Rattenkönig - Pascal Engman - E-Book

Rattenkönig E-Book

Pascal Engman

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ein Buch, das man gelesen haben muss. Absolut fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite!« Camilla Läckberg Stockholm: Eine junge Frau wird ermordet aufgefunden. Der Fall scheint schnell geklärt. Als es zu weiteren, scheinbar zusammenhangslosen Morden an jungen Frauen kommt, ahnt Vanessa Frank, dass dahinter mehr steckt, und beginnt zu ermitteln. Dabei führt sie eine Spur in die dunklen Abgründe des Frauenhasses. Feminismus ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, doch im Netz kommt es zu immer stärkerem Frauenhass. Dort treffen sich Männer, die sich selbst »Incels« nennen und ihre frauenfeindlichen Phantasien in den dunkelsten Ecken des Internets ausleben, vereint durch das Verlangen, sich an allen Frauen zu rächen, die ihnen nie auch nur einen zweiten Blick geschenkt haben. In einem Stockholmer Vorort wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Scheinbar das Opfer ihres eifersüchtigen Ex-Freundes, der sie in einem Wutanfall umgebracht hat. Kommissarin Vanessa Frank stürzt sich in die Ermittlungen denn Verbrechen an Frauen lassen die sonst harte Kommissarin nicht kalt. Bald beschleicht sie jedoch das Gefühl, dass ihr ein entscheidendes Puzzlestück fehlt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 489

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Pascal Engman

Rattenkönig

Ein Fall für Vanessa Frank

Aus dem Schwedischen vonNike Karen Müller

Tropen

Impressum

Das vorangestellte Zitat stammt aus Doktor Glas von Hjalmar Söderberg, übersetzt von Verena Reichel, © Manesse Verlag, Zürich, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Råttkungen« im Verlag Bookmark Förlag, Stockholm

© 2019 by Pascal Engman

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung eines Fotos von © FinePic®, München

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50440-8

E-Book: ISBN 978-3-608-12090-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Linnea

Man will geliebt werden, mangels dessen bewundert, mangels dessen gefürchtet, mangels dessen gehaßt und verachtet. Man will irgendein Gefühl in den Menschen wecken. Die Seele schreckt vor der Leere zurück und sucht um jeden Preis Kontakt.

Hjalmar Söderberg, Doktor Glas

Blut hatte das Plakat mit der Aufschrift Liebe. Blutsschwestern. Musik. rot gefärbt.

Vanessas Atem ging schwer, sie spürte, wie das Adrenalin durch ihre Adern pulsierte. Der Korditgeruch stach in ihrer Nase. Sie hielt sich die geballten Fäuste an die Schläfen und unterdrückte einen Schrei. Unter dem Banner lag eine Polizistin. Ihre Glieder waren unnatürlich verrenkt, in ihrem Kopf war ein Einschussloch zu sehen. Blut strömte aus der Wunde und sickerte ins Gras. In einem Halbkreis um sie herum lagen vier weitere Frauen. Während sich einige kaum bewegten, schrien andere vor Schmerzen. Riefen nach ihren Müttern, nach Gott, nach ihren Kindern.

Am Ausgang drängten sich weitere Frauen und versuchten, das Festivalgelände zu verlassen.

Die Sirenen von Polizei und Krankenwagen lärmten, als wären sie selbst in Panik geraten.

Aus dem Augenwinkel nahm Vanessa eine Bewegung wahr. Nicolas griff nach ihrem Arm. Verwundert starrte sie ihn an. Blinzelte. Sein Mund bewegte sich, aber Vanessa hörte nicht, was er sagte.

Plötzlich hechtete er auf eine der jungen Frauen zu und ging neben ihr in die Hocke. Sie war schlank und zart.

Ihre Haare waren grün gefärbt.

Vanessa machte einen Schritt auf die beiden zu, aber die Beine gaben unter ihr nach, sie strauchelte. Stürzte beinahe. Konnte sich gerade noch aufrecht halten und näherte sich Nicolas und dem Mädchen. Er hielt ihren Kopf in beiden Händen, ihr Haar floss zwischen seinen Fingern hindurch. Er schrie auf und drückte seine Stirn gegen ihre.

Jetzt erst erkannte Vanessa das Mädchen. Sie ließ den Blick über ihren Körper wandern. In ihrem Unterleib klaffte eine große Wunde. Nicolas hatte den Kopf des Mädchens losgelassen und presste seine Hände auf die Stelle, um den Blutfluss zu stoppen.

»Lebt sie?«, rief Vanessa.

PROLOG Eine Plastiktüte hatte sich in dem Zaun verfangen, der die Vollzugsanstalt Åkersberga umgab. Emelie Rydén, fünfundzwanzig Jahre alt, drehte den Zündschlüssel ihres grünen Kia, und der Motor verstummte. Sie ließ sich nach vorne sinken und lehnte ihre Stirn gegen das Lenkrad.

Vor zwei Jahren hatte sie ihre gemeinsame Tochter Nova zur Welt gebracht. Nun war sie hier, um mit Karim Schluss zu machen, dem Mann, den sie für ihre große Liebe gehalten hatte.

Emelie hatte Angst. Sie richtete sich wieder auf, hob ihre Oberlippe an und musterte ihr Gesicht im Rückspiegel. Der untere Teil eines Schneidezahns war gelblich verfärbt. Es war jetzt vier Jahre her, da hatte Karim sie im Streit gegen einen Heizkörper geschleudert. Emelie hatte das Bewusstsein verloren. Als sie wieder zu sich gekommen war, war er nicht mehr da gewesen. Achtundvierzig Stunden später war er nach Hause zurückgekommen, hatte nach Schweiß und Kneipe gestunken und sie mit blutunterlaufenen Augen gebeten, ihm zu verzeihen.

Emelie öffnete die Autotür und trat mit dem linken Fuß in eine Pfütze, die sich in einer Mulde im Asphalt gebildet hatte. Sie musste das einfach beenden, für Nova. Ihre Tochter hatte es nicht verdient, mit einem Vater aufzuwachsen, der im Gefängnis saß. Selbst wenn Karim in drei Monaten freikam, war sich Emelie sicher, dass er wieder einfahren würde. Früher oder später. Vermutlich früher.

Mit energischen Schritten ging sie auf den Besuchereingang zu, drückte auf die Klingel und wurde eingelassen.

Seit drei Jahren war sie jede Woche hier gewesen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Nova war in einem der Besucherräume entstanden. Manche der Vollzugsbeamten brachten ihr Mitleid entgegen, andere zeigten Verachtung.

In den vergangenen Jahren hatte sie alles dafür getan, um erhobenen Hauptes und mit geradem Rücken durch die Korridore gehen zu können. Sie erkannte den Beamten am Einlass wieder. Er war wortkarg, wirkte zurückhaltend. Obwohl sie sich bereits mehrmals begegnet waren, verriet er mit keiner Miene, dass er sich an sie erinnerte.

»Ich möchte zu Karim Laimani«, sagte Emelie.

Der Wachmann nickte.

»Haben Sie einen Stift für mich?«

Er hielt den Blick auf den Bildschirm geheftet und reichte ihr einen Kugelschreiber herüber. Emelie faltete Novas selbstgemaltes Bild auseinander und schrieb das Datum in die rechte Ecke.

Die anschließende Prozedur war die gleiche wie immer: Jacke, Tasche, Handy und Schlüssel wurden in einen Schrank geschlossen. Danach wurde sie zur Schleuse geführt für die Leibesvisitation.

Emelie breitete die Arme aus, und der Wachmann klopfte ihren Körper ab.

»Folgen Sie mir«, sagte er mechanisch und hielt seine Karte vor das Lesegerät.

Sie gingen den Korridor entlang und bogen rechts ab. Der Vollzugsbeamte ging vor Emelie, in ihrer Hand Novas zusammengefaltete Zeichnung. Vor einer weißen Tür mit einer runden Glasscheibe blieb er stehen. Emelie spähte hindurch. Da saß Karim, die Hände ruhten auf der Tischplatte. Die Kapuze seines grauen Sweatshirts war hochgestülpt. Die Tür ging auf und Emelie betrat den kleinen Raum. Sie atmete geräuschvoll ein. Ihr schlotterten die Knie, ihre Hände zitterten. In Gedanken ging sie noch einmal durch, was sie sagen wollte, während sich die Tür hinter ihr wieder schloss.

Karim stand auf. Die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen. Er zog sie an sich, umfasste ihre Brust.

»Karim, lass das …«

Er ignorierte sie, presste sein Geschlecht an ihren Schritt und zwang seine Zunge in ihren Mund. Sie schob ihn von sich weg.

»Was ist denn mit dir los?«, schnaubte er.

Karim starrte sie ein paar Sekunden lang wütend an, dann wandte er sich von ihr ab und setzte sich wieder auf den Stuhl. Emelie legte Novas Bild vor ihn auf den Tisch. Er bedachte es mit einem gleichgültigen Blick.

»Du bist fetter geworden. Bist du etwa wieder schwanger?«

Emelie strich eine Haarsträhne glatt und öffnete den Mund, aber ihr Hals war staubtrocken. Wenn sie das gesagt hatte, was sie sagen wollte, dann wäre sie nicht mehr seine Freundin, sondern seine Feindin. Karims Welt war schwarz-weiß, sie würde ihre Worte unter keinen Umständen zurücknehmen können. Sie räusperte sich, damit ihre Stimme fester klang.

»Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein.«

Karim runzelte die Stirn und kratzte sich mit den Fingernägeln über die dunklen Bartstoppeln.

»Sei still.«

»Das geht nicht«, sagte sie. Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich erneut. »Ich kann das nicht mehr.«

Karim kniff die Augen zusammen. Die Stuhlbeine schrammten über den Boden, während er sich langsam erhob, mit den Kiefermuskeln spielte und auf Emelie zuging.

»Glaubst du etwa, du kannst das bestimmen?«

Er hatte sie fast erreicht. Emelie wappnete sich.

»Bitte …«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Sie schluckte und schloss die Augen. »Warum lässt du mich nicht einfach gehen? Wenn du rauskommst, kannst du Nova doch sehen.«

»Fickst du einen anderen?«

»Nein.«

Karim hielt erst inne, als sein Gesicht eine Handbreit vor ihrem schwebte. Er schnüffelte.

»Nee, du warst schon immer eine beschissene Lügnerin. Bist du durch die Stadt gerannt und hast die Beine breitgemacht? Miststück. Verdammte Hure.«

Emelie drehte sich um und wollte nach der Türklinke fassen. Karim war schneller und packte sie.

»Damit kommst du nicht davon. Wenn ich rausfinde, dass du anderen deine Fotze hingehalten hast, dann bringe ich dich um.«

Der Beamte riss die Tür auf. Schnell ließ Karim von Emelie ab und kehrte die Handflächen nach außen. Emelie zog ihren Arm zurück, rieb sich das Handgelenk.

Im nächsten Moment hallte Karims Stimme im Besuchszimmer wider.

»Ich bring dich um! Wart’s ab. Das wirst du noch bereuen!«, brüllte er.

Der Wachmann ging zwischen die beiden.

»Beruhigen Sie sich!«

Karim starrte Emelie über die Schulter des Wachmannes hinweg an und ging mit einem Grinsen im Gesicht rückwärts.

TEIL EINS

Wir sind auch nur Menschen. Wir wollen nur geliebt werden, für das, was wir sind. Unsere Hoffnungslosigkeit kommt nicht von ungefähr. Ich bin froh, dass es dir nie so ergangen ist, aber ich hoffe, du hast Verständnis. Wir werden von euch gemobbt, erniedrigt. Überall. Stattdessen solltet ihr euch fragen, was uns dazu gebracht hat, uns so zu fühlen. Es gibt immer eine Geschichte, die uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir nun stehen. Wenn ihr unsere Geschichten angehört hättet, hättet ihr vielleicht mehr Verständnis für unsere Situation, die trotz allem unfreiwillig ist.

Mann, anonym

Eins In der Tanne im Monica-Zetterlunds-Park hing eine lilafarbene Lichterkette. Kommissarin Vanessa Frank trug einen dunkelblauen Mantel, darunter eine dunkle Hose und eine frisch gebügelte weiße Hemdbluse.

Sie fuhr sich mit der Zunge über das Zahnfleisch. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Vanessa einen Vorsatz gefasst für das neue Jahr: Auf den Snus zu verzichten. Sie hatte das den ganzen Winter vor sich hergeschoben, und inzwischen war Mitte April. Der Schnee war weggetaut. Vor achtundvierzig Stunden hatte sie ihre letzte Portion Snus genommen, und jetzt schüttelte die Abstinenz ihren ganzen Körper durch.

In Hassans Handyshop, in dem seinem Namen zum Trotz alles Mögliche verkauft wurde, war es noch hell.

Die Türglocke bimmelte, und Hassan grinste, als er Vanessa eintreten sah.

»Konstapel Frank«, begrüßte er sie in gebrochenem Schwedisch und machte eine halbherzige Verbeugung. »Ich hoffe, du bist nicht hier, um Snus zu kaufen.«

»Hör auf, ich bin dreiundvierzig. Gib mir eine Dose.«

»Vor zwei Tagen hast du genau hier gestanden und hast mir verboten, Snus an dich zu verkaufen.«

»Entweder gibst du mir eine Dose oder ich raube dich aus.«

Hassan schob sich eilig zwischen Vanessa und den Snuskühlschrank.

»E-Zigaretten sind nicht so gefährlich, und du bist beschäftigt«, sagte er und deutete auf eine Vitrine. »Im Ernst, Vanessa, ich musste es dir versprechen. Und das will ich auch halten.«

Vanessa seufzte und zupfte ihren Blusenkragen zurecht. Sie schätzte Menschen, die ihre Versprechen hielten.

»Jaja, jetzt gib mir den Mist endlich. Aber pass auf, Hassan, dass du nicht den Fußboden zerkratzt.«

Er warf Vanessa einen fragenden Blick zu, dann musterte er seine Füße.

»Was?«

»Ja, mit dem Stock in deinem Hintern.«

An der Ecke Odengatan blieb Vanessa stehen, schaltete ihre E-Zigarette ein, nahm einen Zug und studierte gedankenverloren den weißen Rauch, der sich in dem dunklen Frühlingshimmel verlor. Sie spazierte Richtung Sveavägen. Die Straßencafés hatten geöffnet, die Leute tranken Bier, sie hatten sich Decken um die Schultern gelegt und beugten sich über wacklige Tische.

Vanessas Leben befand sich gerade in einer Umbruchphase. Im Dezember erreichte Natasja, die sechszehnjährige Syrerin, die bei Vanessa gewohnt hatte, ein Anruf von ihrem Vater. Er hatte den Krieg überlebt, als Invalider zwar, aber er lebte. An Heiligabend hatte Vanessa Natasja zum Abschied vor dem Haus hinterhergewunken, die Rücklichter des Taxis waren in dem dichten Schneetreiben die Surbrunnsgatan hinauf verschwunden. Kurz hatten die Bremslichter aufgeleuchtet, und Vanessa hatte eine Sekunde lang gehofft, dass Natasja aus dem Auto springen, sich ihre Reisetasche schnappen und zu ihr zurücklaufen würde, weil alles nur ein Missverständnis gewesen war. Vier Monate waren seitdem vergangen, und trotzdem fühlte sich die Einsamkeit wie eine durchgerostete Fahrradkette an, die jeden Tag gegen ihre Rippen schlug.

Auf dem Sveavägen fuhren die Oldtimer auf und ab, während die Haudegen in ihren Westen und karierten Hemden zu Eddie Meduza und Bruce Springsteen mitgrölten. Benzindämpfe, Südstaatenflaggen. Ein Mann drückte seine anämischen Hinterbacken gegen die Heckscheibe eines weißen Chevrolets. Vanessa wollte eigentlich rechtsherum gehen, auf dem Heimweg durch den Vanadisparken – aber ein Baugerüst spannte sich über den Bürgersteig. Sie verabscheute es, darunter hindurchzugehen, diese Gerüste sahen immer so aus, als würden sie jeden Moment einstürzen. Stattdessen querte sie die Odengatan und hielt sich parallel zur Bushaltestelle.

Als sie an der Bar Storstad vorbeikam, entdeckte sie ein Gesicht, das sie kannte – es gehörte dem Theaterregisseur Svante Lidén. Sie waren zwölf Jahre verheiratet gewesen, ehe sie dahintergekommen war, dass er eine junge Schauspielerin geschwängert hatte. Ohne eine Miene zu verziehen, ging Vanessa einfach weiter. Nach wenigen Schritten hörte sie, wie ihr Name gerufen wurde.

»Du kannst wenigstens grüßen.«

»Hej.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt, aber Svante eilte auf sie zu und legte ihr leicht eine Hand auf die Schulter.

»Kannst du nicht kurz mit reinkommen?«

Er sah sie eindringlich an. Die Alternative wäre, nach Hause zu gehen, sich aufs Sofa zu fläzen und Animal Planet anzuschauen.

»Okay.«

Svante hielt ihr die Tür auf und fragte, was sie trinken wolle. Vanessa bat um einen Gin Tonic und ließ sich am Fenster nieder. Sie warf einen Blick auf den Platz zwischen Bartresen und Tischen, wo sich die Gäste gegenseitig anbaggerten.

Wir Menschen sind doch nur Säugetiere in bunten Klamotten, dachte sie. In hundert Jahren sind alle an diesem Ort tot. Weiße Knochenreste und Staub, begraben six feet under. Keiner wird wissen, dass wir diese Stunden miteinander geteilt haben. Diese Erkenntnis betrübte sie.

»Du siehst großartig aus«, sagte Svante und stellte die Drinks zwischen sie auf den Tisch.

Vanessa prostete ihm zu.

»Du siehst aus, als wärst du seit 2003 tot.«

»Skål«, sagte Svante unbekümmert. »Wie geht es dir denn so?«

Vanessa trank einen Schluck. Da sie nun schon mal hier war, konnte sie genauso gut auch ein bisschen nett sein. Um der alten Zeiten willen. Denn sie freute sich, Svante wiederzusehen, trotz allem.

In den Jahren, die sie zusammengelebt hatten, war es ihnen gut gegangen. Daran, dass er sofort für alles Feuer und Flamme war, hatte sie sich gewöhnt. Dass er ihr ein Kind vorenthalten hatte, hatte sie allerdings verletzt. Als Vanessa in der Zeit vor der Scheidung schwanger geworden war, hatte er sie zu einem Abbruch überredet. Und jetzt war es zu spät.

