Rabenruf - Patricia Rieger - E-Book

Rabenruf E-Book

Patricia Rieger

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Beschreibung

So hat sich David das geplante Abenteuer nun wirklich nicht vorgestellt. Er wollte doch nur heimlich zum Rachelsee wandern, da man dort in den Sonnwendnächten angeblich mit den Toten reden kann. Und er möchte so gern mit dem Geist seiner verstorbenen Mutter sprechen. Dumm nur, dass seine lästige Cousine Steffi den Plan durchschaut hat und nun natürlich mitkommen will. Also machen sich die beiden gemeinsam auf den Weg. Dabei treffen sie auf den rätselhaften Raben Blauschwinge, der David schon seit einer Weile verfolgt. Was will der Vogel von ihm? Und warum drängt er David dazu, in das Reich der Schwarzen Rachel einzutreten, obwohl es noch nie jemand geschafft hat, von dort zurückzukehren?

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Seitenzahl: 259

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Rabenruf

von

Patricia Rieger

Alle Rechtevorbehalten. Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden. Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Handlungen sind frei erfunden.

Evtl. Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

1. Auflage 2024

© Patricia Rieger

© Coverbilder: Depositphotos Evgenii141, gatterwe, alfadanz.stock.gmail.com, fennywiryani.gmail.com, Iniraswork

Covergestaltung: © Shadodex – Verlag der Schatten

© Bilder Innenteil: Depositphotos, alfadanz.stock.gmail.com, fennywiryani.gmail.com (Silhouetten Rabe), Evgenii141

(Rachelsee), illustrator_hft (Rabe auf Ast), johnpluto (See bei Nacht), Evgenii141 und (Pixabay) Echonn (Schwarze Rachel im See), Mehaniq (Stalagmiten), lumerb

(Sumpf), mollicart (Truhe mit Gold), Aleksei-veprev und (Pixabay) Echonn (Münzen), Kolonorf und tigatelu (Fahlschädel), doxtar(Buch),

Wikipedia High Contrast (Rachelsee original), Rosa-Maria Rinkl (Rachelkapelle)

Patricia Rieger (Autorenfoto)

Lektorat: Shadodex – Verlag der Schatten

© Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster, Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

ISBN: 978-3-98528-041-4

David und das

Geheimnis des

Rachelsees

So hat sich David das geplante Abenteuer nun wirklich nicht vorgestellt. Er wollte doch nur heimlich zum Rachelsee wandern, da man dort in den Sonnwendnächten angeblich mit den Toten reden kann. Und er möchte so gern mit dem Geist seiner verstorbenen Mutter sprechen. Dumm nur, dass seine lästige Cousine Steffi den Plan durchschaut hat und nun natürlich mitkommen will. Also machen sich die beiden gemeinsam auf den Weg. Dabei treffen sie auf den rätselhaften Raben Blauschwinge, der David schon seit einer Weile verfolgt. Was will der Vogel von ihm? Und warum drängt er David dazu, in das Reich der Schwarzen Rachel einzutreten, obwohl es noch nie jemand geschafft hat, von dort zurückzukehren?

Inhalt

Ein verwegener Plan

Der geheimnisvolle Rabe

Aufbruch in die Nacht

Ein trauriges Irrlicht

Begegnung mit dem Sumpfnickel

Die Schwarze Rachel

Im Reich der verirrten Seelen

Seltsame Bekanntschaften

Auf der Suche nach dem Wucherer

Die Ebene der Gruben

Im Sumpflabyrinth

Entscheidungen

Die Todesvögel des Torwächters

Friedrichs große Stunde

Im Goldverlies

Der Fall der Lusenräuber

Ein ungewöhnlicher Ausbruch

Fahlschädel

Der falsche Torwächter wird abgelöst

Ein Versprechen und viele Abschiede

Ein seltsamer Traum

Daheim

Danksagung

Autorenvorstellung

Für

meine

Enkel

(Patricia Rieger)

Ein verwegener Plan

Als David an diesem Morgen erwachte, spürte er nach langer Zeit zum ersten Mal wieder ein ganz besonderes Kitzeln im Bauch. So ein erwartungsvolles Kribbeln, wie man es am Morgen vor Heiligabend hat und das einem sagt: »Hey, heute wartet noch eine ganz tolle Überraschung auf dich.«

Er blieb mit geschlossenen Augen liegen und überlegte, woher dieses freudige Gefühl wohl kam. Es verwirrte ihn deshalb so, weil er in den letzten vier Monaten ganz vergessen hatte, wie sich Freude überhaupt anfühlte.

Das wohlige Kribbeln wurde bei diesem Gedanken sofort von der vertrauten, gallebitteren Leere verdrängt. Sie breitete sich langsam in ihm aus und ließ einen tranigen Geschmack auf der Zunge zurück. So war es immer, wenn David sich an diesen schrecklichen Abend vor vier Monaten erinnerte.

Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hörte er vom Bett über sich ein schrilles Quietschen, gefolgt von einem dumpfen Plumps. Jemand kniete sich auf seine Matratze und zupfte ungeduldig an seiner Bettdecke.

