidechsen.«

Fionagh beobachtete kopfschüttelnd, wie Mirembe sich die (halbherzig hingekrakelten) Notizen vom Tisch nahm und es sich neben ihr auf dem Fensterbrett bequem machte. Es war breit genug, um an regnerischen Tagen als Sofa zu dienen, und gerade unbequem genug, dass man nicht darauf einschlief.

»Du kennst die Regel«, beharrte sie streng.

»Jaja.« Mirembe winkte unbeeindruckt mit einer Handvoll Zettelab.

»Wie lautet die Regel?«

»Keine Dates mit Kunden. Schon klar.« Für einen Moment herrschte Stille. »Aber trotzdem.« Fionagh musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass Mirembe grinste. Sie hörte es allein am unanständigen Tonfall. »Ich muss ja nicht gleich bei ihr einziehen. Ich kann sie ja auch einfach mal auf einen Nebelwhiskey einladen.«

»Sie hat Eidechsenhaare!«

»Du kennst doch das Sprichwort: Lieber Eidechsen auf dem Kopf als eine frustrierte Mitarbeiterin in der Detektei, die niemals ihren Spaß haben darf und deswegen alle Aufträge durcheinanderbringt.«

Ehrlich gesagt kannte Fionagh das Sprichwort nicht, aber sie wollte sich auch gar keine Gedanken darüber machen. Die letzten Wochen waren zäh und anstrengend gewesen, und zwar nicht deswegen, weil Mirembe nicht genug Zeit damit verbringen durfte, das Aussehen irgendwelcher Leute zu bewundern. So langsam hegte sie den Verdacht, dass es viel eher damit zusammenhing, dass eine Privatdetektei nur in den ersten Monaten eine übermäßig spannende Sache war. Vielleicht hatten Privatdetekteien das so an sich. Eine Privatdetektei hatte wie eine ausgezeichnete Idee geklungen, als sie noch keine Privatdetektei gehabt hatte. Inzwischen klang es nach Papierkram und Gaunern mit Schweißflecken unter den Armen. Und dazu kam noch die Tatsache, dass ständig jemand von den Behörden hereingeschneit kam, weil manche ihrer Methoden nicht hundertprozentig legal waren – oder manche ihrer Kunden. Oder auch manche ihrer Fälle. Man hätte sie vorwarnen können, was für ein Haufen Arbeit es war, sich selbstständig zu machen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen.

»Ich kann es kaum erwarten, mir diesen Toaster zu schnappen«, murmelte Mirembe gedankenverloren. Es war, als hätte sie bemerkt, dass Fionagh dringend eine Aufmunterung nötig hatte: Es gab keine bessere Motivation als die Aussicht, einen entlaufenen Roboter mit Rachegelüsten und Brotmesserarmen einfangen zu dürfen.

»Es ist eine Küchenmaschine. Mit einem Toaster hätte ich ein viel kleineres Problem«, schnappte sie. Große Materie, sie war heute wirklich viel zu gereizt. Aber was wollte man erwarten, wenn einem das Verderben im Ohr saß und hartnäckig zuflüsterte, dass der Untergang nahte? Möglicherweise würde ein kleiner Snack zur allgemeinen Beruhigung beitragen. Essen half immer. »Ich brauche was zu futtern. Soll ich dir was mitbringen, wenn ich eh schon in der Küchebin?«

Mirembe hob den Kopf. Über ihr Gesicht ging ein Strahlen wie von einer arktischen Mitternachtssonne in einem sternenklaren Himmel. Na also: Essen half immer. »Jeden Tag, o Botin des Todes und der Kartoffelfäule, bin ich dankbar, dass wir uns kennengelernt haben.«

Selbst in der Küche hingen Mirembes Worte immer noch hartnäckig in der Luft. Die Finger knöcheltief im Essiggurkenglas vergraben, richtete Fionagh den Blick auf die Gebäude von Avanis, die sich wie endlose, bunt schillernde Schneckenhäuser gen Himmel schraubten, und dachte darüber nach, wie ihr die Hexe zum ersten Mal begegnetwar.

Es war langeher.

Nach dem Essen trug Brutus, der Firmenzentaur, drei benutzte Teller zurück in die Küche und stapelte sie fein säuberlich in der Spüle auf. Sein langes braunes Haupthaar fiel ihm glänzend über die nackten Schultern, und als er den Abwasch machte, spielten die Muskeln unter seiner bronzefarbenen Haut wie aneinandergebundene kleine Fässer. Außerdem summte er ein Lied aus der Werbung, in dem es um krankhafte Verstopfung ging. Leider kam es auf Dauer recht kostspielig, einen tonnenschweren Pferdemenschen mit dem Appetit eines Mähdreschers und dem verwöhnten Gaumen einer Hauskatze durchzufüttern, aber ein hauseigener Zentaur machte durchaus etwas her. Sein beeindruckendes Aussehen (dunkle, stechende Augen, bloßer Oberkörper und ein Gürtel mit gefühlt mehr Dolchen und Krummsäbeln, als jemals geschmiedet worden waren) wurde nur geringfügig von der Tatsache geschmälert, dass Fionagh ihn innerhalb der Detektei dazu zwang, handgestrickte Wollschoner über den Hufen zu tragen. Das Parkett hatte sie erst vor drei Jahren neu legen lassen und Hufeisenabdrücke waren sehr undekorativ. Dafür eignete Brutus sich aber für viele unheimlich nützliche Dinge: Er verscheuchte lästige Kunden, kannte sich bestens mit Buchhaltung aus und man musste sich nie ein Taxi nehmen, wenn man mit ihm unterwegs war. Allerdings behauptete er hartnäckig, dass ihm von Straßenarbeit übel wurde. Wozu er all die Waffen mit sich herumtrug, konnte Fionagh beim besten Willen nicht sagen, da er sowieso von morgens bis abends nur im Büro versauerte … aber einmal hatte sie ihn dabei erwischt, wie er einen frisch geschliffenen Säbel als Brieföffner benutzt hatte. Na ja, irgendwer musste sich ja um die vielen Rechnungen kümmern. Warum nicht ein furchtloser Steppenkrieger, dem beim Anblick von Blut und blauen Flecken schwarz vor Augen wurde? Fionagh sah ihm dabei zu, wie er die Teller einschäumte, rieb ihre schmerzenden Schläfen und versuchte sich in einem plötzlichen Anflug von Hoffnung wieder auf den Papierkram zu konzentrieren. Aber es half nichts. Der Tag verging wie zäher, heißer Teer, der eine flimmernde Straße entlangkroch. Wie immer gab es viel zu viel zu tun, wobei eine launische Spielerei der Realität es irgendwie schaffte, dass es zugleich viel zu wenig zu tun gab. Bis zu dem exakten Moment, in dem das ganze Schlamassel endlich seinen Anfang nahm, denn diesem Moment begann die Geschichte, wie so viele Geschichten vorihr.

Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit, als der Besucher in die Detektei kam. Fionagh und Mirembe steckten bis zum Haaransatz in Personalakten, die es schon vor Tagen zu bearbeiten gegolten hätte. Draußen vor dem Fenster ging langsam, mit der Besinnlichkeit einer alten Dame auf einem Zebrastreifen, die kleine Sonne unter, und die große folgte ihr wenige Minuten später nach. Der Himmel überzog sich mit jenem lilafarbenen Schleier, welcher der Nacht vorauseilte. Einige der zahmen Sumpflichter, die im Miniaturmoor in der Badewanne hausten, flackerten grünlich leuchtend ein paar Handbreit über dem Schreibtisch auf. Was auch immer hinter dem leeren Bilderrahmen neben der Tür lebte, fing an, ein kehliges Klicken und Schnurren von sich zu geben. Die kompliziert verknoteten Tentakel der Hausschlingpflanze wanden sich schläfrig an der Decke entlang. Tom, der Haushaltstroll, schlurfte lustlos grummelnd in der Küche herum und riss sich ihre Eierbecher unter den Nagel. Brutus hatte sich bereits vor einer halben Stunde (elegant über den Fußboden schlitternd und seine Hufschoner verlierend) verabschiedet und ihnen eine kleine, freundliche Notiz am Kühlschrank hinterlassen, dass sie schon wieder mit der Miete im Rückstand waren und er, ungeachtet der roten Zahlen, so langsam dringend eine Gehaltserhöhung verdient hätte. Allmähnlich wurden Fionaghs Augenlider schwer, das anstrengende Singen ihrer Nerven flaute unmerklichab …

… Die Tür schwang auf und schlug mit einem lauten Krachen gegen die Wand. Die Sumpflichter zischten wie undichte Luftballons ziellos durch das Zimmer und vergingen mit einem leisen Puffen. Der Raum versank in Dunkelheit. Erst als Fionaghs Augen sich an die Schatten gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass der Bleistift in ihrer Hand vor Schreck zu Staub zerfallenwar.

Und dann fiel ihr Blick auf den Fremden, der reglos in der Tür stand. Seine Silhouette wurde dramatisch vom golden blinkenden Licht des Notausgangs auf der anderen Seite des Korridors umspielt. Nach einem Moment des Zögerns steckte er einen klobigen Gegenstand unter seine Weste, der verdächtig nach einer gewaltigen Pistole aussah. Und dann, als er sich vollkommen sicher war, dass sie angemessen beeindruckt dreinschauten, trat er ins Zimmer.

»Starker Auftritt«, kommentierte Mirembe hoheitsvoll, während Fionagh mit zittriger Hand den Papierstapel auflas, den sie vom Tisch gefegt hatte. Der Fremde schien der Detektei nicht zu trauen. Er stopfte sich die Hände in die Hosentaschen und warf eine Handvoll skeptischer Blicke auf seine Umgebung, als sei sie solcherlei Almosen gar nicht wert – die abblätternden Wände, die die Bezeichnung »eierschalenfarben« nicht wirklich verdienten, die paar strategisch über Wasser- und Plasmaflecken platzierten Bilder an der Wand, die knautschigen Sitzsäcke, aus denen die Füllung quoll, weil in ihrem Inneren seit Generationen eine Horde Mühlmäuse hauste, das Aquarium mit den vegetarischen Egelschnecken und letztendlich die Vorhänge, die sich ganz von allein zu bewegen schienen und ein zorniges Wispern von sich gaben. Fionagh knipste die Leselampe auf dem Tisch an und wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan. Im plötzlichen Licht warf das Chaos hässliche Schatten, die leider nur hervorhoben anstatt zu kaschieren. An manchen Tagen war sogar ihre eigene Lampe gegen sie! Dem Gesicht des Besuchers hingegen schmeichelte das Licht: fransiges blondes Haar, spöttische Augen, obligatorische Hakennase, und als er grinste, blitzte ein Goldzahn auf. In Fionaghs Magen krampfte sich so einiges zusammen, von dem sie an guten Tagen gar nicht wusste, dass es existierte – der Mann gab sich äußerste Mühe, verwegen und draufgängerisch auszusehen. Und er hielt sich für etwas Besseres. Nichts davon konnte etwas Gutes bedeuten.

»Setzen Sie sich doch«, lud sie ihn mit einer eisklirrenden Stimme ein, die hoffentlich klarmachte, dass es ein ausgesprochen gefährlicher Zeitpunkt war, ihre Detektei zu kritisieren. Der Fremde hatte Talent. Er sah sich genau eine weitere Millisekunde zu lang um, bevor er lederknirschend nähertrat und sich lässig in den Korbsessel vor dem Schreibtisch sinken ließ. In einem Anflug von Gehässigkeit hoffte Fionagh, dass es der mit dem abstehenden Ästchen war, das einem beim Hinsetzen in den Hintern pikte.

»Danke«, erwiderte er mit genau dem richtigen Fünkchen Sarkasmus in der Stimme. Seine Worte klangen nach Rauch. »Ich hoffe, ich störe nicht – so spätabends.«

Eine kleine Anmerkung: Später würde Fionagh aufgehen, dass das ganze Schlamassel in genau dem Moment seinen Lauf genommen hatte, in dem sie ihm erlaubte zu sprechen. Sie hätte ihn gleich wieder rausschmeißen müssen. Stattdessen lehnte sie sich vor, verfing sich im Klang seiner Stimme und musterte ihn mit geblähten Nasenflügeln. Yep, eindeutig Mensch. Das sagte ihr schon der Geruch – Schweiß, Sonnenlicht, Tabak, Seife, Haut, Pfefferminztee. Ihre Schleimhäute flehten sie inständig an, den Kopf zur Seite zu drehen, aber ihr Gehirn beharrte darauf, dass man den Fremden keine Sekunde lang aus den Augen lassen durfte. Der Mann zog sich den abgewetzten Cowboyhut ins Gesicht und lehnte sich entspannt zurück. Vermutlich nahm er an, dass ihm die Geste eine Art beiläufige Coolness verlieh.

