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Beschreibung

Ein toter Direktor eines Jugendwerkhofs, ein verschwundenes Kind und ein Ermittlerduo zwischen Ost und West  Torgau am 10.11.1989: Hoffnung weht durch die kleine Renaissancestadt an der Elbe. Die Mauer ist gerade gefallen, da wird der Direktor des örtlichen Jugendwerkhofs tot aufgefunden. Beate Vogt von der Morduntersuchungskommission wird aus Leipzig geschickt, um zu klären, was passiert ist. Kurz nach der Befragung des 14-jährigen Insassen Andreas verschwindet dieser spurlos. Steckt er hinter der Tat? Ist er in den Westen geflüchtet, oder ist ihm etwas zugestoßen? Und dann bekommt Beate ungebetene Hilfe: Hauptkommissar Josef Almgruber aus Nürnberg soll ihr die westdeutsche Arbeitsweise nahebringen. Doch der hat keine Ahnung von DDR-Strukturen. Beate braucht keine Belehrungen und lässt ihn links liegen. Aber dann wird Beate bedroht und Almgruber zusammengeschlagen. Sie begreifen, dass sie zusammenarbeiten müssen. Ob sie wollen oder nicht.  "Krimi des Monats" NDR "… ein faszinierender und vielschichtiger Kriminalroman, der mehr ist als ein Spannungsroman…" Radio Eins

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Rabenkinder

Die Autorin

GRIT POPPE, geboren 1964 in Boltenhagen, studierte am Literaturinstitut in Leipzig und schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene Bücher. Ihr Jugendroman Weggesperrt wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendbücher. Ihr Buch Verraten (Dressler Verlag) wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und erhielt 2021 den Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreis. Sie lebt in Potsdam.

Das Buch

Ein Toter im Jugendwerkhof, ein verschwundenes Kind und ein Ermittlerduo zwischen Ost und WestTorgau am 10.11.1989: Hoffnung weht durch die kleine Renaissancestadt an der Elbe. Die Mauer ist gerade gefallen, da wird der Direktor des örtlichen Jugendwerkhofs tot aufgefunden. Beate Vogt von der Morduntersuchungskommission wird aus Leipzig geschickt, um zu klären, was passiert ist. Kurz nach der Befragung des 14-jährigen Insassen Andreas verschwindet dieser spurlos. Steckt er hinter der Tat? Ist er in den Westen geflüchtet, oder ist ihm etwas zugestoßen? Und dann bekommt Beate ungebetene Hilfe: Hauptkommissar Josef Almgruber aus Nürnberg soll ihr die westdeutsche Arbeitsweise nahebringen. Doch Beate will sich den Fall nicht aus der Hand nehmen lassen.

Grit Poppe

Rabenkinder

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2022© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: Hintergrund Jugendwerkhof © Archiv Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Dokumentations- und Informationszentrum (DIZ) Torgau; Auto © mauritius images / Zoonar GmbH / Alamy / Alamy Stock Photos; Personen © Arcangel Images / Rekha Garton Foto der Autorin: © Gregor BaronE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2833-1

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

TEIL EINS

November 1989

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TEIL ZWEI

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Mai 1991

Lagos, Portugal

Nachbemerkung

Anhang

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

TEIL EINS November 1989

TEIL EINS November 1989

1

Warum? Warum war er hier? In dieser Zelle? In diesem Loch?

Es war dunkel und kalt. Hinter den Milchglasscheiben des Fensters lag die rabenschwarze Nacht. Die Heizung war ausgestellt. Andreas krümmte sich auf der Holzpritsche zusammen und zog die dünne Decke notdürftig über seinen frierenden Körper. Eine Weile nagte er an seinem Fingerknöchel, der schon ganz wund war.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie ihn in den Arrest brachten. Jetzt noch. War nicht alles vorbei? Seit drei Tagen hatten sie hier, im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, fieberhaft damit begonnen, die Gitter von den Fenstern abzumontieren. Nur einige Zellen waren noch vergittert. Zum Beispiel diejenige, in der er jetzt war. Es roch wie immer hier. Als wäre nichts geschehen. Aus dem Eimer, der in der Ecke stand, kam dieser ekelerregende Dunst. Es stank nach Urin und Chlor. Er konnte sich immer noch nicht daran gewöhnen. Ihm wurde übel davon.

Natürlich hatten die Erzieher nichts erklärt. Sie erklärten nie etwas. Aber da draußen musste was passiert sein. Fast alle Jugendlichen waren schon weg – auf Transport gegangen, wohin auch immer. Nur er, Maik und Tanja steckten noch in diesem grauen Haus fest. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, oder? Höchstwahrscheinlich morgen oder übermorgen würde er hier rauskommen. In die sogenannte Freiheit oder, na ja, … zurück in den alten Jugendwerkhof nach Burg. Burg bei Magdeburg. Und von dort konnte er leicht wegrennen.

Irgendetwas klapperte – auf dem Gang oder in der Zelle nebenan. Ein metallisches Geräusch. Kam die Nachtwache mit dem schweren Schlüsselbund und kontrollierte den Zellentrakt der Jungen? Obwohl es nicht mehr viel zu kontrollieren gab. Der Jugendwerkhof Torgau wurde aufgelöst. Wer hätte das gedacht?

Konnte man die Hölle denn auflösen?

Andreas lauschte. Meist erkannte er schon am Klang der Schritte, wer kam. Stets war er gewappnet und vorgewarnt. In der Zelle gab es für ihn absolut nichts zu tun, und so achtete er auf jedes Geräusch.

Die Töne wurden lauter. Er hörte jetzt auch Stimmen. Einen Streit? Die Mauern waren zu dick, um auch nur hin und wieder ein Wort zu verstehen. Etwas knallte auf den steinernen Boden. Andreas zuckte zusammen. Jemand fluchte. Stöhnte. Vor Schmerz? Vielleicht arbeiteten sie ja auch nachts weiter, um möglichst schnell möglichst viele Spuren zu verwischen. Und jemandem war ein Werkzeug auf den Fuß gefallen? Andreas grinste nervös, als er sich das vorstellte.

Das Fluchen wurde lauter, aber es schienen nur Laute zu sein, keine Worte, und es verstummte bald. Eine Weile war nichts mehr zu hören. Dann sagte der Unbekannte etwas. Eine andere Stimme antwortete. Leise. Kurz. Bedrohlich. Es klang … eher wie ein Bellen, Knurren … dann wie ein Winseln. Aber nicht wie von einem Hund.

Andreas presste das Ohr jetzt an das kalte Gemäuer und lauschte angestrengt. Wieder Geräusche. Ein dumpfer Schlag. Etwas donnerte gegen die Wand. Oder? Das sind sicher nur die Bauarbeiter, versuchte er sich zu beruhigen. Vielleicht reißen die jetzt alles ab, auch die Mauern.

Aber sein Herz glaubte seinem Kopf nicht, schlug wie wild. Noch ein unterdrückter Schrei. Ein Ächzen, das irgendwie wütend klang. War das etwa Maik? Wehrte er sich gegen das Eingesperrt-Werden? Das wäre nicht das erste Mal. Aber es hörte sich nicht nach ihm an; seine Stimme würde er doch erkennen. Dann war es plötzlich still.

Der schnelle Herzschlag, seine Angst, ließen ihn nicht einschlafen. Was passierte da?

Als er sich ein Stück aufrichtete, bemerkte er, dass die Zellentür einen Spaltbreit offen war. Erstaunt schob er sich von der Pritsche. Stand der Erzieher draußen und wartete auf Andreas? War es vielleicht schon der nächste Morgen? Hatte er die üblichen Wecksignale überhört? Das Donnern mit dem Schlüsselbund gegen die Tür? Kaum möglich, dass einen dieser Lärm nicht aus dem Schlaf riss.

Er warf einen schnellen Blick durch den Schlitz.

Nichts. Alles schien ruhig. Seit die meisten weg waren, kam er sich noch verlassener vor.

Zögernd schlich er sich hinaus auf den Gang des Jungentraktes.

Niemand zu sehen. Keiner von der Wache oder vom sonstigen Personal. Wer hatte aufgeschlossen? Wieso kam kein Erzieher, der die übliche Meldung von ihm verlangte?

Andreas spürte etwas unter seinem Fuß, trat zurück und bückte sich. Stopfte das Fundstück blitzschnell in die Hosentasche.

Ein Feuerzeug, ausgerechnet, kein billiges, sondern so eins aus Metall. Wegen einem Feuer war er hier gelandet. Wenn sie ihn damit erwischten, kam er wieder in den Arrest. Andreas zuckte mit den Schultern. Und wenn schon.

Die Tür der Nachbarzelle stand ebenfalls weit offen. Eine Schildkrötenlampe verbreitete ihr matt düsteres Licht.