»Hey, David, bist du jetzt endlich wach?«

»Umpf!« Er versuchte sich das Kissen über den Kopf zu ziehen, doch seine Cousine Steffi war wie immer schneller.

Energisch rutschte sie näher, ohne sich daran zu stören, dass sie dabei auf seinem Bein landete. Sie packte einen Zipfel des Kissens und zerrte es aus seinen Händen. »Los jetzt, du Schlafmütze! Es ist sowieso schon viel zu spät. Wir brauchen einen Schlachtplan, bevor sie aufwachen.«

»Schlachtplan?« Beunruhigt öffnete er ein Auge. Wenn Steffi von einem Schlachtplan sprach, war höchste Vorsicht geboten. Ihr Anblick bestärkte ihn in seinen Befürchtungen.

Seine Cousine sah aus, als wäre sie schon seit Stunden wach. Ihre karamellfarbenen Augen blitzten, und jede einzelne der unzähligen Sommersprossen in dem herzförmigen Gesicht schien von innen heraus zu leuchten. Ihre krausen, karottenroten Haare standen abenteuerlich in alle Richtungen ab.

»Na, du weißt doch.« Steffis Stimme wurde zu einem geheimnisvollen Flüstern. »Unternehmen Rachelsee.«

Mit einem Ruck fuhr David in die Höhe.

Natürlich! Wie hatte er das nur eine Sekunde lang vergessen können? Deshalb also dieses aufgeregte Bauchgefühl.

»Na also, jetzt hat er’s endlich gecheckt. Wurde auch Zeit.« Steffi nickte zufrieden und rückte ein wenig von ihm ab.

David stöhnte erleichtert auf. Verstohlen massierte er sein linkes Schienbein, auf dem es sich seine Cousine mit ihrem spitzen Knie bequem gemacht hatte.

Gespannt sah sie ihn an. »Also, wie gehen wir vor?«

Eine von Steffis nervigsten Eigenschaften war ihre unbeirrbare Zielstrebigkeit. Wenn sie sich einmal an einer Idee festgebissen hatte, ließ sie nicht mehr locker, bis sie Gestalt angenommen hatte. Auf diese Weise hatte sie es auch geschafft, ihn in den letzten Monaten immer wieder aus seiner einsamen Grübelei zu reißen. Sie hatte es einfach nicht akzeptiert, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. Stattdessen hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, ab sofort einen – wenn auch nur um ein Jahr – älteren Bruder zu haben, mit dem man jede Menge Spaß und Abenteuer erleben konnte.

Umso mehr sich David dagegen wehrte, desto verbissener bearbeitete sie ihn, bis ihm klar wurde, dass er nur dann ein wenig Ruhe bekam, wenn er nachgab. Genauso war es auch mit dem Rachelsee.

Eigentlich hatte er die Sache allein und heimlich durchziehen wollen. Aber Steffi war nicht nur ekelhaft hartnäckig. Für ihre zehn Jahre hatte sie außerdem einen ziemlich guten Riecher, wenn es um Geheimnisse ging. Es hatte gestern gerade mal eine zermürbende halbe Stunde gebraucht, bis sie aus ihm herausquetschte, was er vorhatte. Von da an war ihm die Planung aus der Hand genommen worden.

Steffi war bei dem Gedanken, mitten in der Nacht heimlich zu dem gruseligen und sagenumwobenen Rachelsee zu wandern, Feuer und Flamme gewesen. Er lag einsam mitten im Bayerischen Wald und war nur durch einen einstündigen Marsch zu erreichen.

Die Idee dazu war David gestern bei einer Wanderung mit Steffi, Onkel Rasmus und Tante Leonie gekommen.

Onkel Rasmus war ein sehr guter und vor allem sehr begeisterter Biologielehrer an dem Gymnasium, das David seit dem Tod seiner Mutter mit mäßigem Erfolg besuchte. Er verbrachte jede freie Minute damit, seine Familie, zu der nun auch David gehörte, in irgendwelche Gegenden zu schleppen, in denen es interessante Biotope, Tiere, Pflanzen oder Wetterphänomene gab.

In diesen Pfingstferien (Anmerkung: Die Ferien mussten aufgrund der Geschichte leicht verschoben werden) hatte sich sein Onkel den Bayerischen Wald als Studienplatz ausgesucht. Und gestern waren sie bei einer der vielen Wanderungen, zu denen Onkel Rasmus seine Familie ständig antrieb, auf dem Rückweg vom Rachelberg am Rachelsee vorbeigekommen.

David hatte das Bild des Sees auch heute noch so genau vor Augen, als würde er wieder am Ufer des kleinen, fast schwarzen Sees mitten im unberührten bayerischen Urwald stehen.