»Ich habe den Job gewechselt.«

»Du bist nicht mehr bei der Polizei?«

Vanessa schüttelte den Kopf.

»Neue Abteilung. Ich habe bei der Nova aufgehört und bin jetzt Ermittlerin bei der Rikskrim, Mordkommission.«

Sie schob sich einen Eiswürfel in den Mund und zerkaute ihn.

»Bei der Rikskrim?«

Aus den Boxen schallte Piano Man, Vanessa beugte sich vor, um Billy Joel zu übertönen.

»Ich fahre im Land rum und helfe Kollegen bei ihren Mordermittlungen.«

»Handelsreisende in Sachen Mord also. Wäre kein schlechter Filmtitel. Und ein begehrter Job, wenn man den Zeitungen Glauben schenken kann.«

Eine Stunde und drei Gin Tonic später spürte Vanessa den Alkohol. Sie wollte nicht nach Hause. Svante war in vielerlei Hinsicht ein Trottel, eine feige Ausrede von Mann, aber sie mochte ihn. Noch hatten sie nicht über Johanna Ek gesprochen, die Schauspielerin, mit der er inzwischen zusammenlebte. Ebenso wenig hatten sie das gemeinsame Kind der beiden erwähnt. Vanessa hatte Angst, die Stimmung zu zerstören, aber schließlich konnte sie nicht länger an sich halten.

Mitten in einer Frage hob sie die Hand in Svantes Richtung.

»Und wie geht’s der Kleinen? Der Einjährigen, meine ich, nicht die, für die du mich verlassen hast.«

Svante machte den Mund auf, um zu antworten, aber Vanessa kam ihm zuvor. »Wie habt ihr sie denn genannt? Yasuragi Lidén?«

»Ich habe in einem von deinen Sakkos eine Hotelrechnung gefunden, neun Monate vor ihrer Geburt bezahlt. Ihr Promis tauft eure Kinder doch nach dem Ort, an dem die Befruchtung stattgefunden hat?«

Svante kratzte sich an der Wange.

»Ich gebe zu, ich habe das nicht ganz einwandfrei geregelt«, sagte er. »Es tut mir leid.«

Sie sahen einander ein paar Sekunden lang in die Augen, dann machte Vanessa eine wegwerfende Geste.

»Das muss es nicht.«

Sie musterte seine braunen Augen, lenkte ihren Blick weiter bis zu seinem schütteren Haar. Es war grauer geworden seit ihrer letzten Begegnung, und von seiner ursprünglichen Haarfarbe war fast nichts mehr zu sehen.

Vanessas Blick kam auf seinen großen Händen mit den abgekauten Nägeln zum Ruhen.

Sie vermisste seinen Humor. Die Geborgenheit. Seine Art, sich auf die Unterlippe zu beißen, wenn er etwas in der Morgenzeitung las, was ihn auf die Palme brachte. Wie er sie nahm. Resolut. Fordernd. Seine kaum verhohlene Eifersucht, wenn er merkte, dass sie einem anderen gefiel.

»Bist du glücklich mit ihr?«

Er stützte das Kinn in die Hand.

»Es ist anders. Irgendwie leichter.«

»Musst du so verdammt ehrlich sein?«

Ein Mann stieß Vanessa in den Rücken. Sie rückte mit ihrem Stuhl näher an Svante heran.

»Weißt du, was mich so richtig wütend macht?«, fragte sie.

»Nein?«

»Dass du ein Klischee aus mir gemacht hast.«

Svante hob die Brauen. Vanessa griff nach seiner Hand und führte sie in die aufgeknöpfte Jacke an ihre Brust. Sie hatte sich vor einem halben Jahr die Brüste machen lassen.

»Das verfluchte wandelnde Klischee von der alternden, betrogenen Frau.«

Er lachte auf und zog seine Hand zurück. Ein bisschen zu langsam, als dass Vanessa es entgangen wäre. Warum wollte sie, dass Svante sie wollte? Warum hatte er diese Wirkung auf sie? Sie kam klar. Brauchte ihn nicht. Er hatte seine Wahl getroffen.

Wollte sie sich an Johanna rächen? War es so simpel?

»Sag es.«

»Sag was, Vanessa?«

Sie beugte sich vor, atmete den Duft seines Parfüms ein. Fahrenheit.

»Dass du mich immer noch willst.«

Zwei Jasmina Kovac nahm ihre runde Brille ab, und die Redaktion der Kvällspressen versank prompt in verschwommene Diesigkeit. Sie tastete in ihrem Rucksack, der über der Stuhllehne hing, nach ihrem Etui, fand es und entnahm ihm das blaue Brillenputztuch. Mit flinken Bewegungen fuhr sie damit über die Gläser.

Sie setzte sich ihre Brille wieder auf, und die Stühle, Kollegen und Computerbildschirme hatten wieder klare Konturen.

Jasmina dachte oft daran, dass sie niemals achtundzwanzig Jahre alt geworden wäre, wenn sie das Pech gehabt hätte, vor der Erfindung der Brille geboren worden zu sein, denn dann wäre sie vermutlich längst zur leichten Beute für die Wölfe geworden.

Sie sah sich im Lendenschurz vor sich und musste bei dem Gedanken daran kichern, woraufhin sich ihr Kollege Max Lewenhaupt, der am Schreibtisch neben ihr saß, zu ihr umdrehte.

»Was ist denn so lustig?« Missbilligend schielte er zu Jasminas Bildschirm herüber.

»Ach, nichts«, entgegnete sie und spürte, wie sie rot wurde.

Max machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, aber stattdessen ertönte eine Stimme hinter ihnen.

»Wollt ihr jungen Dinger Kaffee?«

Hans Hoffman, ein älterer Journalist, der am Wochenende und abends manchmal einsprang, reckte den Kopf hinter seinem Bildschirm hervor. Max verdrehte die Augen und formte lautlos »Pfeife« mit den Lippen. Jasmina tat Hoffman leid.

»Gerne«, sagte sie und erhob sich.

Sie gingen zwischen den Schreibtischreihen entlang, an dem gläsernen Büro ihres Chefs vorbei. Die Kaffeemaschine spie eine schwach bräunliche Flüssigkeit aus.

»Bist du nicht die aus Småland?«

Jasmina nickte.

»Växjö.«

»Und Kovac. Kroatien?«

»Bosnien.«

Jasmina wollte wieder an ihrem Schreibtisch zurück, um den letzten Artikel für den Abend zu Ende zu bringen – ein Text über eine Katze in Ånge, die zwei Jahre lang verschwunden und nun wieder zurückgekehrt war. Aber Hoffman bedeutete ihr mit einem Wink stehenzubleiben.

»Du musst mehr eigene Ideen einbringen, wenn du hier bei der Zeitung bleiben willst. Sonst kommen andere, und solche wie der fressen dich auf«, sagte Hoffman und nickte in Lewenhaupts Richtung.

»Ich weiß. Ich hab da auch gerade ein heißes Ding über William Bergstrand. Du weißt schon, der Politiker, der im Parlament sitzt.«

»Gut, zeig die Zähne, kiddo. Du musst es ihnen zeigen. Du bist gut, ich habe deine Sachen gelesen. Deine Berichterstattung über die ungelösten Frauenmorde war großartig. Aber du musst dich breiter aufstellen, nimm die Politiker in die Mangel.«

Jasmina schielte zu der Glastür hinüber, hinter der ihr Chef Bengt »der Bulle« Svensson in seinem Büro saß, die Füße auf dem Schreibtisch. Der Laptop ruhte auf seinem Bauch. Jasmina nahm ihren Mut zusammen. Sie ging zu ihrem Rechner zurück und klickte ihre Recherche an. Anfang der Woche hatte sie bei der Parlamentsverwaltung die Spesenrechnungen des sozialdemokratischen Politikers William Bergstrand angefordert. Er war kürzlich in Paris gewesen, und unter den Quittungen fanden sich unter anderem zwei Bewirtungsbelege in Höhe von jeweils fünftausend Kronen sowie Ausgaben für Luxushotel und Shopping. Alles über die Kostenstelle des Parlaments abgerechnet. Noch peinlicher für Bergstrand, dem in seiner Partei eine rosige Zukunft vorhergesagt wurde, war es, dass er angegeben hatte, seine Parlamentskollegin Annie Källman würde ihn begleiten. Die hatte sich jedoch ihrem Instagram-Profil zufolge in Sundsvall aufgehalten.

»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte Max.

»Ich drucke gerade was aus, das hole ich noch schnell.«

»Wieso redest du immer so leise? Ich kann nie verstehen, was du sagst«, meinte Max und legte die hohle Hand hinters Ohr. »Und was hast du ausgedruckt?«

»Ich bin da an einer Sache dran.« Sie zögerte, setzte sich wieder auf ihren Platz und beugte sich zu Max vor. Er war geschickt. Schnell fasste sie zusammen, was sie über Bergstrands Rechnungsbelege herausgefunden hatte. »Aber ich erreiche ihn einfach nicht. Er macht sich absichtlich rar. Würdest du mir helfen?«

Max nickte langsam. Jasmina merkte, dass er beeindruckt war. Wider Willen. Sie freute sich.