Komischerweise sah Andreas zuerst, dass oben das Gitter fehlte. Auch das Fenster selbst war weg. Etwas ragte in den Raum hinein. Ein Ding von draußen. Das Ende eines Bretts, auf dem normalerweise die Bauarbeiter entlangliefen. Eine Metallkonstruktion war darum herumgebaut. Wie dürre Arme aus Metall, die etwas festhielten. Etwas umklammerten, würgten … Sein Hirn suchte nach einer Erklärung. Nach einem Sinn hinter dem Bild, das er sah.

Doch er fand keinen. Eine Weile stand er einfach so da.

Er dachte das Wort Gerüst, als er den Mann musterte, der an der Stange hing. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen, geschwollen; der Ausdruck darin kam Andreas irgendwie beschämt vor, der Kopf baumelte nach unten, als wollte der Leblose noch prüfen, ob seine Schnürsenkel ordentlich gebunden waren.

Die Schnürsenkel waren hier sehr wichtig. Sie mussten immer korrekt auf- und zugebunden werden. Nur in der Zelle hatte man keine. Damit man sich nicht erhängen konnte. Wenn die Traurigkeit in einem drin zu groß wurde. Wenn dieses Gefühl alles andere, die Seele und so weiter sprengen wollte.

Andreas senkte den Blick vor dem Toten und schlurfte in seinen schnürsenkellosen Schuhen weiter. Er musste Maik finden. Wahrscheinlich schlief er in einem der Doppelstockbetten des Gruppenschlafsaals oder hockte in einer der anderen Arrestzellen. Träumte von der Freiheit, die schon vor der eisernen Pforte stand. Irgendwo da draußen wartete ein anderes, nein, dasrichtige Leben auf sie.

Er musste Maik erzählen, was passiert war.

Wirklich wahr?, hörte er ihn schlaftrunken murmeln. Andreas würde beteuern müssen, dass er sich nicht irrte, dass er ihn wirklich gesehen hatte. Mit einem Seil um den Hals. Mausetot. Und dann würde Maik die Arme nach oben reißen, wie bei einem Fußballspiel, das sie nach vielen Niederlagen gewonnen hatten.

Andreas lächelte, aber seine Zähne klapperten dabei.

Als er den Gruppenraum beinahe erreicht hatte, sah er einen Schatten. Jemand lehnte dort an der Wand, als müsste er sich von einer anstrengenden Arbeit ausruhen. Dann löste sich der Schatten, wurde zu einer dunklen Gestalt, die sich auf die Tür zubewegte und durch das Guckloch in den Schlafsaal der Jungen starrte, in dem Maik höchstwahrscheinlich gerade schlief, bis er irgendwann aufwachte, sein Bett bauen würde: das Laken akkurat glatt ziehen, die Decke Kante auf Kante legen, so wie es hier Vorschrift war.

Andreas hielt den Atem an. Seinem Instinkt gehorchend, zog er sich die Schuhe von den Füßen, schlich auf Zehenspitzen zurück in seine Zelle. Zog die Tür vorsichtig hinter sich zu.

Als er auf der Pritsche lag und so tat, als würde er schlafen, hörte er Schritte.

Sie stoppten vor der Tür. Und er nahm dieses leise schabende Geräusch wahr, wenn jemand die Klappe des Spions beiseiteschob, um zu ihm hineinzuglotzen.

Er wusste, wer da draußen stand.

2

Wie immer roch es nach Kaffee, als Beate Vogt an diesem Freitagmorgen die Dienststelle der MUK, der Leipziger Morduntersuchungskommission, betrat. Sie sog gierig den Duft ein, der ihr noch deutlicher als sonst in die Nase stieg. Wieder einmal hatte sie schlecht geschlafen, dann den Wecker nicht gehört und war, nachdem sie eilig ihre Meerschweinchen versorgt hatte, ohne Frühstück aus der Wohnung gestürzt.

Die Türklinke zum Büro noch in der Hand, hoffte sie auf einen Muntermacher.

Doch Moni, die Sekretärin, die etwa in ihrem Alter, also um die dreißig war, lächelte ihr nicht zu, so wie sonst. Statt ihr einen Guten Morgen zu wünschen, sagte sie nur: »Du sollst mal zum Chef kommen.«

Beate zog die Augenbrauen hoch und blickte Moni fragend an. Hatte sie was angestellt? Sie war sich keiner Schuld bewusst. »Alles in Ordnung?«

Ihre Kollegin zuckte mit den Schultern. »Es eilt«, sagte sie nur, in einem Tonfall, der ungewöhnlich ernst für sie war.

Auch ihr Chef Arno Berg, Major der Kriminalpolizei und Leiter der MUK Leipzig, machte sich nicht die Mühe, sie zu begrüßen. Er bot ihr nicht einmal einen Platz an und schon gar keinen Kaffee. Beate wunderte sich. Eigentlich kannte sie auch ihn nicht als unhöflichen Menschen.

»Sie sind ab sofort Oberleutnant Lehmann zugeteilt. Er erwartet Sie umgehend in Torgau, Fischerdörfchen. Es wurde ein Toter aufgefunden. Die näheren Umstände sind noch unbekannt.«

Beate schluckte. »Ich wurde doch in den Innendienst …« Degradiert, hätte sie beinahe gesagt.

Er schüttelte den Kopf. »Die Anweisung ist hiermit aufgehoben. Wir brauchen …« Ihr Vorgesetzter räusperte sich. »Wir brauchen im Einsatz fähige Leute … Leute wie Sie.«

Hatte sie sich verhört? Sie brauchten sie? Und sie hielten sie für fähig? Seit wann denn das? Nur mit Mühe konnte sie ein Grinsen unterdrücken.

Noch vor ein paar Wochen hatte man sie zur Schreibtischarbeit verdonnert, nur weil sie in einer Dienstbesprechung aufgebracht gesagt hatte, dass sie ihre Waffe niemals gegen die Leipziger Montagsdemonstranten einsetzen würde, die mit Haushaltskerzen in den Händen durch die Straßen liefen. Auch den Einsatz von Knüppeln gegen die friedlich Protestierenden lehne sie ab. Zuvor hatte Genosse Lehmann lauthals seinen Unmut gegen die Konterrevolutionäre kundgetan, eine härtere Vorgehensweise gegen diese gefordert und Beate gewissermaßen zu ihrer Äußerung provoziert. Und jetzt sollte sie zusammen mit ihm in einem Fall ermitteln?

Nun ja, die Kollegen konnte man sich nicht aussuchen.

»Fischerdörfchen«, murmelte sie. Das klang, als müsste es an der Elbe liegen. »Welche Nummer?«

»Es handelt sich um den Geschlossenen Jugendwerkhof.«

Auch das noch. In der Disziplinareinrichtung für Schwererziehbare gab es immer mal wieder Ärger. Bisher hatte sie sich jedoch nicht mit diesen Vorkommnissen beschäftigen müssen. Überhaupt hatte man Beate, die erst seit einem halben Jahr bei der MUK Leipzig arbeitete, aus den schweren Fällen herausgehalten. Weil sie die einzige Frau in dem Ermittlerteam war?

Beate blickte beinahe sehnsüchtig auf die halb gefüllte Kaffeetasse ihres Chefs.

»Ist noch was?«, fragte Major Berg schroff.

»Was ist denn mit dem Kollegen Michaelis?«, fragte sie beinahe schüchtern. Sie sah sich suchend in dem Raum um, als könnte er sich hinter einem Schrank verstecken.

»Der ist heute nicht zum Dienst erschienen«, antwortete er. »Und wie es aussieht …« Er winkte ungeduldig ab. »Darüber reden wir ein anderes Mal.«

Etwa eine Stunde später erreichte Beate die Stadt an der Elbe und parkte ihr Motorrad vor einem grauen Schleusentor, neben dem Wartburg der Kollegen. Mit einem kurzen Blick erfasste sie, dass sie vor einem Gefängnis stand. Sollte das nicht ein Heim für Minderjährige sein? Doch die hohe Mauer sagte etwas anderes. Der Bau wirkte wie eine Festung. Ihre Müdigkeit verflog bei diesem Anblick. Was spielte sich hinter diesem Gemäuer ab? Einen Moment spürte sie eine Gänsehaut und zögerte, das Haus zu betreten. Dann gab sie sich einen Ruck und lief mit gezücktem Dienstausweis an den beiden Polizisten vorbei, die vor der Tür standen.

Im ebenso finster wirkenden Eingangsbereich wurde sie von einem Mann in einem schmutzigen Arbeitsanzug in Empfang genommen. »Mein Name ist Braun. Ich bin hier der Hausmeister«, murmelte er.

»Beate Vogt, Kripo Leipzig«, antwortete sie knapp.