Der See hatte David sofort in seinen Bann gezogen. Und während Onkel Rasmus begeistert erzählte, dass der Rachelsee schon während der Eiszeit aus dem Schmelzwasser des Rachelgletschers entstanden und über dreizehn Meter tief sei, stand David mit klopfendem Herzen da und blickte fasziniert auf die glatte, dunkelbraune Wasseroberfläche. Sie wurde von keiner Welle gekräuselt. Erst ein lautes, hohl klingendes Krok über ihm riss ihn aus seiner Versunkenheit.

»Habt ihr das gehört? Das war ein Kolkrabe.«

Onkel Rasmus sprudelte über vor Begeisterung. Er erzählte aufgeregt alles Mögliche über Kolkraben, während sich David einer der Schautafeln zuwandte, die am Ufer des Rachelsees aufgestellt waren. Sein Blick blieb an einer kurzen Beschreibung der Sagen um diesen See hängen, und plötzlich machte sein Herz einen Riesensatz. Denn dort stand:

»So sollen hier die Geister von Verstorbenen ›umgehen‹. Nach der Sage ist im See der Zugang zur Unterwelt. ›Erforschst du mich, verschling ich dich‹, heißt es.«

David starrte auf diese Sätze, während es heiß von seinem Bauch in seine Kehle stieg, bis er das Gefühl hatte, ein ganzes Lagerfeuer verschluckt zu haben. Und dann überrollte ihn die Erinnerung.

Wieder erlebte er diesen Abend vor vier Monaten, an dem Onkel Rasmus mit ernster Miene in das Gästezimmer gekommen war und sich schweigend zu ihm aufs Bett gesetzt hatte. Sein langes, schmales Gesicht mit den vielen Sommersprossen war noch blasser gewesen als üblich, und das lustige Funkeln, das sonst immer in seinen Augen aufblitzte, war völlig verschwunden. Beunruhigt hatte David ihn angesehen und gedacht: Verflixt, bestimmt klappt es jetzt nicht mal mit der Skihütte und ich sitze die ganzen Ferien hier fest, während Mama mit dem Loser im Meer baden darf.

Doch dann hatte Onkel Rasmus nach seiner Hand gegriffen. »David, du musst jetzt ganz tapfer sein. Wir haben gerade einen Anruf bekommen. Deine Mama, sie hatte einen Unfall …«

David wollte es damals erst nicht wahrhaben. Er schloss sich in das Gästezimmer ein und starrte stundenlang an die Decke.

Seine Mutter war ganz bestimmt nicht tot. Sie war einfach nur mit dem Loser für eine Woche in den Urlaub geflogen.

Loser, so nannte er den neuen Freund seiner Mutter, mit dem sie jetzt schon seit Monaten rummachte, weil der Kerl mit seinen bleichen Fingern nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen konnte. So ein richtiger Anzugtyp eben. Nur wegen ihm hatte sie David gegen seinen Willen bei der Familie ihres Bruders zurückgelassen.

David hatte deswegen einen hässlichen Streit mit ihr gehabt. Er endete damit, dass er wütend aus dem Zimmer polterte und die Tür hinter sich zuknallte. David wusste, dass seine Mama danach geweint hatte, doch er sprach kein einziges Wort mehr mit ihr. Nicht einmal als Onkel Rasmus am nächsten Morgen gekommen war und ihn abgeholte. David sollte mit ihm und seiner Familie für eine Woche auf eine Skihütte fahren.

Daraus wurde dann natürlich nichts.

Die folgenden Wochen waren für David der reinste Albtraum gewesen. Als er endlich begriffen hatte, dass seine Mutter nie mehr kommen würde, war er furchtbar wütend auf sie geworden, weil sie ihn allein gelassen hatte, und auf alle anderen, weil sie es nicht verhindert hatten.

Als die Wut dann vergangen war, war ihm nur noch die Traurigkeit geblieben. Und daran hatte sich nichts geändert, bis er am Ufer des Rachelsees die Schautafel entdeckte.

Wenn es in diesem See wirklich einen Zugang zur Unterwelt gab, konnte man von hier aus mit den Toten sprechen. Bestimmt konnte er dann auch seine Mutter treffen und ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass sie sich so gestritten hatten.

Angestrengt blinzelte David die Tränen fort, die ihm bei diesem Gedanken in die Augen stiegen. Die anderen durften auf keinen Fall etwas von seiner Idee mitbekommen.

Schnell wandte er sich von der Tafel ab und ließ seinen Blick noch einmal über den stillen, finsteren See wandern. Er lag in einem tiefen Kessel, umrahmt von dunklen Bergfichten, die direkt bis ans Seeufer reichten. David zweifelte keinen Augenblick daran, dass es an diesem Ort nicht immer mit rechten Dingen zuging.

Auf der Rückwanderung lief er dann völlig in sich gekehrt hinter den anderen her, was nicht auffiel, da David sowieso nie besonders gesprächig war. Er bekam nicht viel von Rasmus’ weiteren Erklärungen mit. Nur der immer wiederkehrende, hohle Ruf des Kolkraben ließ ihn ab und zu aus seinen Gedanken aufschrecken. Der Vogel schien der Wandergruppe hoch über den Baumwipfeln eine ganze Weile zu folgen. Erst kurz bevor sie den Waldparkplatz erreichten, an denen der »Igelbus« die Wanderer abholte, drehte der Rabe ab und verschwand wieder in Richtung Rachelsee.

