Rabid - Ivy Asher - E-Book

Rabid E-Book

Ivy Asher

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Beschreibung

I'M NOT THE WOLF YOU WANTED, I'M THE MONSTER YOU NEEDED. Ein neuer Stand-Alone von Spiegel-Bestsellerautorin Raven Kennedy, zusammen mit Ivy Asher. Für alle Dark-Romance- und Werwolf-Fans. Ich träume schon mein ganzes Leben davon, mich endlich in eine Wölfin zu verwandeln. Wie jedes Mitglied meines Rudels muss ich dazu ein Ritual vollziehen. Doch ein brutaler Angriff auf mich lässt dieses Ritual völlig aus dem Ruder laufen: Die Verbindung geht schief, und anstatt meine Wölfin zu kontrollieren, kontrolliert sie mich. Wir sind eins und doch getrennt. Wild, ungezähmt, zornerfüllt. Statt mir zu helfen, verstoßen meine eigenen Leute mich. Sie setzen mich auf dem Land des Ruin-Falls-Rudels aus, das mehr Monster als Wolf oder Mensch sein soll. Und das größte Monster von ihnen ist ihr Alpha: Tyran. Doch meine Wölfin scheint zu glauben, dass dieser Alpha genau der Richtige für uns ist, egal, wie grausam sein Ruf ist. Und es interessiert sie nicht im Geringsten, dass ich anderer Meinung bin …

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Seitenzahl: 613

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ivy Asher • Raven Kennedy

Rabid

Ihr Herz ist ungezähmt. Ihr Wille ungebrochen.

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Barbara Ostrop

 

Über dieses Buch

Die Nacht, in der ich mich das erste Mal verwandelte, änderte mein Schicksal. Er wurde mein Schicksal …

 

Ich träume schon mein ganzes Leben davon, mich endlich in eine Wölfin zu verwandeln. Wie jedes Mitglied meines Rudels muss ich dazu ein Ritual vollziehen. Doch ein brutaler Angriff auf mich lässt dieses Ritual völlig aus dem Ruder laufen: Die Verbindung geht schief, und anstatt meine Wölfin zu kontrollieren, kontrolliert sie mich. Wir sind eins und doch getrennt. Wild, ungezähmt, zornerfüllt. Statt mir zu helfen, verstoßen meine eigenen Leute mich. Sie setzen mich auf dem Land des Ruin-Falls-Rudels aus, das mehr Monster als Wolf oder Mensch sein soll. Und das größte Monster von ihnen ist ihr Alpha: Tyran. Doch meine Wölfin scheint zu glauben, dass dieser Alpha genau der Richtige für uns ist, egal wie grausam sein Ruf ist. Und es interessiert sie nicht im Geringsten, dass ich anderer Meinung bin …

 

Düster, sinnlich, atemberaubend spannend. Wer nach Dark Romantasy mit einer starken Heldin sucht, wird hier fündig!

Vita

Die Autorinnen

Ivy Asher hat bereits zahlreiche Bücher in den Genres Paranormal und Fantasy Romance veröffentlicht. Mit «Rabid», einer düsteren Werwolf-Romance, die sie zusammen mit Spiegel-Bestsellerautorin Raven Kennedy geschrieben hat, erscheint sie nun erstmals auf Deutsch. Ivy Asher liebt Schneestürme, Chai-Tee und Heldinnen, die sich nicht unterkriegen lassen. Sie ist auf TikTok und Instagram unter @ivy.asher zu finden. 

Raven Kennedy wurde in Kalifornien geboren. Ihre Liebe zum Lesen hat sie schließlich dazu gebracht, eigene Welten zu kreieren. Sie hat bereits mehrere Buchserien veröffentlicht, der Durchbruch gelang ihr mit der «The Darkest Gold»-Reihe, einer dunklen Neuinterpretation des König-Midas-Mythos. Die Romane haben sich bisher mehr als vier Millionen Mal verkauft, standen auf der New York Times- und der Spiegel-Bestsellerliste, die Übersetzungsrechte wurden in etliche Länder lizenziert, eine Verfilmung befindet sich in Vorbereitung. Auf TikTok und Instagram (@ravenkennedybooks) teilt sie Einblicke in ihren Schreiballtag.

 

Die Übersetzerin

Die Autorin und Diplomübersetzerin Barbara Ostrop arbeitet seit 1993 als literarische Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen und zählt Liebes- und Familienromane, Spannung, Historisches und Jugendromane sowie Fantasy zu ihren Schwerpunkten. Inzwischen hat sie über hundert Bücher ins Deutsche übertragen und so u.a. mehrere Romane von Simon Scarrow über das antike Rom für deutschsprachige Leserinnen und Leser zugänglich gemacht.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Rabid: The Savage Spirit of Seneca Rain».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Rabid: The Savage Spirit of Seneca Rain» Copyright © 2021 by Ivy Asher & Raven Kennedy

Published by Arrangement with RAVEN KENNEDY LLC and IVY ASHER LLC

Redaktion Julia Abrahams

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Story Wrappers

ISBN 978-3-644-02550-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Wenn du dich darüber informieren möchtest, findest du auf unserer Homepage unter www.endlichkyss.de/rabid eine Content-Note.

Für all die Gebrochenen und Zerschmetterten. Die mit dem ungezähmten Herzen, die trotzdem am Ende siegten.

 

 

Kapitel 1

Der Geruch des Regens kitzelt meine Nase; er kommt mit dem leichten Lüftchen herbeigeweht, das durch mein Haar streicht. Beinahe kann ich die sich drohend zusammenballende Feuchtigkeit schmecken und das Gewicht der Unwetterwolken spüren, die träge heranziehen. Der Wetterumschwung kommt mir heute genau richtig vor. Es ist, als wäre der Himmel bereit, seine Schleusen zu öffnen und seinen Kummer zu zeigen, etwas, was mir noch immer nicht gelungen ist.

Das Gemurmel rundum lenkt mich von meinen umherschweifenden Gedanken ab. Ich konzentriere mich wieder auf die grünen Triebe, die sich auf dem Sarg meiner Mutter zwischen dem Wasserfall weißer Blüten herausschieben. Bei den Blumen hat man sich wirklich selbst übertroffen, und ich versuche, die Mühe zu würdigen, statt darüber nachzudenken, wie sehr meine Mutter das verabscheut hätte.

Als Rudelheilerin hasste meine Mom jeden verfrühten Tod und jede überflüssige Gewalt in gleichem Maße. Ihre Gefühle beschränkten sich nicht nur auf unsere Art oder die Menschen, denen wir so stark ähneln, wenn wir nicht in unserer Wolfsgestalt sind. Sie galten allem Lebendigen. Schenkte man meiner Mutter eine Pflanze, die sie nähren und zum Wachstum ermutigen konnte, war sie einem ein Leben lang zugetan. Schenkte man ihr einen Blumenstrauß, der schon im Moment, da man ihn pflückte, zum Tode verurteilt war und den man ihr wie einen zu bestaunenden Pokal überreichte, trug einem das ein lebenslanges Misstrauen ein.

Sie war stark in ihren Überzeugungen, eine sanfte Heilerin und die beste Mom, die ich mir nur hätte wünschen können.

Und jetzt ist sie tot.

Mit Augen, aus denen noch immer keine Tränen geflossen sind, registriere ich die Kanten und den Umriss ihres Sargs und kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass nichts von alldem real ist. Ich weiß, dass ich noch immer unter Schock stehe und ihren Tod wohl auch einfach nicht wahrhaben will, doch ich habe nie mit einem Tag gerechnet, an dem sie nicht unbeirrbar stark an meiner Seite stehen und mir den Weg weisen würde. Und schon gar nicht jetzt, da der Flux in wenigen Tagen bevorsteht.

Hess, der engste Freund meiner Mutter, beendet seine Rede und wischt sich die Augen. Ich sehe mich unter den Versammelten um, ob irgendeiner aus dem Rudel diese sichtbaren Emotionen als ein Zeichen der Schwäche deutet, doch statt einzuschätzen, wie viele Herausforderungen er in der näheren Zukunft bekommen könnte, landet mein leerer Blick auf zwei wohlbekannten verschlagenen schwarzen Augen. Sie beobachten mich, und ein Schauder des Abscheus läuft mir den Rücken hinunter. Ich zwinge mich voll Widerwillen, vom Alpha des Rudels wegzuschauen, und mein Blick legt sich auf einen der Betas, der sich von seinem Platz erhebt.

Seine kakigrüne Cargohose ist zerknittert, genau wie sein weißes Hemd. Auf seinen Wangen und an seinem Hals machen sich ungepflegte Bartstoppeln breit, was in Ordnung wäre, würde er trauern, aber das tut er nicht. Nein, es ist die Sauforgie des Rudels von gestern Abend, deretwegen er so ungepflegt ist. Ihre Späße und ihr Gelächter waren so laut, dass sie sogar bis zu meinem Haus am Rand des Dorfs drangen, wo ich versuchte, mich auf heute vorzubereiten. Es ist, als feierten sie den Verlust, statt durch ihn gelähmt zu sein wie ich.