Der Mann seufzte und fuhr sich durch sein struppiges rotes Haar. »Was für ein verrückter Tag«, sagte er. »Na, dann wollen wir mal.«

Beate fragte sich kurz, was er mit verrückt meinte. Ein Toter in diesem Gebäude war sicher kein alltägliches Ereignis. Aber verrückt?

»Erst fällt die Mauer, und dann das. Als ich heute früh zur Arbeit kam, baumelt der tot in der Zelle. Meinen Sie, es gibt da einen Zusammenhang?«

Sie hatte keine Ahnung, wovon Herr Braun da redete. Aber sie verspürte auch nicht die geringste Lust, mit ihm über den Fall zu sprechen, über den sie ohnehin keine Informationen besaß, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Beiläufig nahm sie wahr, dass der Mann nicht gerade respektvoll von dem Toten sprach.

Der Hausmeister zog ein großes schweres Eisengitter vor ihr auf, als wäre sie eine Raubkatze, die er aus seinem Käfig befreite – allerdings nur, damit sie in einen anderen Käfig laufen konnte. Dann ging er vor Beate her, ein paar Stufen hinauf, wo sie vor einem weiteren Gitter stoppten. Der Hausmeister öffnete es, und im nächsten Moment standen sie in einem Flur, unverkennbar ein Zellengang mit massiven Stahltüren, die mit jeweils zwei wuchtigen Riegeln versehen waren.

Ach du Scheiße, dachte Beate und schluckte. Wo war sie hier gelandet?

Die Leiche hing an der Stange eines Baugerüstes, das sich im Innern einer Zelle befand. Immerhin kein Jugendlicher, dachte Beate und fühlte sich einen kurzen Moment erleichtert. Fälle mit Kindern als Opfer waren die schlimmsten.

Sie wechselte mit Kollegen Lehmann einen Blick und nickte ihm zu.

»Wer ist der Tote?«, fragte sie, ohne sich mit den üblichen Floskeln aufzuhalten.

Lehmann unterhielt sich gerade mit Steffen, dem jungen Kriminaltechniker, und mit einem Mann, der zusammengekrümmt auf einem Holzhocker saß. Er ließ sie auf eine Antwort warten. »Karl Zinkner. Der Direktor des Werkhofs«, sagte er schließlich und machte eine vielsagende Pause. »Kein Geringerer als der langjährige Chef dieser Anstalt.«

Lehmanns Augen wirkten schmal. Wahrscheinlich war er alles andere als erfreut, sie hier zu sehen.

»Ich soll Sie unterstützen«, murmelte sie, als müsste sie sich ihm erklären.

»Weiß Bescheid«, sagte er kurz angebunden. »Das hier ist übrigens Doktor Rehling, er war derjenige, der den Tod festgestellt hat.« Ihr Kollege zeigte auf den Mann, der in der Ecke hockte. »Er war auch der Hausarzt des Direktors.«

Der Arzt hob kaum den Kopf. Es sah aus, als wäre er in sich selbst versunken.

»Warum … warum hängt der Leichnam da noch?« Beate kam sich ein wenig blöd vor, als sie sich das fragen hörte.

»Ein technisches Problem«, antwortete Lehmann ungerührt. »Die Kamera funktionierte nicht. Ich musste eine neue besorgen.« Erst jetzt sah sie, dass er einen Fotoapparat in der Hand hielt.

»Aber die Lage scheint wohl klar zu sein. Das ist ziemlich eindeutig ein Suizid gewesen«, sagte er.

Beate runzelte die Stirn. »Kein Zeichen einer Fremdeinwirkung?« Sie sprach in Richtung des Arztes, aber der Doktor reagierte nicht; er schien sie gar nicht richtig wahrzunehmen. Er wirkte wie ein Häufchen Elend.

Sie wandte den Blick von ihm ab und sah fragend Steffen an.

»Die Erstuntersuchung ist noch nicht abgeschlossen«, sagte er förmlich. »So eindeutig ist das nicht«, setzte er zögernd hinzu.

»In Anbetracht der Umstände schon«, meinte Lehmann.

»Der Umstände? Wie meinen Sie das?«, fragte Beate. Sie musterte den Leichnam, aber um Details zu sehen, war sie zu weit entfernt. Es kostete sie einige Überwindung, einen Schritt näher an ihn heranzutreten. Aus der Nähe fielen ihr sofort die Hände des Toten auf. Da waren Kratzer zu sehen, und der Mittelfinger der rechten Hand sah merkwürdig verdreht aus; er schien gebrochen zu sein.

»Wie ich das meine?« Lehmann klang erstaunt. Sie nickte ihm zu, und er blinzelte sie an, als wäre sie begriffsstutzig. »Das liegt doch auf der Hand. Die Regierung der DDR tritt zurück. Vorher kam noch der Befehl von ganz oben, diese Einrichtung zu schließen. Sein Ein und Alles löst sich so mir nichts, dir nichts auf. Von einem Tag auf den anderen. Dann wird auch noch die Grenze aufgemacht. Was denken Sie, was als Nächstes passiert … mit Leuten wie ihm?«

»Welche Grenze?«

Lehmann stieß ein Schnaufen aus. »Sehen Sie keine Nachrichten, Frau Diplomkriminalistin?«

Sie überging den sarkastischen Unterton. »In letzter Zeit nicht«, gab sie zu.

Den Fernseher hatte ihr Freund Toni mitgenommen, als er vor über einer Woche ausgezogen war. Ihr Exfreund, genauer gesagt. Sie mochte nicht daran denken. Es tat noch zu weh. Und sie wollte keinen neuen Fernseher kaufen. Nicht nur, weil sie das Geld für andere Dinge benötigte, sondern weil sie nicht glaubte, dass es das jetzt gewesen war. Vielleicht kam er ja doch zurück?

Und wenn nicht? Vielleicht sollte sie als Erstes aufhören, ihn weiterhin in Gedanken Toni zu nennen. Er hieß Anton. Anton Ullrich Becker. Sein richtiger Name verschaffte ihr ein wenig Abstand. Hoffte sie zumindest.

»In letzter Zeit nicht?« Der Mann lachte auf. »Dann sind Sie wohl die Einzige, die es noch nicht weiß: Die Mauer ist gefallen. Die DDR hat gestern Abend die Grenzübergänge nach Westberlin geöffnet.«

3

Die siebzehnjährige Tanja stand kerzengerade vor ihrem nach Vorschrift gebauten Bett, darauf gefasst, dass die Erzieherin jeden Moment die Tür aufreißen würde. Tanja war die Letzte im Gruppenraum. Die anderen Mädchen waren nach und nach entlassen worden. Nicht entlassen nach Hause, sondern rücküberführt in ihren alten Jugendwerkhof. Sie wusste nicht, warum sie noch hier ausharren musste. Vielleicht, weil sie die Einzige war, die in diesem Ort blieb – sie sollte in ein offenes Wohnheim für Jugendliche ziehen. Der Direktor persönlich hatte ihr versprochen, dass er sich darum kümmern würde. Genau genommen war es seine Idee gewesen. »Du wirst sehen: Torgau ist eine schöne Stadt. Hier lässt es sich gut leben.«

Sie hatte nur genickt. Sich das Grinsen verboten. Begriff er eigentlich, was er da sagte? Bisher hatte sie von Torgau nur diesen Umerziehungsknast kennengelernt, Zellen, Stahltüren, Gefängnisschleusen, den Hof, auf dem sie auch bei Minusgraden in kurzem Sportzeug Hunderte Liegestütze, Hockstrecksprünge und Kniebeugen machen mussten, das Gebrüll der Erzieher, die Idiotenarbeit, die sie hier täglich verrichteten. Indessen, nach den langen Monaten ihres Aufenthalts, war ihr Körper gestählt. Die Kälte draußen nahm sie kaum noch wahr. Der Sport machte ihr nichts mehr aus. Sie hatte sich jede Schwäche abtrainiert. Die Arbeit, das Zusammenmontieren von Waschmaschinenschaltern, absolvierte sie mechanisch.

Dass die anderen Mädchen weg waren, berührte sie nicht sonderlich. Eigentlich war sie sogar froh darüber. Freundschaften gab es hier nicht, höchstens Zweckgemeinschaften.

Torgau – eine schöne Stadt? Vielleicht stimmte das ja sogar, doch das Versprechen des Direktors bedeutete vor allem eins für sie: kein Jugendwerkhof mehr.