Im Bus setzte sich David dann ganz nach vorne und versuchte sich die Route vom Parkplatz nach Spiegelau zu merken, wo ihre Ferienwohnung lag. Wenn er später heimlich mit seinem Fahrrad zum See zurückkehren wollte, musste er die Route zum Wanderweg genau kennen.

David war so in seine Pläne vertieft, dass er zunächst nicht auf den redseligen Busfahrer achtete, der sich lauthals mit einem Fahrgast unterhielt. Erst als das Wort Rachelseefiel, wurde er aufmerksam.

»Jo vum Rachlsee habt’s ös gwiß scho gheat. An Sonnwend zwischa zwejfö und fimfö e da Friah do kannt oana de tote Seel’ umananda ganga sen.«

Angestrengt versuchte David den ungewohnten Dialekt zu verstehen. Es dauerte etwas, doch dann begann sein Herz wie wild zu schlagen. Anscheinend war es um die Sonnenwende besonders günstig, mit den Toten zu sprechen. Und von seinem Onkel wusste er, dass die Sommersonnenwende am 21. Juni war. Da war nämlich der längste Tag des Jahres, danach wurden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger.

David konnte sein Glück zunächst gar nicht fassen. Der 21. Juni war nämlich am folgenden Tag.

Das ist ein Zeichen,dachte er aufgeregt. Das kann kein Zufall sein. Ich muss morgen Nacht unbedingt zum Rachelsee.

So hatte seine verrückte Idee langsam Gestalt angenommen, bis – ja, bis Steffi ihn dann in die Mangel genommen und alles aus ihm herausgeholt hatte. Und natürlich bestand sie nun darauf, ihn zu begleiten.

Wenn er ehrlich war, war er ziemlich froh darüber. Der Gedanke an eine lange, einsame Wanderung im Dunkeln quer durch den dichten Bayerischen Wald, hatte ihn doch ganz schön beunruhigt. Aber mit Steffi war es jetzt nur noch ein spannendes Abenteuer.

David sah seiner Cousine in das erwartungsvolle Gesicht, und plötzlich musste er grinsen. Sie hockte aufgeregt mit wirren Haaren und riesigen Augen vor ihm auf seiner Bettdecke und wartete auf eine Antwort.

In diesem Augenblick hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass es gar nicht so übel war, eine Schwester zu haben, mit der man gemeinsam durch dick und dünn gehen konnte.

Er boxte Steffi gegen die Schulter und sprang aus dem Bett. »Du willst wissen, wie wir vorgehen? Ganz einfach, immer einen Schritt nach dem anderen. Und als Erstes will ich frühstücken. Dann machen wir den Ausflug in das Wildtiergehege, den dein Vater schon so lange plant.« Er hob den rechten Zeigefinger wie sein Onkel und setzte eine wichtige Miene auf. »Er wird bestimmt wieder sehr lehrreich sein.«

»Uh!« Steffi verzog angewidert das Gesicht. »Was bist du auf einmal für ein Streber. Klar ist es ganz lustig, Tiere anzusehen, aber es ist viel wichtiger, unser Unternehmen zu planen.«

David zuckte lässig mit den Schultern. Es hatte wirklich was, ein älterer Bruder zu sein. »Was sollen wir noch groß planen? Sobald deine Eltern schlafen, schleichen wir raus, greifen uns die Fahrräder, schnallen die Rucksäcke mit den Decken und Taschenlampen drauf und radeln zum Wanderparkplatz. Und dann geht’s direkt zum See. Wir müssen nur darauf achten, zwischen Mitternacht und fünf Uhr früh dort zu sein. Der Busfahrer hat gesagt, das sei die beste Zeit, um die Toten zu treffen.«

Seine Cousine schauderte. Die Sommersprossen hoben sich deutlich von ihrem blassen Gesicht ab. »Und du glaubst wirklich, dass dort heute Nacht die Geister der Verstorbenen umgehen? Ist das denn nicht gefährlich?«

»Ach was.« David versuchte, möglichst cool auszusehen, damit Steffi nicht merkte, dass ihm auch nicht ganz wohl bei der Sache war. »Geister können dir nichts tun, außer dich erschrecken. Wenn wir uns also nicht erschrecken lassen, kann gar nichts passieren. Und meine Mutter wird uns bestimmt nicht erschrecken.«

Schnell drehte er sich um, schnappte seine Klamotten und lief ins Bad, um sich anzuziehen. Steffi musste ja nicht sehen, dass ihm schon wieder die lästigen Tränen in die Augen gestiegen waren.

