Radsportherz - Daniel Dencik - E-Book

Radsportherz E-Book

Daniel Dencik

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Beschreibung

Eine literarische Liebeserklärung an den Radsport »Ich denke über die Faszination nach, die dieser Sport auf mich ausübt, darüber, warum diese Nomaden, die mit ihren Beinen sprechen, mir so am Herzen liegen. Der Radsport ist insofern ungewöhnlich, als er ein Mannschaftssport für Einzelkämpfer ist. Ein Sport für Exzentriker und Abweichler. Jedes Rennen endet mit einem Gewinner und Hunderten von Verlierern. Das ist etwas ganz anderes als beim Handball oder Fußball, wo man in der einen Woche gewinnt und in der nächsten verliert oder gar unentschieden spielt. Der Radsport ist wie eine unglückliche, unerwiderte Liebe, Rennen für Rennen, Saison um Saison. Er ist der Club der hoffnungslosen Romantiker.« Bereits seit Kindertagen ist der dänische Schriftsteller und Filmregisseur Daniel Dencik ein glühender Anhänger des Radrennsports. In diesem Buch beschreibt er anhand einer Ausgabe der Tour de France, einer Straßenweltmeisterschaft und des traditionellen Saisonabschluss-Klassikers, der Lombardei-Rundfahrt, was die unwiderstehliche Anziehungskraft seines Lieblingssports ausmacht. Mit feiner Beobachtungsgabe und Gespür für poetische Metaphern gelingt Daniel Dencik ein wunderbar geschriebenes Sportbuch, das zum Nachdenken anregt. Elegant stellt er Bezüge zwischen Radrennen und dem Werk großer Autoren wie Dante, Baudelaire und Edgar Allan Poe her. Er begleitet gefeierte und gefallene Radsporthelden und erzählt zu Herzen gehende Geschichten vom Leben im Peloton. Das Resultat ist eine literarische Liebeserklärung an einen oft unverstandenen Sport, der seinen Reiz maßgeblich daraus bezieht, dass man als Zuschauer nicht alles sieht… • »Wundervoll. Im Nu ein literarischer Radsportklassiker.« — Bert Wagendorp, De Muur • »Daniel Dencik schreibt, während sein Stuhl bebt. Seine Texte über den Radsport sprinten in die Tiefen des Geistes und reihen sich in eine glänzende dänische Essaytradition ein.« — Information • »Ein wunderbares, sinnliches Buch über den Radsport.« — Jyllands-Posten • »Herrliche Beobachtungen über das Wesen des Radsports.« — Weekendavisen • »Zieht den Leser in das Herz des Radsports.« — Ekstra Bladet

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DANIEL DENCIK

RADSPORTHERZ

Aus dem Dänischen von Rebecca Jakobi

Die Originalausgabe dieses Buches erschien unter dem Titel

»Sportshjerte« bei Gyldendal, Kopenhagen.

© Daniel Dencik & Gyldendal 2017

in agreement with Politiken Literary Agency

Daniel Dencik: Radsportherz.

Aus dem Dänischen von Rebecca Jakobi.

© der deutschsprachigen Ausgabe: Covadonga Verlag, 2022

Covadonga Verlag, Spindelstr. 58, D-33604 Bielefeld

ISBN (Print): 978-3-95726-067-3

ISBN (E-Book): 978-3-95726-070-3

Coverillustration: © Jen Lewis / Jens Cycling Art

Porträtfoto Backcover: © Robin Skjoldborg

Auszüge aus: Jean-Jacques Rousseau. Träumereien eines einsam Schweifenden aus dem Französischen von Stefan Zweifel

© 2012 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

Schön ist, was wir sehen.

Schöner, was wir verstehen.

Am weitaus schönsten aber, was wir nicht fassen können.

‒ Steno, 1673

INHALT

Vorwort

Ankommen, unter Tränen

Der Geisterfahrer

Wie zum Teufel kannst du Radsport mögen?