Tanja besaß keine Uhr, die Jugendlichen besaßen absolut nichts in dieser Anstalt, in der sie diszipliniert werden sollten, aber sie hatte das Gefühl, dass die Erzieherin sich heute verspätete. Das sah ihr eigentlich nicht ähnlich. Normalerweise kam sie eher zu früh, riss die Tür auf und schien darauf zu lauern, dass sie Tanja bei etwas Verbotenem erwischte: noch in dem Doppelstockbett zu liegen oder ihr Bettzeug nicht wie vorgeschrieben zusammengelegt zu haben oder etwa trotzig ein Arbeiterkampflied vor sich hin zu summen. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt …« Die Internationale war ihr absolutes Lieblingslied. In ihrem Kopf sang sie es ständig, und manchmal drang es unbemerkt über ihre Lippen. Nur erwischen lassen durfte man sich dabei nicht. Das Singen von Liedern war ebenso verboten wie das Sprechen mit anderen Jugendlichen.

Jede kleinste Verfehlung wurde sofort bestraft: meist mit Drillsport, manchmal mit Arrest.

Tanja stand wartend stramm und dachte an den Besuch ihrer Eltern am gestrigen Tag, dem 9. November 1989. Sie hatten auf die Minute eine Stunde Zeit miteinander verbringen dürfen. Hinter Gittern, eingesperrt, unter Beobachtung.

»Liebe Mutti, lieber Vati, ich werde nicht nach Hause zurückkehren. Auch nicht, wenn ich achtzehn werde.«

Sie hatte auf der einen Seite des Tisches gesessen und in die ungläubigen Gesichter ihrer Eltern auf der gegenüberliegenden Seite gesehen. Zwischen ihnen saß der Direktor, aber sie vermied es, ihn anzublicken. Auch ihr Vater und ihre Mutter taten, als wäre er nicht anwesend.

Schließlich räusperte er sich lauthals. Falls es Fragen gebe, wegen der Unterbringung der Tochter, könnten diese an ihn gestellt werden, gab er Auskunft.

Tanja hatte die Wut ihres Vaters bemerkt und auch, wie schwer es ihm fiel, sie zu unterdrücken. So ein Besuch wurde stets überwacht. Geschenke durften nicht mitgebracht werden, Umarmungen oder gar Küsse waren nicht gestattet. Kein Wort konnte sie ihren Eltern unbemerkt zuflüstern. Immerhin durften sie ihre Tochter überhaupt sehen, oft wurden die Besuchsanträge der Angehörigen vom Direktor einfach abgelehnt.

Tanja erzählte ihren Eltern, dass die anderen Mädchen und Jungen zurückmussten in ihre alten Werkhöfe. Nur sie dürfe in ein ganz normales Jugendwohnheim ziehen. »Das ist eine tolle Chance für mich, wisst ihr?« Alles, was sie an diesem Tisch sagte, klang wie auswendig gelernt. Und im Grunde war es das ja auch. Sie plapperte die Sätze einfach nach. Nur dass er nicht tolle, sondern einzige gesagt hatte. »Das ist deine Chance, begreifst du? Deine einzige Chance …«

Direktor Zinkner, der die meiste Zeit schweigend dasaß, nickte zu ihren Worten, als würde er sie zum ersten Mal hören. Zum Glück sagte er ihren Eltern nicht, was er ihr versprochen hatte: dass er seine Hand schützend über sie halten würde.

Womöglich wäre ihr Vater vor Zorn dann doch noch explodiert. Seine geballten Fäuste waren jedenfalls kaum zu übersehen.

»Warum können wir unsere Tochter nicht mitnehmen, wenn Sie hier den Laden dichtmachen?«, fragte ihre Mutter unverblümt. Sie roch nach der Zigarette, die sie vor ihrem Besuch wohl geraucht hatte. Tanja hätte sich gern auch eine angesteckt. Doch das Rauchen war hier für die Jugendlichen verboten. Stattdessen hatte sie nervös ihre Finger geknetet. Hatte ihre Mutter nicht zugehört? Oder nahm sie nicht ernst, was Tanja sagte? Sie würde nicht nach Hause kommen.

»Wir könnten Ihnen schriftlich geben, dass wir ab sofort die Verantwortung für unsere Tochter übernehmen … und dann … kommt sie einfach …«

»Das ist nicht erlaubt. Wir haben unsere Vorschriften.«

»Vorschriften«, echote Tanjas Vater verächtlich und schnaufte. »Sie ist unser Kind!«

Immerhin gestattete der Direktor, dass sie sich zum Abschied die Hand gaben.

Hildegard Hellermann wirkte blass, als sie die Tür mit einer seltsam langsamen Bewegung öffnete. Ohne etwas zu sagen, starrte sie Tanja an.

»Jugendliche Wolter meldet: Nachtruhe ohne besondere Vorkommnisse beendet!«

Die Erzieherin blieb stumm. Sie schien durch Tanja hindurchzublicken. Ihr Körper wirkte massig und groß wie immer. Sie überragte Tanja, die nicht besonders klein war, um ein erhebliches Stück. Dennoch war etwas anders als sonst. In ihrem glasigen Blick lag ein Ausdruck von Furcht.

Tanja stand weiterhin stramm und wartete auf den Befehl zum Raustreten. Auf den Frühsport verzichtete Frau Hellermann auch in diesen Tagen nicht. Am gestrigen Morgen war Tanja zusammen mit den beiden übrig gebliebenen Jungen Runden auf dem Hof gerannt.

Normalerweise wurden die Geschlechter getrennt gehalten. Doch der Aufwand, für das einzige Mädchen den streng geregelten Tag extra einzutakten, lohnte sich wohl nicht. Auch die Mahlzeiten nahmen die drei Jugendlichen seit Kurzem gemeinsam ein, wobei Tanja an einem anderen Tisch sitzen musste. Sobald der Erzieher mal für zwei, drei Minuten den Speiseraum verließ, ging das Geflüster los: »Wie heißt du, wo kommst du her …?«

Maik, der auf dem mit Kohlenstaub überzogenen Hof hinter ihr lief, schnalzte leise mit der Zunge, und Tanja wurde klar, dass er ihr auf den fast nackten Hintern glotzte. Ihre kurze Turnhose war ihr mindestens eine Nummer zu klein und schnitt ihr ins Fleisch.

Tanja ignorierte ihn. Nur mit dem jungen Küken namens Andreas wechselte sie ein paar leise Worte, als sie nach den absolvierten fünfzig Liegestützen eine kurze Pause einlegten. Von Frau Hellermann erhielten sie sofort einen Anschnauzer, als sie beim Flüstern erwischt wurden, und sie bekamen Zusatzsport aufgebrummt: hundert weitere Liegestütze.

Für alle drei. Alles im Kollektiv. Auch die Strafen. Gerade die. Für die Hellermann hatte sich offenbar nichts geändert. Dass die Bauarbeiter, die auf dem Gerüst herumliefen und die Gitter abmontierten, etwas mitbekommen konnten von ihrem Gebrüll und dem Drill, schien ihr egal zu sein. Die anderen Erzieher hatten ihre Erziehungsmethoden in den letzten Tagen peu à peu gelockert. Sogar Herr Spieß, der sonst sehr streng war und den Jugendlichen, um sie einzuschüchtern, auch schon mal seine Karatetechnik präsentierte, indem er vor ihren Augen Ziegelsteine mit der Hand zerschlug, war nachlässiger geworden. Er achtete kaum noch auf die korrekte Ausübung des Sports. Nur Frau Hellermann ließ nach wie vor nichts durchgehen und war unerbittlich wie eh und je. Vielleicht war Andreas wegen ihr später sogar in den Arrest gewandert, denn er hatte noch gewagt zu protestieren.

Der Junge war erst vierzehn und erinnerte Tanja an einen Nachbarsjungen, mit dem sie vor ein paar Jahren Verstecken und Fußball gespielt hatte. Manchmal vermisste sie ihn. Aber in letzter Zeit dachte sie kaum noch an ihn. Je länger sie in dieser Strafanstalt war, umso mehr verschwand das, was sie mal als normal empfunden hatte, verschwand ihr eigenes Ich.

Das Leben hier war ein komplett anderes als das, das sie von früher gewohnt war. Und auch sie selbst hatte sich verändert. Sich wie ein Roboter zu verhalten brachte an diesem Ort Pluspunkte. Wenn man stark war, konnte man sich behaupten und durchkommen. Dazu gehörte, dass sie ihre Gefühle abstellte – wie einen tropfenden Wasserhahn. Und dazu gehörte, dass sie sich Verbündete suchte, auch wenn diese eigentlich ihre Feinde waren. Mit Frau Hellermann klappte das natürlich nicht. Die wirkte wie ein Eisberg, an dem jedes noch so große Schiff zerschellte. Mit dem Direktor schien das anders zu sein. Aus irgendeinem Grund mochte er sie wohl. Diese seltsame Zuneigung bot ihr einen gewissen Schutz: vor den Übergriffen der anderen Erzieher zum Beispiel oder vor allzu harten Strafen.