Der respektlose Beta tritt vor, um ein paar Worte zu sagen, bevor es Zeit wird, den Sarg ins Grab zu lassen, und das ist so absurd, dass ich am liebsten knurren würde.

Ohnehin kann ich mich nicht auf die Rede des Betas konzentrieren, weil ich noch immer Alpha Burkes Blick auf mir fühle. Er ist so eindringlich, dass mir die Haut kribbelt. Ich habe viel zu viele Zusammenstöße mit ihm gehabt, seit er vor drei Jahren mit seiner Bande von Schlägern auftauchte, uns angriff und schließlich das Rudel erfolgreich übernahm. Von Anfang an hat er sich für mich interessiert, aber meine Mom ist immer eingeschritten und hat eine Eskalation, wie es bei so vielen anderen Rudelfrauen passiert ist, verhindert.

Begabte Heilerinnen sind schwer zu finden, und was auch immer Burke mit mir im Sinn hatte, anscheinend war es ihm wichtiger, dass meine Mutter hierblieb und ihre Arbeit machte.

Doch jetzt ist sie tot, und ich bin allein. Wenn ich die Gabe meiner Mutter besäße, hätte ich vielleicht einen Trumpf in der Hand, was meine Sicherheit betrifft, doch leider hat dieser Segen meine Generation ausgelassen.

Jetzt bin ich in einer potenziell äußerst gefährlichen Situation gefangen. Es spielt keine Rolle, wie sehr ich in Ruhe gelassen werden möchte und wie wenig Interesse ich daran habe, dass der Alpha oder sonst jemand in diesem Rudel mich beansprucht. Wenn ich den Flux überlebe und meine Wölfin bekomme, werde ich mit Sicherheit nicht die Wahl haben. Jemand wird mich beanspruchen, ob ich es will oder nicht.

Ich bemühe mich nach Kräften, nicht darauf zu achten, welche Last Burkes dreckiger Blick für mich ist. Auf keinen Fall will ich herumzappeln und Schwäche oder Unbehagen erkennen lassen. Andernfalls handele ich mir Probleme ein, und das ist das Letzte, was ich so kurz vor der Zeremonie gebrauchen kann. Ich muss mir einen Plan überlegen, wie ich mit meiner Position umgehe. Aber hier, in diesem Moment und an diesem Ort, muss ich einfach nur meine Mutter begraben und mich mit der Tatsache abfinden, dass sie nicht länger da ist.

Seamus, der Riese von einem Beta, der sich verhält, als wären ihm meine Mutter und mein Verlust scheißegal, bedeutet mir mit einem Nicken, dass es Zeit ist. Ich hole tief Luft, stehe langsam auf und gehe zum Kopfende von Moms Sarg. Dort stehe ich benommen, verloren und absolut nicht bereit, Lebewohl zu sagen.

Die Kehle vor Kummer wie zugeschnürt, strecke ich die Hände aus und lege sie aufs glänzende Holz des Sargs, dessen rötlicher Schimmer Mom ein Lächeln entlockt hätte. Ich beuge mich vor und küsse den Deckel des Holzkastens, der sie umschließen wird, bis die Erde und die Pflanzen sie aufnehmen. Die Brust voll Trauer, trete ich zurück und verfolge, wie man sie ins Grab hinablässt, wohin ich ihr nicht folgen kann.

Kalte Verzweiflung erfasst mich. Mein Atem geht mühsam, und meine Gliedmaßen fühlen sich schwer an, doch der Verlust, in dem ich ertrinke, zeigt sich immer noch nicht als Tränen in meinen Augen. Durch den Schmerz hindurch atme ich aus, gehe wie ein Roboter zum Erdhaufen und ergreife die Schaufel, die darin steckt. Tief stoße ich sie in die Erde und hebe ein Häuflein heraus. Erst als der Sarg sicher auf dem Grund des Lochs steht, das die Omegas gegraben haben, mache ich weiter.

Als die Gurte hochgezogen werden, verstreue ich meine Erde ins Grab und wünschte, ich könnte hinterherkriechen und an Moms Seite bestattet werden. Die dunkle Erde ruiniert das reine Weiß der Blumen, doch das erscheint mir eine passende Metapher dafür, wie mein Leben jetzt aussieht.

Sanft nimmt man mir die Schaufel aus den Händen, und die Rudelmitglieder bilden eine Schlange und treten einer nach dem anderen heran, um beim Zuschütten meiner Mutter zu helfen und ein letztes Mal Lebewohl zu sagen. Ich ziehe mich an den Rand der Menge zurück, kann aber das Gefühl nicht übergehen, dass mit jeder Schaufel voll Erde, die auf sie geworfen wird, etwas in meinem Inneren stirbt.

Den Kopf in den Nacken gelegt, blicke ich zum sich verdunkelnden Himmel hinauf. Nehme seine Weite in mich auf und versuche, mich weniger eingesperrt zu fühlen, meinen Schmerz und die Umstände weniger als Falle zu empfinden. Doch dann tritt eine große Gestalt neben mich, deren Körperwärme und Absichten ich unmöglich ignorieren kann. Die Sinne einer Wölfin wären gar nicht nötig, um zu wissen, um wen es sich handelt.

Als ich aufblicke, sehe ich pechschwarzes Haar, Haut in der warmen Farbe von Eichenholz und boshafte schwarze Augen. Burke ist massiv wie ein Fels und hat genug Muskeln und Grips, um die Zügel des Twin-Rivers-Rudels fest in der Hand zu halten. Er ist attraktiv, das weiß er, und er verhält sich gern so, als gäben ihm sein Aussehen und sein Rang ein Anrecht auf gewisse Dinge. Ihm ist absolut nicht klar, dass Grausamkeit und Verdorbenheit im Inneren das beflecken, was die Menschen außen wahrnehmen. Er ist wie Gaston in Die Schöne und das Biest.

«Du wirst dich davon erholen», sagt er, als wäre ich ein schluchzendes Häuflein Elend, das seinen halbherzigen Trost nötig hätte.

«Ich weiß», antworte ich einfach nur und schenke jemandem, der mir im Vorbeigehen auf die Schulter klopft, ein mattes Lächeln.

Immer enger schnürt sich meine Kehle zusammen, als mehr und mehr Erde ins Grab fällt, und jetzt möchte ich nur noch in die Wälder wandern, in denen ich meine ganze Kindheit verbracht habe, und für eine Weile verschwinden. Weit weg von berechnenden Blicken und dem geballten Kummer der Versammelten.

«Bald bekommst du deine Wölfin, und dann wird dir alles erträglicher vorkommen», erklärt Burke, als wäre es ihm nicht scheißegal oder als dächte er, die Lücke, die meine Mutter hinterlässt, könne durch ein Haustier wiedergutgemacht werden.

Sofort empfinde ich angesichts dieses Gedankens Scham. Der Wolfsgeist, der uns auswählt, ist kein Haustier, tadele ich mich selbst. Unauffällig versuche ich, etwas mehr Abstand zwischen meinem Alpha und mir zu schaffen. Doch er tritt näher, als wäre mein Rückzug eine Einladung und kein Ausdruck des Unbehagens. Ich fühle, wie er mir die Hand ins Kreuz legt und wie mein langes Haar über seinen Arm streift. Er beugt sich über mich, engt mich ein, und so sehr ich auch zurückweichen möchte, ich tue es nicht.

Wer sich gegen Burkes Annäherungsversuche wehrt, spornt ihn fast genauso sehr an wie eine Frau, die schwach und verletzlich ist. Er ist durch und durch Jäger. Ich hatte gehofft, ihm aus dem Weg gehen zu können, bis ich mich entschieden habe, was ich tun soll, doch ich hätte es besser wissen müssen. Viel zu viele Frauen können bezeugen, dass Alpha Burke keine Ruhe gibt, bis er bekommen hat, was er will, auf welche Weise auch immer.

Bring einfach den heutigen Tag hinter dich, Seneca. Danach haben er und alle anderen genug damit zu tun, sich auf die Zeremonie vorzubereiten, und dann kannst du einen Plan schmieden. Ehre deine Mutter. Soll er dich doch betatschen, dann gibt er sich endlich zufrieden. Und ehe du dich versiehst, ist der Flux da.

Ich halte den Atem an und erstarre, als er praktisch das Gesicht in meinem Haar vergräbt. Ein paar Rudelmitglieder huschen mit gesenktem Blick an uns vorbei, wollen sich heraushalten, egal, wie falsch das, was hier geschieht, auch sein mag oder wie unwohl ich mich offenkundig fühle.

«Mmmmmmm», höre ich sein sinnliches Knurren an meinem Ohr, und ich unterdrücke den Ekel, der mir den Hals hinaufkriecht. «Dein Geruch ist mir vielleicht der liebste von allen», erklärt er, und seine Brust streift meinen Arm.

Von Abscheu überkommen, verdrehe ich die Augen und beuge mich so weit wie möglich zurück. Was für ein Mann baggert bitte ein Rudelmitglied an, das gerade seine Mutter verloren hat?