Il Lombardia

Die Bergpredigt

Kris Boeckmans

Der Vogel

Gesegnet seien die Radrennfahrer

Ich kann mein Herz nicht spüren

Brief an meinen Dealer

Stoffer Uncut

Der Lampremann

Matti

Die dritte Woche

Ode an die Zone Technique

VORWORT

Radrennfahrer sind Menschen, die viel Zeit allein verbringen. Die Straße ist in dem Sinne nackt. Dieses Buch setzt sich aus einer Reihe von Begegnungen mit diesen Menschen zusammen. Ein Jahr mit den Radrennfahrern. Es enthält einen Klassiker, eine Meisterschaft und ein Etappenrennen. Die drei Disziplinen des Straßenradsports. Ich habe die Gedanken und Träume, die Gestalt annehmen, wenn man in der Nähe professioneller Gefilde verkehrt, niedergeschrieben. Das Bild des Radsports hat heute eine gewisse Tiefe und Schärfe – eine Perspektive mit engen Bindungen, grauen Eminenzen und fernen Sündern. Junge Fahrer treten aus dem Schatten, ein neues Licht entblößt aufkeimende Hoffnungen und gefährliche Fallgruben.

Das Rennen der fallenden Blätter, Il Lombardia, ist eines der ältesten Eintagesrennen der Welt. Die Fahrer durchqueren die Lombardei an einem Tag, fahren an den Bergseen vorbei, die norditalienischen Gipfel hinauf und hinab. Als einziges der fünf Monumente des Radsports findet dieser Klassiker im Herbst statt. Die Straßen sind glatt vom Laub. Die Sonne hängt tief über dem Peloton. Bald ist die Saison vorbei. Ein Kollektiv aus Einzelgängern kämpft gegeneinander.

Bei der Straßenweltmeisterschaft oder ganz einfach The Worlds, wie man sie im englischsprachigen Raum nennt, fahren die Radsportler für ihr Land. Die WM ist ein ausgedehnter Sonntag, stundenlang folgt ein geduldiges Fernsehpublikum der Übertragung. Da die Profis nicht an ihre üblichen Teamverpflichtungen gebunden sind, wird der Weg für unvergessliche Rennen gebahnt. Es zeigt, was für ein spannendes Feld dies doch ist. Die Grauzone zwischen Mannschafts- und Einzelsport ist die besondere Domäne des Radsports.

Jeder Fahrer träumt von der Teilnahme an einer Grand Tour, einem dreiwöchigen Etappenrennen. Das größte von ihnen ist die Tour de France. Sie gehört nahezu verboten, das Rennen ist in jeder Hinsicht zu viel des Guten. Ein Volksfest mit mittelalterlichen Vorfahren, das letzte Überbleibsel der großen Gladiatorenkämpfe, dem wir heute noch beiwohnen können – voll von Hysterie, totgeweihten Akteuren und Kriegsallegorien. Eine einsame Menschheit feiert sich selbst in einer sonst trostlosen Galaxie mit einem jährlichen Triumphzug durch das Herz von Europa. Utah Beach in der Normandie ist dieses Jahr das Ziel der ersten Etappe. Hier sandte Brigadegeneral Theodore Roosevelt im Jahr 1944 seine Infanteriedivision an Land. Unterstützt von Bombenflugzeugen, Fallschirmjägern, Amphibienfahrzeugen und Panzerwagen räumten die alliierten Truppen den Strand. Zweiundsiebzig Jahre später sind wir bereit, unsere Fahrer auszusenden.

Fangen wir hier an.

ANKOMMEN, UNTER TRÄNEN

Ein kleiner Junge weiß viel zu viel und nahezu nichts über den Tod. Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Wir lebten in Paris. Eines Sommers fuhren wir in die Normandie. Ich saß auf dem Rücksitz unseres Familienautos, einem Renault 4. An der Küste gingen wir durch die unbegreiflichen Reihen weißer Kreuze. Nach diesem Ausflug war ich wie besessen. Blatt um Blatt füllte ich mit langen Ketten aus kleinen, schwarzen Punkten. Jeder Punkt war ein Soldat. Bevor ich die Punkte setzte, zeichnete ich die Umrisse einer kahlen Landschaft. Dann füllte ich die Hügel und Täler mit Punkten, nichts als Punkten. Hunderte wurden zu Tausenden. Die Landschaften hingen zusammen, sodass ein Blatt an das andere geheftet werden konnte. Ich war schon immer von Quantitäten besessen. Wahrscheinlich versuchte ich, das Ausmaß des D-Days auf meine eigene Art und Weise zu begreifen. Ich wollte jedes weiße Blatt mit Punkten füllen. So sehen die Erinnerungen an einen Großteil meiner frühen Kindheit aus. Einen bleibenden Eindruck aber hinterließ die Größe und Gewalt der weißen Fläche, ungeachtet meiner Punkte, die doch immer nur Punkte in einem großen, leeren Raum blieben.