Frau Hellermann räusperte sich jetzt. »Der Frühsport fällt heute für dich aus, Jugendliche Wolter«, brachte sie mit belegter Stimme hervor. »Da ist eine Polizistin, die mit dir sprechen will.«

4

Beate Vogt wartete im Besucherraum des Jugendwerkhofs auf die Jugendliche Tanja Wolter. Außer einfachen Stühlen und Sprelacart-Tischen gab es nichts in dem Zimmer. Kein Bild, keine Topfpflanze, nur die nackten Wände.

Lehmann überließ es ihr, die Jugendlichen zu befragen. Nach wie vor hielt er an seiner Selbstmordthese fest. Auch glaubte er, dass die Insassen nichts vom Geschehen mitbekommen haben konnten, da sie ja Tag und Nacht eingeschlossen waren.

Das erste Gespräch mit dem sechzehnjährigen Maik Kerner war tatsächlich ergebnislos verlaufen.

Er hatte nur widerwillig auf ihre Fragen geantwortet und keinen Hehl daraus gemacht, dass er sich über den Tod des Direktors freute. Als sie den Grund erfahren wollte, sagte er nur: »Schauen Sie sich doch einfach um, wie wir hier hausen müssen. Vielleicht geht Ihnen dann ein Licht auf.« Offenbar wollte er nicht deutlicher werden. Er wirkte nervös, blickte sich während des Gesprächs einige Male um. »Wir haben alle Angst vor ihm gehabt«, flüsterte er ihr auf einmal zu, schaute kurz zur Tür, als könnte der tote Direktor plötzlich in den Raum marschiert kommen. »Der hatte einfach die absolute Macht. Konnte tun und lassen, was er wollte. Verstehen Sie?«

Beate hatte nicht geantwortet. Nur registriert, dass sich die Härchen auf ihren Unterarmen vor Unbehagen aufrichteten. »Und Sie haben also nichts mitbekommen in der vergangenen Nacht? Nichts gesehen oder gehört? Keine besonderen Vorkommnisse?«

Der Junge lachte auf, und Beate Vogt musterte ihn irritiert. Er trug einen blauen Arbeitsanzug, war blass, hager, hatte schlechte Zähne und einen kurzen militärischen Haarschnitt, der nicht zu ihm zu passen schien.

Maik war plötzlich aufgesprungen und sie daraufhin erschrocken zusammengefahren. »Jugendlicher Kerner meldet: Keine besonderen Vorkommnisse, Frau Polizistin!«

Gerade als sie ihn ermahnen wollte, sich zu setzen, ließ er sich auch schon wieder auf seinen Holzstuhl fallen und grinste sie an. »So müssen wir uns melden, wenn wir einem Erzieher begegnen. Und wenn das auf dem Gang geschieht, muss man fragen, ob man vorbeigehen darf.«

»Jedes Mal?«

Maik hatte genickt. »Klar, jedes Mal.«

»Warum sind Sie in den geschlossenen Jugendwerkhof eingewiesen worden?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich hab mich eben nicht benommen. Nicht so, wie die Erzieher in Freital es wollten.«

»In Freital war der Jugendwerkhof, in dem Sie vorher gewesen sind?«

»Ja. Ein Werkhof nur für Jungen. Wir mussten da im Dreischichtsystem im Edelstahlwerk schuften.«

»Was meinen Sie damit, Sie hätten sich nicht benommen?«

»Hab meine Klappe nicht gehalten. Mich beschwert, wenn die uns schikaniert haben. Und bin ein paar Male aus dem Werkhof da weggelaufen. Das genügte schon, um hier zu landen.«

»Und wo sind Sie dann hin, wenn Sie entwichen sind?«

»Ich hatte eine Käte in Dresden. Also, das heißt auf Deutsch ’ne Freundin. Die Einrichtung in Freital war nicht besonders gut bewacht, und bis Dresden war es nicht weit.«

»Wie war Ihre Beziehung zu dem Direktor Zinkner?«

Maik hatte aufgelacht. »’ne Beziehung hatte ich zu dem nicht. Da fragen Sie den Falschen.«

»Ich meinte, wie das Verhältnis war zwischen den Jugendlichen und …«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt!«, unterbrach sie der Junge gereizt. »Alle hatten Schiss vor dem. Der konnte richtig fies werden. Und der Direktor Zinkner bestimmt komplett über den Laden. Bestimmte, besser gesagt.«

Beate hatte sich ein paar spärliche Notizen gemacht, sich schließlich erhoben und Maik die Hand gereicht. »Danke für Ihre Aussage. Falls Ihnen noch etwas einfällt …«

Der Junge zögerte, ihren Gruß zu erwidern, und als er es schließlich doch tat, spürte sie, dass seine Finger eiskalt waren. Mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht, der nicht zu übersehen war, hatte er kräftig zugedrückt und so schnell nicht losgelassen.

Kurz nachdem Maik von einem Erzieher abgeholt worden war, öffnete sich die Tür erneut, und eine große, kräftige Frau trat ein und schob ein Mädchen mit kurzen Haaren vor sich her, das ebenfalls blaue Arbeitskleidung trug.

»Tanja Wolter?«

Die Jugendliche nickte stumm.

»Setzen Sie sich bitte!«

»Sie brauchen mich nicht zu siezen«, sagte Tanja und lächelte plötzlich.

»Das entscheidet wohl die Polizistin selbst!«, zischte die Frau, die das Mädchen am Oberarm festhielt, als könnte sie in diesem vergitterten Bau weglaufen.

Tanja sagte nichts dazu, aber das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.

»Verstanden, Jugendliche Wolter? Und jetzt setz dich gefälligst!«

Das Mädchen folgte dem Befehl und starrte vor sich hin auf die Tischplatte.

»Und Sie sind …?« Diesmal hatte Beate keine Lust, per Handschlag zu grüßen.

»Hildegard Hellermann. Erzieherin.« Einen Moment sah die Frau so aus, als wollte sie vor der Polizistin salutieren.

»Mein Kollege Lehmann und ich werden auch noch das Personal befragen. Jetzt können Sie bitte gehen.«

»Auf Anweisung des Genossen Direktors lassen wir die Jugendlichen nicht ohne Aufsicht mit den Besuchern. Schon gar nicht, wenn es Fremde sind.«

Beate unterdrückte ein Grinsen. »Wir sind nur keine Fremden. Wir sind die Kripo!«, sagte sie mit einem Anflug von Spott. »Die Befragungen sind vertraulich, verstehen Sie?«, fügte sie schnell hinzu.

Die Erzieherin sah plötzlich verwirrt aus.

»Eigentlich müsste … müsste ich … ihn fragen. Also, den Genossen Zinkner … Aber da er ja …«, stammelte sie. »Da er ja sozusagen nicht mehr unter uns weilt …« Das klang, als könnte sie das nicht glauben, als würde ihr jemand nur einen makabren Streich spielen. Die Frau wandte sich zum Gehen, ohne den Satz zu beenden.

Beate Vogt blickte ihr nach und wartete, bis sie die Tür mit einem lauten Rums hinter sich schloss. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Mädchen.

Tanja war kreideweiß geworden. Ihre dunklen Augen sahen groß und erschrocken aus.

»Ist er wirklich …?«, fragte sie. »Ist er wirklich tot?«

Beate nickte. »Der Direktor, Herr Zinkner, ist letzte Nacht verstorben.«

»Das kann gar nicht sein«, murmelte Tanja. »Ich hab ihn gestern noch gesehen. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen!«

»Ich verstehe, dass Sie …, dass du …«

»Ich glaub das nicht!«, schrie Tanja mit plötzlich veränderter Stimme und schüttelte energisch den Kopf. »Ist das wieder irgend so ein Trick? Steckt er dahinter? Will er mich testen? Sie sind gar keine Polizistin, oder?« Tanjas weit aufgerissene Augen starrten sie an, als versuchte sie zu ergründen, was Beate tatsächlich beabsichtigte.

»Doch, Tanja, tut mir leid, ich ermittle in dem Fall. Entschuldige, ich habe mich dir gegenüber noch gar nicht ausgewiesen …« Beate zog ihren Dienstausweis aus der Tasche und hielt ihn der Befragten unter die Nase. »Es ist kein Trick. Wie kommst du darauf?«

Tanja schwieg einen Moment. Dann holte sie tief Luft. »Das darf doch alles nicht wahr sein. Was ist passiert? Wieso ist er …«

»Das müssen wir erst noch herausfinden.«

Tanja fuhr sich fahrig über das Gesicht, rieb sich die Stirn und die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen.

Beate lehnte sich zurück und ließ dem Mädchen einen Moment Zeit, sich zu sammeln. Wieso reagierte sie so heftig auf die Todesnachricht? Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Warum hast du gedacht, dass der Direktor dich testen will?«, hakte sie schließlich nach.

