Kinder der Wälder - OCIA - Patricia Rieger - E-Book

Kinder der Wälder - OCIA E-Book

Patricia Rieger

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Beschreibung

Sean schloss erschöpft die Augen. Es gab so viel, das ihm durch den Kopf ging und ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Was war aus seinem ruhigen, geregelten Leben geworden? Seit einiger Zeit kam er sich vor, als sei er in eine total verrückte Fantasygeschichte geraten. Wesen aus fremden Welten, mysteriöse Fähigkeiten … und jetzt auch noch eine Schamanin als Tante! Sean steht mit beiden Beinen fest im Leben. Doch dann wirft das Schicksal sein wohlgeordnetes Leben vollkommen über den Haufen, als er auf eine geheimnisvolle Fremde trifft, mit der er auf ganz besondere Weise verbunden zu sein scheint. Bald schon wird ihm klar, dass ihr Zusammentreffen kein Zufall ist. Auf sie wartet eine lebensgefährliche Aufgabe, bei der es um nicht weniger als die Rettung einer ganzen Welt geht. Wie gut, dass ihnen dabei die mächtige Geheimorganisation OCIA mit einem Einsatzteam aus ziemlich ungewöhnlichen und nicht ganz ungefährlichen Teammitgliedern zur Seite steht. Kinder der Wälder ist der zweite in sich abgeschlossene Einzelband mit 619 Seiten der außergewöhnlichen Urban-Fantasy-Romance-Reihe OCIA Bisher erschienen aus der OCIA-Reihe im Tomfloor Verlag: Sohn der Monde (Band 1)

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Sanft wie das Winden eines weichen Bandes

sind du und ich seit Ewigkeit verbunden,

ich, Bote eines fernen, fremden Landes,

kann nur mit dir vereint gesunden.

Das Band, das uns verbindet, ist verschlungen,

du musst allein den Knoten darin lösen,

und ist dies Lösen dir gelungen,

sind wir genesen.

 

Ephides

 

 

 

 

Für meinen Mann, der immer bereit ist,

Tepilit und mich bei der Verbesserung

der Sprungstromgeneratorentechnik

zu unterstützen.

Prolog

 

Der Mond stand bleich und rund am nächtlichen Himmel.

Voller Unbehagen betrachtete sie die leuchtende Scheibe.

Die merkwürdige Unruhe, die sie seit dem letzten Neumond so plötzlich befallen hatte, war Nacht für Nacht mit dem Zunehmen des Mondes weiter angewachsen und hatte heute ihren Höhepunkt erreicht.

Große Ereignisse standen bevor. Doch sie wusste nicht, ob es sich dabei um gute oder schlechte Begebenheiten handelte. Erst zweimal in ihrem Leben hatte sie eine ähnliche Unruhe verspürt. Beim ersten Mal hatte sie kurz darauf ihre Tochter empfangen, dem zweiten Mal war der Tod ihres geliebten Mannes gefolgt.

Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Es half alles nichts, sie musste sich dem Kommenden stellen. Und dazu musste sie ihr seit Generationen überliefertes Wissen hervorholen und sich auf eine Visionenreise begeben. Seufzend verließ sie ihren Platz am Fenster, warf sich ihr warmes, wollenes Tuch über und verließ das kleine, einsam gelegene Cottage.

Die Nacht war ungewöhnlich klar, ein eisiger Wind blies von den westlich gelegenen Klippen herüber und ließ sie trotz des dichten Tuchs zittern. Doch unbeirrt stemmte sie sich ihm entgegen.

Nach einer halben Stunde Fußmarsch war ihr Ziel in Sicht. Die einsame Gruppe Haselsträucher, die tapfer der steifen Meeresbrise trotzte, hob sich im Licht des Vollmondes deutlich von der kargen Umgebung ab. Nur wenige Yards davon entfernt, fielen die Klippen steil ab in das wild schäumende Meer.

Vorsichtig suchte sie sich ihren Weg durch das dichte Gesträuch, bis sie in den kleinen, kreisrunden Innenraum der Baumgruppe trat. Das Blätterwerk bot guten Schutz vor dem eisigen Wind. Hier im Inneren der Sträucher herrschte eine andächtige Stille, die durch das Brausen des Windes und das Rauschen der Brandung außerhalb noch hervorgehoben wurde.

Mit einem erleichterten Seufzen kniete sie sich in der Mitte der Haselsträucher auf den Boden und zog eine bronzene Schale und einen kleinen Leinenbeutel aus einer Tasche ihres dunklen Wollrocks. Sie entnahm dem Beutel eine Handvoll der getrockneten Blättermischung aus Salbei, Stechapfel und Trichterwinde und gab sie in die Schale. Behutsam entzündete sie die Blätter, die sofort zu schwelen begannen, und schon stieg ihr der vertraute Duft der glimmenden Kräuter in die Nase. Geübt begann sie mit den speziellen Atemtechniken, bei denen ihr die überlieferten Gesänge zu Hilfe kamen. Kaum hörbar ertönten die sich wiederholenden Klangfolgen und bereits nach kurzer Zeit spürte sie, wie sich ihr Bewusstsein weitete. Sie verschmolz mit ihrer Umgebung, wurde zu den Haselsträuchern, den Klippen, dem endlosen Meer. Ihr Geist erhob sich in die Lüfte, angezogen von der hell leuchtenden Scheibe über ihr. Immer schneller wurde die Reise, sie stürzte förmlich durch den nächtlichen Himmel, unaufhaltsam, direkt in das strahlende Mondlicht hinein.

Ihre Gesänge wurden lauter, ihr Puls begann zu rasen, und der winzige Teil, der von ihrem Bewusstsein noch in ihrem Körper verblieben war, wurde von Panik erfasst. Keine ihrer Visionsreisen war jemals auf diese Weise verlaufen. Nie zuvor war sie dabei über die Grenzen dieser Welt hinausgetragen worden.

Mit aller Kraft versuchte sie, die Reise zu beenden, ihren Geist aus dieser rasanten Fahrt in die Unendlichkeit zu lösen … da wurde sie von einer unfassbaren Bilderflut überrollt. Sie sah einen fremdartigen Wald, vor Grauen aufgerissene Augen in nichtmenschlichen Gesichtern, und sie roch Schweiß, Blut und Angst und dann war da plötzlich nur noch ein einziges, klar umrissenes Bild.

Es zeigte ein ihr nur zu vertrautes Gesicht.

1

 

»Ich hab dich erwischt, Katie! Du bist ja so was von tot.«

»Stimmt doch gar nicht! Du hast wie immer danebengeschossen, du Blindhirn.«

Sean schloss angesichts dieser sinnlosen und extrem lautstarken Auseinandersetzung seiner beiden jüngsten Geschwister gequält die Augen. Eigentlich zählte Geduld zu einer seiner größten Tugenden, doch zwei Stunden in Gesellschaft der völlig überdrehten Zwillinge forderten nun auch von ihm ihren Tribut.

Katie und Neil waren schon unter normalen Umständen ziemlich anstrengend, doch heute waren sie vor lauter Aufregung regelrecht unerträglich. Seit sie vor vier Wochen erfahren hatten, dass ihre älteste Schwester Hannah nach einem Jahr Abwesenheit endlich wieder einmal zu Besuch kommen sollte, und das auch noch in Begleitung ihres unbekannten und sehr geheimnisvollen Freundes, liefen die beiden auf Hochtouren.

Und heute war also der Tag X gekommen, endlich würden sie Hannahs Freund Hralfor kennenlernen. Ihre Aufregung kannte keine Grenzen mehr. Genau aus diesem Grund hatte Seans Mutter ihn auch gebeten, die Zwillinge für eine Weile außerhalb des Hauses zu beschäftigen, damit Hannah und Hralfor wenigstens ein bisschen Zeit hatten, um sich von ihrer langen Anreise zu erholen. Schließlich kamen sie direkt aus Neuseeland und mussten sich auch noch an die Zeitumstellung gewöhnen. Außerdem argwöhnte Sean, dass seine Mutter Hannah und Hralfor erst einmal selbst ungestört begrüßen wollte.

Seans Eltern und sein Bruder Adrian hatten Hralfor bereits kennengelernt, als sie Hannah vor einem knappen halben Jahr zu ihrem achtzehnten Geburtstag in Neuseeland besucht hatten. Sean hatte damals mitten in einem wichtigen Studienprojekt gesteckt und seine Eltern nicht begleiten können. Außerdem waren da auch noch seine jüngeren Geschwister, um die sich jemand kümmern musste. Die fünfzehnjährige Rosie und die neunjährigen Zwillinge konnten nicht einfach mitten im Schuljahr für mehrere Wochen verschwinden.

Seufzend fuhr sich Sean mit allen zehn Fingern durch sein dichtes, kastanienbraunes Haar. Er hätte viel dafür gegeben, Hannah ebenfalls besuchen zu können, einfach nur, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass es ihr auch wirklich gut ging. Seine Schwester hatte damals Unglaubliches erlebt und Schreckliches durchgemacht. Sie war von drei furchterregenden Kreaturen angefallen und in allerletzter Sekunde von Hralfor gerettet worden. Dass Hralfor ebenfalls ziemlich fremdartig war, hatte Hannah nicht davon abgehalten, sich in ihn zu verlieben. Von ihm hatte sie erfahren, dass es außer der Erde noch unzählige andere Welten gab, deren Bewohner sich manchmal gewollt oder ungewollt auf die Erde verirrten. Hannah nannte diese Wesen Parallelweltler. Und Hralfor war ein solcher Parallelweltler, der aus einer Welt namens Vargor stammte.