Meine Eltern sahen mit zunehmender Sorge zu, während sich meine Manie durch schlaflose Nächte und frühe Morgen zog. Ich bin kein Psychologe, aber ich denke, man kann rückblickend sagen, dass mich meine Begegnung mit den Friedhöfen der Normandie ein wenig traumatisiert hat. Als Gegengewicht zu dem morbiden innerlichen Drang, der mich diese Punkte malen ließ, schenkte mein Vater mir einige kleine Modellradfahrer und schlug vor, ich solle mit ihnen spielen. So wurde meine Liebe zum Radsport geboren. Die Punkte bekamen Gesichter. Es kam Bewegung in die Landschaft. Mein Spiel wurde endlich zum Spiel. Nur ein Idiot würde Parallelen zwischen Krieg und Radsport ziehen, aber für mich waren diese zwei Dinge von Anfang an miteinander verbunden.

Ein halbes Leben später bin ich wieder hier. Die Normandie dämmert in einem schläfrigen Mief aus Pferdeäpfeln vor sich hin. Es scheint, als wäre hier einmal etwas so Heftiges geschehen, dass die Landschaft bis in alle Zeit in Trübsal und Betäubung gehüllt sein wird. Die Vögel werden ausgetauscht werden, das Leben wird weitergehen, die Früchte der knolligen Bäume zu Cider und Calvados verarbeitet werden, doch hier hat sich etwas sehr Unheimliches und Schönes zugetragen, das ist spürbar.

Eines frühen Morgens zwischen der ersten und zweiten Etappe zieht es mich wieder zu den Gräbern. Es fühlt sich fast so an, als täte ich etwas Verbotenes. Aber ich muss sie sehen. Nach all den Jahren will ich wieder bei den Punkten sein. Der gleiche sanfte Regen fällt auf die weißen Kreuze. Meine Armhaare stellen sich auf, als ich sehe, wie sich die unbegreifliche Anzahl über das nasse Gras erstreckt. Der Friedhof ist menschenleer, die Lebenden sind bei der Tour de France. Ich gehe durch den Regen, tränennass, überwältigt. Von der längs und quer verlaufenden Symmetrie wird mir schwindlig. Ich erinnere mich an vergessen geglaubte Dinge. Mein Vater hinter dem Steuer, die Krähenfüße an seinen Schläfen, von hinten, wenn er über etwas lächelte, das ich gesagt hatte. Quantität ist auch eine Form von Qualität. Ich versuche, das Schöne darin zu sehen, dass die erste Tour de France, die ich von Anfang bis Ende begleiten werde, in meiner Kindheit beginnt.

Ich begebe mich zum Startort Saint-Lô, treffe den dänischen Fahrer Matti Breschel, der sich für die Tagesetappe bereitmacht. Vielleicht sieht er mir an, dass ich etwas betrübt bin, fragt, wie es mir geht. Ich sage, dass ich gerade von den Strandfriedhöfen komme. Wir unterhalten uns über jene jungen Männer, die alle irgendwie ihr Leben lassen mussten, damit wir, die Nachkommenden, frei leben können. Wir sprechen darüber, womit wir nun unser Leben verbringen, das schließlich auch ihres ist. Matti ist schon einige Radrennen gefahren.

»Man wird ganz verrückt, wenn man darüber nachdenkt«, sagt er schuldbewusst.

Ich bin mit Matti befreundet. Vor ein paar Tagen schickte er mir eine Nachricht:

Ich habe heute den Anruf bekommen. Du BIST dabei.

Ich freue mich so, Daniel.