Während der Drucker brummte, betrachtete Jasmina die gerahmten Schlagzeilen und Titelseiten an den Wänden. Das Kriegsende 1945, die Geiselnahme am Norrmalmstorg 1973, die Geiselnahme in der bundesdeutschen Botschaft 1975, die Estoniakatastrophe 1994, der Anschlag auf das World Trade Center 2001.

Jasmina trat hinter den Bullen. Der starrte fortwährend auf seinen Bildschirm.

»Ja?«, sagte er und kratzte sich im Ohr.

»Ich wollte nur mal hören, ob du … hast du mal ein paar Minuten? Ich bin da an einer Sache dran.«

Der Bulle besah sich angeekelt seinen Finger und wischte ihn am Oberschenkel ab. Auf der Jeans blieb ein gelber Fleck zurück.

»Jessica, ich weiß nicht …«

»Jasmina.«

Sie lächelte unsicher.

»Jasmina«, wiederholte der Bulle seufzend. »Ich weiß nicht, wie das in Norrköping funktioniert, oder wo du her …«

»Växjö. Ich komme aus Växjö.«

Der Bulle bearbeitete das andere Ohr.

»Wie auch immer«, sagte er. »Der einzige Text, den ich von dir will, ist der Dreispalter über den wieder aufgetauchten Flohbeutel in, wo war das gleich wieder, Haparanda?«

»Ånge.«

»Ja. Ist der fertig?«

»Im Prinzip schon, aber …«

»Nix aber«, stöhnte der Bulle irritiert. »Los, zurück auf deinen Platz und tu, was ich dir aufgetragen habe. So funktioniert das hier bei der Kvällspressen. Seit ihrer Gründung 1944 ist das ein bewährtes Konzept. Bestimmt hast du eine hübsche kleine Idee ausgebrütet, aber ich habe keine Zeit.«

Eine Stunde später verließ Jasmina Kovac die Redaktion der Kvällspressen und setzte sich im Linienbus Nr. 1 ganz nach hinten in die letzte Reihe. Erst am Fridhemsplan stiegen weitere Fahrgäste ein. Ein Krankenwagen raste vorbei. Es war ein kalter Freitagabend, und die Straßenlaternen tauchten Kungsholmen in gelbliches Licht. Vor den Lokalen standen grüppchenweise fröstelnde Gäste, die Obdachlosen suchten in Treppenaufgängen und unter Dachvorsprüngen Schutz. Sie schliefen im Pulk, schmiegten sich aneinander wie ausgemergelte, verfrorene Tiere.

Stockholm war Jasminas Traum. Seit sie denken konnte, wollte sie Journalistin werden, genau wie ihr Vater vor dem Jugoslawienkrieg.

Ein paar Monate zuvor hatte Jasmina als Journalistin der Smålandsposten, einer Lokalzeitung, einige ungelöste Mordfälle unter die Lupe genommen. Die Opfer waren ausnahmslos Frauen gewesen, und sie hatte beweisen können, dass die Fälle aufgrund von Pannen bei der polizeilichen Ermittlung nicht aufgeklärt werden konnten. Der Artikel hatte große Resonanz erfahren und war von der TT übernommen worden sowie von beiden Abendzeitungen. Zwei Stunden nach der Publikation hatte die Chefredakteurin der Kvällspressen angerufen und ihr einen befristeten Vertrag als Vertretung angeboten.

Doch bislang war nichts so gelaufen, wie Jasmina es sich vorgestellt hatte.

»Morgen ist ein neuer Tag«, murmelte sie.

Drei Kaum in der Diele, rissen sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib. Svante drückte Vanessa gegen die Wand, schob sie vor sich her zum Sofa, beugte sie vornüber und drang von hinten in sie ein. Animalisch. Hart. Verzweifelt. So wie sie es haben wollte, wie sie es immer schon haben wollte.

Danach holte Vanessa eine Flasche Rotwein. Sie reichte ihm den Korkenzieher und den Wein und zündete sich ihre E-Zigarette an.

Durch den weißen Rauch blickte sie an die Decke.

»So gut bin ich schon lange nicht mehr gevögelt worden, seit …«, murmelte Vanessa, ehe sie sich unterbrach und verstummte.

»Seit wann?«

»Ich wollte sagen, seit meiner äußerst leidenschaftlichen Affäre mit meinem Lehrer am Gymnasium, aber ich dachte, das würde dich verletzen.«

»Du hast mit deinem Lehrer geschlafen?«

»Habe ich dir nie von Jacob erzählt? Er war achtundzwanzig und Mathe-Vertretungslehrer. Ich war siebzehn und total schräg drauf, wie fast immer in meinem Leben. Meistens haben wir …«

»Es reicht, Vanessa, wirklich.«

Svante reichte ihr die Flasche.

»Was ist denn eigentlich mit den Fenstern los?«, fragte er.

Sie waren mit weißer Folie zugeklebt.

»Die Fassade wird renoviert.«

»Man kann nicht mal sehen, ob es draußen dunkel ist.«

»Also nein, davon wird man wirklich krank auf Dauer.«

Sie hoffte, er würde etwas Substantielleres sagen. Dass das Leben trister war ohne sie. Doch stattdessen erzählte er eine Geschichte von einer Theaterprobe, die sie schon kannte. Vanessa hörte mit halbem Ohr zu, während sie die Innenseite seines Oberschenkels streichelte. Es ist schon seltsam, dachte sie, was die Zeit mit den Gefühlen macht. Svante fiel es immer schwerer, seine Geschichte weiterzuerzählen, je höher ihre Hand kletterte. Er atmete angestrengt. Sie setzte sich rittlings auf ihn. Er schloss die Augen, den Mund halb geöffnet. Vanessa kam der Gedanke, dass er an Johanna dachte, und sie gab ihm eine Ohrfeige. Svante zuckte zusammen und machte überrascht die Augen auf. Für einen Moment glaubte sie, er würde den Schlag vergelten, aber er lachte auf und machte die Augen wieder zu. Sie presste sich fester gegen ihn und spürte ihn immer tiefer in sich, bewegte sich rhythmisch und langsam.

Als sie kam, grub sie die Fingernägel in seine behaarte Brust, und Svante schlug sie weg.

Es war halb drei, als Svante nuschelte, er müsse nach Hause. Er klaubte seine Kleider auf, und Vanessa ging ihm hinterher, die Wolldecke um sich geschlungen.

»Wie willst du die Kratzspuren erklären?«

Er blickte in den Ausschnitt des schwarzen Hemds, das er sich gerade zuknöpfte, und zuckte mit den Schultern.

»Bist du sauer?«, fragte sie.

»Nein.«

Vanessa kniff die Lippen zusammen, um die Frage hinunterzuschlucken, ob er bleiben könne. Sie tauschten einen Kuss, dann verpasste sie ihm einen Stoß in die Rippen.

»Wir sehen uns«, sagte Svante.

»Wenn du das sagst«, entgegnete sie und zog die Tür zu.

Vier In der Redaktion der Kvällspressen herrschte geruhsame Samstagsgemütlichkeit. Jasmina Kovac war auf dem Weg in den Pausenraum, um eine Gorby’s-Pirogge zu essen, als der Bulle nach ihr rief. Sie nahm an, es ginge um einen Fehler in ihrem Katzenartikel und rechnete mit einem Rüffel.

»Ich brauche einen längeren Text. Für die Montagsausgabe.«

»Okay«, gab Jasmina zurück und konnte ihre Überraschung nur schwer verbergen. »Was schwebt Ihnen vor?«

»Ein Hintergrundbericht.«

Eigentlich wollte Jasmina ihren Dienst am Abend beenden. Sie hatten den Abgeordneten William Bergstrand zu erreichen versucht, doch er hatte nach wie vor ihre Anrufe weggedrückt. Max und Jasmina hatten beschlossen, dass sie es Mitte nächster Woche noch mal versuchen wollten, wenn sie das nächste Mal Dienst in der Redaktion hatten. Jetzt wollte sie nach Hause fahren, nach Växjö, um ihre Mutter zu besuchen. Den Bahnfahrschein hatte sie schon gekauft. Aber es half alles nichts, einen Hintergrundbericht schreiben zu dürfen, war eine Gelegenheit, die sie sich auf keinen Fall entgehen lassen wollte.

»Selbstverständlich. Worum geht es denn?«

»Um eine Zusammenfassung der letzten Entwicklungen in der #MeToo-Debatte. Hoffman hatte schon was anderes vor und hat dich vorgeschlagen, als ich ihn gefragt habe. Eigentlich bin ich eher unsicher, ob du schon so weit bist, also enttäusch mich nicht.«

Jasmina konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte. Hoffman kam ihr mit der aktuellen Zeitung entgegen.

Sie stürzte auf ihn zu und umarmte ihn.

»Danke«, flüsterte sie.

»Wofür? Ich bin zu alt, um die Nächte durchzuschreiben«, sagte er. »Aber wenn du rechtzeitig fertig werden willst, fängst du am besten sofort an. Fahr nach Hause. Denn wenn die anderen dich hier sehen, bürden sie dir nur noch mehr Arbeit auf.«

Jasmina war klar, dass Hoffman recht hatte. Dieser Artikel konnte ihr Türöffner für bedeutendere Aufgaben sein, aber dann musste sie jetzt auch ungestört arbeiten können. Sie packte zusammen, schob den Laptop in ihren Rucksack und verabschiedete sich hastig von den anderen Kollegen.