»Sie sind doch die, nach der ich suche, nicht wahr?«, murmelte er. »Ich muss sagen, ich hab es mir hier um einiges weniger runtergekommen vorgestellt. Detektei … lass mal sehen …« Als er die Hand in die Hosentasche steckte und ein paar lange Momente wortlos darin herumkramte, fiel Fionagh auf, dass er fingerlose Handschuhe trug. Und von der speckigsten, abgegriffensten Sorte – genau wie der Zettel, den er hervorzog und vage interessiert musterte. »Da hab ich euch ja. Detektei Fionack …«

Eine kleine Brezel mit Honig-Senf-Geschmack prallte an seinem Hut ab und plumpste ihm auf die Schulter.

»Das gh am Ende ist stimmlos. Fionaaah, nicht Fionack«, informierte ihn Mirembe vom Fensterbrett aus liebenswürdig und drohte mit erneutem Beschuss durch Salzgebäck.

Der Fremde pflückte sich die Brezel von der Schulter und steckte sie sich in den Mund. »Alles klar, Detektei … Fionagh und Mi… meine Güte, was habt ihr denn für Namen? Mir…«

Fionagh angelte sich eine der Knabbereien aus der Schüssel in Mirembes Schoß und schnippte sie gekonnt auf die abgewetzte Hutkrempe. Es machte erstaunlich großen Spaß. »Das -embe am Ende spricht manaus.«

»Ihr seid mir vielleicht gut gelaunt«, nuschelte der Mann durch eine Mundvoll Krümel hindurch. »Hmm, lecker, Honig-Senf. Meine Lieblingssorte. Und schmecke ich da einen Hauch von Dill? Na ja, was soll’s. Ich taufe euch einfach Mi und Fio. Nennt michCarl.«

»Oho«, tönte Mirembe, »Carl. Das ist aber auch ein komplizierter Name. Bist du dir sicher, dass du ihn richtig aussprichst? Das R in der Mitte könnte stimmlos sein. Vielleicht nennen wir dich zur Vorsicht doch lieberCa.«

Und dann fingen die beiden an zu zanken wie kleine Kinder. Es geschah ohne jede Vorwarnung, wie es mit den Menschen oftmals war, und schien immer nur noch schlimmer zu werden. Gerade so, als ob jemand einen Hüpfball in eine internationale Tagung von Mausefallen geworfen hätte: auf allen Seiten schnappte und eskalierte es. Fionaghs Nerven jodelten im Takt dazu und machten das Chaos komplett.

»Gebt ihr jetzt endlich mal Ruhe!«, murrte sie schließlich und verletzte sich bösartig die Hand, als sie auf die Tischkante schlug. »Was denken Sie eigentlich, wer Sie sind? Sie kommen nach Einbruch der Dunkelheit mit gezogener Waffe ins Haus gestürmt? Gut, von mir aus! Sie haben noch nie von Klopfen gehört? Auch schön! Sie fläzen sich wie eine verendende Qualle in meinen Sessel? Wunderbar. Sie essen meine Brezeln? Ausgezeichnet! Aber zeigen Sie wenigstens ein bisschen Anstand und sprechen Sie unsere Namen vollständig aus, sie sind immerhin keine zehnseitige Abhandlung über das komplizierte Rechtssystem nach den Richtlinien von Q’Arggah’tah-Mui-Aq’rahlta. Man sollte eigentlich meinen, dass sogar ein Exzentriker in Stulpenstiefeln zumindest einen leichenblassen Schimmer von guten Umgangsformenhat!«

»Das ist übrigens der Grund, warum wir so wenige Aufträge bekommen«, sagte Mirembe fröhlich in die peinlich berührte Stille hinein. Wenig hilfreich, aber leider zutreffend. Auf den sturmumtosten Schwingen ihres Ärgers dahingleitend, beugte Fionagh sich vor und ließ ihr bedrohlichstes Zornfunkeln sehen. Die Schatten in den Ecken des Zimmers wuchsen an, die Vorhänge flatterten heftiger. Es hatte seine Vorteile, eine Banshee zu sein. »Jetzt setzen Sie sich gerade hin! Waffe auf den Tisch, sofort. Und dann sagen Sie uns, was Sie wollen, oder Sie verschwinden wieder, wir haben nämlich noch zutun.«

»Zu ihrer Verteidigung, sie hat heute einen schlechten Tag. Ihr ist sechs Mal die Kaffeetasse runtergefallen.«

Halt die Klappe, Mirembe.

Der Cowboy starrte, wobei Fionagh ganz und gar nicht entging, dass ein kleines Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte. Schließlich, mit grenzenloser Überwindung, zog er eine unheilvoll anmutende Laserkanone unter der wettergegerbten Jacke hervor und legte sie behutsam auf den Tisch. Fionagh funkelte weiterhin. Mit einem tiefen Seufzen richtete er sich auf, drückte das Kreuz durch und faltete brav die Hände auf der Tischplatte zusammen. Es war ihr ein nachsichtiges Lächeln wert. So mochte sie ihre Kunden: rückgratlos und gehorsam.

»Na also! Sie haben die Erlaubnis, uns zu erklären, was Sie hergetrieben hat. Wir sind auf Diebstähle, magische sowie nichtmagische Verwicklungen, Entführungen und Erpressungen der Stufe A bis F spezialisiert.«

Der Goldzahn blitzte auf. »Da fragt man sich doch, ob ihr all diese netten Verbrechen verursachtoder bekämpft. Eure Bekannten scheinen sich in der Hinsicht nicht ganz sicher zusein.«

»Das ist reiner Rufmord. Glauben Sie kein Wort von dem, was in den Zeitungen steht.«

»Aber niemals. Zuerst ein paar kleine Fragen, der Form halber. Ich schätze mal, ich bin hier richtig bei der Detektei Fio undMi.«

»Falls Sie damit Fionagh und Mirembe meinen«, murrte Fionagh, »wie es auch ganz groß draußen auf dem Schild steht, genau wie auf der Klingel, genau wie auf all unseren Werbeanzeigen, genau wie vorne an meinem Schreibtisch, genau wie auf der kleinen Plakette hier an meinem Oberteil – dann ja, Sie sind richtig.«