Meine Unterhosen und Socken reichen nicht,

muss also noch schnell zu Føtex und mich ausstatten.

Wir sehen uns in Frankreich!

An diesem Tag liegen in Saint-Lô Heckenschützen auf den Dächern, während die Fahrer sich einschreiben. Jeden Abend bekommen die Mannschaften und Presseteams Anweisungen hinsichtlich der verschärften Sicherheitsbedingungen. Der Krieg mag vorbei sein, nachdem die Soldaten der Alliierten den Atlantikwall der Deutschen vor der Küste der Normandie durchbrochen haben, doch man könnte auch behaupten, dass er heutzutage bloß neue, asymmetrische Formen angenommen hat. Ich erzähle Matti von einer Passage, die ich in einem dicken Buch über die Widerstandsbewegung in der Normandie gelesen habe.

… ein Radrennfahrer aus Bayeux

raste buchstäblich die Küste entlang.

In seinem Lenker sind Pläne versteckt.

Matti umarmt mich, schenkt mir ein schiefes und trauriges Lächeln, ehe er davonrollt.

Ich bleibe zurück, sehe, wie er sich die Hauptstraße runter dem Feld anschließt. Die Fernrohre folgen den Fahrern von den Häuserdächern. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Schön ist es schon, der Tod rahmt uns alle ein, aber es ist schön. Matti verschwindet als kleiner Punkt hinter der alten Burgmauer. In seinem Lenker sind Pläne versteckt.

DER GEISTERFAHRER

Während der ersten Hälfte der Tour de France lassen wir die Tage oft auf einem Waldweg mit einem Lagerfeuer ausklingen. Ich folge dem Rennen in einem Toyota HiAce zusammen mit Jonatan Mose, einem Freund, der auch mein Chauffeur ist, obwohl er keinen Führerschein hat – zumindest nicht offiziell, wie er sagt. Irgendeine Bußgeldgeschichte, die sich in eine unglückliche Richtung entwickelt hat. Er kümmert sich um das Praktische, was gar nicht mal so wenig ist, wie sich schnell herausstellt. Selbst bin ich schlecht in allem, was mit Dingen zu tun hat, um es kompliziert auszudrücken. Mein junger Chauffeur kommentierte meine Inkompetenz vor kurzem mit diesen Worten: Was kannst du eigentlich? Darüber dachte ich dann ein wenig nach, während er in einem flachen Waldstück anhielt, wo wir die Nacht verbringen konnten. Mose hat zahlreiche Talente und ist auf fast alles vorbereitet. Aus Kalifornien hat er einen aufladbaren Verdampfer mitgebracht, dessen medizinisches Cannabisöl nach Crème Brûlée schmeckt und für denkwürdige Abende sorgt.

Irgendwo in La France profonde, La France rurale – dem tiefen, ländlichen Frankreich, das Pferden und Ruinen vorbehalten ist und wo fast niemand lebt – rollen wir unsere Matratzen aus. Jonatan richtet unter unseren aufgehängten Rennrädern die Betten her. Da klingelt mein Handy. Ein paar Züge von dem medizinischen Cannabis hatten wir schon. Michael Rasmussen ist dran. Vor ein paar Tagen habe ich ihm eines meiner Bücher gegeben. Er sah einsam aus, wie er da so ganz allein nach der Etappe bei den Mannschaftsbussen stand. Er folgt der Tour de France auf Kosten der Zeitung Ekstra Bladet. Zu seinen Aufgaben gehört, die Etappen auf dem Rad zu erkunden, bevor das Peloton vorbeikommt. Vor kurzem hatten wir überlegt, dass wir mal einen Streckenabschnitt zusammen abfahren könnten. Ich erkundigte mich bei Rolf Sørensen, der meinte, der Col d’Aspin sei ein Berg, den ich bewältigen könnte.

»Gut, dass du anrufst«, sage ich. »Ich habe ein altes Rennrad, bin einigermaßen in Form. Natürlich nicht so gut wie du. Wie sieht es aus, komme ich mit, wenn du morgen den Aspin hochfährst?«

»Nein.«

»Okay. Ähm. Nur weil wir doch neulich darüber gesprochen haben.«

Michael Rasmussen schweigt. Es fängt an, ein wenig unbehaglich zu werden. Ich hätte vorsichtiger mit dem Cannabisdampf umgehen sollen, fällt mir jetzt auf.