Der geheimnisvolle Rabe

Die Fahrt ins Nationalpark-Besucherzentrumbei Ludwigsthal verging wie im Flug. OnkelRasmus erzählte ihnen ausführlich, welche Tiere es dort zu sehen gäbe. Er sprach über Wildpferde, Urrinder, Wölfe und Luchse, Tiere also, die früher einmal im Bayerischen Wald heimisch gewesen seien. Außerdem gäbe es dort noch die Nachbildung einer Steinzeithöhle, in der man Felsenmalereien und steinzeitliche Werkzeuge anschauen könne.

David interessierte sich vor allem für die Wölfe und die Luchse. Sie hatten vor zwei Tagen schon ein größeres Wildtiergehege besucht, wo es Bären und eine Menge anderer Tiere gegeben hatte. Doch die Wölfe und Luchse dort hatten sich so gut versteckt, dass David keinen von ihnen in den riesigen Gehegen entdecken konnte. Heute hoffte er auf mehr Glück.

Erwartungsvoll lief er hinter seinem Onkel her, um zu den Freigehegen zu kommen. Ihr bevorstehendes nächtliches Unternehmen »Rachelsee« verdrängte er so gut wie möglich aus seinen Gedanken.

Da ertönte direkt über ihm ein vertrautes hohles Krächzen. Abrupt blieb er stehen und durchforschte die dichten Baumwipfel.

Da saß er und blickte ihm direkt in die Augen.

David konnte spüren, wie sich die feinen Härchen auf seinen Armen aufstellten. Er hätte nie gedacht, dass ein Rabe so groß sein könne. Er hatte sich Raben immer nur wie etwas größere Krähen vorgestellt, doch da hatte er sich gewaltig geirrt.

Der Vogel über ihm hatte nur wenig Ähnlichkeit mit den gewöhnlichen Saatkrähen, die er oft genug auf den Feldern herumhüpfen sah. An ihm war auch überhaupt nichts gewöhnlich. Er saß majestätisch mit glänzendem, blauschwarz schimmerndem Gefieder zwischen den Zweigen und ließ David nicht eine Sekunde aus den Augen. Und in diesen Augen glitzerte etwas, das David einen Schauer über den Rücken rieseln ließ.

Er wusste nicht, wie lange er gebannt dagestanden und den Blick des Raben erwidert hatte. Doch schließlich räusperte er sich und sprach den Vogel leise an. »Hallo. Bist du es, der uns gestern vom Rachelsee gefolgt ist?« Er hatte keine Ahnung, wie er auf die Idee kam, doch irgendetwas an dem Tier erschien ihm seltsam vertraut.

Der Rabe starrte ihn forschend an, sträubte sein Gefieder, schüttelte sich kurz und ließ noch einmal seinen durchdringenden Ruf ertönen. Dann breitete er die Flügel aus und glitt lautlos zwischen den Baumwipfeln davon.

David starrte ihm hinterher, bis ihn ein energisches Zupfen an einem Ärmel zusammenfahren ließ.

»Was ist denn jetzt wieder mit dir los?«, fragte Steffi neugierig. »Hast du auf einmal keine Lust mehr auf die Wölfe?«

»Doch, klar.« David fuhr sich zerstreut mit den Fingern durch die Haare. »Hast du gerade den Raben gesehen, der da auf dem Baum saß? Er ist nur dagehockt und hat mich beobachtet. Es war richtig unheimlich.«

Steffis Blick wanderte aufmerksam durch die Baumwipfel. Sie schüttelte den Kopf. »Hier ist kein Rabe. Vielleicht hast du ja nur eine Amsel gesehen. Die sind auch schwarz. Papa hat doch gesagt, dass Raben ziemlich selten und auch ganz schön scheu sind. Aber jetzt komm endlich, da vorne sind die Wildpferde mit dem schwierigen Namen. Ich glaube, sie haben Fohlen. Die sind total süß.«

Bevor David verärgert antworten konnte, dass er nicht so dämlich sei, einen Raben mit einer Amsel zu verwechseln, war Steffi schon zum Gehege der Wildpferde vorgerannt.

»Typisch Mädchen.« Verächtlich schüttelte er den Kopf. »Sobald irgendwo irgendwelche Gäule auftauchen, sind sie ganz aus dem Häuschen.« Allerdings musste er zugeben, dass die kleine Wildpferdeherde mit ihren Fohlen wirklich lustig anzusehen war. Die Fohlen waren gut drauf und buckelten und galoppierten über die Weide, während sich die älteren Pferde immer wieder gegenseitig von den Futterplätzen wegdrängten.

Als sie schließlich zum Wolfsgehege aufbrachen, hatte David den Raben schon wieder vergessen.

Bei den Wölfen hatten sie diesmal mehr Glück, was daran lag, dass sie kurz vor der Fütterungszeit am Gehege ankamen. David konnte sieben Wölfe zählen, die unruhig durch das Gehege streiften. Fasziniert beobachtete er, wie die Rudelmitglieder miteinander umgingen. Er konnte deutlich erkennen, welche Wölfe ranghoch und welche rangnieder waren. Der Ranghöchste, den Onkel Rasmus den Alpha-Wolf nannte, trug seinen Schwanz ‒ oder seine Rute ‒ viel höher als die anderen Wölfe. Und eine junge Wölfin, die nicht einmal in die Nähe der anderen kommen durfte, ohne gleich verjagt zu werden, hatte die Rute so eng unter dem Bauch eingeklemmt, dass sie kaum zu sehen war.