»Ah, ich erkenne eine leise Andeutung von Genervtheit in Ihrer Stimme – ist sie immerso?«

Mirembe zuckte mit den Schultern. »Sie hat Todesahnungen. Da ist so was normal.«

»Ah. Abrupter Themenwechsel: Reden wir von Vertrauen.« Der Cowboy warf einen vielsagenden Blick auf die Waffe auf dem Tisch. »Bei euren Ermittlungen müsst ihr euch uneingeschränkt aufeinander verlassen können, nehme ichan?«

Fionagh nickte steif. »Absolut. Und das tun wirauch.«

»Wie lange arbeitet ihr schon zusammen?«

Zum ersten Mal kam Fionagh ins Stocken. Fragte sie ihr Zeitgefühl, dann behauptete es stocksteif, dass inzwischen acht Jahre vergangen waren – aber leider war auf ihr Zeitgefühl nicht immer Verlass. Fragend drehte sie sich zu Mirembe um, die wissend grinste. Sie liebte Fionaghs Zeitgefühl, weil es ihr ermöglichte, solche überaus amüsante Dinge zu sagen wie: Kommt es dir nicht auch erst wie gestern vor, dass ich mich zuletzt über deine miese Erinnerung lustig gemacht habe? Ach nein, warte mal. Das war vor fünf Minuten.

»Seit acht Jahren«, raunte die Hexe vertraulich.

Acht Jahre. Also doch. Ja, Fionagh erinnerte sich an den Tag in der Bar, an dem ihr Leben in Scherben unter den Füßen einer undankbaren Bande Kobolde gelegen und sich eine Frau mit schwarzen Augen ganz unerwartet zu ihr gesetzt hatte …

»Acht Jahre schon, hm?«, unterbrach Carl ihre nostalgischen Gedankengänge, die Hand schon wieder an der Hutkrempe. »Respektabel. Also keinerlei Grund, einander zu misstrauen.«

»Keinen«, bestätigte Fionagh mit grimmigem Stolz.

»Aber klar doch, jede Menge«, sagte Mirembe und grinste. »Ich mache natürlich nur Witze.«

»Ihr würdet füreinander einstehen, wenn es hart auf hart kommt – selbst wenn es um Leben und Tod geht, würdet ihr immer noch zusammenhalten?«

»Aber immer«, sagte Mirembe.

»Ach was, niemals«, widersprach Fionagh. »Ich mache natürlich nur Witze. Wieso beantworten wir Ihre Fragen eigentlich? Sie sind nicht unser Paartherapeut.«

»Die Sache ist die, Fio.« Der Cowboy legte zum ersten Mal den Hut ab, was Fionagh angesichts seiner Besessenheit von dem Ding beinahe wie ein feierlicher Akt vorkam. Das schummrige Licht zeichnete sein Profil sanft in die Schatten. Aha. Also war er groß, blond, braun gebrannt und er trug eine lange Narbe mitten im Gesicht, die seine Augenbraue spaltete und sich schräg über den Wangenknochen zog. Außerdem trug er einen Stoppelbart. War es nicht merkwürdig, wie viel Trost die Menschen in ihren Klischees fanden? Man musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass er ganz bestimmt nicht wegen einer Einladung zum Kaffeekränzchen mit anschließendem Steppdeckenhäkeln aufgetauchtwar.

»Die Sache ist die – ich suche ein paar Leute, die mich auf eine Art Mission begleiten. Die besten, die ich kriegen kann. Ich war auf der Durchreise, also dachte ich, ich höre mich ein bisschen um. Ein Typ namens Bunny hat mich zu euch geschickt.«

Mirembe rutschte vom Fensterbrett und quetschte sich neben Fionagh auf die Stuhlkante, ungeachtet aller Proteste. »Was denn für ein Bunny? War das so eine dunkle, wabernde Kugel von Antimaterie, die bei jeder Bewegung die Luft zum Zittern brachte und ein leises, kontinuierliches Schnarchen auszustoßen schien?«

»Kommthin.«

»Dann sprichst du von Banni. Es, nicht er. Heißt so, weil es offiziell von achtzehn Planeten der nördlichen Galaxis verbannt wurde, und dieser hier folgt bald nach, wenn es weiterhin Leuten wie dir von unserer Detektei erzählt.«

»Ach, ich wäre nicht so streng mit ihm. Es hat mir nur gesagt, dass ich hier zwei skrupellose Langfinger finden würde.«

Mirembe prustete lautstark los. »Hast du … warte mal! Bist du etwa in die Unterwelt marschiert und hast gefragt: Hey, Leute, wisst ihr zufällig, wo ich zwei skrupellose Langfinger finde?«

»Ich glaube, ich war ein bisschen subtiler – aber ja, so in etwa«, schulterzuckte Carl gelassen, während Mirembe ihn fröhlich auslachte.

»Banni ist unser Informant«, bestätigte Fionagh ihn mit einem mitleidigen Lächeln. Menschen. Sie konnten so schwer von Begriff sein. »Es hört sich für uns in den etwas zwielichtigeren Kreisen um und schickt Kleinverbrecher mit falschen Versprechen in unser Büro  – manchmal wollen wir tatsächlich mit ihnen zusammenarbeiten, aber meistens geht es darum, sie mit möglichst wenig Arbeitsaufwand hochzunehmen. Natürlich«, setzte sie vielsagend hinzu, »funktioniert das nur bei den zerebral sehr Beschränkten.«

Der Cowboy schaute vage enttäuscht drein. Selbst seine Narbe schien zu schmollen. »Ich hatte gehofft, das ganze Detektiv-Gedöns wäre nur Tarnung.«

»Falsch gedacht. Wir sind echt. Aber andererseits«, Fionagh wollte sich hoheitsvoll zurücklehnen und rutschte fast vom Stuhl, weil Mirembe inzwischen mehr als die Hälfte der Sitzfläche für sich beanspruchte, »sind wir selbstverständlich auch skrupellose Langfinger. Das muss man sein in unserem Geschäft. Also, was wollen Sie von uns? Wozu brauchen Sie unsere Hilfe? Sie sind kein gewöhnlicher Dieb, der hinter einem langweiligen Einbruch herist.«