Burke schnappt sich eine Strähne meines dichten, erdbraunen Haars und zwirbelt es zwischen den Fingern. Dann lehnt er sich mit einem Lachen zurück. Manchmal weiß ich nicht, ob er die abstoßende Wirkung, die er auf mich ausübt, gar nicht wahrnimmt oder ob sie ihm gefällt und er nur deshalb meine Grenzen austestet, weil mein Unbehagen ihm Spaß macht. Ich blicke auf, unfähig, den warnenden Ausdruck in meinen eisblauen Augen zu verbergen. Schlimm genug, wenn er mich in der Nähe meines Zuhauses bedrängt und diesen Scheiß abzieht, aber das hier ist die Beerdigung meiner Mutter. Ich dachte, er würde wenigstens so tun, als verstünde er das, und einen Anschein von Anstand wahren. Jetzt sehe ich, wie naiv und dumm das war.

Seine schwarzen Augen glitzern belustigt, als ich die Haare zurückstreiche und mich seiner Hand, die noch immer auf meinem Kreuz liegt, entziehe.

«Ich muss die Beerdigung meiner Mutter zu Ende bringen», verkünde ich eisig, und sein lüsternes Grinsen wird sogar noch breiter.

«Ja, tu das», erklärt er, sein Tonfall befehlsgewohnt, als hätte ich um seine Erlaubnis gebeten. «Aber wir beide müssen über deine Wohnsituation reden, komm also zu mir, wenn du das erledigt hast.»

Von Verwirrung erfasst, bleibe ich wie angewurzelt stehen. «Was für ein Problem gibt es denn mit meiner Wohnsituation?», frage ich und verschränke die Arme vor der Brust, als sein widerlicher Blick sich allzu lang auf den Ausschnitt meines schwarzen Kleides heftet.

Er zuckt mit den Schultern. «Es ist keine große Sache, nur gehört dein Haus der Rudelheilerin, und … na ja, das Rudel hat keine Heilerin mehr. Du hast Zeit bis nach dem Flux, aber wenn die neue Heilerin eintrifft …» Er beendet den Satz nicht, doch das ist auch nicht nötig. Hat er ernsthaft vor, mich aus meinem Zuhause zu werfen? Mein Vater hat dieses Haus mit seinen eigenen Händen erbaut.

Ich beiße die Zähne zusammen, schlucke die giftige Antwort herunter, die ich ihm gern entgegenspeien würde, und weigere mich, den Köder zu schlucken. Das scheint ihn sogar noch mehr zu belustigen, denn er mustert mich mit einem wölfischen Grinsen wie ein halb Verhungerter, vor den man einen mit Essen vollgetürmten Teller stellt.

«Bis dahin ist natürlich deine Wölfin gekommen, und du weißt, was dann geschieht, Seneca.»

Sowohl die Anspielung als auch das Benutzen meines Namens lassen mich innerlich erstarren. Ich will nicht, dass er sich irgendetwas von mir nimmt. Nicht einmal meinen Namen für den einen Moment, den es zum Aussprechen braucht.

«Mit der Flux-Zeremonie wird der Wolfsgeist geehrt, der seine Wirtin wählt», gebe ich bissig zurück, während der Rest der schwarz gekleideten, zerzausten Rudelmitglieder sich allmählich verzieht.

«Das stimmt», antwortet er mit anmaßend verzogenen Lippen. «Und außerdem geht es darum, dass die Männer zwischen den Wölfinnen wählen, die zum Spielen kommen, und eine von ihnen beanspruchen.» Sein Blick legt sich auf mich. «Ich habe lange gewartet, und ich freue mich darauf, dass deine neue Wölfin sich sofort vor mir auf den Rücken werfen wird, um mir den Bauch zu zeigen. Wenn du sie erst einmal hast, wirst du mich anflehen, dich zu beanspruchen.»

Mir kommt die Galle hoch, doch ich erwidere nichts. Was soll ich schon sagen? Das Grässliche ist … die Wahrscheinlichkeit ist durchaus hoch, dass es genau so kommen wird. Und ich kann verdammt noch mal nichts dagegen tun.

Niemand kann den Flux kontrollieren. Wenn ich mich der Zeremonie überlasse und den Wolfsgeist aufnehme, der mich auswählt, liegt die Sache nicht mehr in meiner Hand. Die meisten Frauen unterwerfen sich sofort einem Mann. Es ist eine heilige Zeremonie, eine, die in Ehren gehalten und gefeiert werden sollte. Aber Burke hat nur eines im Sinn: beherrschen. Beanspruchen. Nehmen, was nicht angeboten wird. Und das Salz in der Wunde ist … vielleicht will meine Wölfin ihn ebenfalls.

Als könnte er sehen, wie der Zorn in meinem Blick ermattet, zwinkert Burke mir zu, beugt sich vor, nimmt ein wenig lose Erde in die Hand und wirft sie mit einem achtlosen Schwung in Moms Grab. Dann dreht er sich um, geht mit den Händen in den Hosentaschen davon und pfeift dabei eine verdammte Melodie.

Ich hasse ihn.

Ich schlucke kräftig, sehe mich nach der frisch aufgeworfenen Erde um, die den Sarg bedeckt, und beachte die beiden schlaksigen Gestaltwandler nicht, die verlegen am Rand warten, die Schaufeln bereits in Händen, um die letzten Begräbnisarbeiten zu erledigen, sobald ich weg bin.

Meine Mutter ist tot. Mein Vater auch. Mir bleibt niemand mehr.

Über mir öffnet der Himmel endlich seine Schleusen, als zerdrücke er die Wolken in der Faust. Die ersten Regentropfen fallen, und ich drehe mich um, ertrage es nicht, dass das Grab sich vor meinen Augen in eine Ansammlung von matschigen Pfützen verwandelt. Das hätte meine Mom gehasst.

Ich gehe weg, und die feuchte Gabe des Himmels verspottet meine trockenen Wangen. Obwohl ich weiß, dass sechs Fuß grausamer Erde mich für immer von Mom trennen werden, weine ich immer noch nicht. Stattdessen trauern die Wolken für mich, als wollten sie mir den Weg zeigen.

Wenn ich mich doch nur nicht zu sehr verirrt hätte, um ihnen zu folgen.

Das Heilerinnen-Haus, mein Haus, liegt still da.

Still war es dort noch nie.

Mit einem Rudel so groß wie das von Twin Rivers mit mehreren Hundert Gestaltwandlern war immer jemand in unserem Haus, der gerade von meiner Mutter behandelt wurde. So geht es einem, wenn man die Heilerin des Rudels ist. Ob Regen oder Sonnenschein, Morgen- oder Abenddämmerung, irgendjemand brauchte sie immer.

Am schlimmsten war es bei Vollmond. Dann hält Burke immer die Rudelkämpfe ab. Um eine gesunde Hierarchie zu bewahren, sagt er. Aber tatsächlich gefällt es ihm einfach, wenn Rudelmitglieder sich gegenseitig die Scheiße aus dem Leib prügeln. Da die meisten von ihnen nicht wirklich aufsteigen, dient das alles nur der Unterhaltung.

Meine Mom verabscheute die Kämpfe natürlich. Das gilt auch für viele andere im Rudel. Aber einfach wegzugehen, ist nicht leicht, besonders für die Familien, die seit Generationen auf diesem Land leben. Daher warten wir alle einfach nur ab und hoffen, dass der Tag kommen wird, an dem Burke herausgefordert wird und verliert.

Bisher war meine Mutter immer da, bereit, die Knochen zu richten, bevor sie zu schnell heilten, und mit ihrer Magie die Schmerzen der Wölfe zu lindern und sie zu beruhigen. Wenn Burke möchte, dass jemand seine Rudelmitglieder beim nächsten Vollmond wieder zusammenflickt, muss er recht bald eine Heilerin oder einen Heiler finden. Und allein schon der Gedanke daran, dass jemand Moms Platz einnimmt und in meinem Zuhause wohnt …

Kopfschüttelnd gehe ich durch den hellgelb gestrichenen Flur, der sich plötzlich zu schmal anfühlt. Mom hat ihn in einer fröhlichen Farbe angemalt. Sie sagte, er würde einen in den Arm nehmen, wenn man heimkommt. Doch auf dem Weg zu meinem Zimmer fühle ich jetzt nur Kälte und Einsamkeit. Zu ihrem will ich gar nicht schauen; ich will die Leere nicht sehen, die dem Gefühl in meiner Seele entspricht.

Als ich meine Tür öffne, empfängt mich der Geruch von Lavendel und Süßgras. Ich ziehe mein nasses Kleid und meine Unterwäsche aus und werfe sie beim Betreten des Badezimmers ins Waschbecken. Eine geschlagene Viertelstunde stehe ich unter dem warmen Strahl der Dusche, bevor ich mich so weit wiederhergestellt fühle, dass ich mich waschen kann. Danach noch einmal eine Viertelstunde, um unter der Dusche hervorzukommen und Leggins und ein langärmliges Shirt anzuziehen, denn obwohl es draußen warm ist, ist mir kalt bis auf die Knochen.