»Aber Rolf meinte, das geht«, sage ich wie ein Idiot.

Dann merke ich, dass ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt habe.

»Ich meinte nicht, ob ich mit dir mithalten kann. Ich meinte, ob ich mich dir anschließen kann.«

»Klug zu fragen ist schwieriger, als klug zu antworten«, sagt Michael Rasmussen.

Wir lachen beide. Ich befinde mich in einer unerwarteten und ein wenig bizarren Situation. Auf irgendeinem Feld in Frankreich mitten in einem Lachanfall, zusammen mit der fremden Stimme. Es ist peinlich und witzig zugleich. Ich kenne ihn gar nicht, aber er lacht auch lange und herzhaft am anderen Ende der Leitung. Wir verabreden uns für den nächsten Tag auf der Autobahn Richtung Süden, La Pyrénéenne.

Neun Jahre, nachdem man ihn im Gelben Trikot aus dem Rennen geworfen hat, ist Michael Rasmussen zurück bei der Tour de France. Als ich den allseits beliebten Kommentatoren Jørgen Leth und Rolf Sørensen erzählte, dass Michael Rasmussen mich zum Radfahren eingeladen habe, schlugen sie vor, ich solle ihn fragen, wie er an die Akkreditierung gekommen sei. Sie hätten sich darüber gewundert, aber ihn aus Gründen der Diskretion nicht selbst gefragt. Denn wer entgegen aller Wahrscheinlichkeit und mit kaum jemandes Segen am Rand des Rennens umherstreift, ist unerwünscht, ein Geächteter, eine Persona non grata.

Halten jetzt an der Mautstelle in Toulouse

Wir hätten fast verschlafen. Die Dämpfe sorgten für einen tiefen Schlaf im Sommerwald, aber Jonatan lässt sein Handy den ganzen Morgen nicht aus den Augen.

Halten jetzt beim Aire de Volveste

Shell-Tankstelle bei km 257

Auf der Autobahnraststätte holen wir den schwarzen Wagen von Ekstra Bladet endlich ein. Michael Rasmussen frühstückt im Café der Tankstelle.

»Habt ihr im Auto geschlafen?«, fragt er neugierig.

»Ja.«

»So seht ihr auch aus.«

Michael Rasmussen ist dünn, wirklich ungeheuer dünn. Der Mann muss immer noch nah an seinem Wettkampfgewicht dran sein. Er hat einen flackernden, aber intelligenten Blick. Möwenaugen, würde Samuel Beckett sagen. Mit seinem Baguette und Espresso macht er einen kantigen Eindruck. Das sieht gut aus. Jonatan und ich putzen uns auf dem Klo die Zähne. Dann schlagen wir in der Bäckerei zu. »Fröhliche Naturfreunde« nennt Michael Rasmussen uns. Doch nach mehreren Tagen im tiefen Wald können frischer Kaffee und Croissants ganz schön reinhauen. Ich erinnere mich an die Frage über die Akkreditierung und erlaube mir die dreiste Bemerkung, dass er recht einsam wirkt, wenn er im Pressezentrum umhergeistert.

»Wenn wir neun Leute im Team waren, habe ich immer alleine übernachtet. Weil ich als Erster die Hand gehoben habe. Das nehme ich dann gleich für drei Wochen, okay? Ein Tour-Team besteht aus neun Fahrern, also gibt es ein Einzelzimmer. Wenn daraus aber eine Geschichte werden soll, schreibt man am besten: Michael Rasmussen bekam das Einzelzimmer, weil niemand mit ihm zusammenwohnen wollte. Somit ist meine Wahrheit zu einer Fußnote in meinem Leben geworden, einer Fußnote in der Erzählung darüber, wer ich war und bin. Vielleicht hast du recht damit, dass ich jetzt allein umherwandle. Ich bin kein Journalist, der durch die Gegend rennt und alles aufnimmt. Ich beobachte. Bleibe für mich. Ich muss meinen Platz finden, die Leute müssen sich wieder an meinen Anblick gewöhnen. Daran, dass ich wieder herumspuke, sozusagen. Langfristig glaube ich aber, dass ich den Fahrern guttue. Ich hoffe, die Tatsache, dass ich mich jetzt zeige, ist ein Schritt auf dem Weg, sich hier wieder etablieren zu können. In einer Position, für die ich meiner Meinung nach gut geeignet bin. Ich wäre ein guter Sportdirektor, wenn man mich lassen würde. Mein Herz ist hier verankert.«