»Achnein?«

»Nein.« Mirembe schüttelte den Kopf. »Das sieht man auf den ersten Blick. Du bist kein Dieb, du bist ein Kopfgeldjäger. Und jetzt frag bitte bloß nicht so was wie ›Woher wollt ihr das wissen?‹. Große Knarre, große Sprüche, Lederjacke und ein Cowboyhut. Brauchst du sonst noch Beweise?«

»Na schön, ihr habt mich erwischt.« Carl lehnte sich nach vorn, bis das Licht sich glitzernd in seinen Augen brach, und warf seinen sonnengebleichten Hut auf den Schreibtisch. »Kopfgeldjäger. Korrekt. Aber einer mit einem unwiderstehlichen Angebot.« Er senkte die Stimme zu einem Raunen wie von einem Moospolster unter einer dunklen Tanne. Gegen ihren Willen spitzte Fionagh die Ohren. »Ich bin hier, um euch das Angebot eures Lebens zu machen.«

Normalerweise hätte es lächerlich geklungen, aber bei einem Typen mit einer Narbe schräg über dem Auge wirkten solcherlei Äußerungen seltsam glaubhaft. Das Sirren in Fionaghs Ohren wurde lauter.

»Und das Angebot lautet?«, fragte sie ärgerlich. Ihre Aggression rührte hauptsächlich daher, dass sie tatsächlich auf seine Antwort gespanntwar.

»Nun, was ihr wissen müsst, ist, dass ihr es auf keinen Fall abschlagen werdet – wenn ich mir eure Wohnung so anschaue. Da blättert ja überall der Putz ab. Wenn ihr mitmacht, werdet ihr reich. Reicher, als ihr es euch jemals vorstellen könnt. Wir reden hier von Bergen von Kohle – mehr als genug, um das ganze Haus von Grund auf zu renovieren und euch für den Rest eures Lebens auf die faule Haut zu legen. Falls ihr das wollt. Schlagt ihr ein, werdet ihr mächtige Freunde gewinnen, ewige Dankbarkeit und jede Menge Ruhm … in den richtigen Kreisen. Und nun kommt das Beste an der Sache: Es ist für einen guten Zweck.«

Mirembe war fasziniert verstummt und hibbelte aufgeregt auf der Stuhlkante herum, Fionagh hingegen konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Welch selbstloses Angebot! Und wo ist der Haken bei der Sache, wenn ich fragendarf?«

»Oh, ach ja.« Carl wuschelte sich nachdenklich durch das viel zu lange Haar. »Stimmt. Ihr werdet mit großer Wahrscheinlichkeit entweder draufgehen oder zumindest für den Rest eures Lebens entstellt sein. Es wird saugefährlich. Ihr werdet unter eurer eigenen Last zusammenbrechen und euch wünschen, ihr hättet euch nie auf die Sache eingelassen. Aber dafür wird es auch verdammt spaßig. Zeitweise.«

Er schnappte sich wahllos eine der auf dem Tisch verstreuten Akten und kritzelte ein paar Worte darauf, bevor Fionagh ihm das Papier aus der Hand reißen konnte. Eine Adresse.

»Wo soll das sein?«, fragte sie. »Außerhalb der Stadt?«

»Anderer Planet«, gähnte der Cowboy und lehnte sich zurück. »Ist gleich um die Ecke. Akanon-X6, auch bekannt als Senoba, Hort der toten Wespenkrieger. Wenn ihr Interesse habt, kreuzt dort in zwei Tagen auf. Wir treffen uns zur Mittagszeit, Anreise ganz einfach mit dem Shuttle-Bus. Mehr will ich euch fürs Erste nicht erzählen. Ich lasse euch stattdessen lieber eine Weile lang in eurer eigenen Neugierde garen.«

»Aha.«

»Wenn ihr nicht da seid, gehe ich davon aus, dass ihr kein Interesse habt. Bis jetzt gefallt ihr mir ja ganz gut, auch wenn ihr es mit dem Detektivzeug tatsächlich ernst zu meinen scheint. Abgesehen von Klauen und Rumschnüffeln, was könnt ihr eigentlich noch so? Fio, lass mich raten. Braun gebrannt wie ein Schneeball, Augenringe bis zum Bauchnabel, voluminös wie ein Gerippe, Furcht einflößendes Haar – du bist eine Todesfee, nichtwahr?«

»Ich bevorzuge den politisch korrekten Begriff Banshee«, gab Fionagh säuerlich zurück, die sich an so gut wie jeder einzelnen dieser Beschreibungen stieß.

»Eine Banshee also. Du kannst rumkreischen und Leute wegekeln, das klingt schon mal ganz praktisch. Was ist mit dir, Mi?«

Fionagh musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Mirembes Augen glitzerten. »Ich bin eineHexe.«

»Das heißt im Klartext?«

Der Sicherheitsriegel von Carls Pistole schob sich wie von Geisterhand zurück. Mühelos drehte sich die Waffe auf der Tischplatte um ihre eigene Achse, leere Tassen und Papiere zur Seite schiebend, und richtete die Mündung direkt auf Carls Brust. Mirembe klatschte in die Hände. »Ta-daaah!«

»Okay, nicht schlecht.« Der Kopfgeldjäger griff behutsam nach der Waffe und drückte sie von sich weg. Er machte plötzlich einen etwas käsigen Eindruck, offensichtlich überzeugt von den Fähigkeiten einer freiberuflichen Hexe. »Wie machst dudas?«

Der Riegel rutschte mit einem leisen Klicken zurück in seine Position. »Ich weiß, das wird jetzt ein echter Schock für dich sein, aber – Magie.«

»Ja, aber wie funktioniertes?«

»Kann dir doch egal sein.« Mirembe zuckte mit den Schultern. »Die Hauptsache ist, dass es funktioniert. Du siehst also: Fionagh kann rumkreischen und Leute wegekeln, ich kann Schlösser knacken, leblose Gegenstände beeinflussen und Leute auf meine ganz eigene Art vergraulen. Reicht dirdas?«

Für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde zögerte der Fremde. Dann nickte er und ließ ein scharfzähniges Grinsen erstrahlen. »Das reicht.« Hut auf. Jacke zu. Waffe in die Hand. »Ich sehe euch in zwei Tagen. Wenn ihr euch traut. Schönen Abend noch, Fio. Mach’s gut, Mi.«

»Tschüss, Ca.«

Er war ebenso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Erst nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wagten sich die Sumpflichter zurück ins Zimmer.