Wieder vergeht eine Viertelstunde, und ich kann nichts anderes tun, als auf meinem Bett zu sitzen und die Bettwäsche mit dem Sonnenuntergang drauf zu betrachten, die wir bei unserem letzten Mädelsausflug gemeinsam ausgesucht haben. Meine Haut kribbelt, die Wände rücken immer näher, und ich begreife, dass ich nicht schlafen kann, egal, wie erschöpft ich mich auch fühlen mag. Dies hier war immer mein Zufluchtsort, wo ich allem entkommen konnte. Die vier Wände dieses Zimmers wachen seit meiner Kindheit über mich, doch jetzt fühlen sie sich genauso leer an wie ich mich selbst.

Ich flüchte aus meinem eigenen Zimmer und gehe wieder nach unten, wo ich plötzlich in der Tür des Vorratsraums meiner Mutter stehe. Hier riecht es nach Salbei, Oleander und etwas, das unverkennbar sie ist. Sie hat diesen Raum geliebt, und obwohl die Wolken draußen noch weinen, muss ich zugeben, dass er beruhigend ist. Ganz besonders liebe ich die getrockneten Kräuter, die sie immer an einem der Länge nach durch den Raum gespannten Draht hängen hat – eine Möglichkeit, den Pflanzen ein zweites Leben in den Heilmitteln zu geben, die sie mit ihnen herstellte.

Sie war oft hier drinnen, hat herumgewerkelt, Salben angemischt, Verbände geordnet, Geburten vorbereitet und natürliche Medizin für unser Rudel hergestellt, für gesundheitliche Probleme, die ohne Magie behandelbar waren. Wäre ich doch nur ebenfalls mit ihrer Gabe zur Welt gekommen, dann wäre ich wertvoll. Dann hätte ich eine Chance, mich um die Mitgliedschaft in einem neuen Rudel zu bewerben und Burke und seine unerwünschten Aufmerksamkeiten hinter mir zurückzulassen.

Doch leider bin ich ein Nichts.

Ich kann nicht ohne die Erlaubnis des Alphas von hier weggehen. Es sei denn, ich wollte die Lebensweise meines Volks aufgeben und als Mensch weitermachen. Doch selbst dann würde ich riskieren, aufzufliegen und zurückgeschickt zu werden. Rudelbündnisse sind brüchig, was bedeutet, dass selbst, wenn ich ein Rudel fände, das mich ohne Fragen zu stellen bei sich aufnehmen würde, ständig die Gefahr bestünde, von Twin Rivers angegriffen zu werden. Wer würde das schon für einen Niemand wie mich tun?

Mit einem Seufzer strecke ich die Hand nach oben, streiche sanft über die getrockneten Blütenblätter eines herabhängenden Hundsveilchens und betrachte all die Dinge, die meine Mom nicht mehr verwenden wird. Als es plötzlich an der Tür klopft, zucke ich zusammen, fahre herum und eile aus der Kammer hinaus und am Wohnzimmer und der Küche vorbei, um zu sehen, wer der Besucher ist. Als ich die Haustür öffne, steht ein völlig durchnässter Hess vor mir, zwei Flaschen Bier in den Händen und einen grimmigen Ausdruck im Gesicht.

Ganz kurz runzele ich verwirrt die Stirn, doch dann trete ich ruhig zur Seite und lasse ihn hereinstapfen. Der alte Brummbär zieht die nassen Schuhe an der Tür aus, um keinen Dreck ins Haus zu bringen, und wir wissen beide, dass er das nur tut, weil meine Mutter ihm früher sonst einen bösen Blick zugeworfen hätte.

«Bist du den ganzen Weg von zu Hause zu Fuß hergekommen?», frage ich beim Schließen der Tür mit einem Blick auf den schlammverklebten Saum seiner Hose und das nun durchsichtige Hemd.

«Ja.» Er geht direkt zur Küche, schaltet das Licht ein und stellt die Flaschen auf die Theke. Dann lässt er sich auf einem der Hocker nieder.

Verlegen zögernd, bleibe ich im Eingang stehen, überrascht, dass er da ist. Seit mein Dad vor drei Jahren gestorben ist, war er ein guter Freund meiner Mom, aber zwischen ihm und mir gab es niemals irgendeine Art von Band. Ich war immer höflich, aber distanziert zu ihm, und ihm war das recht. Ich bin froh, dass meine Mom mit Hess’ Hilfe besser durch die Trauerphase gekommen ist, aber er ist nicht mein Dad, und wir haben uns niemals nahegestanden. Daher macht sein unangekündigter Besuch mich verlegen.

Hess zieht einen Schlüsselring aus der Hosentasche und benutzt den Flaschenöffner daran, um die Deckel aufzuhebeln. Mit seinen von tiefer Trauer erfüllten Augen begegnet er meinem Blick und schiebt das zweite Bier zum Hocker neben sich. «Setz dich», sagte er und reibt sich die dunkelblonden Bartstoppeln, während ihm das Wasser vom weizengelben, kurz geschorenen Haar tropft.

Ich lasse mich auf den Hocker gleiten und mustere das flüssige Mitbringsel. «Du weißt, dass ich noch keine einundzwanzig bin.»

Hess wirft mir nicht einmal einen Blick zu, sondern nimmt nur einen tiefen Schluck aus seiner Flasche. «Du willst mir wirklich einreden, dass du noch nie ein Bier getrunken hast? Also bitte! Außerdem fehlt nur noch ein Monat», knurrt er. «Ich dachte, falls du überhaupt jemals einen Drink brauchst, dann heute Abend.» Er hebt seine Flasche an, und ich nehme die meine in die Hand, damit er mit mir anstoßen kann. «Auf Delaney.»

Beim Klang ihres Namens und beim Anblick der Tränen in seinen Augen schnürt sich mir die Kehle zusammen.

«Auf Mom», wiederhole ich.

Gemeinsam trinken wir schweigend, und nur die Geräusche des Regens und unserer Schlucke sind in der Küche zu hören. Sie ist in Grün- und Gelbtönen gehalten und fühlt sich gerade um so viel weniger fröhlich an als früher.

Hess und meine Mom haben sich nach dem Verlust ihrer jeweiligen Partner angefreundet, und eine Zeit lang glaubte ich, er sei vielleicht in meine Mom verliebt. Einmal abends, als wir Kekse buken und Salben rührten und lachten und redeten, habe ich ihr sogar meinen Segen gegeben. Doch wie sich herausstellte, sahen sie einander nicht auf diese Weise. Beide verstanden einfach nur, was Einsamkeit und Verlust bedeuten, und so bemühten sie sich, füreinander da zu sein.

«Sie hätte nicht sterben sollen.»

Hess sieht mich aus dem Augenwinkel an, und ich warte ab, was er sagen will.

«Ein furchtbarer Unfall», knurrt er, doch mir entgeht nicht, dass er den Rest seines Biers in einem einzigen Zug herunterkippt.

Mir zieht sich das Herz zusammen, weil er bereits vollständig aufgegeben hat. Es gibt niemanden außer mir, der die Art, wie Mom umgekommen ist, anzweifelt oder infrage stellt, und was kann ich schon gegen so viele andere ausrichten? Jetzt fühle ich mich sogar noch mehr allein als zuvor. Ich möchte ihm böse sein, doch wie kann ich ihm einen Vorwurf machen? Wir alle sind nicht mehr die, die wir früher einmal waren. Dafür hat Burke gesorgt. Er hat es geschafft, dass unser Rudel jetzt ein feiger Haufen ist, in dem alle einander misstrauen und vor dem, was verkehrt läuft, die Augen verschließen.

Als seine Flasche leer ist, wendet Hess sich mir zu und sieht mich erneut an. «Bist du nervös?»

Ich muss ihn nicht fragen, wovon er redet. «Ja», antworte ich mit einem Nicken und zupfe mit den Fingern am Etikett meiner Flasche herum. «Ich meine, natürlich wusste ich, dass dieser Tag bevorsteht, und ich freue mich darauf, endlich meine Wölfin zu bekommen. Aber es ohne Mom oder Dad zu erleben …»

«Du wirst schon klarkommen.»

Ich werfe ihm einen scharfen Blick zu. «Der Flux kann qualvoll sein. Manche Leute sterben.»

Früher war das meine größte Angst vor der Zeremonie; dass ich nicht stark genug sein würde, meine Wölfin aufzunehmen. Aber jetzt ist Burke derjenige, der mich mit Beklemmung und Angst erfüllt.

Hess zuckt mit den Schultern und kratzt sich die Stoppeln am Kinn, wo sich drahtige, graue Haare unter das Dunkelblond mischen. «Ja, kann sein. Aber für manche Leute ist es so, als könnten sie zum ersten Mal richtig atmen. Für deine Mom zum Beispiel. Als sie ihre Wölfin bekam, hat sie einfach nur lächelnd geseufzt, als fühlte sie sich endlich in ihrer eigenen Haut richtig zu Hause.»

Es zuckt um meine Lippen. «Das klingt ganz nach ihr.»

Der Regen scheint nun nachzulassen, während ich erneut einen Schluck trinke. Die bitteren Bläschen passen gut zur gärenden Trauer in meinem Inneren. Eigentlich ist das hier nett. Mit Hess in der Küche zu sitzen, dem letzten Rudelmitglied, das bereit ist, von ihr zu erzählen. Vielleicht ist das sein Olivenzweig, vielleicht zeigt er mir so, dass ich nicht allein bin, obwohl sie tot ist.