Hannah hatte ihr unfassbares Erlebnis zunächst für sich behalten. Ebenso wie die Tatsache, dass sie durch den Überfall in Kontakt mit der geheimnisvollen Organisation OCIA, der Organisation zur Kontrolle interversaler Aktivitäten, gekommen war, für die sie und Hralfor nun arbeiteten. Soweit Sean verstanden hatte, handelte es sich dabei um eine Organisation, die bereits vor Jahrzehnten von einer Gruppe Wissenschaftler ganz im Geheimen ins Leben gerufen worden war. Sie verfolgte das Ziel, sowohl Menschen als auch Parallelweltler voreinander zu beschützen. Mittlerweile verfügte sie sogar über Technologien, die es möglich machten, solche Parallelweltler aufzuspüren und, unbemerkt von der Menschheit, wieder in ihre eigene Welt zurückzubefördern. Die Entscheidung, der OCIA beizutreten, war für Hannah und Hralfor die einzige Möglichkeit gewesen, ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Hralfors Fremdartigkeit machte es ihm unmöglich, sich frei unter den Menschen zu bewegen, und Hannah hätte es nie übers Herz gebracht, ihre Familie zu verlassen, um in einer anderen Welt zu leben.

Also lebten sie und Hralfor nun auf dem riesigen Gelände der Hauptverwaltung der OCIA. Sie befand sich in Neuseeland, ganz in der Nähe von Auckland. Die Organisation arbeitete von dort aus unter dem Deckmantel eines riesigen Filmstudios. Hier lebten auch die meisten der Parallelweltler, die sich entschlossen hatten, für die OCIA zu arbeiten. Dort konnten sie sich einigermaßen frei bewegen, auch wenn ihr Aussehen für menschliche Begriffe etwas ungewöhnlich erschien.

Immer, wenn Sean darüber nachdachte, und das tat er, seit er vor einem knappen halben Jahr davon erfahren hatte, fast ununterbrochen, erschien ihm die ganze Sache wie eine gut erfundene Fantasygeschichte. Wären da nicht seine Eltern, die das alles bei ihrem Besuch in Auckland mit eigenen Augen gesehen hatten, hätte er kein Wort davon geglaubt. Doch die Erzählungen seiner Eltern ließen keinen Zweifel aufkommen.

Sean wusste, dass sein Vater Hannahs Entscheidung, ihr Leben gemeinsam mit Hralfor in Neuseeland zu verbringen, mit größtem Misstrauen betrachtete. Seiner Meinung nach brachte dieser unheimliche, nichtmenschliche Mann seine Tochter nur unnötig in Lebensgefahr. Nur seinetwegen war Hannah schließlich dieser seltsamen Organisation OCIA beigetreten, wodurch sie immer wieder Kontakt zu fremden, lebensgefährlichen Welten und ihren Bewohnern hatte. Sein Vater hatte von Anfang an die größten Schwierigkeiten damit gehabt, den fremdartigen, auf den ersten Blick wohl recht furchterregenden Freund seiner ältesten Tochter zu akzeptieren. Und als Hannah Hralfor dann auch noch auf einen lebensgefährlichen Einsatz in seine Welt Vargor begleitete, der beinahe zum Tod der Einsatzleute führte, hatte er sich in seinen Ängsten bestätigt gesehen.

Sean seufzte tief auf. Dieser erste Einsatz für die OCIA hatte seine Schwester über ein Vierteljahr in fremden Welten festgehalten. Es war für sie alle eine sehr lange und sehr schwierige Zeit gewesen. Sie hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Hannah je wiederzusehen. Daher konnte Sean es seinem Vater nicht verübeln, dass er bei der Erwähnung von Hralfors Namen nicht gerade in Jubelrufe ausbrach.

Ganz im Gegensatz zu Seans Vater hatte Seans Mutter Hralfor vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen und ihn trotz seiner Fremdartigkeit als weiteren Sohn angenommen. Sie hatte erstaunlich wenig Schwierigkeiten damit gehabt, die unglaubliche Tatsache zu akzeptieren, dass es außer der Erde noch andere bewohnte Welten gab, deren Bewohner sich immer wieder auf die Erde verirrten und hier oft genug für Verwirrung sorgten. Aber das war typisch für seine Mutter.

Seans Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. Als Irin war seine Mutter schon immer tief in der irischen Mythologie verwurzelt gewesen. Sein Lächeln wurde breiter, als er an ihre Begeisterung dachte, mit der sie von den Parallelweltlern sprach, die sie in Auckland kennengelernt hatte. Die meisten ähnelten wohl auf unheimliche Weise vielen Sagengestalten der Erde, was kein Wunder war, da es laut OCIA ja gerade ihr zufälliges Auftauchen in der Vergangenheit gewesen war, das bei den Menschen immer wieder zur Entstehung neuer Mythen und Religionen geführt hatte.

Seans Mutter hatte im Gegensatz zu seinem Vater jede Minute ihres Besuchs in Neuseeland genossen und sehr schnell Freundschaft mit den fremdartigsten Parallelweltlern geschlossen. Und als Hannah und Hralfor dann endlich von ihrem gefährlichen Einsatz zurückgekehrt waren, hatte seine energische Mutter kurzerhand entschieden, dass Hannah und Hralfor einen längeren Erholungsurlaub in Deutschland nötig hatten. Wie üblich hatte niemand gewagt, ihr zu widersprechen.

Und nun war also der von allen so lang ersehnte Tag gekommen, an dem Hannah endlich wieder einmal nach Hause kam und Sean hatte nichts Besseres zu tun, als seine beiden unmöglichen Geschwister zu beaufsichtigen.

Gutmütig fluchte er vor sich hin. Irgendwie blieben solch lästige kleine Pflichten letztendlich immer an ihm hängen. Dabei brannte er selbst auch schon darauf, sich persönlich davon zu überzeugen, dass es Hannah wirklich gut ging. Sie hatten zwar einige Male miteinander telefoniert, doch das war kein rechter Ersatz für ein Gespräch unter vier Augen.

Sean war mit seinen fünfundzwanzig Jahren der Älteste der sechs Martin-Kinder und fühlte sich für jedes seiner Geschwister mit verantwortlich. Hannah war sechs Jahre jünger als er und in seinen Augen noch lange nicht alt genug, um dort, am anderen Ende der Welt, ganz ohne den Beistand ihrer Familie auf sich aufzupassen. Vor allem nicht unter diesen abenteuerlichen Lebensbedingungen, die sie sich ausgesucht hatte. Deshalb war es ihm auch besonders wichtig, ihren merkwürdigen Freund etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Nur so konnte er schließlich beurteilen, ob dieser Hralfor wirklich in der Lage war, gut auf seine Schwester aufzupassen. In dieser Hinsicht ähnelte Sean seinem Vater sehr. Auch in seinen Augen war für Hannah das Beste gerade gut genug, obwohl es ihm dabei ziemlich egal war, ob Hralfor nun aus Timbuktu oder eben aus Vargor, wo immer das auch sein mochte, stammte.

Gedankenverloren sah er den beiden kleinen Gestalten entgegen, die nun unter lautem Gegröle auf ihn zugerannt kamen. Katie und Neil hatten wohl fürs Erste ihr Kriegsbeil begraben und sich daran erinnert, was für ein besonderer Tag heute war.

Ergeben seufzte Sean auf. Nach den wildentschlossenen Blicken der Zwillinge zu schließen, war es wohl völlig aussichtslos zu versuchen, die beiden noch länger von zu Hause fernzuhalten. Aber er hatte wirklich sein Bestes getan, um die Bitte seiner Mutter zu erfüllen. Geduldig hatte er Katie und Neil auf einen seiner Waldgänge mitgenommen und voller Verständnis ertragen, dass die beiden die von ihm so geliebte Stille des Waldes durch schrilles Kampfgeschrei und lautes Gezänk durchbrachen. Er hatte zunächst noch versucht, sich wie üblich auf die Auswahl der passenden Bäume für seine Schreinerarbeiten zu konzentrieren, jedoch recht schnell aufgegeben. Sich in Anwesenheit dieser beiden Halbwilden zu konzentrieren, war ein Ding der Unmöglichkeit. Also hatte er auf einer kleinen Waldlichtung haltgemacht und ihnen einige neue Kampftechniken beigebracht, bis sie damit begonnen hatten, sich gegenseitig mit Stöcken zu erschießen.

Sean, der bereits seit seinem siebten Lebensjahr Karate machte, trainierte mittlerweile selbst den Nachwuchs in der Sportschule. Seine unerschütterliche Ruhe und Geduld sowie sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, gepaart mit einem ziemlich Respekt einflößenden Äußeren, machten ihn zu einem ausgesprochen beliebten Trainer.Er war mit seinen knapp zwei Metern der Größte in der Familie Martin und hatte die Statur eines Athleten.

Hannah hatte ihm einmal gesagt, dass er auf sie immer wie ein kanadischer Holzfäller wirkte und tatsächlich war Holz auch Seans große Leidenschaft. Er hatte eine Ausbildung als Schreiner abgeschlossen, und danach ein Architekturstudium begonnen, das ihn jedoch immer weniger befriedigte. Es bereitete ihm beinahe schon körperlichen Widerwillen, mit synthetischen, kalten und leblosen Materialien zu arbeiten, was in seinem Studium nur allzu üblich war. Und so fühlte er sich irgendwie fehl am Platz zwischen den anderen Studenten, die das nicht verstanden. Also werkelte er in jeder freien Minute in der Scheune seiner Eltern herum und fertigte die unterschiedlichsten Möbelstücke aus Holz an. Mittlerweile bestand eine große Nachfrage nach seinen Arbeiten, und Sean hatte sich insgeheim bereits entschlossen, das Studium aufzugeben und sich stattdessen selbstständig zu machen.