»Nein«, sagte Fionagh in die gespannte Stille hinein. »Kommt überhaupt nicht infrage.«

»Natürlich machen wir mit«, widersprach Mirembe begeistert, das Grinsen auf ihrem Gesicht so hell strahlend wie der Mond. »Und es wird wundervoll werden!«

»Auf keinenFall.«

»Jetzt tu doch nicht so. Du wirst darüber schlafen, und morgen früh wirst du aufwachen und deine Sachen packen, damit wir nach Akanon-X6 aufbrechen können. Das Abenteuer unseres Lebens einfach ausschlagen? Dafür kenne ich dich viel zu gut, Fionagh Fanshawe.«

»Schlag es dir aus dem Kopf«, grummelte Fionagh missmutig. Der Tod klopfte ihr fröhlich auf die Schulter, um ihr mitzuteilen, dass er sich bald an die Arbeit machen würde. Fionagh hatte genug. Genug von entflohenen Küchenmaschinen, verschreckten Sumpflichtern, abenteuerlustigen Hexen und Machos in Hüten, die ihr zwielichtige Angebote unterbreiteten. Morgen. Morgen würde sie sich darum kümmern, wenn sie wieder klar denken konnte – aber jetzt war es Zeit, die Dunkelheit ihre Wunder wirken zu lassen. Sie fühlte sich wie ein schwerer, fauler Stein, als sie sich die Wendeltreppe zum Schlafzimmer hochschleppte, entschlossen, ihre Sorgen in einer gesunden Dosis Schlaf zu ertränken. Für heute würde sie keinerlei weitere Gedanken an irgendetwas jenseits von fluffigen Federdecken verschwenden. Carl war ein gelangweilter Vagabund, der in der sumpfigsten Midlife-Crisis der Menschheitsgeschichte steckte. Wahrscheinlich hatte er ihnen nichts als Lügen aufgetischt, in der Hoffnung, dass sie ohnmächtig vor Ehrfurcht zu seinen Stiefelspitzen niederfielen. Kunden von der Sorte kannte sie zur Genüge. Sie würde sich schlichtweg weigern, ihn ernst zu nehmen. Das war wohl ohnehin das Beste.

Dennoch, als sie einige Minuten später zwischen den weichen Kissen lag und in die Schwärze starrte, während Mirembe es sich mit einem Buch in der Hängematte gemütlich machte (sie behauptete hartnäckig, dass Hexen im Dunkeln sehen konnten), fand Fionagh einfach keine Ruhe. Und als der Schlaf dann endlich doch über sie hereinbrach wie ein ausgehungertes Tier, brachte er ihr einen Traum von rabenschwarzen, blicklosen Augen und einem Grinsen, das die Nacht durchschnitt. Von weichen Federn in der Nacht.

Und so machte Fionagh Fanshawe sich auf die Jagd nach dem Raben, bevor sie es überhaupt wusste – an dem Tag, an dem die Geschichte begann.

2 - Mirembe

Hier muss eine Banshee dringend Prioritäten setzen, ein Mädchen ist ein Geist und leicht zu beleidigende menschliche Leser schauen auf Seite 35 besserweg.

Viele, viele Monate, bevor er der Bluthaarigen begegnen wird, ist der Himmel schwarz und ohne Sterne.

Corax zögert einen Moment, bevor er sanft gegen die kühle Glasscheibe drückt. Das Fenster kippt lautlos zur Seite, und mit ihm fällt das Straßenlicht, das sich silbern in seiner Oberfläche spiegelt. Ein schmaler Spalt breitet sich aus. Corax schlüpft geschmeidig hindurch und gleitet in die Stille der nächtlichen Wohnung.

Er hält inne, wie Diebe es immer tun, wenn sie sich zu siegessicher fühlen. Ist er wirklich ganz alleine? Kommt das leise Knacken nur von den Wänden, die im Dunkeln flüstern, oder ist es das Geräusch von Blicken in seinem Rücken – wie Blütenblätter, die säuselnd zu Boden fallen?

Nein. Niemand ist hier. Er weiß es, weil er im Schatten gewartet hat, bis die Mondscheintrinker einer nach dem anderen in die Nacht verschwunden sind. Im Morgengrauen werden sie zurückkehren, die Bäuche voller Licht, und bis dahin wird Corax längst wieder verschwundensein.

Das ist gutso.

Vorsichtig wagt er einen Schritt in die Dunkelheit. Er ist hergekommen, weil er weiß, dass ihn zwei Dinge erwarten: Stille einerseits, und Wände, die ihn für ein paar Stunden vor neugierigen Blicken schützen. Und dann ist da noch das Futter. Er kann es schon riechen. Corax folgt dem sich windenden Faden aus Duft, der wie eine federleichte Schlange in der Luft liegt und darauf wartet, dass er ihn mit gierigen Lippen aufsaugt. In einem Raum voller Schatten findet er es – Essen, gutes Essen, leckeres Essen! Es steht in Regalen und Schränken, verbirgt sich in einem Kasten, aus dem die Kälte strömt. Er zerreißt knisternde Hüllen, die unter seinen Fingern zerplatzen, um den Weg auf ihr schmackhaftes Inneres freizugeben. Früchte, süßlich reif, Dosen voll von dickflüssigem Saft, Tüten mit Grassamen und samtigem Brot, und das ein oder andere Glasfläschchen voll eingesperrtem Licht. Sie schimmern sanft unter seinen Händen, aber er stößt sie achtlos beiseite. Licht kann Corax nicht trinken. Er schmeckt es nicht einmal. Aber der Rest ist köstlich: Er schlägt sich hastig den Bauch voll, damit er fertig ist, bevor der Tagesanbruch ihn findet. Er schaufelt sich das Futter in den Rachen, ohne sich zu schämen. Süß, sauer, salzig, wieder süß – er zerfetzt eine neue Hülle und krächzt begeistert, denn jetzt schmeckt es salzig und süß zugleich, und dann bitter – nein, bitter ist schlecht, zurück zu sauer …

Und die Stille platzt. Hinter ihm knurrt die Dunkelheit. Corax erstarrt. Es ist ein Knurren, das an den Rändern golden schimmert und kleine Wellen schlägt. Ein solches Knurren meint es ernst. Ruckartig fährt er herum. Ein Raubtier mag keine schnellen Bewegungen, aber in manchen Momenten ist es, als tanzte er auf einem Seil, das weit aufgerissene Maul des Abgrunds unter ihm. Es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn die Tiefe so lautlos gähnt.