Ihre Mutter würde enttäuscht sein. Jasmina war ihr Leben. Sie hatte jede einzelne Meldung gelesen und ausgeschnitten, die Jasmina verfasst hatte, und bewahrte sie in Schachteln unter dem Bett auf.

»Hej Mama.«

»Bist du schon unterwegs? Du wolltest doch heute Abend kommen?«

»Ich kann nicht weg. Ich muss einen größeren Artikel schreiben. Der muss morgen fertig sein.«

Obwohl Jasmina ihr Bestes getan hatte, sich nichts anmerken zu lassen, war ihrer Mutter nicht entgangen, dass nicht alles in Stockholm so gelaufen war, wie Jasmina es erwartet hatte.

»Wie schön«, rief ihre Mutter aus. »Das musst du natürlich unbedingt machen.«

»Wirklich? Ich vermisse dich. Du weißt aber, dass ich dich besuchen will, oder?«

»Ich vermisse dich auch, mein Mädchen, aber du kannst mich ja nächstes Mal besuchen kommen, wenn du frei hast.«

Am Stureplan stieg Jasmina aus dem Bus.

Sie hatte immer schon in Gegenwart von anderen besser schreiben können, und es fiel ihr schwerer, sich zu konzentrieren, wenn sie allein war. Es zog sie nicht in die düstere Einzimmerwohnung im Valhallavägen, in der sie zur Miete wohnte, also ging sie über den Zebrastreifen und betrat das Scandic Anglais. Die Hotellobby war halbleer. Perfekt, dachte sie und bestellte Mineralwasser und Kaffee. Sie bat um das WLAN-Passwort, ließ sich in einem der Sofas am Fenster nieder und klappte ihren Laptop auf.

Bevor sie anfing, spürte sie, wie sie vom Scheitel bis zur Sohle von Stolz erfüllt wurde. Sie saß in einer Hotelbar und schrieb einen Text für die größte Abendzeitung Schwedens. Sie lebte ihren Traum.

Als Jasmina wieder vom Bildschirm aufsah, war die Lobby gesteckt voll. Sie hatte ihr Mineralwasser ausgetrunken, und ihr Kaffee war kalt. Vor lauter Gästen konnte sie kaum bis zum Bartresen sehen. Ein DJ stand an einem Plattenspieler.

Ihre Augen brannten, ihre Glieder waren steif. Sie drückte den Rücken durch und beschloss, eine Pause einzulegen. Ein Stück weiter entfernt stand ein Mann und starrte sie an. Jasmina wich seinem Blick aus und machte ihren Laptop zu. Er musste ihre Reaktion falsch gedeutet haben, denn er bahnte sich einen Weg zu ihr.

»Magst du einen Drink?«, fragte er.

Er war etwa Mitte dreißig und trug ein schwarzes Hemd, das leger und kleidsam zugleich wirkte. Jasmina deutete auf ihren Rechner.

»Ich arbeite, also bin ich heute Abend alkoholfrei unterwegs«, entgegnete sie mit einem Lächeln. »Aber trotzdem danke.«

Er zwängte sich neben Jasmina.

»Jetzt komm schon. Nur einen Drink. Es ist Samstag.«

Sie brauchte wirklich eine Pause. Jeder einzelne Satz ihres Artikels musste perfekt sein, und wenn sie nicht unkonzentriert arbeiten wollte, musste sie ihren Fokus zwischendurch auf etwas anderes lenken.

»Einen Kaffee?«, sagte sie. »Dann muss ich nach Hause und weiterarbeiten.«

»Ich bin Thomas«, erwiderte er und stand auf. Nachdem er ihre Hand geschüttelt hatte, führte er sie zum Mund, und die Bartstoppeln am Kinn kratzten über ihren Handrücken.

Nach einer Weile war der Kaffee ausgetrunken, und Thomas war während ihrer Unterhaltung immer näher gerückt. Er stellte Jasmina alle möglichen Fragen, ohne sich sonderlich für ihre Antworten zu interessieren. Stattdessen glotzte er ihren Körper an, und sein Blick fiel immer öfter auf ihre Brüste. Jasmina fand ihn unangenehm. Sie war erschöpft und fühlte sich müde.

Sie entschuldigte sich, sagte, sie sei gleich wieder da und stand auf.

Alles drehte sich, die Beine gaben unter ihr nach und sie stützte sich am Tisch ab. Thomas fing sie auf. Wo war ihr Rucksack? Der Rechner?

»Danke«, hörte sie sich stammeln. Ihre Stimme klang metallisch, als würde sie in eine Büchse sprechen.

Er legte einen Arm um ihre Taille, mit dem anderen stützte er sie. Jasminas Kiefer fühlte sich kraftlos an, ihre Lider wurden schwer, sie konnte ihre Augen nur mit Mühe offenhalten. Sie versuchte zu protestieren, als er sie durch die Menschenmenge führte, aber sie brachte keinen Ton heraus.

Auf einmal standen sie im Freien. Sie sah den Bürgersteig unter sich und spürte seinen festen Griff um ihre Schultern. Ein Scheinwerfer blendete auf. Jasmina schloss die Augen. Ihr Kopf kippte an seine Schulter. Eine Autotür wurde aufgestoßen, jemand lachte. Sie wurde auf die Rückbank gehoben. Der Motor sprang an, und das Auto fuhr los. Thomas’ Gesicht war plötzlich über ihrem. Jasmina wollte etwas sagen, aber sie brachte nur Wortfetzen zustande. Wieder Gelächter. Sie versuchte den Kopf zu drehen, aber auch das gelang ihr nicht.

Wie viele waren das? Wohin fuhren sie? Eine Hand schob sich unter ihren Pullover, glitt über ihren Bauch und begrapschte ihre Brust. Eine andere tastete sich zwischen ihre Beine vor, der Wagen beschleunigte, die Straßenlaternen verschwanden und Jasmina wurde ohnmächtig.

Fünf Emelie Rydén sah sich in der leeren Dreizimmerwohnung im Åkerbyvägen in Täby um.

Obwohl sie es nie offen zugeben würde, war es manchmal auch schön, dass sie sich nicht immer um Nova kümmern musste. Eigentlich hätten sie und Ilan das Wochenende zusammen verbringen wollen, deswegen hatte sie ihre Eltern gebeten, Nova zu nehmen.

Aber Ilan hatte beruflich nach Malmö fahren müssen.

Er hatte versprochen, sie nach dem Abendessen mit seinen Chefs, die er in Malmö treffen sollte, vom Hotelzimmer aus anzurufen. Nun war es halb elf, und er hatte sich noch immer nicht gemeldet.

Emelie schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle.

Einen Moment lang dachte sie, dass Karim irgendwie von ihrer Beziehung erfahren hatte und nach Malmö gefahren war, um Ilan was anzutun.

Drei Wochen waren verstrichen, seit sie Karim zum letzten Mal im Gefängnis besucht hatte. Er könnte Freigang haben, ohne dass sie davon wusste. Da er in zwei Monaten seine Haftstrafe abgesessen haben würde, wäre er in dem Fall außerdem auch ohne Aufsicht.

Emelie hatte Ilan vor vier Monaten kennengelernt, als sie eine Lieferung mit mehreren großen Kartons mit Hautpflegeprodukten für ihren Salon erhalten hatte. Der Paketbote hatte nur mit dem Kopf geschüttelt, als sie gebeten hatte, sie ihr in den Laden zu tragen.

Ilan war vorbeigegangen, hatte Emelie und die großen Kartons gesehen und gefragt, ob sie Hilfe brauche.

Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, die Kartons hineingetragen und war verschwunden. Am Tag darauf war Ilan zurückgekommen, und Emelie hatte zu ihrer großen Verwunderung festgestellt, dass sie sich freute, ihn wiederzusehen, und ihn auf einen Kaffee hineingebeten.

Eine Woche nach ihrer ersten Begegnung hatten sie miteinander geschlafen.

Das Telefon klingelte, und Ilans Gesicht erschien auf dem Display.

»Entschuldige, dass es so lange gedauert hat«, begann er. »Die wollten einfach nicht aufhören mit der Sauferei.«

»Bist du betrunken?«, fragte sie und trank einen Schluck Tee.

»Nein, überhaupt nicht. Ich habe fast nichts mitgetrunken.«

Emelie stellte ihren Becher auf den Sofatisch und legte sich lang, den Kopf auf die Armlehne gestützt.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Ilan. »Ich habe mich wirklich sehr auf unser Wochenende gefreut.«

»Schon in Ordnung. Wir holen das nächste Woche einfach nach.«

»Ich muss dir noch was sagen«, entgegnete Ilan.

Emelie hörte ein Geräusch vor dem Fenster und sah auf. Wahrscheinlich peitschte der Sturm nur einen Zweig gegen die Fensterscheibe.

»Ich habe dich angelogen. Der Grund, warum ich hierhergefahren bin, ist, dass sie mir einen Job angeboten haben. Hier in Malmö.«

Einerseits war sie erleichtert, andererseits besorgt. Er würde den Job annehmen und sie verlassen. Und sie konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, schließlich hatten sie sich vor Kurzem erst kennengelernt. Natürlich hatte er keine Lust, ein Kind an der Backe zu haben, das nicht sein eigenes war. Und auch wenn sie ihm nicht alles über Karim erzählt hatte, ging sie davon aus, dass Ilan das meiste ahnte.