«Ist deine Mom alles mit dir durchgegangen, womit du rechnen musst?», fragt er, und ich spüre, dass die Frage ihn verlegen macht. Fast muss ich lachen, dass er ein Aufklärungsgespräch à la «Wie die Bienlein die Blüten befruchten» mit mir führen will, nur bezogen auf die Totem-Wölfe. Aber er ist aus dem Schneider. Ich weiß, wie die Sache läuft.

«Ja, ich bin über die Rituale und die Vorbereitung informiert. Ich weiß, dass der Geistweber die Wolfsgeister heraufbeschwört und dann jeden von uns beißt, um den Wolf in die ausgewählte Person hineinzuziehen.» Ich blicke auf meinen Unterarm hinunter, als könnte ich das Mal, das sich dort abzeichnen wird, jetzt schon sehen. «Der Weber wird die alten Lieder unserer Ahnen singen, während das Rudel den Wolfsgeistern frisches Fleisch anbietet.»

Den Rest lasse ich bewusst weg: den Schmerz, die Lebensgefahr und die erste Gestaltwandlung, wenn der Flux erfolgreich verläuft. Außerdem lasse ich alles aus, was meine Mom über das Für-sich-Beanspruchen und die Wolfsnatur gesagt hat und darüber, dass die Geister, die wir in unserem Inneren beschützen, uns triebmäßig beherrschen können und damit die Logik und die menschliche Vernunft mehr oder weniger aushebeln.

Hess nickt, und erneut wird es still in der Küche, während er mit leerem Blick nach unten starrt. Ich frage mich, woran er denkt, doch der Ausdruck seiner Augen sagt mir, dass es etwas Persönliches ist, und so hake ich nicht nach. Wir stehen uns nicht so nahe, dass ich das tun könnte.

Ich setze mein Bier an die Lippen, leere die Flasche mit ein paar tiefen Zügen und wünschte, sie würde mir helfen, all diese Gedanken zu verjagen, doch Hess hat recht. Das hier ist nicht mein erstes Bier, und ich vertrage ohnehin zu viel Alkohol, als dass eine Flasche etwas mit mir anstellen könnte. Aber das ist wahrscheinlich gut so. So sehr ich mir auch eine Flucht in den Rausch wünschen würde, Burke ist auf der Jagd, und das Risiko, in seiner Nähe weggetreten und verletzlich zu sein, kann ich nicht eingehen.

«Seneca», beginnt Hess, und so, wie mein Name aus seinem Mund kommt, spüre ich, dass das, was er gleich sagen wird, mir nicht gefallen wird. Er stößt die Luft aus und sieht mich an, die grauen Augen von einem so intensiven Schmerz erfüllt, dass mir der Atem stockt. «Ich verlasse das Twin-Rivers-Rudel», verkündet er, und es kommt mir vor wie ein Tritt in die Magengrube.

Überraschung und Unglaube wetteifern um meine Aufmerksamkeit, und meine Schultern sacken niedergeschlagen nach unten. Gerade, als ich dachte, noch einsamer und ausgelieferter könnte ich mich nicht fühlen, verkündet die Person, die meine letzte Verteidigungslinie gegen die Raubtiere war, dass sie geht. Hitze steigt mir den Hals hinauf, und ich versuche zurückzudrängen, wie verletzt und verraten ich mich fühle. Er ist also doch nicht hier, um mir einen Olivenzweig zu reichen. Er ist hier, um die Wurzeln komplett auszureißen.

«Oh», antworte ich mit rauer Stimme und weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich bin aufgebracht, aber gleichzeitig verstehe ich ihn. Wenn ich den Luxus hätte, einfach gehen zu können, wäre ich sofort an seiner Seite, aber so ist es nicht. Burke wäre niemals bereit, mich fortzulassen.

«Tut mir leid», sagt er hastig und lässt dabei einen Moment lang ungewohnte Schuldgefühle erkennen. «Ich kann einfach nicht länger bleiben. Hier gibt es nichts für mich. Meine Partnerin ist schon lange tot, und jetzt, da deine Mutter …»

Hier gibt es nichts für mich, diese Bemerkung tut mir weh, aber ich schiebe sie weg und vergrabe sie unter all den anderen Verletzungen, die mich bereits niederdrücken.

«Wohin gehst du?», frage ich, die Stimme noch ein wenig kleinlauter als vorhin, als er zur Tür hereinkam. Auch wenn wir uns nicht nahestehen, habe ich ihn doch als eine beständige Gestalt in meinem Leben betrachtet. Dass er geht, trifft mich wie ein Kinnhaken.

«Mein Bruder ist der Alpha des Plummet-Lake-Rudels. Aber ich … Du solltest mitkommen», bietet er mir an, und die Geste überrumpelt mich.

Leider wissen wir beide, dass es nur eine Geste ist.

Ich versuche, ihm ein verständnisvolles Lächeln zuzuwerfen, doch als er den Blick mit einem Schimmer von Schuldgefühlen in den Augen senkt, vermute ich, dass mein Gesicht eher eine Grimasse zeigt. «Ich wünschte, das wäre möglich, aber der Alpha wird mich nicht einfach so gehen lassen.»

«Es ist ja nicht gesagt, dass deine Wölfin ihn als Partner akzeptiert», fordert Hess mich heraus. Etwas von seiner Traurigkeit fällt von ihm ab und lässt den dominanten Beta erkennen, der er normalerweise ist.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. «Glaubst du wirklich, dass Burke sich darum schert?», entgegne ich, und in meiner Frage liegt mehr Empörung, als ich beabsichtigt hatte. «Ich meine, wenn Mom noch hier wäre, würde er es nicht wagen, aber …»

Aber jetzt hält ihn nichts mehr auf.

Ich liebe das, was ich bin und woher ich komme, ich wünschte einfach nur, dass Arschlöcher wie Burke nicht alles mit ihrer Gier nach Macht und Kontrolle versauen würden, weil sie das Wort Nein nicht akzeptieren. Außerdem wünschte ich, es gäbe dort draußen mehr Wölfe, die Alphas wie ihm das Handwerk legen. Leider kommen die Rudelführer nur ein einziges Mal im Jahr zusammen, und es gibt dort nicht gerade ein Forum, an dem Rudelmitglieder teilnehmen können, um sich über ihre Führung zu beklagen. Als Rudelmitglieder ist es unsere Pflicht, uns zu unterwerfen – dieses eine Wort ist ein eingefleischtes Prinzip in unserer Kultur.

Es hilft nicht, dass die, die im Flux ihren Wolfsgeist erhalten, ab da noch eine zweite Seite besitzen, die einem ganz eigenen Satz Regeln folgt. Tierischen Regeln, bei denen es um Stärke und Gewalt und die Auslese der überlebensfähigsten Gene geht. Bei Wölfen spielen das Rudel und die Hierarchie darin die entscheidende Rolle. Es fällt schwer, gleiche Rechte zu verlangen, wenn dein Tier sich bereitwillig unterwirft, um die Harmonie im Rudel zu wahren und einen starken Partner zu gewinnen.

Bei meinem Pech wird der Geist, den ich bekomme, eine Omega sein, und dann werde ich durchgehend im Kriegszustand mit meinem Kopf und meiner Seele liegen und mich vor allem und jedem verneigen, der es von mir verlangt.

Bäh!

In unserer Kultur gilt es als Sakrileg, wenn man sich einen bestimmten Ausgang erhofft und das eine dem anderen vorzieht. Die Wölfe wählen weise, so hat man mich von Geburt an gelehrt, doch unwillkürlich hoffe ich auf eine Beta oder schlimmstenfalls eine Delta.

Ein Heulen zerreißt die Luft und hallt aus der Ferne wider. Irgendeine Versammlung wird einberufen. Stöhnend reibe ich mir das Gesicht mit den Händen. Wahrscheinlich kann ich diesen Ruf ignorieren, denn ich habe einen guten Grund, an keinem Treffen teilzunehmen. Doch ich sollte das Haus verlassen nur für den Fall, dass ein bestimmtes Arschloch vorbeikommt, um nach mir zu schauen.

«Du solltest gehen, Hess», ermutige ich ihn und stehe von meinem Hocker auf. «Wie du schon sagtest, hier gibt es nichts für dich. Du hast es verdient, glücklich zu sein. Mom würde sich das für dich wünschen, und ich ebenfalls», sage ich zu ihm, werfe meine leere Flasche in den Mülleimer und gehe im Geist die sichersten Orte durch, an die ich mich jetzt zurückziehen kann und wo keines der anderen Rudelmitglieder sein wird.

«So hatte ich es nicht gemeint», wirft Hess ein, doch ich winke ab und wische seine Sorgen beiseite.

Er hat es so gemeint, und das ist okay. Es wird Zeit, dass ich einen nüchternen Blick auf die Tatsachen werfe und akzeptiere: Ich habe jetzt nur noch mich selbst. Es ergibt keinen Sinn, Hess zu grollen, der auch nur versucht zu tun, was das Beste für ihn ist.