Es ist nicht die Dunkelheit, die geknurrt hat. Es ist ein Tier. Seine Ohren wackeln im Takt mit seiner hechelnden Schnauze, wie der Wind über einem kleinen See. Es starrt. Und es lauert. Und Corax lauert seinerseits.

Kleine Wellen in den Ohren des Hundes. Große Wellen in Corax’ Innerem. Große, weiße, Gischt sprühende Wellen. Er duckt sich behutsam. Wie flüssiger Schatten, der aus einer umgestoßenen Flasche Nacht sickert, nähert er sich und streckt die Handaus …

… und zwischen seinen Fingern liegt eine grünlich schimmernde Frucht, wie ein vor langer Zeit verglommener Stern. Er weiß genau, wie man sich Hunde zu Freunden macht.

Aber der Hund scheint es nicht zu wissen.

Tiefes Wasser.

Schäumende Gischt.

Als Corax das Haus verlässt, leise wie ein Atemzug, schwarz wie Teer, wirft er einen kurzen Blick in die Dunkelheit der Küche zurück. Sie schlägt träge Blasen. Das Blut ist kaum zu erkennen, aber es glänzt wie geraubter Schmuck, oder wie gestohlenes Leben, oder wie die klebrigen Finger der Schuld. Das Tier liegt ganz still. Seine Ohren wackeln nicht mehr. Sein Herz tut es ihnen gleich.

Corax schlüpft durch das Fenster, durch das er gekommen ist. Er bemerkt nicht, dass er eine schwarze Feder an der mondlichttriefenden Scheibe hinterlässt, ans Glas geheftet mit einem klebrigen Tropfen fremden Blutes.

Über ihm ist der Himmel wie der Blick in ein endloses Meer. Der Rabe gleitet an der kalten Hauswand hinab und landet leichtfüßig auf nassem Asphalt. Sein Bauch ist voll, aber seine Brust ist leer. Sein Weg führt ihn durch verwinkelte Gassen, durch rötlich wabernde Nebelschwaden, über rostige Abflussdeckel und zwischen haushohen Müllcontainern hindurch, und schließlich auf schartige Dächer in das erste Blinzeln des Tageslichts. Er verharrt zusammengekauert zwischen zwei Schornsteinen und wartet angespannt. Worauf? Er weiß es noch nicht. Vielleicht darauf, dass vor ihm die Sonne aufgeht, rund und strahlend, und dass die Schatten schrumpfen und der Himmel gelbwird.

Corax weiß so vieles nicht. Er weiß nicht, dass die Feder sich langsam vom Fenster löst und zu Boden sinkt, auf sanften Winden die Straße hinabgleitet und im Randstein verschwindet. Er weiß nicht, dass in diesem Moment ein Lichttrunkener nach Hause kommt, durch eine Tür, durch die der Verlust hindurchsickert, und all das Blut sieht und schreit.

Anderswo ging die Diskussion weiter.

»Du könntest dir die Riesenwürgepflanze kaufen, von der du schon so lange träumst.«

»Nein«, sagte Fionagh nachdrücklich, die mit fahriger Hand irgendwelchen Papierkram in die oberste Schreibtischschublade stopfte. »Ich meine, ja, natürlich könnte ich das, aber – nein. Wir gehen nicht mit irgendeinem Psychopathen auf Abenteuersuche, nur weil du findest, dass er gut aussieht.«

»Entschuldige mal, ich will nicht auf Abenteuersuche, nur weil ich finde, dass irgendein Psychopath gut aussieht.« Mirembe beschäftigte sich vage genervt damit, ein paar Papierschnipsel um Fionaghs Kopf herumschweben zu lassen, ein hübsches kleines Sonnensystem aus Zetteln und silbernem Haar. »Eigentlich bin ich hauptsächlich auf sein Geldaus.«

»Er hat gesagt, es wird gefährlich!«

»Jaah, aber, Fionagh, überleg mal!« Mirembe folgte ihrer Freundin beharrlich ins Badezimmer und sah ihr dabei zu, wie sie das Badewannenmoor wässerte. Aus seinem Inneren erklang ein dankbares Zirpen. »Du könntest deine Orchideensammlung erweitern, das hast du schon seit Monaten vor. Und wir hätten endlich mal wieder etwas Aufregung. Das würde dir guttun, du wirst langweilig auf deine alten Tage. Gestern habe ich dich sogar dabei ertappt, wie du ein Kreuzworträtsel gelösthast.«

»Naund?!«

»Außerdem willst du doch wissen, worum es geht. Ich weiß es ganz genau! – Wir hätten bestimmt viel Schpaß! Ein echtesch Abenteuer!«

Fionagh hielt inne, die Gießkanne in der Hand, und warf ihr einen empörten Blick zu. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, die Duschpepperoni sind nicht zum essenda!«

Kopfschüttelnd schob sie sich an ihrer Freundin vorbei, die sich gerade eine längliche Schote mit der vagen Konsistenz einer Badehaube aus dem Mund zog, und verpasste dem Egelschneckenaquarium seine wöchentliche Portion Kompost.

»Wir haben noch Fälle zu erledigen – viele Fälle. Das schaffen wir nie im Leben innerhalb von zwei Tagen.«

Hinter ihr spuckte Mirembe angewidert eine Handvoll Duschpepperoni ins Waschbecken. Es stimmte – sie waren wirklich nicht zum essen da. Irgendwie schmeckten sie nach Chilliseife, aber nach all den Jahren fiel Mirembe immer noch auf ihre zarte, zuckerwattefarbene Schale und auf die hauchdünnen Ranken herein, die sich adrett um den Duschkopf wanden.