Während Sean seinen Gedanken nachhing, hatten Katie und Neil ihn erreicht und packten ihn nun an den Händen. Kopfschüttelnd ließ sich Sean von ihnen im Laufschritt und unter wildem Geheul durch den Wald in Richtung Heimat zerren. Amüsiert blickte er auf die beiden flachsblonden Köpfe seiner Geschwister. In diesem Tempo waren sie in wenigen Minuten zu Hause. Er konnte nur hoffen, dass sich Hannah schon ein wenig von der Reise erholt hatte. Er hatte jedenfalls sein Möglichstes getan, um ihr eine kleine Verschnaufpause zu verschaffen. Außerdem wollte er nun auch nicht mehr länger darauf warten, ihren außerirdischen Gast endlich zu Gesicht zu bekommen.

Seans Augen funkelten amüsiert. Das sah seiner eigenwilligen Schwester wieder einmal ähnlich, einen Freund anzuschleppen, der aus einer anderen Welt kam!

Sein um drei Jahre jüngerer Bruder Adrian hatte schon das eine oder andere von diesem Hralfor erzählt, jedoch nicht genug, um sich ein genaues Bild von ihm machen zu können. Von Adrian wusste Sean nur, dass Hannahs Freund ein ausgezeichneter Kämpfer sein musste, sehr groß war und ziemlich ungewöhnliche Augen hatte, mehr nicht.

Aber das war typisch Adrian. Er wollte die Spannung für Sean noch erhöhen, als ob die ganze Angelegenheit nicht auch so schon spannend genug war.

Seine Mutter dagegen hatte Hralfor nur als lieben Jungen beschrieben, der auf den ersten Blick etwas wild wirkte. Sein Vater bekam immer schlechte Laune, sobald Hannahs Freund auch nur erwähnt wurde, sodass Sean ihn lieber nicht weiter über Hralfor ausgefragt hatte.

Inzwischen waren sie vor ihrem Haus angekommen. Endlich ließen die Zwillinge ihren großen Bruder los und stürmten durch die Eingangstür in die Diele und sofort die Treppe hinauf zu Hannahs Zimmer. Sean folgte ihnen etwas langsamer. Er hörte, wie Hannahs Zimmertür mit lautem Gegröle aufgerissen wurde, dann herrschte schlagartig tiefstes Schweigen.

Beunruhigt beschleunigte er seine Schritte. Katie erholte sich wie üblich als Erste von ihrem Schrecken. Mit Mühe konnte Sean ihr ehrfürchtiges Flüstern hören. »Du bist Hralfor? Mann, bist du cool!«

Darauf folgte ein leises, sehr heiseres Lachen, und Katie zog ihren Bruder energisch hinter sich in Hannahs Zimmer. Bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, betrat auch Sean das Zimmer … und blieb ebenfalls einen Moment lang wie erstarrt stehen.

Als Adrian Hannahs Freund als sehr groß beschrieben hatte, hatte er ganz offensichtlich furchtbar untertrieben. Sehr groß war er, Sean, Hralfor dagegen war riesig! Angesichts seiner Länge kam sich Sean zum ersten Mal in seinem Leben klein vor. Der Eindruck der Größe wurde noch durch Hralfors sehnige Gestalt verstärkt. An ihm gab es mit Sicherheit kein Gramm Fett. Doch so gewöhnungsbedürftig seine enorme Größe auch war, Hralfors Gesicht war ungleich verstörender.

Sean wusste sofort, was seine Mutter damit gemeint hatte, als sie sagte, Hralfor würde zunächst etwas wild wirken. Die gelb glühenden, schmalen Augen ließen unwillkürlich den Vergleich mit einem Wolf aufkommen, und das merkwürdig reflektierende Leuchten darin wurde durch die dunkle Hautfarbe noch hervorgehoben. Man konnte mehrere feine, helle Narben erkennen, die sich vor allem über die linke Gesichtshälfte zogen. Die tiefschwarzen, drahtigen Haare erinnerten an eine wilde Mähne und die merkwürdige, sehr stark ausgeprägte Mundpartie ließ Schlimmes erahnen.

Während Sean aufmerksam die fremdartige Erscheinung von Hannahs Freund in sich aufnahm, trat Katie todesmutig vor und streckte Hralfor entschlossen ihre Hand entgegen. Bei ihrem Anblick trat sofort ein sehr weicher Ausdruck in die glühenden Augen und Sean atmete unwillkürlich auf. Nun konnte er verstehen, was seine Schwester dazu veranlasst hatte, sich in diesen Fremden zu verlieben. Seine Mutter hatte wieder einmal recht behalten - hinter dem wilden Äußeren steckte ganz offensichtlich ein lieber Junge.

»Mann, fühlst du dich warm an! Du bist doch nicht krank, oder? Wenn du Fieber hast, musst du sofort ins Bett und Mams ekelhaften Tee trinken!« Allein diese Vorstellung ließ Katie ihre Scheu vor dem unheimlichen Fremden vergessen und ihn besorgt und voller Mitgefühl ansehen. Für sie gab es nichts Schlimmeres, als untätig im Bett herumzuliegen.

Wieder ertönte das heisere Lachen. »Nein, ich bin nicht krank. Das ist meine normale Körpertemperatur. Ich bin immer so warm.«

Andächtig lauschte Katie der rauen, kratzigen Stimme. »Cool!«

Mittlerweile hatte sich auch Neil von seiner Überraschung erholt und wollte nicht länger im Schatten seiner Schwester stehen. Energisch streckte er Hralfor seine Hand entgegen. »Hallo, Hralfor! Ich bin Neil.«

Auch seine Hand wurde sehr vorsichtig ergriffen.

»Hallo, Neil! Es ist schön, dich kennenzulernen. Hannah hat mir schon viel von euch erzählt.« Hralfor wandte sich wieder an Katie. »Dann musst du Katie sein, nicht wahr?«

Begeistert nickte sie. Sean sah, wie ihre Augen aufleuchteten. Hralfor war wohl mit Abstand die aufregendste Person, die Katie je kennengelernt hatte und nicht nur sie! Er konnte nur hoffen, dass sie ihren Klassenkameraden tatsächlich nichts von ihm erzählte. Aber sie und Neil hatten es fest versprochen. Und eines war bei den Martin-Geschwistern absolute Ehrensache, sie hielten immer ihre Versprechen.

Voller Bewunderung verfolgte Sean, mit welch lautloser Geschmeidigkeit sich Hralfor nun aufrichtete und zu ihm hinübersah.

Ruhig erwiderte er den prüfenden Blick aus diesen ungewöhnlichen Augen, die in einem gelben Feuer loderten. Sie schienen ihn förmlich in sich hineinzusaugen, bis Sean das Gefühl hatte, tief in ihnen zu versinken. Doch er fühlte sich dadurch nicht im Geringsten bedroht. Es war mehr wie eine Einladung näher zu kommen, ein Teil von ihm zu werden und ihn auf diese Weise besser kennenzulernen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er mit diesem fremdartigen Mann zu verschmelzen, bis Hralfors Gefühle zu seinen eigenen wurden. Sean erkannte Wachsamkeit, freundliche Neugier, Humor und die Bereitschaft, ihn als Freund zu akzeptieren. Und ganz plötzlich blitzte in ihm die Erkenntnis auf, dass dieser Fremde, der ihm auf einmal überhaupt nicht mehr fremd erschien, für Hannah sein Leben geben würde. All seine Befürchtungen waren mit einem Schlag verschwunden. Er erkannte, dass niemand besser auf seine Schwester aufpassen konnte als dieser Mann aus einer fremden Welt.

Mit einem Mal fühlte sich Sean von einer großen Last befreit. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewusst, wie sehr ihn seine Sorge um Hannah in diesem vergangenen Jahr belastet hatte. Ein erleichtertes Lächeln flog über Seans ruhiges Gesicht und wurde langsam zu einem breiten Grinsen. »Verdammt, Hralfor, du übertriffst jede Erwartung! Wenn ich Adrian in die Finger kriege, verarbeite ich ihn zu einer Frisierkommode für feine Damen. Der elende Bastard hätte mich besser vorbereiten sollen, damit ich dich nicht so lange mit offenem Mund anstarren muss. Willkommen auf der Erde!«

Hannah, die dieses erste Zusammentreffen zwischen ihrem Bruder und Hralfor atemlos verfolgt hatte, stieß bei Seans Worten einen erleichterten Seufzer aus und stürzte sich in seine Arme. »Du magst ihn, nicht wahr? Ich hatte solche Angst, dass du, so wie Paps, am Anfang nicht damit klarkommst, aber du magst Hralfor, nicht wahr, Sean?«

Sean drückte seine Schwester beruhigend an sich. Es tat gut, sie wieder einmal so nah bei sich zu haben. »Na, mal sehen, Kleine. Solange er hier niemanden anfällt …« Dabei blinzelte er Hralfor über Hannahs Schulter hinweg verschwörerisch zu.

Hralfors unglaubliches Gesicht verzog sich nun ebenfalls zu einem breiten Lachen und zeigte ein furchterregendes Raubtiergebiss. »Du hast Glück, dass du ihr Bruder bist. Jeden anderen, der Hannah so fest in seinen Armen hält, müsste ich tatsächlich beißen.«

Als sich Hannah daraufhin etwas verunsichert aus Seans Umarmung befreite und die jungen Männer empört anfunkelte, brachen beide gleichzeitig in schallendes Gelächter aus.

 

Ein Stockwerk tiefer saß Thomas Martin am großen Familientisch in der gemütlichen Wohnküche und sah seiner Frau bei den letzten Vorbereitungen für das gemeinsame Mittagessen zu.