Tanja senkte die Lider. »Nur so. Man wird doch ständig belogen … von den Erwachsenen.«

Sie sprach auf einmal leise und konzentriert. Sie ist jetzt auf der Hut, so schien es Beate. In den folgenden Minuten antwortete Tanja höflich, aber einsilbig auf die Fragen. Viel Neues erfuhr Beate nun nicht mehr.

»Wann und bei welcher Gelegenheit hast du den Direktor das letzte Mal gesehen?«

»Na, gestern. Meine Eltern haben mich besucht.«

»Und Herr Zinkner war dabei?«

Tanja nickte. »Er ist … ähm … war überall dabei, wo er dabei sein wollte. Jedenfalls bei mir.«

»Ist dir etwas an ihm aufgefallen? Hat er sich irgendwie anders verhalten als sonst?«

»Nein. Mir ist nichts aufgefallen.«

»Auch Kleinigkeiten könnten schon bedeutsam sein.«

Tanja saß einen Moment wie erstarrt da. »Ist er … hat ihn jemand … umgebracht?«

»Wie kommst du darauf?«

Sie kaute eine Weile auf ihrer Unterlippe herum. »Na, weil Sie hier sind und Ihre Kollegen. Sie kommen ja wohl nicht zum Spaß.« Beim letzten Wort stiegen Tanja Tränen in die Augen und rannen über ihre Wangen. Sie versuchte nicht, sie wegzuwischen.

»Da hast du recht«, antwortete Beate und verbarg ihre Verwunderung über den Gefühlsausbruch, so gut sie konnte. »Wir ermitteln in alle Richtungen.«

Andreas Schwalbe, mit seinen gerade mal vierzehn Jahren der Jüngste und Kindlichste der drei Jugendlichen, steckte in seinem blauen Arbeitsoverall wie in einem Sack. Sein Haar wirkte frisch geschoren, seine leicht abstehenden Ohren leuchteten rot.

Beate bemühte sich, während sie mit ihm sprach, seinen Blick einzufangen. Aber er schaute stets auf seine Hände oder auf den Fußboden. Ihre Fragen beantwortete er mit einem Achselzucken oder so leise, dass sie nachfragen musste.

»Du magst wohl nicht mit mir reden?«, fragte sie schließlich.

»Sie sind doch Polizistin, oder?«

»Ja.«

»Na, ich hab schlechte Erfahrungen mit den Bullen gemacht.«

Beate zuckte zusammen. Dann bemühte sie sich um ein Lächeln. »Wenigstens bist du ehrlich. Aber ich bin nicht wegen dir hier, sondern um einen Fall aufzuklären. Es ist jemand gestorben. Und wir müssen herausfinden, wieso und was passiert ist.«

Andreas schwieg auch dazu. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er von dem Toten bereits wusste. Sonst hätte er doch bestimmt nachgefragt.

»Willst du nicht wissen, wer gestorben ist?«

Der Junge zuckte mit den Achseln und betrachtete ausgiebig seine Hände.

»Was machst du da eigentlich?«

»Die Fingernägel müssen sauber sein«, antwortete er. »Sie werden kontrolliert. Das ist sehr wichtig.«

»Wichtiger als ein Toter?«

Er schüttelte den Kopf. Aber er blickte immer noch nicht zu ihr auf.

»Herr Zinkner, der Direktor, ist letzte Nacht gestorben.«

Der Junge nickte und fummelte weiter an seinen Fingern herum. Offenbar erzählte sie ihm nichts Neues.

»Hat dir Maik schon mitgeteilt, was passiert ist?«

»Nee.«

»Er hat dir nichts gesagt?«, fragte sie erstaunt nach.

»Ging ja nicht. Er saß die letzten zwei Stunden in einer Zelle, ich in einer anderen. Damit wir nicht reden können, denk ich mal«, erklärte Andreas. »Also wegen Ihnen!« Auf einmal sah er sie bockig an.

Sein Blick machte sie nervös. Vierzehn, dachte sie. Er ist erst vierzehn. Und irgendwie wirkte er noch jünger. Er kam ihr vor wie ein einsamer Zwölfjähriger.

»Verstehe. Das tut mir leid, wirklich. Es wäre trotzdem schön, wenn du mit mir reden würdest.«

»Mach ich doch.«

»Na gut. Der Direktor: Was war er deiner Meinung nach für ein Mensch?«

»Weiß ich nicht. Hab ihn ja kaum gesehen. Nur beim Appell. Oder beim Antreten im Gang. Da stand er manchmal plötzlich hinter uns. Und am Anfang, als ich nach Torgau kam. Da musste ich zum Gespräch.«

»Worüber habt ihr geredet?«

»Ich hab gar nichts gesagt. Herr Zinkner hat gesagt, dass ich mich benehmen soll, und er hat mir Angst gemacht.«

»Angst gemacht?«

»Wenn ich mich nicht normgerecht verhalte, werde ich bestraft. Und muss länger bleiben als geplant.«

»Weswegen bist du hier?«

»Hab in meinem alten Werkhof gezündelt.«

»Was meinst du damit?«

Andreas seufzte und verdrehte die Augen. »Na, was angezündet.«

»Und was?«

»Eine Decke in der Arrestzelle. In meinem Stammjugendwerkhof. In Burg.«

Beate schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Das war sehr leichtsinnig. Du hast dich selbst und andere in Gefahr gebracht. Du hättest sterben können.«

Wieder zuckte Andreas mit den Schultern. Es wirkte durch und durch gleichgültig. »Mich vermisst doch sowieso keiner«, murmelte er.

Jetzt wusste Beate auf einmal nicht, wohin sie blicken sollte. Mist! So ein Mist! Sie musste aufpassen, dass sie professionell blieb, die Fragen stellte, die sie stellen sollte. Trotzdem fühlte sie Mitleid wie eine kurze kräftige Welle in sich hochschwappen. Mit vierzehn sollte man so einen Satz nicht sagen müssen. Sie räusperte sich.

»Hast du in der vergangenen Nacht etwas Ungewöhnliches bemerkt? Ich meine: komische Geräusche, Stimmen, Krach …«

»Ich weiß, was Sie meinen.«

»Schön. Dann erzähl mal.«

Er schüttelte den Kopf.

»Du hast nichts bemerkt? Oder willst mir nichts sagen?«

»Beides.«

»Hm. Das ist schade. Du könntest uns vielleicht helfen herauszufinden, was passiert ist.«

»Selbst wenn es so wäre«, sagte Andreas plötzlich mit heller, fast schriller Stimme. »Dann spazieren Sie nachher raus, und ich bin immer noch hier drin!«

Beate schluckte. Womöglich hatte er recht. Wenn die Jugendlichen etwas ausplauderten, schwebten sie vielleicht in Gefahr. Ausschließen konnte sie es jedenfalls nicht.

»Ich werde natürlich niemandem etwas von unserem Gespräch erzählen«, sagte sie. Außer Lehmann und den Kollegen, und wer weiß, an wen die diese Informationen weitergeben, setzte sie in Gedanken hinzu.

»Vielleicht ist dir ja was aufgefallen? Etwas, das anders war als sonst?«

Andreas schwieg eine Weile. Er legte seine Hände auf den Tisch, als wollte er ihr zeigen, wie sauber seine Fingernägel waren.

»Meine Zellentür war aufgeschlossen«, sagte er schließlich leise. »Sie stand morgens ein Stück offen, obwohl sie wie immer verriegelt und zugeschlossen wurde, als sie mich da reingesteckt haben.«

Beate nickte ihm aufmunternd zu. »Das könnte ein wichtiger Hinweis sein. Wie läuft das denn normalerweise am frühen Morgen ab?«

»Ein Erzieher kommt, schließt auf, und man muss gerade stehen und Meldung machen.«

»Das war diesmal also anders?«

Andreas nickte.

»Was hast du getan, als du gemerkt hast, dass die Tür offen stand?«

»Nichts weiter«, sagte er schnell. »Rausgeschaut. Da war niemand. Jedenfalls hab ich keinen gesehen und mich wieder auf die Pritsche gelegt.«

»Weil du noch müde warst?«

»Genau.«

Beate blickte auf die Kinderhände auf dem Tisch. »Kann ich verstehen, Andreas. Ich bin auch oft müde, wenn ich früh aufstehen muss.«

In so einem Käfig zu leben würde jeden zermürben, dachte sie.

»Welche schlechten Erfahrungen mit der Polizei hast du denn gemacht?«, wollte sie zum Ende des Gesprächs wissen.