»Wie hast du deine Akkreditierung bekommen?«

»Wie du deine?«

»Ich habe einen Antrag gestellt.«

»Das war bei mir nicht anders.«

»Renndirektor Prudhomme war dir in seiner kategorischen Ablehnung seit deinem Ausschluss ja sonst nicht gerade positiv gesinnt, finde ich.«

»Manchmal hat Verachtung offenbar auch ein Verfallsdatum. Natürlich kann es anschließend bitter werden. Aber es kann genauso gut einfach aufhören.«

Der Col d’Aspin nimmt in der Geschichte der Tour de France einen prominenten Platz ein. Außerdem ist er Teil der Erzählung über Michael Rasmussen. Im Laufe der Jahrzehnte ist der Berg zweiundsiebzig Mal überquert worden. 2004 lag Mickael Rasmussen – wie sein Name damals aus irgendeinem Grund buchstabiert wurde – allein an der Spitze, als die Tour über den hohen Bergpass in den Pyrenäen führte. An einem regnerischen Tag kam der dünne Däne als Erster über die Passhöhe, mit Lance Armstrong an seinen Fersen. Dänen und Franzosen haben ein Händchen dafür, Skandale in den Hinterhöfen des anderen zu verursachen. Louis-Ferdinand Céline, Paul Gauguin und Lars von Trier sind drei Ehrenmitglieder im französisch-dänischen Feindschaftsbündnis.

Auf dem Weg in die Pyrenäen bleiben wir dem schwarzen Auto dicht auf den Fersen. Am Fuß des Col d’Aspin plätschert ein Fluss, an dem wir uns zur Auffahrt bereitmachen. Jonatan löst mein Fahrrad von den Ketten im Lieferwagen. Ich halte nichts davon, wenn Hobbysportler sich wie Radrennfahrer anziehen, weshalb ich weder Fahrradkleidung, Fahrradschuhe noch einen Helm mitgebracht habe. Michael Rasmussen ist davon nicht besonders beeindruckt und schüttelt nur den Kopf. Ich erkläre ihm, was ein Mamil ist. Ein Middle-Aged Man in Lycra. Gewisse Männer in mittlerem Alter leiden unter einem falschen Selbstbild. Das sind als Gewinner verkleidete Verlierer, argumentiere ich, das maskuline und misslungene Pendant zu einer Milf. Michael Rasmussen ist jedoch eindeutig jemand, der gelernt hat, wie wenig die Meinung anderer wert ist. Er lächelt nachsichtig, während er sich für die Leser des Ekstra Bladet eine GoPro um die Brust schnallt. So werden die Skandalfahrer typischerweise verstoßen – voriges Jahr musste Lance Armstrong sein Dasein einige Etappen vor dem Peloton fristen, von seiner eigenen Vergangenheit an den Rand gedrängt.

In einer Bar am Fuß des Berges trinken wir einen Espresso, ehe wir auf der Toilette das letzte Gewicht loswerden. Er lässt mich vorfahren, während er noch mit der Kamera am Brustkorb redet. Ich bin leicht verkatert, die Juliwärme flimmert über dem Asphalt, meine Sneaker sind mit Lederriemen an den Pedalen festgespannt, mein Wilier Triestina mit Zehenclips hat etwas von einer Antiquität. Mir gehen die Gänge schon im Tal aus.

Doch ich finde meinen Tritt, gehe in mich, will nicht im klaren Licht der Demütigung eingeholt werden. Als ich auf tausend Metern Höhe ankomme, sehe ich den Berg vor mir, kahl und groß. Die Straße schlängelt sich den Hang hinauf, überall sichtbar.