Er war ein großer, etwas schlaksig wirkender Mann mit dunkelblonden Haaren, in denen sich die ersten silbernen Strähnen zeigten. Seine ruhigen, grauen Augen zeigten in diesem Augenblick einen leicht besorgten Ausdruck. Die Anwesenheit von Hannahs fremdartigem Freund in seinem Haus machte ihn nervös. Ebenso die Tatsache, dass seine ganze Familie so begeistert von Hralfor war. Sie schienen alle nicht zu erkennen, in welche Gefahr dieser Fremde seine Tochter brachte. Er konnte nur darauf hoffen, dass wenigstens sein Ältester seinen gesunden Menschenverstand behielt. Sean war ihm in vielen Dingen sehr ähnlich. Er hatte dasselbe Ehrgefühl wie sein Vater und einen ausgeprägten Beschützerinstinkt. Sicher würde er sich nicht so schnell von diesem Hralfor einwickeln lassen.

Als Thomas Martin nun jedoch das brüllende Gelächter über sich hörte, schüttelte er fassungslos den Kopf. Hilfe suchend wandte er sich an seine Frau. »Selbst Sean, Mary!«

Mary Martin, die gerade in einem riesigen Topf rührte, wirbelte zu ihrem Mann herum und drückte ihm liebevoll einen Kuss auf die Stirn. Sie war klein, schlank und schien vor Energie zu vibrieren. Wie üblich hatte sie die langen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und wie üblich hatten sich mehrere widerspenstige Strähnen daraus gelöst. Lachend legte sie ihm die Arme um die Schultern. »Ja, natürlich, Thomas. Ich habe nichts anderes erwartet. Schließlich haben wir alle unsere Kinder so erzogen, dass sie fähig sind, hinter das Äußere einer Person zu blicken. Irgendwann wirst auch du bereit sein zu akzeptieren, dass Hralfor wirklich gut genug für deine älteste Tochter ist. Tatsächlich habe ich noch keinen jungen Mann kennengelernt, der bewundernswerter ist als Hralfor, oder dem ich Hannah lieber anvertrauen würde. Und Hannah liebt ihn. Die beiden haben schon so viel miteinander durchgemacht. Ich denke, viel mehr, als wir auch nur ahnen. Sie gehören einfach zusammen. Ich hoffe wirklich, dass unsere anderen Kinder bei der Wahl ihrer Partner genauso ein Glück haben.«

»Na, wenn du meinst.« Seufzend strich sich Thomas Martin über die Stirn. »Trotzdem wäre es mir lieber, wenn sie sich dabei mit einem Menschen begnügen würden.«

2

 

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, lief Meijra durch den vertrauten Wald, hilflos, kraftlos, willenlos. Sie war nichts weiter als eine Marionette, gelenkt von einem übermächtigen, fremden Willen. In ihr herrschte nichts als tödliches Entsetzen. Sie konnte die Federfreunde singen hören, den harzigen Duft der Baumwächter riechen, fühlen, wie Vater Sonne durch das dichte Blätterdach blickte und liebevoll über ihr Haar strich, doch sie konnte sich nicht gegen den grausamen Zwang wehren, einen Fuß vor den anderen zu setzen, um immer weiter zu wandern, mitten hinein in das verbotene Kernland, in dem die Grausamen herrschten.

Aus dem Augenwinkel konnte sie die Bewegungen des jungen Hindlach, ihres einzigen Begleiters, erahnen, merkwürdig steif und ungelenk. Er war bereit gewesen, vor ihrem Opfergang vom Sud des Vergessens zu trinken. In diesem Augenblick wünschte sich Meijra, sie wäre nicht so stolz gewesen. Sie hätte den Sud nicht ablehnen dürfen! Doch die Vorstellung, nicht nur die Herrschaft über ihren Körper zu verlieren, sondern in diesen letzten Momenten ihres Daseins auch noch ihres Wesens beraubt zu werden, hatte sie bis zuletzt davon abgehalten, obwohl die Gemeinschaft sie angefleht hatte, den Sud einzunehmen.

Sie hatte ja keine Ahnung gehabt, wie grauenvoll es war, den Opfergang mit wachem Geist zu beschreiten!

Während ihr Körper sie unabwendbar den Grausamen zuführte, schrie tief in ihr ihre gequälte Seele vor Furcht und hilflosem Zorn. Es war nicht richtig! Das alles hier war nicht richtig! Sie war doch noch so jung. Sie war erst in diesem Sonnenrund in die Mysterien eingeweiht worden, hatte gelernt, mit den Baumwächtern zu verschmelzen und mit den Federfreunden zu sprechen. Und Hindlach war sogar noch jünger. Sein Geäst brach gerade erst hervor, seine Haare hatten noch nicht einmal Schulterlänge erreicht.

Unaufhaltsam näherten sie sich dem verbotenen Kernland. Sie spürte es genau, als sie die Grenzlinie überschritt. Vater Sonne schob sich verzweifelt eine Wolke vor sein strahlendes Antlitz und die Federfreunde stimmten ein unendlich trauriges Lied an. Nicht mehr lange, und sie würde den Grausamen gegenüberstehen.

Niemand wusste, wie sie aussahen. Jeder, der ihre wahre Gestalt erblickte, war dem Tod geweiht. Noch nie war einer der Geweihten seinem Schicksal entronnen. Doch es gab verbotene Erzählungen von einem jungen Mann, der einst versucht hatte, den Grausamen zu trotzen. Allerdings wurden diese Geschichten nur flüsternd weitergegeben, denn es galt als unverzeihliches Vergehen, sich gegen den Willen der Grausamen aufzulehnen.

Meijra war mit diesen Geschichten vertrauter als die meisten anderen der Gemeinschaft, denn der Mann, um den es darin ging, entstammte ihrer eigenen Blutlinie. Er war ein Nachkomme ihrer Urgroßmutter gewesen.

Den Erzählungen nach war vor unzähligen Sonnenrunden die kleine Schwester des Mannes zum Opfer der Grausamen geweiht worden, und ihr Bruder hatte sich dagegen aufgelehnt. Er hatte die Gemeinschaft aufgefordert, sich gemeinsam gegen die Grausamen zu stellen und die Opfergänge nicht länger hinzunehmen. Dieses Begehren hatte in der Gemeinschaft zu großer Unruhe geführt. Einige der Jungen hatten sich seiner Meinung angeschlossen, doch der Rat der Gemeinschaft hatte entschieden, dass der Mann mit seinem Aufruf ein unverzeihliches Vergehen begangen hatte, durch das der Gemeinschaft großer Schaden entstehen konnte. Solange die Grausamen nur einzelne Mitglieder forderten, konnte die Gemeinschaft weiterbestehen. Doch bei einem gemeinsamen Kampf gegen diese übermächtigen Wesen waren alle in Gefahr.

Der junge Mann war damals aus der Gemeinschaft verbannt, die kleine Schwester des Mannes auf den Opfergang geschickt worden. Doch der Mann hatte nicht aufgegeben und war seiner Schwester heimlich gefolgt. Es hieß, er habe versucht, die Grausamen zu töten und sei dabei selbst ums Leben gekommen. Man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Der Widerhall seiner Seele war für immer verstummt.

Bitterkeit stieg in Meijra auf. Der Rat der Gemeinschaft hatte die Opfergänge weiter geduldet, aber schließlich hatten seine Mitglieder auch nichts mehr zu befürchten. Sie waren alle alt und die Grausamen forderten immer nur die Jüngsten.

Sie hatte bereits zweimal die Vorbereitungen für einen Opfergang miterlebt. Es begann damit, dass ganz plötzlich der dunkle, mächtige Wille der Grausamen im Geist der Gemeinschaft erklang. Dann wussten sie, dass die Zeit nahte. Die Mitglieder des Rats begaben sich daraufhin an eine bestimmte Stelle an der Grenze des verbotenen Kernlandes, wo die Grausamen ihnen besondere Zeichen hinterlassen hatten, aus denen die Zahl, das Alter und das Geschlecht der zu weihenden Opfer zu ersehen waren.

Die Gemeinschaft hatte daraufhin zwei Sonnenläufe Zeit, die passenden Opfer zu wählen und zu weihen. Und in dieser ganzen Zeit lag der erdrückende Wille der Grausamen über der Gemeinschaft. Direkt vor dem Opfergang nahm die gesamte Gemeinschaft den Sud des Vergessens zu sich, um die Qualen der Geweihten nicht miterleben zu müssen. Wenn sie dann aus dem Vergessen wiederauftauchten, war der dunkle Wille der Grausamen von ihnen gewichen, aber auch der Widerhall der Seelen der Geweihten.

Meijra und Hindlach befanden sich nun tief im Inneren des Kernlandes. Die Baumwächter hatten hier viel dunklere Stämme als auf dem vertrauten Territorium. Es sah aus, als hätten auch sie sich angesichts der Schrecken in ihrer Mitte in tiefste Trauer gekleidet.

Der fremde Wille in ihr wurde noch mächtiger und grausamer. Er zerriss sie, zerfetzte ihre Seele, zerquetschte den winzigen, ihr noch verbliebenen Rest ihres eigenen Willens. Die Schmerzen fraßen sich durch ihren Körper, bis Meijra glaubte, vor Qual zusammenbrechen zu müssen, aber ihr Körper trug sie unabwendbar immer weiter. Dann begann der fremde Wille in seiner Grausamkeit immer klarer zu werden, bis Meijra entsetzt die Gedanken ihrer Peiniger auffangen konnte. Alles in ihr schrie vor Todesangst.

Sie erkannte, dass die Grausamen ihren Namen nicht umsonst trugen. Sie weideten sich an ihrem Entsetzen und ihren Schmerzen. Die Tatsache, dass sich Meijra geweigert hatte, den Sud des Vergessens einzunehmen, schien ihr Vergnügen an diesem Opfergang noch um ein Vielfaches zu erhöhen. Meijra wusste nun, dass die Grausamen ihre Opferung qualvoll ausdehnen würden, um sich nicht nur ausgiebig an ihrem Fleisch, sondern viel stärker noch an ihrer Pein zu laben.