»Wir treten die Aufträge einfach an Banni und seine Kumpels ab«, schlug sie vor. »Jetzt beweg doch mal deine trägen Hirnwindungen! Wir haben die perfekte Möglichkeit, uns vor dem Desaster mit der Küchenmaschine zu drücken! – Aha, du hast gezögert. Kein Grund, so zu tun, als wär nix gewesen, ich hab’s gesehen! Du willst nämlich gehen. Du bist gelangweilt und frustriert, und plötzlich klopft ein mysteriöser Cowboy an deine Tür und bietet dir einen Haufen Geld und ein Abenteuer an. Natürlich wirst du gehen!«

Mit diesen Worten allein hatte Mirembe gewonnen. Fionagh stand einige Sekunden reglos da, den Blick starr auf die schlemmenden Schnecken im Aquarium gerichtet. Dann drehte sie sich mit der Geschwindigkeit eines in die Jahre gekommenen Gletschers zu ihr um. In ihren Augen stand die Antwort in großen, neonfarbenen Lettern geschrieben.

»Wir könnten verletzt werden«, sagte sie zögerlich. »Du hast es gehört. Wir könntensterben.«

Ach, das schon wieder. Wenn man nicht sterben wollte, durfte man nicht geboren werden. Das Leben hatte eine hundertprozentige Todesquote. Davon durfte man sich nicht abschrecken lassen.

»Du bist eine Banshee, schon vergessen? Wie alt bist du jetzt, zweihundertirgendwas Jahre? Sollte das nicht langsam mehr als genug sein? Vielleicht tut dir so ein klein wenig sterben sogar ganz gut, du bist schon richtig blass.«

Eine kleine Falte bildete sich zwischen Fionaghs Augenbrauen. Sie sprach Bände.

Mirembe seufzte gutmütig. »Du machst dir Sorgen um mich? Mich! Ausgerechnet. Schau mich doch an! Was siehstdu?«

Mirembe gab sich größte Mühe, so unternehmungslustig wie möglich auszusehen – mit ein bisschen Glück würde sich Fionagh bei ihr anstecken. Sie brachte sogar ihr Haar dazu, sich vor Aufregung noch mehr zu kräuseln, als es ohnehin schon der Fallwar.

»Meine beste Freundin«, murrte Fionagh widerstrebend. »Mit grauen Strähnen übrigens. Sie ist alt geworden. Und sie hat einen Zahnpastaklecks neben dem Mundwinkel. Und jetzt wird sie mir gleich erzählen, dass ich mich nicht sorgen muss, weil nichts und niemand sie unterkriegenkann.«

»Wie war das? Wer oder was könnte mich unterkriegen?« Mirembe kratzte fröhlich mit einem himmelblau lackierten Fingernagel an dem Zahnpastafleck auf ihrer Wange.

»Nichts und niemand«, wiederholte Fionagh missmutig.

»Na also! Damit wäre die Sache wohl entschieden. Wir gehen.«

»Das kannst du nicht einfach so bestimmen! Ich werde ja wohl auch noch ein Wörtchen mitreden dürfen!« Fionagh war inzwischen dazu übergegangen, ihre Kreise durch den Raum zu ziehen wie ein aufgebrachter Modellzug, Dampf und Ärger speiend. Es war ihr nur allzu deutlich bewusst, dass sie verloren hatte. Mirembes Mitleid hielt sich in Grenzen. »Nur weil du ihn hübsch findest …«

»Ich habe dir bereits gesagt, solange er unsere Namen nicht aussprechen kann, weigere ich mich, seinem Aussehen gegenüber auch nur ein einziges löbliches Wort zu äußern.«

»Du kannst so geschwollen daherreden, wie du willst, er ist und bleibt ein …« Zögerliche Stille fiel in den Raum wie ein Stein, den jemand durchs Fenster geschleudert hatte. Fionaghs fahles Haar sträubte sich vor Abscheu. »… einMensch!«

Jetzt fing das schon wieder an. »Naund?«

»Menschen sindfurchtbar!«

Sie meint es nicht so, erinnerte Mirembe sich mit der grenzenlosen Geduld einer freiberuflichen Hexe, die den Großteil ihres Arbeitstags damit verbrachte, sich unappetitliche Furunkel anzusehen und notgedrungen allen möglichen vor Schmalz und Selbstmitleid triefenden Geschichten ein offenes Ohr zu schenken. Der große Unterschied zwischen Fionagh und ihr selbst war vor allem die Tatsache, dass Fionagh nie den Mund aufmachte, ohne vorher gründlich nachzudenken. Was wiederum bedeutete, dass die Kritik nicht persönlich gemeint sein konnte.

»Ich meine, ihre Zähne passen nicht in ihre Münder«, fuhr die Banshee schaudernd fort. »Sie reißen sie sich raus. Oder biegen sie zurecht. In ihren Poren stauen sich Talg und Eiter! Sie tragen Tierhäute amLeib!«

»Und was ist mit deiner Jacke?«, warf Mirembe weiseein.

»Was soll damitsein?«

»Sie ist aus Leder.«

Fionagh verscheuchte ungeduldig einige unsichtbare Fliegen mit der Hand. »Das ist ein Imitat. Aber Menschen! Sie stinken. Fäulnis zersetzt sich auf ihrer Haut und in ihren Mündern. Ganze Heerscharen von mikroskopischem Getier weiden sich an und in ihnen.«

Mirembe fand es an der Zeit, sich dezent zu räuspern. »Ich bin ein Mensch.«

Zumindest besaß Fionagh den Anstand, kurz zu stutzen und sie anzustarren, als ob sie ihre Mitbewohnerin zuvor noch nie gesehen hätte. »Wie? Du zählst nicht. Du bist eine Hexe. Hexen müffeln nicht. Sie haben ihre Bakterien im Griff. Aber Menschen … selbst wenn sie hübsch sein mögen …«

Mirembe seufzte leise, als sie sich hinter den Schreibtisch schwang und den Computer anwarf. Todesbotinnen. Ja, definitiv schwierig, manchmal. »Jetzt hör auf, eifersüchtig zu sein, und schau dir an, was ich heute Morgen gefundenhabe.«

Fionagh balancierte einen Moment lang widerwillig auf der Schneide zwischen Missgunst und Neugierde, dann ließ sie sich mit größtem Argwohn dazu herab, ein wenig näher zu kommen. Mit abfällig gekräuselter Nase spähte sie auf den Bildschirm, den Mirembe ihr zugedreht hatte. Carls Gesicht stierte ihr mit dem feinsinnigen Charme eines Bulldozers entgegen.

»Das ist seine Akte.« Mirembe ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen wie eine bürokratische Praline. »Sieh dir das an! Carl ist gar nicht sein echter Name. Er heißt eigentlich John.John