»Das ist aber echt fies, wie die mit der armen Wölfin umgehen!« Steffis Gesicht war vor Empörung so rot geworden, dass ihre Sommersprossen kaum noch zu erkennen waren. »Und dieser blöde Alpha-Wolf verjagt sie nicht einmal selbst, sondern schickt dazu nur einen seiner Kumpel. Das geht ja wohl gar nicht!«

David gab seiner Cousine recht. Ihm tat die zierliche Wölfin auch leid. Kein Wunder, dass sie so klein war, sie bekam bestimmt immer nur die Reste des Futters. Diese Erkenntnis enttäuschte ihn. Er hatte sich das Verhalten eines Wolfsrudels etwas sozialer vorgestellt.

Onkel Rasmus’ Antwort auf Steffis empörte Bemerkung ließ ihn aufhorchen.

»Diese strenge Rangordnung, die ihr hier seht, könnt ihr nicht auf frei lebende Wolfsrudel übertragen. Ihr dürft nicht vergessen, dass Tiere in der Gefangenschaft ganz andere Verhaltensweisen entwickeln als in der Wildnis. Dort gibt es nämlich viel mehr Platz. Die ausgewachsenen Tiere können sich, wenn die Zeit gekommen ist, vom Rudel trennen und sich eigene Reviere suchen, sodass es gar nicht erst zu solchen unschönen Auseinandersetzungen kommt wie in Gefangenschaft. Hier müssen die Tiere auf zu engem Raum miteinander klarkommen, was eben immer wieder zu Streitereien führt. Und einer ist dabei oft der Prügelknabe, der sogenannte Omega-Wolf, wie hier die junge Wölfin. In Freiheit hätte sie sich schon längst vom Rudel getrennt und vielleicht sogar mit einem anderen Jungwolf ein eigenes Rudel gegründet. Ihr dürft also nicht die Wölfe beschimpfen. Was ihr hier seht, könnt ihr nicht einfach auf ihr natürliches Verhalten übertragen.«

Nachdenklich sah David von dem Steg, der quer über das Gehege führte, auf die Gruppe Wölfe hinunter. Einige lagen jetzt in weichen Moospolstern unter den Bäumen und waren kaum noch zu erkennen, weil ihr grau-beiges Fell sie so gut tarnte. Die junge Wölfin hatte sich von den anderen entfernt hingelegt und wälzte sich ausgiebig im Gras. Die Ähnlichkeit mit großen Hunden war verblüffend. Doch plötzlich sprangen sie alle wie auf ein geheimes Kommando auf und verschwanden hinter einem der Hügel. Die Wölfin folgte zögernd mit einigem Abstand.

»Jetzt werden sie wohl gefüttert.«

Noch bevor Onkel Rasmus ausgesprochen hatte, ertönte ein lautes Geheul, das David einen Schauer über den Rücken jagte. Es hörte sich richtig unheimlich an. Und es hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit den Tönen, die Hunde von sich gaben.

Noch ganz benommen von den vielen Eindrücken lief David mit den anderen weiter zum Luchsgehege. Dort angekommen durchforschte er das Unterholz und die Felsen in dem Gehege so intensiv, dass er das Tier, das regungslos und hoch aufgerichtet auf einem Felsen direkt neben dem Zaun saß, zuerst nicht bemerkte. Doch dann konnte er sein Glück gar nicht fassen.

Der Luchs saß völlig ungerührt und furchtlos da und starrte angestrengt auf einen Punkt in weiter Ferne. Er schien seine Bewunderer überhaupt nicht zu bemerken.

Von einem begeisterten Onkel Rasmus erfuhren sie, dass es sich hier um ein männliches Tier, den Kuder,handle, der eine Schulterhöhe von bis zu siebzig Zentimeter erreichen könne.

»Und stellt euch mal vor, es gibt wieder frei lebende Luchse hier im Bayerischen Wald. Zwar wurden schon 1846 die letzten Luchse hier getötet, aber in den 1950er-Jahren sind vermutlich einzelne Tiere aus Tschechien wieder eingewandert.«

Nachdenklich betrachtete David das gefleckte Tier, das stolz und geheimnisvoll vor ihm auf dem Felsen saß. Jeder hatte die Luchse hier schon für ausgestorben gehalten, für tot, doch dann waren sie fast unbemerkt wieder zurückgekommen.

Und auf einmal konnte er es gar nicht mehr erwarten, bis es endlich Nacht wurde und er mit Steffi zu ihrem Unternehmen »Rachelsee« aufbrechen konnte.