»Ich verstehe.«

»Ich weiß, das alles ist noch ganz neu, aber ich bin total verknallt in dich und Nova. Vielleicht bin ich verrückt, aber ich wollte dich fragen, ob ihr mitkommen wollt.«

Emelie lachte überrascht auf.

»Ist das dein Ernst?«

»Ja.«

Emelie schloss die Augen.

»Ja, klar wollen wir!«

Sie sah seinen schlanken, geschmeidigen Körper vor sich. Die lieben, dunklen Augen. Sie wünschte, er wäre hier. Bei ihr. Wenn sie nach Malmö ziehen würden, dann würde sie ihn nicht mehr vermissen. Eine Bewegung draußen am Fenster ließ Emelie zusammenzucken. Ilan sprach weiter, aber Emelie hörte ihm nicht mehr zu. Sie stand langsam auf, das Telefon ans Ohr gepresst, und spähte in die Dunkelheit.

Sie trat an die Scheibe, drückte die Stirn gegen das kalte Glas und blickte nach links und rechts. Nichts. Nur der dunkle, verlassene Innenhof, in dem Nova so gerne mit den Nachbarskindern spielte.

»Was hast du gesagt?«

»Dass ich mich freue«, erwiderte Ilan. »Heute bin ich an einem Ladenlokal vorbeigekommen, das perfekt als Kosmetiksalon passen würde. Aber das hat überhaupt keine Eile. Ich bekomme eine saftige Gehaltserhöhung, also fühl dich nicht gedrängt, dass du sofort wieder in deinen Beruf zurückmusst.«

Emelie ging durchs Wohnzimmer, trat in die Diele und prüfte, ob die Wohnungstür abgeschlossen war.

»Ich dachte, du würdest mir erzählen, dass du mit einer anderen geschlafen hast.«

Ilan lachte. Laut. Gelöst.

Emelie lugte durch den Türspion ins Treppenhaus. Leer. Sie entspannte sich. Wenn Karim Freigang hatte und hier auftauchte, würde sie die Polizei rufen. Aber sie wollte nicht, dass Ilan mitbekam, was los war. Sie hatte ihm von Karim erzählt, auf die Einzelheiten war sie allerdings nicht eingegangen. Sie hatte gesagt, er wohne im Ausland.

Emelie legte sich wieder aufs Sofa, aber sie konnte nicht abschalten und sich auf das konzentrieren, was Ilan erzählte. Sie verabscheute es, im Erdgeschoss zu wohnen.

Während sie sich verabschiedeten, hörte sie, wie die Haustür aufging, und sie beeilte sich, das Telefongespräch zu beenden. Sie wollte nicht, dass Ilan Fragen stellte, falls es an ihrer Tür klopfte.

Emelie stand wieder auf und horchte auf Schritte im Treppenhaus.

Sie schloss die Augen, hoffte, dass die Person da draußen an ihrer Tür vorbeigehen und der Aufzug losfahren würde. Als sie glaubte, das gewohnte Brummen des Fahrstuhls zu hören, klingelte es an ihrer Tür.

Sechs Eine kräftige Ohrfeige brachte Jasmina wieder zu sich. Sie lag auf einem Bett in einem dunklen Zimmer. Ihr dröhnte der Kopf, ihr war übel. Ein zweiter Schlag traf ihre Wange. Wo war sie?

»Zeit zum Aufwachen.«

Sie erinnerte sich an die Bar, an Thomas. Jasmina hielt den Hosenbund fest. Doch ihre Hände waren kraftlos, der Stoff glitt zwischen ihren Fingern hindurch. Die Hose rutschte nach unten. Er stellte sich über sie und zerriss ihren Slip.

»Nein«, krächzte sie.

Sie hörte Stimmen. Sie blinzelte, um zu sehen, was oder wer sich um sie herum befand. Aber alles war verschwommen. Rechts stand ein Schrank mit Spiegelglas, in dem sie Bewegungen ausmachen konnte. Es waren mehrere Personen im Raum.

Sie rissen ihr den Pullover vom Leib, dann den BH.

»Aufhören, bitte!«, flehte Jasmina.

Sie geriet in Panik, trat um sich und warf sich hin und her.

Ein Fausthieb traf sie in die Magengrube. Sie röchelte und schnappte nach Luft.

»Wenn du schreist, müssen wir das Messer nehmen, und das willst du bestimmt nicht«, sagte Thomas. Seine Hand streifte ihre Wange. »Es wäre schade um das schöne Gesicht.«

Sein Atem war sauer und feucht.

»Sie ist gar nicht so schüchtern, wie sie tut, schau an«, sagte Thomas, nahm ihr Brustpiercing zwischen zwei Finger und zog daran. »Du bist ja eine richtige kleine Hure, du.«

»Bitte, lassen Sie mich gehen«, flüsterte sie und blinzelte.

»Kleinen Huren wie dir gefällt das hier, auch wenn ihr das nicht zugebt.«

Er tätschelte ihre Wange und öffnete dann seinen Gürtel. Starke Arme drehten Jasmin auf den Bauch und hielten sie fest. Jemand drückte ihr Gesicht in die Matratze. Sie bekam kaum noch Luft. Sie versuchte, sich unter den Griffen herauszuwinden. Ihre Schreie wurden von der Bettdecke erstickt.

Thomas stöhnte auf, als er in sie eindrang. Es tat fürchterlich weh. Sie fühlte sich machtlos. Klein. Seine Bewegungen wurden heftiger, schmerzten immer stärker. Jasmina schrie in die Matratze.

»Mann, das wurde echt Zeit. Eine richtig enge Fotze hat sie. Vielleicht ist sie jünger, als wir dachten?«

»Oder es hat ihr noch keiner richtig besorgt. Guck, es gefällt ihr.«

Die anderen lachten.

Sie wechselten sich ab, drehten sie auf den Rücken, drückten ihre Beine auseinander, als sie sich verkrampfte.

Sie konnte die Umrisse ihrer nackten Körper im Spiegel erkennen. Und sah weg. Zwang sich, an die Decke zu blicken. Ihr Körper war wie gelähmt, sie brauchten sie nicht länger festzuhalten. Es gab keinen Ausweg. Sie wurde immer wieder bewusstlos, bis einer von ihnen das Piercing abriss. Sie schrie auf. Eine breite Hand legte sich auf ihren Mund.

»Halt’s Maul.«

Sie konnte kaum noch atmen, röchelte. Wedelte panisch mit den Armen. Nahm ein verschwitztes, unscharfes Gesicht wahr.

»Mach die Beine breit.«

Sie stöhnten weiter, feuerten sich gegenseitig an, erniedrigten sie.

Irgendwann ließen sie von ihr ab. Standen auf und verschwanden. Eine Weile herrschte Stille. Jasmina regte sich nicht, führte nur ihre Hand zu ihrem Schoß, sah sich ihre Finger an. Sie blutete.

Gedämpfte, heisere Stimmen und Zigarettenrauch drangen unter dem Türspalt herein. Jasmina drehte sich auf die Seite und suchte nach ihrer Brille. Konnte sie nicht finden. Sie fror so sehr, dass sie schlotterte. Sie griff sich an ihre Brust. An ihren Fingern klebte Blut.

Als sie Schritte hörte, zog sie die Knie an, drehte sich zur Wand und schloss die Augen. Sie konnte nicht mehr. Nicht noch mal.

»Du musst verschwinden.«

Thomas setzte sich auf die Bettkante und drehte sie um. Beugte sich über sie.

»Wenn du das irgendwem erzählst, dann bringen wir dich um, Jasmina Kovac.«

Er packte ihre Haare, drehte ihr Gesicht zu sich, hielt ihr ihren Führerschein unter die Nase und las ihre Personennummer vor.

Sie begann zu weinen.

»Hast du gehört, du kleines Luder? Wir finden dich, und dann sind wir nicht mehr so nett zu dir.«

Er schmiss ihre Kleider aufs Bett. Jasmina zog sich die Hose an. Ihr Unterleib brannte und pochte. Im Augenwinkel konnte sie Thomas’ unrasiertes Gesicht sehen. Er zerrte sie auf die Füße und schubste sie vor sich her. Jasmina stolperte ins Wohnzimmer. Sie schwankte, jeder Schritt schmerzte.

»Es scheint, du hast Spaß gehabt«, sagte eine Stimme.

Sie führten sie ins Treppenhaus, die Stufen hinunter, und stießen sie auf die Rückbank.

Das Auto fuhr an. Die Männer wirkten erschöpft, sagten nur wenig. Die Sonne ging auf. Jasmina versuchte die Schilder zu lesen, um zu erfahren, wo sie sich befand.

»Hier ist doch gut«, sagte einer von ihnen zum Fahrer.

Sie fuhren an den Straßenrand, die Autotür wurde aufgerissen. Jemand hupte.

»Und vergiss nicht, was ich gesagt habe, Jasmina Kovac, wir finden dich und bringen dich um.«

Sie setzte ihre Füße auf die Erde.

»Raus jetzt, verdammt.«

Sie bekam einen Stoß, wäre beinahe gestürzt, aber konnte sich noch fangen.