«Ich bleibe bis nach dem Flux. Um mich zu vergewissern, dass mit dir alles in Ordnung ist», sagt er, und ich schenke ihm ein Lächeln, von dem ich weiß, dass es meine Augen nicht erreicht.

Wenn er so bald schon aufbrechen wird, bedeutet das, dass er Burkes Erlaubnis hat, was meinen Verdacht bestätigt, dass sein Vorschlag, ihn zu begleiten, nur eine leere Geste gewesen ist. Ich wette, diese Genehmigung hat Burke schneller unterzeichnet als jemals etwas zuvor. Wieder ist eine Barriere zwischen uns verschwunden, und diesmal musste er nicht einmal jemanden umbringen, damit es dazu kam.

«Ich muss los, Hess», erkläre ich mit belegter Stimme, und bevor er noch etwas einwenden oder auch nur aufstehen kann, bin ich zur Tür hinaus.

Meine Welt zerbricht, und ich kann nichts dagegen tun.

Draußen sehe ich Rudelmitglieder, die auf dem Weg in den Wald von ihren Häusern wegtraben, doch ich folge ihnen nicht. Ich muss allein sein. Ich brauche Sicherheit. Das Problem ist, dass ich an diesem Ort nicht sicher bin. Mein Wohlergehen spielt hier für niemanden eine Rolle. Die Leiche meiner Mutter ist noch nicht einmal richtig kalt, da bin ich schon von Bedrohungen und Dieben umgeben, die mir meine Wahlmöglichkeiten und meine Freiheit stehlen wollen.

Ich muss von hier weg.

Diese Erkenntnis legt sich kälter auf mich als der letzte Rest des Nieselregens, der noch immer vom Himmel fällt. Doch sobald ich den Tatsachen nüchtern ins Auge sehe, weiß ich, dass es das Richtige ist. Wenn ich meine Wölfin bekomme, verliere ich den letzten Schutzwall, der mir noch bleibt, um Burke fernzuhalten.

Ich muss mir überlegen, wie zum Teufel ich hier rauskomme. Etwas anderes als Twin Rivers habe ich nie kennengelernt. Ich bin hier geboren und dachte, dass ich auch hier sterben würde. Doch als ich in die entgegengesetzte Richtung der Rudelversammlung lostrabe, trotz der kühlen Luft fiebrig heiß, begreife ich, dass dieser Ort nicht länger mein Zuhause ist. Er ist eine Falle. Und Burke wartet nur darauf, dass ich hineintappe. Mit wehenden Haaren laufe ich schneller, als liefe ich vor etwas davon, dem ich womöglich nicht entkommen kann. Alpha Burke ist hinter mir her, doch lieber will ich sterben, als dass er mich beansprucht, er, der Mann, der einen Rudelkrieg nach Twin Rivers gebracht hat. Der Mann, der seine Bande von Schlägern losgelassen und unseren alten Alpha und zahllose andere getötet hat.

Der meinen Dad ermordet hat.

Wenn ich hierbleibe, werde ich diejenige sein, die als Nächste zerstört wird, das sagt mir mein Gefühl. Vielleicht nicht so, dass ich tot im Grab liege, aber mit Sicherheit wird meine Seele schrumpfen und zerschmettert werden. Dann zerbreche ich unter der Herrschaft eines grausamen Mannes.

Irgendwie kommt mir das noch schlimmer vor.

Kapitel 2

Ich laufe bis tief in die Nacht.

Der Mond hängt am Himmel wie das Gesicht der Grinsekatze, umgeben von einem schimmernden Ring, einem Halo. Die Luft ist durchdrungen von dichtem Nebel. Obwohl ich meinen Wolfsgeist noch nicht habe, bin ich von Natur aus eine Totem-Gestaltwandlerin, was bedeutet, dass ich dazu geschaffen bin, den Körper und die Seele eines heiligen Wolfs zu teilen. Meine Sinne sind schärfer als die eines Menschen, und körperlich bin ich flink und geschmeidig.

Darum macht es mir nicht das Geringste aus, barfuß durch die Wildnis zu laufen und unter den Fußsohlen bei jedem Schritt die Nässe des Waldes zu spüren. Die Gerüche und Empfindungen sind Balsam für meine zerschundene Seele, und all das sorgt dafür, dass ich mich weniger allein fühle. Als könnte ich wahrnehmen, dass die Menschen, die ich liebe, mich noch immer durch das Blätterdach der Bäume behüten.

Früher sind mein Dad und ich durch diese Wälder um die Wette gerannt.

Dann kamen wir mit Dornenranken im Haar und Splittern in den Füßen nach Hause, und Mom zog sie einen nach dem anderen heraus. Jedes Mal schalt sie uns, doch dann lachten wir alle gemeinsam und plünderten die Vorratsschränke, um die Energie wieder aufzufüllen, die wir gerade verbrannt hatten. Die Erinnerung verblasst und nimmt alle Zweifel mit sich, die mich wegen meiner Entscheidung noch mit Sorgen gequält haben. Dieses Traben durch den Wald ist genau das, was ich gebraucht habe. Die schnelle Bewegung bringt eine Art Klarheit mit sich, als weiteten meine Atemzüge nicht nur meine Lunge, sondern auch meine Gedanken.

Nun kristallisiert sich alles heraus. Ich werde die Zeremonie nicht durchziehen, auf die ich mich mein Leben lang vorbereitet habe. Ich werde meine Wölfin nicht aufnehmen können. Doch so sehr mich das auch mit Kummer erfüllt, ich weiß, dass es meine einzige Chance auf ein Leben ist. Auf ein echtes Leben ohne Unterwerfung und die Gefahren, die hier an jeder Ecke lauern. Nur fern von Twin Rivers erwartet mich ein Dasein, in dem ich selbstständig entscheiden und ich sein kann ohne die Furcht, deswegen gebrochen zu werden.

Ich werde wie ein Mensch leben müssen. Ich muss mein Erbe opfern, meine Ahnen, meine zweite Hälfte, aber das ist der einzige Weg. Nach dem Flux wird meine Wölfin sich dem Alpha unterordnen müssen, ob Burke sie nun als Partnerin beansprucht oder nicht, und diesem Leben kann ich weder mich noch sie freiwillig aussetzen.

An den Häusern von anderen Rudelmitgliedern vorbei laufe ich am Waldrand entlang, und mein innerer Kompass weist mir den Weg nach Hause. Der Geruch von Kiefern füllt meine Nase, nasse Nadeln und feuchte Erde verströmen ihren Hauch in die Luft, als atmete die Natur mit mir aus.

Mit schleppenden Schritten gelange ich zu meinem dunkel und still daliegenden Haus und begebe mich in mein Zimmer, wo ich im Bett in Schlaf versinke, kaum dass mein Kopf auf dem Kissen liegt. Es ist ein unruhiger, sorgenvoller Schlaf voller Träume von einer Wölfin, die den mondlosen Himmel anheult und einsam durch die Geistwelt streift.

Mehrere Stunden später wache ich mit brennenden, verquollenen Augen auf, als hätten all die aufgestauten Gefühle sie mit nicht vergossenen Tränen verstopft. Voller Schuldgefühle denke ich an den Traum von meiner Geist-Wölfin, die irgendwo da draußen weiß, dass ich sie im Stich lasse. Sie weiß, dass sie während der Zeremonie herabsteigen und mich nicht finden wird.

Es tut mir leid.

Ich schiebe mein Bedauern beiseite und zwinge mich zu tun, was ansteht. Erneut dusche ich, ziehe Jeans und ein graues Shirt an und streife Socken und abgetragene Turnschuhe über die Füße. Während mein langes, braunes Haar in der Luft trocknet, nehme ich einen Rucksack aus dem Schrank und packe sorgfältig ausgewählte Kleidungsstücke ein. Jeans, unauffällige T-Shirts, Socken und Unterwäsche, nichts Buntes, alles so schlicht wie möglich, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Als Nächstes wandern Toilettenartikel hinein, und bald schon ist mein Rucksack zum Bersten voll. Ich schnappe mir eine regendichte Jacke und überlege, ob ich das Handy von meinem Nachttisch mitnehmen soll, entscheide mich aber dagegen. Auf keinen Fall möchte ich es Burke leichter machen, mich zu verfolgen. Außerdem, wen könnte ich schon anrufen?

Aus keinem anderen Grund, als weil es mir seit meiner Kindheit eingeschärft wurde, mache ich mein Bett, rücke die Kissen gerade und stecke das Bettlaken ein, genau wie meine Mom es immer von mir verlangt hat. «Das Leben kann chaotisch sein, Seneca, sorge also dafür, dass das Bett, in dem du schläfst, es nicht ist.»

Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen trete ich zurück und verlasse dann das Zimmer, die Schulterriemen straff gezogen. Ich zwinge mich, zur Tür am anderen Ende des Flurs zu gehen. Mit den Fingern streiche ich über die Holzvertäfelung, an der die Familienfotos hängen und beinahe jeden Quadratzentimeter der Wand bedecken. Es ist, als ginge man an alten Erinnerungen vorbei, die einmal glücklich waren, sich jetzt aber quälend anfühlen. Als ich zur geschlossenen Tür von Moms Zimmer gelange, muss ich mich mit einem tiefen Atemzug beruhigen, bevor ich sie aufmachen und eintreten kann.