Seltsamerweise half ihr diese endgültige Gewissheit dabei, ihr inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Sie wusste nun, was sie erwartete. Sie konnte es überdeutlich in den Gedanken dieser Bestien erkennen. Sie würden Meijra langsam und genüsslich in Stücke reißen und sie dabei so lange wie möglich bei Bewusstsein halten, damit sie ihr eigenes Ende qualvoll miterleben konnte. Um dazu die nötige Ruhe zu haben, würden sie zunächst den jungen, betäubten Hindlach töten und an ihm ihre erste, größte Gier stillen.

Tödliche Ruhe überkam sie. Meijra wusste nun, dass ihr unvorstellbare Qualen bevorstanden. Sie wusste aber auch, dass genau diese Qualen den Grausamen das größte Vergnügen bereiten würden. Sie wollten sie zitternd, gepeinigt und verrückt vor Angst und genau diesen Wunsch würde sie ihnen nicht erfüllen! Sie würde im Kampf sterben, genauso wie es damals ihr Blutsverwandter getan hatte. Auch er hatte sich auf irgendeine Weise gegen den Willen der Grausamen aufgelehnt, sich ihnen nicht völlig wehrlos ausgeliefert. Sie musste versuchen, dieses lähmende Entsetzen abzuschütteln und die grauenerregenden Gedanken der Grausamen auszuschalten. Sie hatte schließlich die Verschmelzung mit den Baumwächtern erlernt. Das setzte starke, geistige Kräfte und eine hohe Konzentrationsfähigkeit voraus, da musste es ihr doch möglich sein, diesem fremden Willen zu trotzen.

Die dunklen Baumwächter vor ihr öffneten sich plötzlich zu einer weiten Lichtung, in deren Mitte sich ein Rund riesiger Felsbrocken befand. Es sah aus, als hätte ein Berggigant sein Spielzeug in einem sauberen Kreis angeordnet. Und vor diesem Rund standen sie und warteten.

Wie alle Mitglieder der Gemeinschaft hatte sich auch Meijra immer wieder Gedanken darüber gemacht, wie die Grausamen wohl aussahen. Manchmal hatte sie sich diese Wesen als gewaltige, flammende Götter vorgestellt, die alles um sich herum verbrannten und aufzehrten. Dann hatte sie gedacht, sie könnten eine Art Berggiganten sein, die überall, wo sie auftauchten, die Welt in Trümmer legten. Manchmal hatte Meijra sie aber auch als riesige Wurmwesen gesehen, die alles, was jung und gesund war, gnadenlos in sich hineinfraßen, bis die Welt nur noch öd und leer war.

Die wahre Gestalt der drei Grausamen, die sie nun vor dem Felsrund erwarteten, war dann jedoch beinahe enttäuschend.

Sie waren nicht sehr groß, vielleicht einen Kopf kleiner als sie selbst. Allerdings waren sie um ein Vielfaches breiter gebaut. Sie standen aufrecht auf ihren kurzen, krummen Beinen, während ihre muskelbepackten Arme fast bis auf den Boden reichten. Ihr ganzer Körper war mit einem dichten, drahtigen, schmutzig braunen Fell bedeckt, das aussah, als wäre es noch nie gereinigt worden. Die mächtige Brust und der vorgewölbte Bauch waren weniger dicht behaart, hier schimmerte die gräuliche Haut durch. Auf dem fleischigen Nacken saß ein riesiger, runder Schädel mit winzigen Ohren. Auch der Kopf war mit Fell bedeckt, das über der wulstigen Stirn länger wurde und wie eine struppige Mähne bis auf den breiten Rücken fiel. Ihre Gesichter waren ebenso wie ihr Bauch weniger dicht behaart. Der Widerhall, der sie umgab, ließ Meijras Atem stocken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so abstoßenden Widerhall wahrgenommen zu haben. Er glimmte in trüben, giftigen Schwaden um die Gestalten der Grausamen herum und wirkte krank und irgendwie … falsch.

Dann fiel ihr Blick in die Augen der Grausamen … und Meijras Seele wurde zu einem wimmernden Nichts. Sie spürte, wie ihr mit einem Schlag ihre ganze, so mühsam aufgebaute Selbstbeherrschung entrissen wurde. Sie hatte sich geirrt. Kein Flammengott, kein Berggigant, und keine noch so furchterregende Vorstellung konnte auch nur annähernd ein solches Entsetzen verursachen, wie es ein Blick in diese kleinen, tiefliegenden und vor grausamer Bosheit funkelnden, roten Augen vermochte.

In diesem Moment hätte sie alles dafür gegeben, die Augen schließen zu können, doch auch das war ihr nicht vergönnt. Unaufhaltsam zog es sie weiter zu den Grausamen hin, die ihr voller Vorfreude entgegenblickten. Ihr Körper ging auf den zu, der in der Mitte stand und blieb direkt vor ihm stehen. Der unfassbare Gestank traf Meijra völlig unvorbereitet. Übelkeit stieg in ihr hoch. Der Grausame hob seinen langen, haarigen Arm. Seine große Hand starrte vor Dreck. Unter den klauenartigen, schwarzen Nägeln klebten angetrocknetes Blut und verfaulte Fleischreste vorangegangener Opfer. Mit einem schmerzhaften Griff verkrallte er sich in ihren Haaren und zwang sie gewaltsam auf die Knie. Dann riss er ihren Kopf in den Nacken und starrte gierig in ihr Gesicht. Seine schwarzen, wulstigen Lippen teilten sich zu einem zufriedenen Grinsen, und Meijra konnte mehrere Reihen scharfer, dreieckiger Zähne erkennen, die hintereinander angeordnet waren. Auch zwischen ihnen hingen noch halbverdaute Reste früherer Mahlzeiten. Der Gestank seines Atems umnebelte ihre Sinne, und Meijra begann zu hoffen, dass sie nun doch noch in eine gnädige Bewusstlosigkeit fallen durfte. Da schleuderte er sie von sich und wandte sich Hindlach zu. Zwischen seinen wulstigen Fingern hingen mehrere Strähnen ihres Haares.

Wenn Meijra geglaubt hatte, dass sie nun zu betäubt war, um weiteres Entsetzen zu empfinden, hatte sie sich furchtbar getäuscht. Zunächst nahm sie nur ganz verschwommen wahr, dass sich die drei Kreaturen um den jungen Hindlach versammelten. Dann vernahm sie ekelerregende, grunzende Laute, gefolgt von einem grauenerregenden Krachen und Reißen. Ihre Seele bebte, als sie ein letztes, schmerzerfülltes Aufflackern von Hindlachs Widerhall auffing … dann folgte verstörende Leere. Die Grunzlaute verwandelten sich in ein unerträgliches Schmatzen und Schlürfen, Knochen splitterten unter dem Ansturm der grässlichen Gebisse und der süßliche Geruch frischen Blutes hing in der Luft.

Meijra lag völlig bewegungsunfähig da, wie eine zerbrochene Puppe, die man lieblos fortgeworfen hatte. Sie wusste, ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Die Kreaturen machten sich so gierig über ihr entsetzliches Mahl her, dass es bald beendet wäre. Sie musste sich endlich aus dieser Erstarrung lösen. Sie musste ihren Körper wieder unter Kontrolle bekommen. Die Grausamen waren im Augenblick noch so abgelenkt, dass sie Meijra nicht mehr mit der geballten Wucht ihres Willens beherrschten. Es war ihre letzte Chance.

Mit aller Kraft versenkte sie sich in die Präsenz der Baumwächter um sich herum. Sie fühlte, wie tief sie wurzelten, wie sie Kraft und Leben aus dem Erdreich zogen, wie sie stolz ihre Kronen zu Vater Sonne streckten, seine Wärme und Liebe aufsogen und an jeden Zweig, jedes Blatt, jede noch so kleine Wurzel weitersandten. Sie fühlte die Beschaffenheit der Rinde auf ihrer Haut, teilte die Kraft, die durch die Stämme floss, schmeckte die Süße ihrer Säfte und spürte, dass sie einen tiefen Atemzug nehmen konnte. Mit eisernem Willen vertiefte sie sich noch mehr in diese wundervollen, vertrauten Empfindungen. Sie hatte Hoffnung geschöpft und fühlte neue Kräfte in sich aufsteigen. Dann konnte Meijra ihre Lider bewegen und ein leises Stöhnen ertönte aus ihrem Mund. Erschrocken lauschte sie auf die Grausamen, doch sie hatten nichts gehört. Ganz allmählich fühlte sie ein Prickeln, zunächst in ihren Fingern, dann in den Zehen. Es breitete sich aus, erfasste die Arme und Beine und schließlich ihren ganzen Körper.

Vorsichtig richtete sich Meijra auf. Sie musste versuchen, in den Schutz der Baumwächter zu gelangen. Dort war sie sicher. Die Grausamen sahen nicht so aus, als könnten sie es mit ihrer Schnelligkeit aufnehmen. Ihre Waffe war ihr Geist, mit dem sie ihre Opfer lähmten und genau dieser übermächtige Geist machte sie nun darauf aufmerksam, dass sich ihr zweites Opfer ihnen entziehen wollte.

Mit wildem Grunzen drehten sich die Grausamen zu Meijra um. Drei Paar rot glühender Augen bohrten sich in ihre Seele, sodass sich ihr Körper unter der Wucht des Aufpralls schmerzerfüllt aufbäumte. Nun hatte sie keine Chance mehr, zu den Baumwächtern zu gelangen, der Weg war zu weit. So lange konnte sie sich dem Willen dieser Bestien nicht entziehen. Ohne weiter nachzudenken, kroch sie instinktiv auf das Felsrund zu, nur von dem einen Wunsch getrieben, diesen entsetzlichen Blicken zu entkommen. Die Grausamen nahmen wutentbrannt die Verfolgung auf. Sie würden sie zerreißen, sobald sie in ihre Fänge geriet. Vielleicht musste sie dann doch nicht so lange leiden. Mit letzter Kraft schob sie sich durch die Felsen hindurch, da wurde sie von einer brutalen Hand gepackt, die ihr das Fleisch vom Körper riss. Eine andere Hand griff nach ihrem Arm. Er brach mit einem hörbaren Knacken. Die Schmerzen brannten sich durch ihren Körper. Erschöpft schloss Meijra die Augen. Es war vorüber, sie würde sterben. Seltsamerweise dachte sie in diesem letzten Augenblick an ihren Blutsverwandten, der sich vor so vielen Sonnenrunden in der gleichen Situation befunden hatte wie sie heute. Und da erinnerte sie sich auch wieder an seinen Namen.