Sieben Vanessa hob die Dagens Nyheter vom Teppich in der Diele auf. Gedruckte Zeitungen waren altmodisch und schädlich für das ohnehin schon arg gebeutelte Klima, aber die Erde würde sowieso untergehen. Und während sie das tat, konnte Vanessa sich mit den jüngsten Skandalen der Politik die Zeit vertreiben, dem Brexit und den Tweets des amerikanischen Präsidenten. Die Welt wurde ein immer merkwürdigerer Ort, und sie fühlte sich immer weniger zu Hause darin. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit starben mehr Menschen, weil sie zu viel aßen anstatt zu wenig. Die Leute starben eher an Altersschwäche als an Infektionskrankheiten. Und vor allem: Mehr Menschen verübten Selbstmord, als im Krieg, durch Gewaltverbrechen oder Terrorismus zu Tode kamen. Trotzdem hatten die Leute mehr Angst als je zuvor.

Sie legte die Zeitung auf die Kücheninsel, stellte die Kaffeemaschine an und erwischte sich dabei, dass sie Svante vermisste. Im Hintergrund tönte der Fernseher.

»In Frihamnen sind drei Männer tot aufgefunden worden. Laut den Angaben, die TV4 vorliegen, starben sie durch Kopfschüsse. Die drei Männer waren polizeilich bekannt.«

Vanessa stellte den Ton lauter.

Noch eine Abrechnung einer Gang.

Stockholm quoll über vor Schusswaffen und jungen Männern, die bereit waren, davon Gebrauch zu machen, um Anteile am Kokainmarkt an sich zu reißen oder um für ihnen widerfahrenes Unrecht Rache zu üben. Ein Maschinengewehr vom Typ Kalaschnikow wurde auf Stockholms Straßen für fünfundzwanzigtausend Kronen gehandelt. Eine Pistole kostete zehntausend. Eine Handgranate rund eintausend, vorausgesetzt, es gab keinen größeren Konflikt, dann erhöhten die Händler den Preis auf zweitausendfünfhundert.

Bei der Hinrichtung in Frihamnen ging es vermutlich um Drogengeschäfte, aber wer wusste das schon – Kriminelle waren sogar schneller gekränkt als Donald Trump, dessen zornige, kleine Augen sie von der ersten Seite der Dagens Nyheter aus anstarrten.

Nachdem sie die Sondereinheit Fahndungsgruppe 5 und 6 verlassen hatte, die vor der Umstrukturierung von allen Beamten Novagruppe genannt wurde, kam Vanessa zumindest darum herum, sich mit den komplizierten Gangstrukturen zu befassen, innerhalb derer weder Zeugen noch Beteiligte mit der Polizei sprechen wollten. Vergangene Woche hatte sie in Kalmar verbracht, wo eine Privatparty in einer Wohnung aus dem Ruder gelaufen und einer der Gäste mit einer Schere erstochen worden war.

Vanessa schenkte sich Kaffee ein und wollte zum Sofa zurückkehren, als ihr Diensthandy klingelte.

»Guten Morgen«, grüßte Mikael Kask, ihr Chef vom Morddezernat, munter. »Wie sieht’s aus?«

»Ich frühstücke gerade.«

»Was gibt es denn?«

»Kaffee mit E-Zigarette. The breakfast of champions.«

»Klingt gesund.«

Vermutlich hatte Mikael eine Fortbildung für Führungskräfte gemacht, bei der er gelernt hatte, dass es wichtig war, Mitarbeitern gegenüber einen kameradschaftlichen Ton anzuschlagen.

Im Fernsehen war der Beitrag über den dreifachen Mord zu Ende, und eine Talkrunde mit Vätern, die über Kindergeburtstage diskutierten, begann.

Mikael Kask räusperte sich. Schluss mit dem Geplänkel.

»Ich weiß, dass du heute frei hast, aber die vom KDD haben sich gemeldet. Die Kollegen brauchen Hilfe.«

»Der dreifache Mord in Frihamnen?«

»Nein, aber der frisst gerade ihre gesamten Ressourcen. In Täby wurde heute Morgen eine junge Frau tot aufgefunden. Es ist aber kein Ermittler mehr frei. Kannst du hinfahren? Die Techniker sind bereits vor Ort.«

Obwohl es eigentlich nicht so sein sollte, ging es Vanessa stärker an die Nieren, wenn Frauen Opfer von Gewalt wurden, als wenn sich Gangmitglieder abknallten. Möglicherweise lag das daran, dass sie in jungen Jahren ihre Tochter Adeline verloren hatte. Vielleicht war es gar nicht der Tod der Frauen, der ihr naheging, sondern der Verlust für die Eltern. Vanessa wusste, welches Leben ihr Schicksal war.

»Klar.«

Mikael nannte ihr die Adresse, Vanessa sprang unter die Dusche, schlüpfte in Anzughose und Hemdbluse. Sie hielt vor dem Spiegel inne. Danach gab sie den Code in ihren Waffenschrank ein und schob ihre SIG Sauer in den Holster.

Nachdem sie mit der Nova vor ein paar Jahren das Södertälje-Netzwerk gesprengt hatte, durfte Vanessa ihre Waffe auch zu Hause verwahren. In den letzten Jahren hatten die Drohungen gegen Polizeibeamte zugenommen. Aber der eigentliche Grund, weshalb Vanessa ihre Dienstwaffe zu Hause aufbewahrte, entzog sich der Kenntnis ihres Arbeitgebers.

Vor etwa einem Jahr war sie an Ermittlungen gegen eine kriminelle Organisation namens Die Legion beteiligt gewesen. Bei dem Zugriff auf ein Safe House nördlich von Stockholm hatten Vanessa und Nicolas Paredes, ein ehemaliger Elitesoldat, vier Mitglieder der Organisation erschossen. Die Legion hatte nicht nur ganz Stockholm mit erstklassigem Kokain in großem Stil versorgt, sondern auch minderjährige Flüchtlinge gekidnappt und nach Südamerika verschifft.

Eine Beamtin sowie die Zeugin, die sich im Haus aufgehalten hatte, waren bereits tot, noch bevor Nicolas und Vanessa am Ort eintrafen.

Die Luft war kalt und trocken, als Vanessa auf die Odengatan hinaustrat. Eine bleiche Sonne schob sich langsam über die hohen Häuser. Passanten umrundeten Wasserpfützen, um die Espressobars und veganen Cafés zu erreichen. Vor der Parkgarage ging ein muskulöser Mann entlang, grünblaue Tätowierungen ragten aus seinem Jackenkragen heraus, sein Schädel war kahlrasiert. Er hatte eine weißhaarige Frau untergehakt. Sie wirkte winzig neben ihm, lehnte sich regelrecht an ihn. Seine Mutter? Er ging langsam und vorsichtig, damit sie mitkam. Vanessa dachte, dass vor vierzig Jahren er es gewesen war, der sich an ihr festgeklammert hatte.

Als sie unten in der Tiefgarage angelangt war, ging auf ihrem Handy eine Nachricht ein.

Der Name der Ermordeten lautete Emelie Rydén.

Acht Nicolas Paredes, dreißig Jahre alt, wartete, bis der Wasserkocher sich abschaltete, dann erhob er sich vom Sofa, nahm sich einen Becher, gab einen Löffel Nescafé hinein und goss ihn mit heißem Wasser auf. Er öffnete die Balkontür, hielt sich die Hand gegen die Sonne schützend vor die Augen.

Auf dem Balkon nebenan saß ein Mädchen mit langen grünen Haaren auf dem Geländer und ließ die Beine hoch über dem Boden baumeln.

»Hej, Nicolas«, sagte sie fröhlich, ohne ihn anzusehen.

Er wandte sich wortlos zu ihr um.

»Willst du einen Joint?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Wie alt bist du, Celine?«

»Zwölf.«

»Oh Gott.«

»Oder Rührei?«, fuhr sie unbekümmert fort.

Nicolas bedachte sie mit einem matten Blick und bemerkte, dass sie ein frisches Veilchen über dem Auge hatte. Vermutlich das Werk ihres Vaters. Oder eines Klassenkameraden. Nicolas sollte sich ihren Vater mal vorknöpfen, oder zumindest das Jugendamt informieren, aber er durfte nicht in irgendwelche Sachen verwickelt werden, wodurch die Behörden auf ihn aufmerksam werden könnten.

»Machst du nie etwas anderes als Rührei?«

»Ich kann auch Eier kochen, wenn dir das lieber ist.«

»Koch, was du willst, aber sitz nicht so da – du weißt, dass mich das nervös macht. Wenn ich dein Rührei esse, versprichst du mir dann, nicht zu kiffen?«

Celine nickte, schwang sich flink vom Geländer und verschwand in der Wohnung. In seiner eigenen Wohnung hörte Nicolas, wie der Briefkastenschlitz geöffnet wurde und etwas auf dem Parkett landete. Er ging in die Diele, bückte sich und hob ein braunes Kuvert vom Boden auf. Sein Name und seine Adresse waren mit kindlicher Schrift geschrieben. Nicolas nahm den Brief mit auf den Balkon – und Celine kehrte mit einer Bratpfanne zurück. Er fischte den Löffel aus seinem Kaffeebecher und nahm einen prüfenden Bissen. Celine sah ihn erwartungsvoll an. Wie immer, viel zu viel Salz.

»Gut.«

Nicolas aß gierig, er hatte noch kein Frühstück gehabt.

»Danke«, antwortete sie.

Er wischte sich den Mund ab und reichte die Pfanne wieder zurück.