Sofort überfällt mich der Geruch meiner Mutter, und das Leid, das sich auf mich stürzt, drückt mir so unmittelbar die Kehle zu, dass ich die Hand an den Hals führe. Es ist, als fühlte ich dort eine Henkersschlinge der Trauer. Mehrmals muss ich tief durchatmen, bevor ich mich aus dem Eingang lösen und zur Frisierkommode meiner Mom gehen kann.

Sie trug weder Schmuck noch Parfüm oder Halstücher oder dergleichen, aber sie hatte eine zweiteilige Stabspange, die sie wirklich gern mochte und immer benutzte, wenn sie nicht wollte, dass ihr das Haar ins Gesicht fiel. Die Holzspange und der glatte Stab liegen genau da, wo sie sein sollten. Ich ergreife sie und streiche mit den Fingern über das handgeschnitzte Holz, das vom jahrelangen Tragen glänzt. Das Ende des Stabs schmückt eine Rose, und zierliche Blütenblätter sind in die gewölbte Halterung geschnitzt.

Ich greife die beiden obersten Strähnen meines Haars und stecke sie mit der Spange zurück. Dadurch fühle ich mich ein wenig gestärkt. Dann wühle ich in der unteren Schublade der Frisierkommode, wo Mom immer ein wenig Geld aufbewahrte. Nicht viel, nur ein paar Hundert Dollar. Ihre Notreserve nannte sie es.

Es reicht, um aus dem Twin-Rivers-Revier herauszukommen. Danach … Na ja, danach suche ich mir eine Arbeit, finde einen Ort, wo ich unter Menschen leben kann, und hoffe, dass Burke mich niemals findet.

Ich verlasse Moms Zimmer und gestatte mir, mich ein letztes Mal umzuschauen und ihren Geruch nur noch ein einziges Mal einzuatmen. Dann eile ich durch den Flur und gehe aus dem Haus. Lässig schlendere ich zwischen die nahen Bäume und lausche sorgfältig auf einen Hinweis, dass jemand mir folgt. Ich würde mich nicht wundern, wenn Burke mich durch ein oder zwei Wächter beschatten ließe, nicht, weil er glaubt, dass ich weglaufen könnte, sondern nur, damit er jederzeit weiß, wo ich mich befinde. Das kontrollsüchtige Dreckschwein.

Falls er jemanden auf mich angesetzt hat, kann ich ihn hier im Wald vermutlich abschütteln, doch als ich mich geräuschlos vorwärtsbewege und auf alles um mich herum lausche, höre ich niemanden. Wahrscheinlich sind alle mit Vorbereitungen für die Flux-Zeremonie und den Geistweber beschäftigt, der heute eintreffen wird. Für mich ist das gut. Ich verschwende keine Zeit, sondern nutze die Gelegenheit und renne in Richtung der nächstgelegenen Menschenstadt los, weg von meinem Rudel und meinem Zuhause … für immer.

Ein paar Meilen vor dem Städtchen Hillsend hört der Wald auf, und beim Überqueren der Wiesen zwischen den letzten Bäumen und dem Stadtrand, wo sich die ersten vereinzelten Häuser abzeichnen, fühle ich mich wie ein nervöser Fuchs. Ich gehe an den Ranches und den Farmen der Menschen vorbei, die dieses Land schon seit Generationen bearbeiten und von denen manche noch immer Geschichten von meinem Volk und seiner zurückgezogenen, geheimnisvollen Art erzählen.

Die meisten Leute denken, wir seien wie die Amish und lebten deshalb so zurückgezogen. Einige halten uns für eine Sekte aus Osteuropa, die wegen Verfolgung hierher ausgewandert ist – dieses Gerücht gefällt mir persönlich am besten. Und dann gibt es noch die, die den Verdacht hegen, wir könnten etwas anderes sein, aber nichts sagen. Wir sind der Brennstoff für unheimliche Geschichten, die spät am Abend an fast niedergebrannten Feuern unter Freunden erzählt werden. Die Geschichten von Wölfen, die im Umkreis Hunderter Meilen durch diese Wälder streifen, sind der Stoff von Legenden, aber die meisten Leute kommen gar nicht auf die Idee, da eine Verbindung zu sehen. In ihrem Leben gibt es keinen Raum für Magie und Mystik, und so lebt mein Rudel unerkannt direkt vor ihrer Nase, was haargenau unseren Wünschen entspricht.

Ich erreiche die zweispurige Straße, die in die Stadt führt, und trabe sie entlang. Doch immer, wenn ich ein Auto kommen höre, gehe ich langsam, damit ich so normal wie möglich wirke. Jedes Mal halte ich die Luft an, bis das Fahrzeug vorbei ist, und hoffe, dass niemand aus dem Rudel darin sitzt. Normalerweise kommen wir nur in die Stadt, um Vorräte zu kaufen oder Waren zu verkaufen, und ich zähle darauf, dass all das schon Anfang der Woche erledigt wurde.

Bald gehen die verstreuten Häuser in Wohnstraßen über, und ich nähere mich dem Stadtzentrum. Ich wünschte, der Busbahnhof läge nicht auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt; so muss ich mich eben beeilen und hoffen, dass innerhalb der nächsten Stunde irgendein Bus losfährt. Bisher hätte meine Flucht nicht glatter laufen können, aber man soll das Schicksal nicht herausfordern. Um auf Nummer sicher zu gehen, umrunde ich das Stadtzentrum, obwohl mich das auf dem Weg zu meinem Ziel Zeit kostet. Lieber schlängele ich mich durch weniger belebte Wohngebiete, als auf den verkehrsreichen Hauptstraßen unterwegs zu sein. Wenn alles gut geht, sitze ich in Nullkommanichts im nächsten Bus und schaue nie mehr zurück.

Bei diesem Gedanken tut mir das Herz weh.

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich das hier tun würde. Seit Ewigkeiten bereite ich mich darauf vor, meine Wölfin zu empfangen. Ich habe mich unter dem Schutz meiner Mutter und ihrer Bedeutung für das Rudel sicher gewähnt. Das Gewicht dessen, was ich durch meine Flucht verliere, drückt mich nieder, doch ich weiß, ich muss es tun. Mit einem resignierten Seufzer schiebe ich die Daumen unter die Riemen meines Rucksacks. Den Blick auf die Risse im Asphalt geheftet, ganz auf das neue Leben konzentriert, dem ich entgegengehe, biege ich um die Ecke, als plötzlich eine schrille Stimme meinen Namen ruft.

«Senecaaaa! Ich wusste gar nicht, dass du mitkommst!»

Als mein Kopf hochfährt, sehe ich mich Trinity White und ganzen neun weiteren Frauen gegenüber, die am Straßenrand aus dem Kleinbus des Rudels steigen.

Mir stockt der Atem, und mein Herz setzt einen Schlag aus, bevor es im Höchsttempo loshämmert.

Verdammt. Was machen die hier?

Ich schaue mich zwischen den Häusern um, als wollte ich mich vergewissern, dass ich nicht im Kreis gelaufen und wieder auf Rudelland geraten bin, denn ich verstehe beim besten Willen nicht, was sie ausgerechnet hier zu tun haben.

Das habe ich davon, dass ich dachte, alles liefe so glatt. Warum habe ich immer so ein Pech?

Die Schar der Frauen versammelt sich auf dem Bürgersteig, und die meisten unterhalten sich aufgeregt und schauen zu dem zweigeschossigen Haus ein Stück weiter vorn. Das heißt, das haben sie getan, bis sie mich entdeckten. Langsam verstummt das freudige Geplapper, und ein Ausdruck von Mitgefühl und Zurückhaltung erfüllt ihren Blick.

«Ich freue mich so, dass du beschlossen hast mitzukommen, das ist genau das, was du brauchst! Mal aus dem Haus rauskommen, loslassen und deine Niedergeschlagenheit eine Weile vergessen», erklärt Trinity, als wäre meine Trauer einfach eine Art Krankheitsschub, und sie besäße das Heilmittel.

Ich schaue von ihr weg zur Straße hinter ihnen, die frei von Hindernissen ist, und versuche, mir eine List zu überlegen, wie ich an ihnen vorbeikomme.

«Seneca, komm schon!», ruft Trinity und hüpft praktisch vor Erregung auf und ab.

Ich stehe einfach nur verwirrt da und weiß nicht, was ich tun soll. Mein Blick wandert zum Kleinbus, und beim Anblick von Seamus auf dem Fahrersitz verlässt mich der Mut. Der Riese von einem Mann starrt mich an, das Gesicht hart wie Stein, als wüsste er Bescheid. Als ich sehe, wie sein Blick sich auf meine Hände senkt, die den Schulterriemen meines Rucksacks halten, weicht mir das Blut aus dem Gesicht. Es reicht, um mich in Bewegung zu setzen.