Kernach!

Der Luftwirbel, der sich plötzlich um sie herum erhob, war so heftig, dass ihre Verfolger entsetzt zurückwichen. Das Letzte, das Meijra von ihnen sah, waren ihre rot glühenden Augen, die sie fassungslos anstarrten. Dann versank sie in einem alles verschlingenden, wirbelnden Nichts.

 

Meijra wusste nicht, wie lange sie hilflos in undurchdringlicher Dunkelheit umhertrieb. Sie wusste nicht, ob sie noch lebte oder ihr Dasein beendet hatte. Vielleicht befand sie sich ja bereits in einem Zwischendasein, jederzeit bereit, den Kreislauf von Mutter Natur wieder aufzunehmen. Doch konnte es dann sein, dass sie einen Körper spürte, der vor Schmerzen brannte? Wurde sie durch diese Qualen vielleicht dafür bestraft, dass sie sich dem Willen der Grausamen entzogen hatte? Hatte der Rat der Gemeinschaft schließlich doch recht gehabt?

Ganz allmählich lichtete sich die Dunkelheit und Meijra konnte hinter ihren geschlossenen Lidern das vertraute Spiel von Licht und Schatten erkennen. Sie konnte weit entfernt einige Federfreunde hören, doch es war ihr nicht möglich, sie zu verstehen. Entsetzt hielt sie die Luft an. Hatte sie die mühsam erworbene Fähigkeit verloren, mit ihnen zu sprechen? Das wäre eine schlimmere Strafe, als es die grausamen Schmerzen je sein konnten!

Vorsichtig versuchte sie, die Augen zu öffnen. Zunächst war sie noch zu schwach, doch je weiter die Dunkelheit zurückwich, umso kräftiger begann sie, sich zu fühlen. Offensichtlich war sie doch nicht gestorben.

Aber wie war sie dann den Grausamen entkommen? Sie erinnerte sich nur noch undeutlich an einen Wirbel aus Bildern, der durch ihren Geist fegte … und an einen Namen, den sie fest in ihren Gedanken verankert hatte.

Kernach!

Das war der Name ihres Blutsverwandten gewesen.

Da wusste Meijra es wieder. Alles hatte damit begonnen, dass sie diesen Namen gedacht hatte.

Endlich gelang es ihr, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Entsetzt holte sie Luft. Sie lag völlig allein und ungeschützt unter einer grauen, wolkenverhangenen Himmelsdecke. Um sie herum war kein einziger Baumwächter, kein Widerhall vertrauter Seelen, sogar Vater Sonne hatte sie verlassen.

Die Einsamkeit traf sie schmerzhafter als der Angriff der Grausamen. In ihrem ganzen Dasein hatte sie sich noch nie einsam gefühlt, immer war sie von der Gemeinschaft und den Baumwächtern umgeben gewesen. Diese Einsamkeit war wahrlich die schlimmste und grausamste Strafe, die ihr hatte auferlegt werden können.

Verzweifelt krümmte sich Meijra zusammen und sofort schossen weitere, heftige Schmerzen durch ihren Körper. Sie biss gequält die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf ihre Verletzungen. Ihr Arm war gebrochen, und aus einer klaffenden Wunde in ihrem Rücken floss Blut. Sie hatte noch weitere Wunden an den Beinen und Hüften. Überall dort, wo die Grausamen sie zu fassen bekommen hatten. Doch sie waren nicht so schlimm wie die Verletzung auf ihrem Rücken. Aber wenn sie solche Wunden hatte, konnte sie noch nicht tot sein. Also musste sie auf irgendeine unfassbare Weise in dieses völlig unbekannte Land geraten sein. Ein verstümmeltes Land, das all seiner Baumwächter beraubt worden war. Wie hatte etwas so Furchtbares nur geschehen können? Hatte es hier keine Gemeinschaft gegeben, die ihre Baumwächter behütet hatte? Oder waren sie einem flammenden Unheil zum Opfer gefallen?

Trotz der rasenden Schmerzen richtete sich Meijra vorsichtig auf. Die Luft hatte ein seltsames Aroma. Es fehlte der würzige Duft des Harzes, dafür zauberte ihr der ungewöhnlich heftige Wind einen salzigen Geschmack auf die Lippen. Unbehaglich sah sie sich um. Ein Gefühl tiefster Erleichterung überkam sie, als sie weit in der Ferne den Umriss einiger Baumwächter erkannte. Sofort bemühte sie sich, ihre vertrauten Schwingungen aufzufangen, doch sie waren sehr schwach und ausgesprochen fremdartig. Dennoch musste sie zu ihnen gelangen, denn nur sie konnten ihr Schutz und Gesellschaft geben.

Stöhnend richtete sich Meijra auf. Der Wind verstärkte sich noch und blies ihr hart entgegen, als wollte er ihr Vorankommen verhindern. Dann mischte sich plötzlich eisiger Regen in den Wind, prasselte auf sie nieder und ließ sie vor Kälte zittern. Mutter Natur schien sich aufgrund ihres Vergehens vollkommen gegen sie gewandt zu haben. Meijra war nicht nur allein, sie war völlig verlassen!

Schluchzend stemmte sie sich gegen diese Naturgewalten. Der eisige Regen wusch ihr die heißen Tränen aus dem Gesicht, kaum dass sie aus ihren Augen traten. Ihr Federumhang war bei dem Angriff der Grausamen völlig zerfetzt worden und bot ihr kaum noch Schutz. Die klaffende Wunde auf ihrem Rücken pulsierte mit jedem Schritt, den sie sich in Richtung Baumwächter schleppte, stärker. Aus ihrem verletzten Arm war längst jedes Gefühl gewichen, er hing nutzlos an ihrer Seite.

Meijra hatte keine Ahnung, wie lang der Weg zu den Baumwächtern war. Sie hatte nie gelernt, Entfernungen in solch kahlen Ebenen einzuschätzen, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Doch mit jedem ihrer Schritte wurde der merkwürdig verschwommene Widerhall der Baumwächter in ihr stärker. Er allein gab ihr die Kraft, sich weiterzuschleppen.

Meijra hatte vielleicht die Hälfte der Strecke mühsam hinter sich gebracht, als der eisige Regen abrupt endete. Ein winziger Spalt begann, sich in der Himmelsdecke zu öffnen und dann hatte Vater Sonne es geschafft. Sein warmes, vertrautes Antlitz blickte auf Meijra hinunter, und das Mädchen begann, vor Glück zu weinen. Sie war doch nicht völlig verlassen!

Von da an fiel es ihr leichter, voranzukommen. Vater Sonne erwärmte den Wind, sodass ihre Kleidung ganz allmählich wieder trocknen konnte, die Baumwächter rückten immer näher und hießen sie willkommen, und ihre Wunde hatte endlich aufgehört zu bluten.

Dennoch war Meijra am Ende ihrer Kräfte, als sie den ersten Baumwächter erreichte. Sie taumelte zu ihm und drückte ihre Stirn fest an seine merkwürdig raue Rinde. Im Vergleich zu den ihr bekannten Baumwächtern war dieser hier ausgesprochen klein. Sein Wuchs wirkte unregelmäßig und schief und ihm fehlte die Erhabenheit der ihr vertrauten Baumwächter. Sein Widerhall war schwach und hatte einen traurigen Beiklang. Er schien krank und elend zu sein. Meijras Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Ihre eigenen Schmerzen traten für einen Moment völlig in den Hintergrund. Sie spürte, dass dieser Baumwächter noch nie die Liebe und Ehrfurcht einer Gemeinschaft erlebt hatte. Er war verbittert und vernachlässigt. Auf Meijras Zuneigung reagierte er mit verwirrtem Staunen.

Sanft strich ihm Meijra noch einmal über die Rinde, dann zog sie sich tiefer in den Schutz der Wächtergruppe zurück. Sie war so klein, dass man sie fast nicht als Wächtergruppe bezeichnen konnte, dennoch war Meijra froh, sie überhaupt entdeckt zu haben. In diesem merkwürdigen Land schienen solche Wächtergruppen ausgesprochen selten zu sein. Nachdenklich befühlte Meijra den Boden. Er war reich an Nahrung. Hier hätten sich die Baumwächter problemlos niederlassen können. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum dieses Land dennoch so kahl war. Es war, als läge ein schrecklicher Fluch über allem.

Bei diesem Gedanken schauderte es sie und ihre Schmerzen verstärkten sich. Sie war völlig entkräftet, wusste nicht, wo sie sich befand und wie sie in dieser fremden Umgebung an Nahrung kommen konnte. Sie hatte hier noch keinen einzigen ihr vertrauten Pilz gesehen, die Baumwächter trugen keinerlei Früchte und waren auch nicht mit den nahrhaften Flechten bedeckt, die den Hauptbestandteil ihrer Nahrung bildeten. Es schien nicht einmal eine trinkbare Quelle zu geben.

Unter diesen Umständen konnte sie nicht lange überleben.

Wieder setzte ein heftiger Regen ein, der problemlos durch das lichte Blattwerk dieser Baumwächter drang und sie erneut durchnässte. Sie musste als Erstes einen Platz finden, an dem sie vor dieser gefährlichen Witterung geschützt war.