»Die haben mich hierhergebracht.«

5

In ihrer Mittagspause saß Beate mit Steffen, dem Kriminaltechniker, im Café am Torgauer Markt. Sie hatte sich gleich ein Kännchen Kaffee bestellt und trank die zweite Tasse. Besonders stark war das Getränk nicht, aber langsam begann das Koffein zu wirken, und sie entspannte sich ein wenig. Sie blickte aus dem Fenster über den Marktplatz zu einem Brunnen hinüber. Einige ältere Damen kamen aus dem Haus der guten Kleidung, schlenderten mit ihren Dederon-Einkaufsbeuteln umher und stellten sich an die Schlange vor der Fleischerei an.

»Eine ganz normale Stadt«, murmelte sie.

Steffen sah sie fragend an.

»Eigentlich«, ergänzte sie.

»Ach so. Ja. Ich weiß, was du meinst. Diese Einrichtung ist schon … speziell. Aber eine hohe Mauer versperrt ja die Sicht für die Bürger. Keiner weiß, was dahinter los ist. Vielleicht will es auch keiner wissen.«

Das Café war um diese Zeit nur spärlich besetzt. Steffen sprach dennoch so leise, dass Beate ihn gerade noch verstehen konnte.

Sie dachte an die drei Jugendlichen. Einen besonders schwer erziehbaren Eindruck hatten sie nicht auf sie gemacht. Und Andreas war ein Kind. Wie konnte man diese Minderjährigen in so ein Zuchthaus sperren?

Ein junges Pärchen, das am Nachbartisch saß, erhob sich zum Gehen. Beate wartete, bis sie das Café verlassen hatten. Nun waren sie beinahe unter sich.

»Glaubst du an Lehmanns These? Dass es Selbstmord war?«

Steffen zuckte mit der Schulter. »Motive hätte er gehabt dafür, da hat Lehmann schon recht. Und statistisch gesehen ist Strangulation eine der häufigsten Suizidmethoden. Bei der ersten Durchsuchung seiner Wohnung haben wir allerdings nichts gefunden, was auf einen Suizid hindeutet. Keinen Abschiedsbrief. Keine Notiz mit Tut mir leid. Kein Schuldbekenntnis wegen seiner Tätigkeit als Menschenschinder. Kein Schreiben an Angehörige. Und der Kühlschrank war gut gefüllt. Offenbar war er gerade erst einkaufen. Wenn er sich wirklich umgebracht hätte, warum dann nicht in seinen eigenen vier Wänden? Zumal diese sich ebenfalls in dem Gebäude befinden.«

»Lehmann hat die Bauarbeiter vorhin vernommen. Aber ich kenne das vollständige Ergebnis noch nicht«, sagte Beate und trank den letzten Schluck Kaffee. »Einer der Bauarbeiter hat wohl ausgesagt, dass seine Werkzeugkiste nicht dort stand, wo er sie abgestellt hatte, sondern an einem anderen Platz. Nämlich auf der Laufbohle, die direkt in das Fenster der Zelle hineinragte, in dem der Direktor tot aufgefunden wurde. Höchstwahrscheinlich haben seine Kollegen an der Stelle einfach schlampig gearbeitet, und es war nur ein merkwürdiger Zufall.«

Steffen seufzte. »Das glaub ich kaum. Fehlte denn was aus diesem Werkzeugkasten? Vielleicht stammte ja das Seil, mit dem sich Zinkner erhängt hat beziehungsweise mit dem er getötet wurde, daraus.«

Beate zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob Lehmann so gründlich war und nachgefragt hat, was sich in dieser Kiste befand.«

»Ich fürchte, dieser Fall wird uns noch einige Zeit beschäftigen. Und ganz ehrlich? Es ist irgendwie ziemlich gruslig in diesem Jugendwerkhof.« Steffen schüttelte sich. »Ich dachte, wir arbeiten in einem Kinderheim, stattdessen ist das ein Hochsicherheitstrakt. Würde mich nicht wundern, wenn einer der unfreiwilligen Bewohner da Rachegelüste verspürt.«

»Hältst du das für möglich?«

»Keine Ahnung. Aber wie würde es dir gehen, wenn man dich wegen irgendwelcher Verstöße gegen die sozialistische Ordnung in so ein Gefängnis sperrt?«

Beate seufzte und hob ratlos die Hände. Sie wusste keine Antwort darauf. »Was ist eigentlich mit dem Kollegen Michaelis?«, wechselte sie das Thema. Sie wusste, dass Steffen gut mit ihm befreundet war.

»Tja. Er hat mich mitten in der Nacht angerufen.« Steffen räusperte sich und zündete sich eine Zigarette an. Seine Stimme wurde noch etwas leiser, und Beate hatte Mühe, alles mitzubekommen, was er vor sich hin murmelte. »Und jetzt halt dich fest: Nicht etwa von zu Hause! Sondern aus Westberlin! Und er hat mir gleich zu verstehen gegeben, dass er nicht wiederkommen wird.«

Beate hielt sich an ihrer leeren Tasse fest. »Ach, du … glaubst es nicht.«

»Offenbar ist er gleich los, als die Nachricht verkündet wurde, dass die Mauer auf ist. Er wird wohl nicht der Einzige sein, der die Gelegenheit nutzt. Nur mit dem Unterschied, dass er nicht zurückkehren kann.«

»Wieso nicht?«

»Als Volkspolizist ist es ihm nicht gestattet, einfach in den Westen zu spazieren. Jedenfalls noch nicht. Also ist das Republikflucht. Paragraph 213 des Strafgesetzbuches der DDR. Er hat wohl das Gewühl ausgenutzt. Wenn man den Fernsehbildern glauben darf, wurde der Antifaschistische Schutzwall beziehungsweise wurden die Grenzübergangsstellen überrannt.«

Beate behielt lieber für sich, dass sie von dem Jahrhundertereignis nichts mitbekommen hatte. Zum einen war ihr das aus irgendeinem Grund peinlich, zum anderen wollte sie nichts von ihrem Ex erzählen. »Denkst du, die machen die Grenze wieder dicht?«

»Wer weiß? Möglich ist alles.«

»Und der normale Bürger kann jetzt einfach so da rüberspazieren? Zum Klassenfeind?« Es fiel ihr schwer, das zu glauben.

»Schau es dir selbst an. Zumindest in der Glotze. Die Nachrichten sind voll davon. Jubelnde Leute, die sich an der Grenzpolizei vorbeischieben.« Steffen lachte leise.

»Und unser Kollege war also gestern Nacht mitten unter ihnen und hat sich einfach so mir nichts, dir nichts in den Westen abgesetzt. Na, wenigstens muss ich mich dank ihm nicht mehr länger mit verstaubten Akten beschäftigen.«

Beate hob schon seit einer geraumen Weile die Hand, doch die Kellnerin übersah sie geflissentlich.

»Willst du auch rüber?«, fragte sie ihren Kollegen.

»Du meinst zum Gucken? Ja, klar, sobald das für unsereins möglich ist. Du nicht?«

»Ich weiß noch nicht. Wahrscheinlich schon. Ganz schön mutig von Michaelis, von heut auf morgen sein Leben zu wechseln.«

»Vielleicht müssen wir das bald alle«, meinte Steffen.

»Wie meinst du das?«

»Na, ist doch gut möglich oder sogar sehr wahrscheinlich, dass wir demnächst alle unser Leben ändern werden. Jetzt, wo die Mauer auf ist …«

Die Kellnerin kam mit einem missmutigen Ausdruck im Gesicht an ihren Tisch.

»Sie wünschen?«

»Ich hätte gern das Würzfleisch«, bestellte Beate und tippte auf die fleckige Speisekarte.

»Ich auch«, sagte Steffen schnell.

»Ist aus«, teilte die Kellnerin gleichmütig mit.

»Dann die Soljanka.«

»Ist auch aus.«

»Was haben Sie denn noch?«, fragte Beate ungeduldig.

»Wiener Würstchen sind noch da. Mit Gurke, Bautz'ner Senf und Toastbrot.«

»In Ordnung.« Sie wechselte einen Blick mit Steffen, und er nickte ergeben. »Zweimal bitte. Und für mich noch ein Kännchen Kaffee.«

Nach ihrer Mittagspause erwartete der stellvertretende Direktor des geschlossenen Jugendwerkhofs, Reinold Spieß, Beate in seinem Büro. Er trug ein rosafarbenes Hemd, darüber eine blau-schwarz karierte Jacke, war von kräftiger Statur, aber nicht übergewichtig, sondern er sah eher so aus, als würde er die Sportübungen, die man den Jugendlichen hier abverlangte, auch selbst beherrschen. Seine borstigen Haare wirkten, als stünden sie ihm zu Berge, was vielleicht in Anbetracht der Situation sogar zutraf.