»Courage!«, rufen ein paar Zuschauer vom Wegesrand. Das Peloton kommt erst morgen vorbei. Heute gehört die Strecke den frühen Vögeln, die mit weißen Sprühdosen die Namen ihrer Favoriten auf den steilen Asphalt malen. Bis zum Gipfel sind es noch viele Kilometer. Aber ich habe einen guten Tritt, schwitze wie ein Schwein, strebe nach dem wenigen Schatten unter den immer weniger werdenden Bäumen, versuche auf den flacheren Abschnitten meinen Puls runterzubringen. Jonatan hält mit dem Lieferwagen am Straßenrand, um mir eine Flasche kaltes Wasser zu reichen, während ich weiter in die Pedale trete.

Es mag merkwürdig klingen, aber ich fahre viel lieber bergauf als bergab. Ein leicht ansteigender Weg hat etwas, das einen wachen, lebenstüchtigen Menschen zum Weitermachen anspornt. Das Radfahren mit seinen gleichmäßigen Umdrehungen, die sich von den Pedalen über die Kette auf die Räder übertragen, erschafft ein ansteckendes Gefühl von Vorankommen. Beim Radfahren überspringst du das zurückhaltende Moment, das beim Gehen oder Laufen unvermeidlich ist. Dort verwendest du die Hälfte deiner Kraft darauf, dich selbst aufzufangen. Ein Schritt ist ein Schritt auf dem Weg, nicht mehr und nicht weniger. Ein Pedaltritt hingegen ist ein fließender Teil deines ganzen Willens. Er kann nicht gespalten werden, ist wie ein Individuum unteilbar. Von einem Pedaltritt profitierst du auch, wenn du aufhörst zu treten. Er ist akkumulativ, aber beträgt die ganze Zeit null. In einer kreisenden Bewegung wirst du aus dir selbst hinausgeschoben. Du bist dein eigenes Teleskop. Dein Kopf ist leer, und doch hast du das Gefühl, dem Großen im Leben ganz nah zu sein.

Ich werde erst auf dem letzten Kilometer eingeholt. Michael Rasmussen fährt an meine Seite. Er sagt, man sehe mir an, dass ich in meinem Leben viel gefahren bin. So etwas könne man nicht verbergen. Wir fahren mit zwölf, dreizehn Stundenkilometern. Als er 2004 den gleichen Berg hochfuhr, war er ungefähr doppelt so schnell unterwegs. Das wirkt in jeder Hinsicht unbegreiflich. Sein Tempo heute ist für mich immer noch zu hoch zum Reden.

»Ich habe einige deiner Kurzgeschichten gelesen«, sagt er.

»Okay«, keuche ich.

»In einer ging es um mich, hatte ich den Eindruck. Der Typ, der sich so fühlt, als wäre er der verhassteste Mann der Welt. Das Fest für ihn, das er einfach nicht ertragen konnte. Aber dann dachte ich mir auch, man darf nicht vergessen, dass es immer noch Menschen gibt, die einen mögen, auch wenn manche Dinge schiefgelaufen sind. Das muss man dann aber auch annehmen. Man kann das Pferd zur Tränke führen, aber man kann es nicht zum Trinken zwingen. Nach 2007 war ich extrem misstrauisch. Habe angefangen, mich einzugraben. Ich saß in einem Keller in Italien, draußen bin ich meine Trainingstouren gefahren. Im Keller war es schön dunkel. Ich habe dreißigtausend Kilometer im Jahr zurückgelegt, ohne an Rennen teilzunehmen. Anstatt mit der Familie zu essen, bin ich unten geblieben und habe auf mich selbst aufgepasst. Ich wollte kein Däne mehr sein. War dabei, die mexikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Kann sein, dass ich mit einem Psychologen hätte sprechen müssen, habe ich aber nicht gemacht. Ich glaube, in Wirklichkeit war das Radfahren meine Therapie. Bis ich wieder für die Welt bereit war. Ergibt das Sinn?«

Ich nicke, tropfend vor Schweiß. Dass er wieder hier ist, zeugt von Mut und Wehmut zugleich. Ich denke laut nach.