Den Rest des Tages war David ziemlich geistesabwesend. Das Picknick, das Tante Leonie vorbereitet hatte, schlang er abwesend in sich hinein. Dabei starrte er blicklos auf die Wildpferde, zu denen sie zurückgekehrt waren, und reagierte kaum auf Steffis begeisterte Ausrufe, wenn eines der frechen Fohlen einen Bocksprung machte. Auch von dem Rundgang durch die Steinzeithöhle bekam er fast nichts mit, obwohl die ihn normalerweise fasziniert hätte. Die besorgten Blicke, die sich Tante Leonie und Onkel Rasmus wegen seines abwesenden Verhaltens zuwarfen, bemerkte er nicht.

Als sie wieder in ihrer Ferienwohnung waren, verzog er sich nach draußen, um an seinem Fahrrad herumzubasteln. Dabei fuhr er zum hundertsten Mal in Gedanken den Weg zum Wanderparkplatz ab, damit er sich in der Nacht auf keinen Fall verirrte.

Zum Glück hatte David einen guten Orientierungssinn. Seine Mutter hatte sich immer auf ihn verlassen, egal ob sie wanderten oder mit dem Auto in fremde Gegenden fuhren. Immer war er derjenige mit der Karte in der Hand gewesen, der sie sicher an den gewünschten Ort dirigiert hatte.

Schnell schluckte David den dicken Kloß hinunter, der sich bei diesen Erinnerungen in seiner Kehle festzusetzen drohte.

Als seine Tante ihn zum Abendessen herein rief, folgte er ihr widerwillig und wusch sich die Hände. Er hatte überhaupt keinen Hunger. Sein Magen fühlte sich an, als hätte er gerade eine wilde Achterbahnfahrt hinter sich gebracht.

Besorgt strich ihm Tante Leonie über die Stirn. »Du wirst doch nicht krank werden, mein Junge? Du siehst ein wenig mitgenommen aus. Fehlt dir was?«

»Nein, alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen müde. Ich werde heute mal früher schlafen gehen.«

»Ja, ich auch.« Eifrig nickte Steffi den anderen zu und versuchte, ebenfalls müde auszusehen, was ihr kläglich misslang.

Misstrauisch sah ihre Mutter sie an. »Na, das ist ja ganz was Neues. Seit wann gehst du freiwillig ins Bett? Vielleicht solltest du David heute lieber mal in Ruhe lassen.«

»Ich werd ihn bestimmt nicht nerven, wenn er schlafen will. Aber ich hab gerade so ein spannendes Buch, das ich unbedingt fertig lesen möchte.«

»So, so. Und was für ein Buch ist das?« Interessiert beugte sich Onkel Rasmus vor.

»Eins über Geisterjäger. Das ist echt cool.«

Steffi zuckte kaum merklich zusammen, als David ihr unter dem Tisch strafend gegen das Schienbein trat. Sie warf ihm einen empörten Blick zu und wurde rot, als seine Augen sie wütend anfunkelten. Doch ihre Eltern bemerkten zum Glück nichts von dem stillen Gefecht zwischen den beiden.

»Also gut, dann lauft schon auf euer Zimmer. Vergesst aber nicht vor lauter Müdigkeit, die Zähne zu putzen.« Tante Leonie strubbelte Steffi liebevoll durch die Haare und lächelte David zu, bevor sie sich an ihren Mann wandte. »Dann machen wir es uns eben zu zweit gemütlich. Ich glaube, ich gehe heute auch früher schlafen. Du machst mich noch total fertig mit deinem anstrengenden Urlaubsprogramm.«

Erleichtert sprang David auf, brachte sein Geschirr in die Küche und lief in das kleine Zimmer, das er sich mit Steffi teilte. Darin war gerade mal Platz für ein Etagenbett, ein Nachtschränkchen und zwei Stühle. Aber es lag ebenerdig, was für ihr heutiges Unternehmen ideal war. So konnten sie, wenn Tante Leonie und Onkel Rasmus fest schliefen, einfach aus dem Fenster steigen. Gleich neben der Hauswand lehnten ihre Fahrräder. Es war weiterhin gutes Wetter angesagt, sodass sie das Fenster unbesorgt angelehnt lassen konnten, um dann später wieder unbemerkt in ihr Zimmer einzusteigen.

»Hast du gehört?« Steffi, die gleich hinter ihm ins Zimmer gerannt war, bebte vor Aufregung. »Sie wollen heute auch früher schlafen gehen. Das passt doch megagut. Alles läuft wie geschmiert.«

»Ja, außer du machst noch so ein paar blöde Bemerkungen, damit sie doch noch Verdacht schöpfen«, fuhr er seine Cousine an. Er hatte die Geschichte mit den Geisterjägern nicht vergessen.

»Ich?« Empört blies sie die Backen auf. »Wer von uns beiden ist denn heute den ganzen Tag völlig von der Rolle gewesen, ich ja wohl nicht. Mama war so besorgt, dass sie dich die ganze Zeit beobachtet hat.« Steffis Augen verschossen Blitze. Sie stand kurz vor einem ihrer berüchtigten Wutanfälle.