»Ihr Kollege, Genosse Lehmann, hat bereits mit mir gesprochen«, sagte er und reichte ihr seine Hand, die sich kalt und feucht anfühlte. »Aber natürlich beantworte ich auch gern noch Ihre Fragen. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?«

Beate lächelte höflich. »Nein, danke, ich habe gerade am Markt eine Tasse getrunken.« Das war wohl die Untertreibung des Tages. Aber sie konnte ihm ja schlecht erklären, dass sie sich in ihrer Mittagspause drei Kännchen, also mindestens sechs Tassen, gegönnt hatte.

»Ohne Kaffee geht bei mir gar nichts«, sagte Herr Spieß. »Zu Dienstbeginn habe ich manchmal mit dem Boss eine ganze Kanne geleert.« Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich, und er stöhnte leise. »Was für ein unglaublicher Verlust. Wie konnte das passieren? Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Das verstehe ich. So ein plötzlicher Tod ist schwer fassbar. Wer hat Sie über den Todesfall informiert?«

»Unser Hausmeister, Herr Braun. Er hat auch die Polizei gerufen und vorher noch Doktor Rehling aus dem Bett geklingelt und um Hilfe gebeten.« Der Mann rang einen Moment nach Atem, als müsste er ein Schluchzen unterdrücken. »Aber die Hilfe kam leider zu spät! … Über Jahre und Jahrzehnte war Karl Zinkner der Leiter dieser Jugendhilfe-Einrichtung, hatte immer alles unter Kontrolle. Auch wenn es nicht gerade wenige Probleme gab. Ich könnte Ihnen da Geschichten erzählen …« Er hob die Hand und ließ sie wieder fallen, als wäre sie ihm zu schwer. »Vierzig rebellische Jungen und zwanzig freche, widerspenstige Mädchen auf einem Haufen beziehungsweise in einem Haus in den Griff zu bekommen – und das Tag für Tag, Nacht für Nacht –, das ist alles andere als eine leichte Aufgabe. Und nun so ein Ende!«

Beate nickte unbestimmt. »Was für ein Mensch war der Direktor?«

»Gute Frage, aber nicht einfach zu beantworten«, murmelte Reinold Spieß.

»Versuchen Sie es.«

»Er war eine absolute Respektsperson. Alle kamen seinen Anweisungen sofort nach – nicht nur die Jugendlichen, meine ich … Widerspruch duldete er nicht. Aber das wurde akzeptiert. So gab es unter den Kollegen wenig Ärger. Es war ja klar, wer das Sagen hatte.«

»Hatte er Freunde? Familie?«

»Ich würde ihn eher als Einzelgänger beschreiben, der mit diesem Werkhof verheiratet war. Ihn umgab immer eine Art … Geheimnis. Er vertraute sich selten jemandem an. Behielt alles für sich, offenbar auch seine Probleme. Wissen Sie, dass er sogar in diesem Gebäude gewohnt hat?« Er blickte ihr jetzt direkt in die Augen, als wollte er ihr mit dieser Bemerkung etwas zwischen den Zeilen mitteilen. Beate fragte sich, was.

»Seine Wohnung wurde von unseren Leuten schon auf Spuren und mögliche Hinterlassenschaften durchsucht«, antwortete sie. »Sie meinen mit Ihrer Einschätzung also, dass er keine Familie und keine Freunde hatte?«, fragte sie direkt.

»So kann man es ausdrücken. Ja.« Herr Spieß rutschte unruhig auf seinem Stuhl umher. »Und haben Sie denn schon etwas gefunden?«, wollte er wissen.

»Darüber darf ich nichts sagen.«

»Verstehe. Aber Karl war nicht der Typ, der Abschiedsbriefe schreibt. An wen auch?«

»Hatte Ihr Chef irgendwelche Feinde?«

»Feinde?«, fragte er überrascht zurück. »Sie meinen also, es war kein Selbstmord?«

»Wir sind erst am Anfang der Ermittlung. Sie glauben, es war ein Suizid?«

»Er hat gerade alles verloren«, wich er aus und hob jetzt beide Hände. »Da weiß man nicht, wie ein Mensch reagiert. Zumal einer, der sich nicht in die Karten gucken lässt. Aber … Zu Ihrer Frage: Sicher hatte er auch Feinde. Nicht jeder von unseren Jugendlichen hat begriffen, dass wir nur zu ihrem Besten handeln.«

»Sie meinen, manche, die hier festgehalten wurden, haben Rachegelüste?«

»Das kann man wohl kaum ausschließen.« Er verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Trotz all unserer Bemühungen, verweigern sich manche der Umerziehung. Leider müssen wir auch die UVBs entlassen, wenn sie achtzehn und damit volljährig werden.«

»UVBs?«

»Unverbesserliche.«

»Aber niemand kommt hier so einfach rein oder raus«, sagte Beate nachdenklich. Sie sah zum Fenster hinüber, das hier weder vergittert war noch aus Milchglas bestand. Ein einsamer, halb vertrockneter Kaktus stand auf dem Fensterbrett. »Wir brauchen eine Liste der Leute, die einen Zugang zum Gebäude haben, und natürlich die Namen derjenigen, die in der fraglichen Nacht Dienst hatten.«

»Die Namen des Personals und weitere Informationen habe ich bereits an Ihren Kollegen, Oberleutnant Lehmann, gegeben. Und sonst … gelangen nur Leute hinein, die einen Grund dafür haben. Der Fahrer, der die Jugendlichen in ihre Stammwerkhöfe bringt, die Bauarbeiter, die Postfrau … Aber die meisten, die nicht zum Personal gehören, kommen auch nicht direkt in den Teil des Werkhofs, in dem sich die Jugendlichen befinden, sondern höchstens auf den Hof oder in den Eingangsbereich der Verwaltung.«

»Und die Eltern der Jugendlichen?«

»Besuch ist nur im Besucherraum gestattet.«

»Und wo befindet der sich?«

»In der Verwaltungsabteilung.«

Klar, dachte Beate. Der Anblick des Gefängnistrakts könnte ja unangenehme Fragen aufwerfen.

»Wo werden eigentlich die Schlüssel für den Jugendwerkhof aufbewahrt?« Beate dachte an Andreas und seine Beobachtung: Irgendjemand musste vor Tagesanbruch seine Tür geöffnet haben. Wer? Und wozu?

»Die Erzieher und das Personal tragen ihre Schlüssel bei sich. Sonst würden sie hier nicht weit kommen. Warum fragen Sie?«

»Ich möchte nur wissen, an wen ich mich wenden muss, wenn ich die einzelnen Räume inspizieren will.«

»Jederzeit an mich, Frau Vogt!« Er zeigte ihr ein wohlwollendes Lächeln, als würde er ihr gleich ein frisch gezapftes Pils ausgeben. »Sie bekommen selbstverständlich die Unterstützung, die Sie benötigen.«

»Davon gehe ich aus«, sagte sie trocken und erhob sich. Als sie an der Tür stand, drehte sie sich noch einmal zu ihm um. »Ach ja, eine Frage noch: Warum bringt man die Minderjährigen eigentlich in Zellen unter?«

»Zellen?« Reinold Spieß hob erstaunt die Augenbrauen. »Wir haben hier keine Zellen. Das sind Schutzräume. Die Jugendlichen müssen vor sich selbst geschützt werden.«

»Vor sich selbst?« Sie lächelte säuerlich.

»Die Jugendlichen, die hier eingewiesen werden, sind unberechenbar«, antwortete er. »Keiner von denen ist ein Unschuldslamm.«

Beate hörte den verächtlichen Ton und fragte sich, ob sie noch bleiben und nachhaken sollte. Doch sie hielt die Klinke schon in der Hand, und kurz dachte sie an ihre Meerschweinchen, die sie sicher mit einem hungrigen Quieken empfangen würden. »Über Ihre Ansichten zu den Heiminsassen sprechen wir noch ein anderes Mal«, sagte sie.

6

Die Erzieherin Hildegard Hellermann marschierte unruhig durch den Gang des Gefängnisbaus. Sie befand sich im Mädchentrakt, in dem bis vor Kurzem noch zwanzig Insassinnen gehaust hatten. Bis zu jenem Tag, als der Anruf kam: von ganz oben – aus dem Büro von Margot Honecker, von einem Mitarbeiter der Volksbildungsministerin. Oder gar von ihr höchstpersönlich? Direktor Zinkner hatte den Anruf entgegengenommen, den Befehl zur Auflösung: Plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Jugendliche wurden rücküberführt in ihre Stammwerkhöfe, Handwerker bestellt, die die Gitter abmontierten, die Gummiknüppel verschwanden aus dem Erzieherzimmer.

Und nun? Wie sollte es weitergehen?

Den Direktor konnte sie nicht mehr fragen …

Bei jedem ihrer Schritte klirrte der große Schlüsselbund, den sie am Gürtel trug.