Noch bevor Meijra ihren Gedanken ganz zu Ende brachte, sackte sie erschöpft in sich zusammen und driftete erneut in die Dunkelheit.

 

Als Meijra diesmal erwachte, machte sich Vater Sonne gerade bereit, zur Ruhe zu gehen. Der Regen war zwar weitergezogen, doch die Luft wurde merklich kühler.

Meijra war vor Schmerzen so steif, dass sie sich kaum noch bewegen konnte. Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet, ihr Körper brannte in einem inneren Feuer. Sie war so schwach, dass sie nicht einmal die Hand heben mochte, um sich die langen, dichten Haare aus den Augen zu streichen. Dennoch richtete sie sich mühsam auf, um sich dann erschöpft an einen der Baumwächter zu lehnen. Sie benötigte dringend einen Zufluchtsort. Sie versuchte, sich noch einmal mit dem Wächter zu verbinden. Er konnte ihr sicher bei der Suche helfen. Doch ihr Kopf dröhnte und pochte, und das unerträgliche Brennen ihrer Wunden machte es fast unmöglich, sich auf eine Verschmelzung zu konzentrieren. Verzweifelt vergrub sie ihr heißes Gesicht in der Beuge ihres unversehrten Arms.

Da vernahm Meijra ganz in der Nähe seltsame Geräusche. Sie klangen rau und abgehackt. Es brauchte einige Zeit, bis sie in ihrem umnebelten Zustand erkannte, dass es sich dabei um eine Art Sprache zu handeln schien. Offensichtlich befanden sich in dieser Wächtergruppe noch andere Personen. Aufgeregt lauschte sie der merkwürdigen Sprache. In ihrem verwirrten, vom Feuer der Verletzung ausgebrannten Geist vermischten sich die fremden Laute mit der Erinnerung an die grunzenden Geräusche der Grausamen. Meijra erstarrte vor Grauen. Niemand anderes als diese Bestien konnten solche Laute von sich geben. Vielleicht war sie ihnen ja gar nicht entkommen. Vielleicht hatten die Grausamen sie während ihrer Bewusstlosigkeit an diesen Ort gebracht, um sich noch länger an ihren Qualen zu weiden!

Bei dieser Vorstellung entfuhr ihr ein entsetztes Keuchen. Panisch drückte sie sich an den Baumwächter in ihrem Rücken … und plötzlich floss seine Ruhe und Stärke in ihren Geist und half ihr dabei, sich auf die Verschmelzung zu konzentrieren. Meijra wurde so schnell zu einem Teil des Wächters, dass es ihr beinahe den Atem verschlug. Es war, als habe diese Wächtergruppe bereits seit Urzeiten sehnsüchtig auf jemanden gewartet, der zu einer Verschmelzung fähig war. Sie wurde förmlich in sie hineingesogen. Sie nahm die Gefühle der Wächter wahr wie ihre eigenen, wurde Teil der überlieferten Erinnerungen aller jemals existierenden Baumwächter dieses seltsamen Landes und wurde einmal mehr von Entsetzen geschüttelt, als sie erkannte, weshalb dieses Land so kahl war. Die Gemeinschaft, die hier gelebt hatte, hatte vor unzähligen Sonnenrunden die riesigen Wächtergruppen, die dieses Land einst bedeckt hatten, gedankenlos abgeschlagen.

Angesichts eines so schrecklichen Vergehens begann Meijra, am ganzen Leib zu zittern. Eine Gemeinschaft, die solche Gräueltaten beging, war auch zu anderen Grausamkeiten fähig. Meijra durfte diesen Wesen auf keinen Fall in die Hände fallen!

Nur ungern löste sie sich aus der engen Verbundenheit mit den Wächtern. Sie hatte keine Ahnung, wie lange die Verschmelzung gedauert hatte, doch die Schwärze der Nacht hatte bereits Einzug gehalten und die fremden Stimmen waren verstummt. Meijra war nicht entdeckt worden.

Nun musste sie sich so schnell wie möglich auf den Weg machen und den kleinen Zufluchtsort aufsuchen, den die Wächter ihr gezeigt hatten. Es handelte sich dabei um eine tiefe Wurzelhöhle, die groß genug war, um Meijra aufzunehmen und zu schützen. Ganz in der Nähe davon floss auch ein schmaler Bachlauf, an dem Meijra ihren brennenden Durst stillen konnte.

Sie versuchte aufzustehen, doch ihr Körper wurde inzwischen von solch heftigen Krämpfen geschüttelt, dass sie wieder auf ihre Knie zurücksank. Die brennende Hitze in ihr wurde immer wieder von eisigen Kälteschauern abgelöst, ihr Herz klopfte so schnell, dass es ihr beinahe die Brust sprengte und ihr Atem klang laut und rasselnd. Auf ihren Knien und mit nur einem unversehrten Arm kroch Meijra über den feuchten Boden. Immer wieder fiel sie schluchzend hin, und nach jedem Sturz dauerte es länger, bis sie genügend Kraft geschöpft hatte, um weiterzukriechen.

Sie wusste, dass das verzehrende Feuer in ihrem Körper von den Wunden herrührte, die ihr die Grausamen mit ihren dreckigen Klauen zugefügt hatten. In ihrer vertrauten Gemeinschaft hätte man sie mit heilenden Kräuterauflagen versorgt, die den Wunden den Schmutz und das Gift entzogen hätten. Sie hätte den Sud des Feuerpilzes zu sich genommen, der die Hitze aus ihrem Körper getrieben hätte, und nach wenigen Tagen wäre sie vollkommen geheilt gewesen.

Doch hier, in dieser fremden Umgebung, völlig auf sich allein gestellt, hatte sie kaum eine Chance. Das Feuer würde sie nach und nach verzehren. Ohne sauberes Wasser, kräftigende Nahrung und die Nähe ihrer Gemeinschaft musste sie qualvoll verenden. Ihre feingeschwungenen Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. So wie es aussah, bekamen die Grausamen zuletzt doch noch ihr Opfer.

Ein letztes Mal raffte sich Meijra auf, um weiterzukriechen. Nur noch wenige Schrittlängen, dann hatte sie das Wurzelversteck erreicht. Verzweifelt kämpfte sie sich voran, als sie spürte, wie eine weitere Schmerzwelle auf sie zurollte. Schluchzend versuchte sie, das unerträgliche Brennen aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, doch ihre Kräfte hatten sich nun endgültig erschöpft. Zuckend stürzte sie ein letztes Mal zu Boden. Noch während sie fiel, streckte sie ihren unversehrten Arm Hilfe suchend aus. Die Wurzel war so nah, sie konnte den Stamm des Baumwächters schon mit den Fingerspitzen berühren.

Das Feuer in ihrem Körper loderte noch stärker auf und erfasste nun auch ihren Geist. Meijra spürte, wie sie in Flammen aufging und schließlich zu Asche zerfiel.

Die Dunkelheit, die sie umfing, war dagegen wohltuend kühl.

3

 

Zufrieden atmete Sean die klare Waldluft ein. Nach zwei Wochen Trubel und Geschrei im Haus seiner Eltern genoss er die wohltuende Stille des Waldes noch mehr als sonst. So sehr er seine Familie auch liebte, aber auf diese eine Stunde der Ruhe und Einsamkeit, die er sich jeden Tag gönnte, wollte er nicht mehr verzichten, obwohl er heute bei seinem Waldspaziergang eigentlich nicht allein war. Wie auch in den vergangenen Tagen wurde er dabei von Hralfor begleitet.

Die Vorstellung, dass Hralfor für die Dauer seines dreiwöchigen Aufenthalts bei der Familie Martin ununterbrochen an das Haus gefesselt war, war für Sean beinahe unerträglich gewesen. Er selbst wäre unter diesen Umständen verrückt geworden. Also hatte er Hralfor nach der ersten Woche angeboten, ihn bei seinem frühmorgendlichen Rundgang durch den Wald zu begleiten. Hralfor hatte das Angebot dankbar angenommen, obwohl er es sich bis dahin nie hatte anmerken lassen, dass ihn dieses Angebundensein vielleicht belastete. Ganz im Gegenteil, Sean staunte immer wieder darüber, mit welch bewundernswertem Gleichmut Hralfor diese schwierige Situation meisterte. Er blieb stets höflich, hielt sich, soweit das mit seiner Erscheinung eben möglich war, unauffällig im Hintergrund und behandelte alle Familienangehörigen mit größter Freundlichkeit. Dennoch war er stets zur Stelle, wenn seine Hilfe gebraucht oder erwünscht wurde. Er half Seans Mutter begeistert beim Kochen, lauschte stundenlang zufrieden den Melodien von Rosie, die mit ihren fünfzehn Jahren schon ein wahres Musikgenie war, und beantwortete geduldig den unaufhörlichen Strom an Fragen der Zwillinge. Er achtete sehr darauf, dass Hannah genug Zeit mit ihrem Vater blieb, hielt sich jedoch selbst bei Thomas Martin zurück.

Sean half er besonders gern bei dessen Schreinerarbeiten, wobei Hralfors ungeheure Körperkräfte Sean immer wieder aufs Neue erstaunten. Ab und zu gönnten sie sich einen kleinen Übungskampf, bei dem Sean trotz seines jahrelangen Karatetrainings nicht die geringste Chance gegen die unglaubliche Schnelligkeit und Geschmeidigkeit des Vargéris hatte. Sobald sie trainierten, schlossen sich ihnen die Zwillinge an, und Sean musste bald neidlos zugeben, dass Hralfor ein großes Geschick bei der Ausbildung der Kinder an den Tag legte. Dabei behandelte er die neunjährige Katie mit derselben, ganz besonderen Höflichkeit und Hochachtung, die er offensichtlich allen Frauen entgegenbrachte.