Schnell hielt David ihr den Mund zu. »Scht! Dich hört man ja durchs ganze Haus.« Da er wusste, dass Steffi sich nur beruhigen würde, wenn er nachgab, fügte er hinzu: »Tut mir leid. Ich war wirklich ein bisschen von der Rolle. Aber jetzt ist es wieder okay. Also lass uns noch mal den Plan durchgehen.«

Sofort hörte Steffi auf zu zappeln und ihre Augen funkelten unternehmungslustig, nicht mehr wütend. Eins musste man ihr lassen, sie war nie nachtragend und beruhigte sich immer genauso schnell, wie sie sich aufregte.

»Also, jetzt ist es acht Uhr vorbei. Wir sollten unbedingt zwei, drei Stunden schlafen, damit wir nachher fit genug sind.« Steffi tippte wichtig auf ihre Armbanduhr. »Ich werde meinen Timer einstellen, damit wir nicht verpennen. Er ist leise genug, sodass Mama ihn nicht hört. Und Papa schnarcht sowieso immer so laut, dass er nix mitkriegt.«

»Okay.« David stimmte ihr zu, obwohl er fest davon überzeugt war, dass er heute Nacht nie im Leben einschlafen könne.

»Und …« Triumphierend zog Steffi einen Zettel unter ihrem Kissen vor. »Ich habe vorhin sicherheitshalber noch einen Brief geschrieben, für den Fall, dass sie unsere Abwesenheit doch bemerken. Da steht, dass wir eine kleine Nachtwanderung machen wollen und in zwei Stunden wieder zurück seien. Ich hab auch geschrieben, dass wir die Handys dabei hätten und sie sich keine Sorgen machen sollen. Und Papa braucht deshalb nicht auszurasten, schließlich hat er mir mal erzählt, dass er so was als Kind ständig mit seiner Schwester gemacht hätte.« Verlegen biss sie sich auf die Lippen, als sie Davids Gesicht sah. Dann gab sie sich einen Ruck. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht an deine Mama erinnern. Aber wir werden sie heute Nacht treffen, da bin ich mir ganz sicher. Und dann wird alles wieder gut.«

David nickte ihr kurz zu, dann wandte er sich schnell um und lief in das angrenzende kleine Bad, um sich zum Schlafen fertig zu machen.

Ja, er würde heute Nacht endlich wieder mit seiner Mutter sprechen. Steffi hatte recht. Und dann würde alles wieder gut werden.

Aufbruch in die Nacht

Das leise Geräusch der Türklinke ließ David mitklopfendem Herzen aufwachen. Er war dochtatsächlich trotz der ganzen Aufregung eingeschlafen.

Ein schwacher Lichtschein fiel durch den Türspalt ins Zimmer, und er schloss schnell wieder die Augen, als er spürte, dass jemand leise näher kam.

Seine Tante machte noch ihren abendlichen Rundgang, bevor sie ins Bett ging. Er hörte, wie sie zwei Sprossen der schmalen Leiter hochstieg, um nach Steffi zu sehen, die im oberen Etagenbett lag und laut atmete. Seine Cousine schlief tief und fest. Das war gut, denn Steffi war eine extrem schlechte Schauspielerin. Sie hätte Tante Leonie mit Sicherheit keine Sekunde vortäuschen können, dass sie schlafe.

Jetzt wandte sich Tante Leonie ihm zu und er bemühte sich, möglichst ruhig dazuliegen. Er spürte, wie sie ihm sanft über den Arm strich und seine Bettdecke etwas höher zog, um ihn besser zuzudecken. Er konnte den angenehmen Duft ihrer Creme riechen, die sie immer vor dem Schlafengehen auftrug. Dann verließ sie leise das Zimmer.

Davids Augen brannten. Er hatte nicht gewusst, dass Tante Leonie ihn so liebevoll und selbstverständlich in ihren Rundgang einbezog. Es hatte sich fast so angefühlt wie bei seiner Mutter, die auch jeden Abend noch nach ihm gesehen hatte. Allerdings war das nie so leise geschehen wie eben bei seiner Tante.

Ein zittriges Lächeln zuckte um seinen Mund. Seine Mutter war seiner Cousine vom Temperament her sehr ähnlich gewesen. Bei ihr war selten etwas ruhig und sanft abgelaufen. Sie war immer voller Energie gewesen, mit ihr war nie Langeweile aufgekommen.

Verstohlen sah er auf seine Uhr. Es war 22:30 Uhr. Wenn Tante Leonie jetzt ins Bett ginge, dauerte es mindestens noch eine halbe Stunde, bis sie schlafen würde.

Wenn er also auf Nummer sicher gehen wollte, konnten er und Steffi nicht vor 23:30 Uhr starten. Dann noch die halbe Stunde, die er für die Fahrt mit dem Fahrrad zum Wanderparkplatz rechnete, und eine gute Stunde Fußweg, sodass sie gegen ein Uhr am Rachelsee sein konnten. Dann blieben ihnen noch vier Stunden, um seine Mutter zu finden. Das musste einfach genügen.