Den Mund zu einem sorgenfreien, aufgeregten Lächeln verzogen, eile ich zu der kleinen Gruppe von Frauen hinüber. «Hi», begrüße ich sie und hoffe wider alle Wahrscheinlichkeit, dass ich zwischen den anderen so unauffällig bin, dass Seamus meine Anwesenheit übergeht.

Trinity stupst mich spielerisch mit der Schulter an, und ihr herzförmiges Gesicht strahlt, als sie ihr schwarzes Haar oben auf dem Kopf zu einem Messy Bun zusammenfasst. «Ich freue mich so, dass du gekommen bist! Daisy, freust du dich nicht auch, dass Seneca gekommen ist?»

Daisy ist so hübsch wie ihr Name, klein und zierlich wie ein Gänseblümchen, und wahrscheinlich könnte sie genauso mühelos vom Boden gepflückt werden wie die namensgebende Blume. «Du bist nie zu unseren Treffen gekommen», sagt sie und tritt neben Trinity. Das klingt locker, aber ihr Blick ist ein wenig misstrauisch. Sie hat recht. Auch wenn wir alle zum selben Rudel gehören, habe ich nie in einem Gemeinschaftshaus gewohnt wie einige von ihnen. Genau wie meine Mutter war ich eher eine Einzelgängerin. «Das wird ein Riesenspaß.»

Ich nicke einfach nur lächelnd, denn ich habe zwar keine Ahnung, wovon sie reden, doch ich spüre Seamus’ Blick im Rücken, als würde er ein Loch hineinbrennen. Den ganzen Körper heiß vor brennender Sorge, packe ich meinen Rucksack fester. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mitzuspielen und so zu tun, als hätte ich die Mädels schon die ganze Zeit treffen wollen. Wenn ich jetzt zu gehen versuche, weiß Seamus Bescheid. Es sieht nicht so aus, als würde er wegfahren, denn die Fenster des Kleinbusses sind heruntergelassen, und der Motor ist aus.

Die schreckliche Enttäuschung über mein Scheitern erzeugt ein lautes Rauschen in meinen Ohren. Tausend Gedanken schwirren mir durch den Kopf, während ich versuche, einen neuen Plan zu schmieden, und so höre ich nicht einmal, was die Mädels anschließend noch sagen. Wie ein Roboter folge ich der Gruppe, und wir gehen über den Rasen, bis Trinity vor einer hellblau gestrichenen Tür stehen bleibt.

Momente später schwingt diese auf, und die Schar strömt hinein und reißt mich mit, als wäre ich ein Blatt, das in einem Fluss treibt. Wir drängen uns in einem geräumigen Eingangsraum, wo ein fröhliches Hallo ertönt, als wir von einem Trio begrüßt werden. Sofort fängt meine Nase einen unverkennbaren Geruch ein.

Lykaner.

Argwöhnisch, aber neugierig mustere ich die drei. Unsere Wolf-Vettern haben mir immer ein bisschen leidgetan. Es heißt, ihre Blutlinie sei vor Jahrhunderten verflucht worden, und deshalb sei ihre Verwandlung so furchterregend. Im Gegensatz zu meinem Rudel von Totem-Gestaltwandlern, die sich nach Erlangen des Wolfsgeistes nach Belieben vom Menschen zum Tier werden können, ist das Wandeln der Gestalt für die Lykaner unkontrollierbar. Ihre Körper werden bei Vollmond in die Wolfsgestalt gezwungen, und nach der Verwandlung sind sie zwar praktisch unaufhaltsam, aber sie sind auch furchterregende Monster, die auf zwei Beinen gehen, Wolfsgesichter und Fell am ganzen Körper haben und von einem bestialischen Zorn erfüllt sind.

Diese drei gehören zur selben Familie – ihre Ähnlichkeit miteinander macht das sofort klar. Alle haben einen bronzefarbenen Teint und dunkles Haar, dazu breite, freundlich lächelnde Münder und mandelförmige Augen. Wenn man sie ansieht, käme man niemals auf den Gedanken, dass sie sich regelmäßig in Monster im Stil der Filmreihe Underworld verwandeln.

Es handelt sich um eine ältere Frau und zwei jüngere Lykaner, der eine männlich, die andere weiblich. Sie sind sich so ähnlich, dass ich sie für zweieiige Zwillinge halte. Aufgrund ihrer Schürzen, die vom Hals bis hinunter zu den Knien reichen, erkenne ich, worum es bei diesem kleinen Ausflug geht. Ich bin so vom Leben der jungen Frauen meines Alters abgekoppelt, dass ich ihre Gespräche über einen gemeinsamen Verwöhntag vor dem Flux vollkommen vergessen habe.

Ohne es zu merken, bin ich mitten in einen Mädelstrip geraten.

Dass ich mich im Moment unbehaglich fühle, ist eine Untertreibung. Nicht, weil die Mädchen fiese Zicken wären oder so – von solchen dämlichen Klischees halte ich nichts –, sondern einfach nur, weil ich mich nie mit einer von ihnen angefreundet habe. Wir unterhalten uns manchmal, aber ich habe niemals eine Verbindung gespürt oder diese Verbundenheit wahrgenommen, die eintritt, wenn einen jemand wirklich versteht.

Das Haus, durch das unsere Gruppe zu einer Treppe geführt wird, sieht gemütlich aus, und nun geht es die Stufen in ein ausgebautes Kellergeschoss hinunter, dessen Holzboden wunderschön glänzt und das mit schicken Friseurstühlen und beleuchteten Spiegeln ausgestattet ist. Der Raum ist offen und freundlich, und in die Wände ist ein leichter Geruch von Haarfärbemittel eingesickert.

Verlegen warte ich am Fuß der Treppe, während sofort drei Mädchen aus der Gruppe ausgewählt und in die Friseurstühle gesetzt werden.

«Wieso hast du denn jetzt entschieden zu kommen?», fragt Trinity und führt mich zu den Sofas, die an der gegenüberliegenden Seite der Wand stehen. Der Rest der Gruppe hat sich bereits dort niedergelassen, blättert in Friseurzeitschriften und schaut auf herabhängenden Flachbildschirmen Reality-TV.

«Ach, äh, also ich brauche ein wenig Ablenkung, und da habe ich gedacht, das hier würde Spaß machen», antworte ich und hoffe, dass es nicht genauso peinlich klingt, wie es sich anfühlt.

Aber Trinity lächelt einfach nur nett und schubst dann ein anderes Mädchen mit der Hüfte zur Seite, damit wir uns auf die Couch setzen können. «Macht die Zeremonie dich nervös?»

Ich stelle den Rucksack zwischen meinen Beinen auf den Boden, die Finger fest um den Griff gelegt, als hätte ich Angst, jemand könnte ihn mir jeden Moment entreißen. «Eindeutig. Und dich?»

«Ja. Aber ich freue mich auch darauf. In letzter Zeit habe ich mich … leer gefühlt. Weißt du?», fragt sie, und bei jedem Blinzeln streichen ihre dichten, schwarzen Wimpern über ihre Wangen. «Als vermisste meine Seele diesen anderen Teil meiner selbst. Ich kann es gar nicht abwarten, dass mein neuer Geist kommt und diese Leerstelle ausfüllt.»

Erneut schnürt es mir die Brust zusammen, und nur mit Mühe schlucke ich den Kloß in meiner Kehle herunter, denn ich weiß genau, was sie meint. Als ich noch jünger war, ließ es sich leichter ignorieren, aber jedes Jahr, das verstreicht, ohne dass ich den Geist meiner Wölfin bekomme, macht sich dieses fehlende Puzzlestück stärker bemerkbar. Als könnte ich ohne sie nicht wirklich ich sein. Zu wissen, dass ich mich auch weiterhin so fühlen werde, dass ich meine Wölfin niemals bekommen werde, weil ich fortgehe, schmerzt mich mehr, als ich es mit Worten ausdrücken kann.

Ich beschließe, das Thema zu wechseln. «Wie habt ihr Friseure gefunden, die Lykaner sind?», flüstere ich, weil ich das Trio hinter mir nicht kränken will und weiß, dass sie viel besser hören als ich.

Lachend rutscht Trinity auf der Ledercouch nach hinten. «Wir gehen schon seit zwei Jahren zu ihnen. Sie halten sich dem Twin-Rivers-Territorium fern, und da sie zu keinem größeren Rudel gehören, lässt Alpha Burke sie bleiben, solange sie uns Frauen die Haare machen, wann immer wir es wollen.»

Das lässt mich die Stirn runzeln. Es ist so typisch für Burke, dass er sie einfach nur, weil sie in der Nähe unseres Reviers leben, dazu zwingt, unser Rudel zu bedienen.

Trinity versetzt mir einen kleinen Knuff. «Das würdest du wissen, wenn du manchmal mit uns mitkämest.»

Ihre Worte versetzen mir einen Stich. Ich weiß, dass sie nicht so klingen will, als ob sie mich tadelt, aber vermutlich tut sie genau das. Von allen war Trinity diejenige, die mir vor Burkes Kommen am nächsten stand. Ich war auch damals schon eine Einzelgängerin, aber wann immer ich als Kind etwas mit dem Rudel unternahm, war ich mit ihr zusammen.