Sean hatte den Eindruck, dass die Frauen im Volk der Vargéris einen sehr hohen Stellenwert einnahmen, ja, beinahe schon verehrt wurden, und deshalb auch besonders schützenswert waren.

Zunächst hatte Sean noch belustigt beobachtet, wie verwirrt, fast schon kratzbürstig Katie auf diese ungewohnte Behandlung reagiert hatte. Doch bald schon hatte er erstaunt festgestellt, dass das Mädchen Hralfors Aufmerksamkeit zu genießen begann. Er hatte Katie doch tatsächlich dabei erwischt, wie sie freiwillig vor dem Spiegel gestanden und sorgfältig ihre sonst so verwilderten Haare gekämmt hatte!

Bei der Erinnerung daran lachte Sean leise auf. Er spürte, dass Hralfor ihm einen nachdenklichen Blick zuwarf, dabei jedoch weiterhin schweigend neben ihm herlief. Allerdings konnte man das, was er tat, nicht wirklich als Laufen bezeichnen. Hralfor glitt vielmehr völlig geräuschlos neben Sean durch den Wald. Man vernahm dabei weder ein Rascheln der Blätter noch das Knacken kleiner Äste. Bei ihrem ersten gemeinsamen Waldspaziergang hatte Sean diese Tatsache ziemlich verstört. Sie hatte ihm deutlicher als alles andere vor Augen geführt, wie fremdartig der Freund seiner Schwester tatsächlich war. Mit einem leisen Schaudern war ihm klar geworden, dass er gegen einen solchen Feind nicht die geringste Chance hätte. Mit einem Mal konnte er sich annähernd vorstellen, welches Entsetzen seine Schwester vor einem Jahr empfunden haben musste, als sie von drei vargérischen Verbrechern angefallen worden war. Noch nie war er Hralfor so dankbar für ihre Rettung gewesen wie in diesem Augenblick.

Mit ernster Miene wandte er sich Hralfor zu, musste dann jedoch bei dem bizarren Anblick, der sich ihm bot, laut auflachen. Hralfor trug sein Tarncape, eine der vielen nützlichen Erfindungen, über die man bei der OCIA verfügte, und die es ihm überhaupt erst ermöglichte, sich in der Außenwelt zu bewegen, ohne entdeckt zu werden. Wie Hannah Sean erklärt hatte, bestand die Außenseite des bodenlangen, weit geschnittenen Kapuzenumhangs aus einer speziellen Magnesium-Silberlegierung, die das darauf fallende Licht vollständig brach. Dadurch wurde das Licht um jedes Objekt, das von dem Umhang eingehüllt war, herumgeleitet, sodass es nicht sichtbar wurde. An der Kapuze war eine Gesichtsmaske aus demselben Material angebracht, sodass der Träger des Tarncapes vollkommen verhüllt war. Im Moment hatte Hralfor die tarnende Gesichtsmaske jedoch nach oben geschoben, sodass sein wildes, dunkles Gesicht nun wie körperlos über Sean in der Luft schwebte.

Lachend schüttelte Sean den Kopf. »Mann, wenn irgendein Fremder dich so sieht, müssen wir ihn sofort in eine geschlossene Anstalt einliefern.«

Hralfor erwiderte das Grinsen, seine gelben Augen glühten dabei hell auf. »Die Maske behindert mein Sehvermögen, aber keine Sorge, hier befindet sich weit und breit kein Fremder. Sobald ich jemanden wahrnehme, ziehe ich sie wieder über. «

»Na, dann hoffen wir mal, dass du schnell genug reagierst, sonst bekomme ich noch Ärger mit Hannah. Sie sorgt sich sowieso jedes Mal, wenn wir aus dem Haus gehen. Wenn sie erfährt, dass du die Maske nicht aufbehältst, werden wir ganz schön was zu hören bekommen.«

»Sie weiß, dass ich es merke, wenn sich jemand in diesem Wald aufhält, Sean. Es besteht wirklich keine Gefahr.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?« Sean sah Hralfor zweifelnd an. Der Wald erstreckte sich immerhin über mehrere Quadratkilometer.

Das Lächeln in dem dunklen Gesicht verstärkte sich. »Ich höre den Herzschlag eines jeden Menschen, der sich hier befindet. Und wenn der Wind günstig steht, kann ich sie auch riechen.« Konzentriert hielt Hralfor die Nase in die Luft und lauschte eine Weile in die Ferne. Dann wandte er sich wieder Sean zu. »Im Augenblick ist nicht viel los. Einige Waldarbeiter, eine Handvoll Hundebesitzer, zwei Frauen mit kleinen Kindern, und vier Personen, die sich im Laufen trainieren. Doch sie alle sind weit genug von uns entfernt. Nur einer der Hunde war kurz etwas unruhig, als er meine ungewohnte Witterung aufgenommen hat.«

Sean starrte ihn eine Weile mit offenem Mund an, dann brach es aus ihm heraus. »Verdammt, Hralfor! Ich dachte, ich hätte mich schon an dich gewöhnt, aber du schaffst es immer wieder, mich doch noch zu erschrecken. Wir Menschen müssen dir mit unseren verkümmerten Sinnen ja richtig erbärmlich vorkommen.«

Hralfor lachte leise auf. »Wenn es so wäre, wie könnte ich dann eine von euch so sehr lieben, dass ich für sie meine Welt gewechselt habe? Nein, Sean, ihr Menschen habt andere Fähigkeiten, die euch stark machen. Dazu benötigt ihr weder ein vargérisches Ohr noch unseren Geruchssinn.«

»Es muss sehr schwer für dich sein, hier in unserer Welt.«

»Nein.« Hralfor schüttelte entschieden den Kopf. »Nicht, wenn ich dafür bei Hannah sein kann. Verstehst du? Sie ist mein Leben.«

Sean nickte nachdenklich und lief dann weiter schweigend neben Hralfor her. Das gehörte für Sean zu den besten Vorzügen, die sein neuer Freund aufwies. Man konnte mit ihm gemeinsam schweigen. Sean kannte nur sehr wenige Personen, mit denen das möglich war, ohne dass irgendwann eine angespannte Stille herrschte. Doch bei Hralfor war es, als ob sich durch die gemeinsam erlebte Ruhe ihre beginnende Freundschaft immer weiter vertiefte. Aus diesem Grund freute er sich auch jedes Mal aufs Neue darüber, dass Hralfor ihm in dieser ruhigen Stunde Gesellschaft leistete.

Ganz in Gedanken strich Sean mit einer Hand über den Stamm einer alten Fichte. Wie üblich nahm er durch die Berührung des Baumes den Zustand, in dem er sich befand, überdeutlich wahr. Diese Fichte wirkte verbraucht und ausgezehrt. Nicht mehr lange, und sie würde von Schädlingen befallen werden, absterben und schließlich nur noch als Feuerholz zum Einsatz kommen. Er dachte an die große Truhe, die eine seiner Kundinnen bei ihm in Auftrag gegeben hatte. Das Holz dieser Fichte würde sich gut dafür eignen. Bei diesem Gedanken spürte Sean ein leichtes, vertrautes Prickeln in seinen Fingerspitzen, mit denen er den Stamm berührte. Es vermittelte ihm das Gefühl, dass sich die Fichte damit einverstanden erklärte, von ihm bearbeitet zu werden.

Er hatte noch nie jemandem von dieser Sache erzählt. Man würde ihn sonst noch für übergeschnappt halten. Dennoch war er fest davon überzeugt, dass der ungewöhnlich große Anklang, den seine Möbelstücke fanden, darauf zurückzuführen war, dass er nur das Holz von Bäumen nutzte, die wirklich bereit waren, zu diesen speziellen Möbelstücken verarbeitet zu werden.

»Du sprichst mit den Bäumen?« Hralfors heisere Stimme klang überrascht.

Sean, der seinen Begleiter beinahe schon vergessen hatte, zuckte schuldbewusst zusammen. Verwirrt sah er Hralfor an. »Was meinst du damit?«

Hralfor deutete auf die Fichte. »Du hast dich gerade mit diesem Baum verständigt, nicht wahr? Ich hätte nie gedacht, dass auch ihr Menschen über diese Fähigkeit verfügt.«

Sean sah ihn völlig überrumpelt an. »Und wer verfügt deiner Meinung nach über solche Fähigkeiten?«

Hralfor konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als er Seans skeptischen Tonfall bemerkte. »Meine ältere Schwester ist eine wahre Meisterin darin. Sie führt ständig lange Gespräche mit allen möglichen Bäumen und übermittelt deren Wünsche und Bedürfnisse an den Hohen Rat meiner Heimatwelt. Sie übt dort die Bestimmung einer sogenannten Vermittelnden aus.«

Seans Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du willst mich jetzt veralbern, oder?«

»Nein, und das weißt du auch ganz genau. Warum fürchtet ihr Menschen euch so sehr davor, zuzugeben, dass ihr über besondere Fähigkeiten verfügt?«

»Na ja«, Sean kratzte sich verlegen am Kopf, »vielleicht, weil wir dann von den anderen, die das nicht verstehen, als verrückt angesehen werden? Es ist immer schwer, etwas zu glauben, was man nicht beweisen kann. Ich bin mir ja selbst nicht sicher, was ich glauben soll. Und wie zum Teufel hast du überhaupt mitbekommen, was ich da bei dem Baum gedacht habe?«

Hralfor schenkte ihm ein schiefes Lächeln.

»Nimm einfach mal an, dass es zu meinen besonderen Fähigkeiten gehört, solche Gedanken aufzuschnappen.«

»Du bist echt ein komischer Kauz!« Sean schüttelte fassungslos den Kopf. »Mit dir hat Hannah ja wirklich einen Volltreffer gelandet. Ihr werdet euch so schnell nicht miteinander langweilen.«