Celine stellte sie neben sich ab. Sie beugte sich vor, die Arme auf das Geländer gestützt, und setzte eine unglückliche Miene auf.

»Ich weiß, dass keiner von uns einen besonders guten Tag vor sich hat. Willst du hören, was in unserem Horoskop steht?«

Ohne die Antwort abzuwarten, nahm sie die Zeitung zur Hand, die am Boden gelegen hatte, und las laut. Nicolas machte das Kuvert auf.

Die Mitteilung war knapp und mitten auf eine Din-A4-Seite notiert worden.

Muss mit dir reden/Ivan

»Scheint wirklich ein richtiger Scheißtag zu werden«, sagte Nicolas und knüllte das Blatt zu einem Ball zusammen.

»Hab ich doch gesagt.«

Neun Die Wohngebäude waren drei Stockwerke hoch, und zwischen ihnen lagen Rasenflächen und Spielplätze. Vanessa grüßte den uniformierten Beamten, der an der Absperrung postiert war, zeigte ihren Ausweis und hob das blauweiße Band an.

Die Haustür stand offen.

»Hallo?«

Während sie darauf wartete, dass sie eintreten durfte, studierte sie das Türschloss. Keine Anzeichen von Einbruch. Andererseits befand sich die Wohnung im Erdgeschoss – man brauchte also kaum beim Zirkus zu arbeiten, um sich durch ein offenes Fenster Zutritt zu verschaffen. In diesem Moment streckte eine Kriminaltechnikerin im weißen Einwegoverall den Kopf aus einem solchen heraus.

Vanessa schlüpfte ebenfalls in einen Overall, nahm die Schuhüberzieher und Handschuhe entgegen, die die Frau ihr reichte, dann setzte sie ihre Schritte dorthin, wo die Kollegin hindeutete. Im Wohnzimmer war ein weiterer Kriminaltechniker mit einer Kamera in der Hand dabei, die Leiche zu filmen.

Emelie Rydén lag auf dem Rücken, in einer Blutlache auf dem Parkettboden. Hals und Oberkörper waren von Messerstichen übersät. Ihre Augen waren leer, der Mund stand weit offen, was ihr einen überraschten Gesichtsausdruck verlieh. Vanessa ging um die Tote herum und wandte sich an die Technikerin, die sie in die Wohnung gelotst hatte. Über dem Mundschutz konnte Vanessa ein dunkles Augenpaar und hellbraune Haut ausmachen.

»Was haben wir?«

Die Frau wies mit dem Daumen Richtung Küche. An der Spüle angekommen, zog sie sich die Kapuze vom Kopf. Darunter kam ein Haarnetz zum Vorschein, das das dichte und vermutlich lange Haar bedeckte.

Sie war in den Dreißigern, Vanessa vermutete, dass sie indische Wurzeln hatte.

»Ihre Mutter hat sie heute Morgen gefunden, als sie hier war, um ihre Enkelin zurückzubringen, um die sie sich über das Wochenende gekümmert hat«, erklärte die Frau, die mit norwegischem Akzent sprach. »Über zwanzig Messerstiche in Brustkorb und Hals. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Hat als Kosmetikerin gearbeitet in ihrem Salon, irgendwo hier in der Nähe im Souterrain.«

»Haben die Nachbarn was gehört?«

Die Frau zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Ihre Kollegen klingeln gerade in der Nachbarschaft.«

Vanessa mochte sie. Sie war präzise, drückte sich kurz und knapp aus und verzichtete auf unnötige Details.

»Und ihr Mobiltelefon?«

»Passwortgeschützt. Der IT-Techniker hat es gerade sichergestellt, um es an die Kriminaltechnik zu schicken.«

»Wie lange brauchen Sie denn hier noch?«

»Wenn es sonst nichts mehr gibt, sind wir gleich fertig.«

Vanessa hörte Motorengeräusch und drehte sich um.

Vor dem Fenster hielt ein Leichenwagen. Während zwei Männer die Leiche, die noch wenige Stunden zuvor ein lebendiger Mensch mit Träumen, Kindheitserinnerungen und Gefühlen gewesen war, routiniert verluden, ging Vanessa ins Schlafzimmer.

Das gemachte Doppelbett stand mitten im Zimmer. Sie öffnete den Kleiderschrank. Die Kleider waren ordentlich zusammengefaltet oder hingen auf Bügeln. Sie drehte sich um und trat vor eine Kommode, auf der drei gerahmte Fotografien standen.

Von vier Freundinnen flankiert, machte eine halbwüchsige Emelie Rydén die Hörnergeste und streckte der Kamera die Zunge raus. Ihre Haare waren platinblond, ihre Augen stark geschminkt, und die Zähne des Oberkiefers schmückten silberne Brackets. Außerdem trug sie ein T-Shirt mit dem Schriftzug Tokio Hotel.

Vanessa fiel es schwer, Fotos von verstorbenen Menschen zu betrachten. Eines Tages, wenn ich selbst tot bin, dachte sie, wird sich irgendjemand auch meine Fotos ansehen.

Sie stellte das Bild zurück und ging in das zweite Schlafzimmer.

Ein Gitterbett stand am Fenster, durchsichtige Plastikboxen mit Spielsachen waren aufeinandergestapelt. Vanessa fiel auf, dass die Luft nach Scheuermittel roch. Auf dem Fensterbett standen zwei Fotos in Rahmen mit Disneymotiven. Auf dem einen, es war am Strand aufgenommen worden, hielt Emelie Rydén ihre Tochter hoch in die Luft. Hinter Mutter und Tochter ging die Sonne unter, und das kleine Mädchen jubelte vor Freude.

Vanessa warf einen Blick auf die zweite Fotografie. Es war schwarz-weiß und in einem Kreißsaal aufgenommen worden. Ein muskulöser Mann mit kahlrasiertem Schädel hielt ein neugeborenes Baby im Arm, das in eine Decke gewickelt war. Er betrachtete das Kind mit liebevollem Ernst. Die aufgepumpten Armmuskeln waren mit Tätowierungen übersät.

»Das kann nicht wahr sein«, murmelte sie.

Hinter sich hörte sie ein Räuspern, und Vanessa fuhr herum, die Fotografie in der Hand. Im Türrahmen stand ein Mann in den Vierzigern, er hatte kurze rote Haare und trug ein grünes Langarmshirt, unter dem sich ein Bauch wölbte.

»Vanessa Frank?«

Sie schüttelten sich die behandschuhten Hände.

»Ove Dahlberg, KDD.«

Vanessa hielt dem Kollegen das gerahmte Bild hin.

»Wissen Sie, wer das hier ist?«

Er starrte das Bild an, dann schüttelte er den Kopf.

»Keinen Schimmer, aber wenn ich mir ein Vorurteil erlauben darf, dann sieht er nicht gerade wie der Bibelverkäufer meines Vertrauens aus.«

»Karim Laimani. Er gehört zum Sätra-Netzwerk. Verurteilt wegen schwerer Körperverletzung, Drogendelikten, unerlaubten Waffenbesitzes und häuslicher Gewalt gegen Frauen. Er ist der Vater des Kindes.«

»Und wo ist er jetzt?«

»In der JVA Åkersberga, wenn mich nicht alles täuscht.«

Zehn Jasmina stolperte zum Nachttisch und suchte nach ihrer Ersatzbrille, die sie in der obersten Schublade aufbewahrte. Ihre Hände zitterten. Ihr Körper zuckte, als hätte sie Krämpfe.

Vor ihrem inneren Auge spielten sich die Szenen der letzten Stunden immer wieder ab. Die Schläge, die Schmerzen. Das Gelächter der Männer, der Gestank von Alkohol. Der Film spulte zurück. Fing wieder von vorne an. Jasmina legte sich auf dem Bett auf die Seite und hielt sich die Ohren zu. Biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten. Sie hyperventilierte. Kniff die Augen zusammen. Wollte den Film stoppen, die unscharfen Gestalten verscheuchen.

Die Laute, die sie hervorbrachte, waren keine menschlichen, sie klangen, als stammten sie von einem verletzten, gestressten Tier.

Sie drückte sich das Kissen aufs Gesicht und schrie aus vollem Hals. Sie schrie, wie sie nie zuvor geschrien hatte, mit ihrem ganzen Körper.

Als Jasmina sich aufrichtete und ihre Füße langsam auf den Boden setzte, wusste sie nicht, wie lange sie auf dem Bett gelegen hatte. Ob sie wach gewesen war oder geschlafen hatte. Ihre Brille saß schief, sie rückte sie zurecht. Sie griff über das Foto ihres Vaters und drehte den Wecker in ihre Richtung. Die roten Digitalziffern zeigten 13:47. Sie stand auf, fand ihr Mobiltelefon, das auf der Spüle in der Miniküche lag und stellte fest, dass sie neunzehn Anrufe in Abwesenheit hatte. Sie stammten ausnahmslos von der Kvällspressen. Ein Anruf war von Hans Hoffman, die anderen waren vom Bullen.

Sie hatte das Meeting versäumt, und ihr Artikel war nicht fertig.

Jasmina lehnte sich an den Herd, legte eine Hand vor den Mund und dachte nach.

Wie viele Reportagen und Artikel hatte sie über vergewaltigte Frauen geschrieben? Auf ihrem Diktaphon waren unzählige Zitate der Polizei gespeichert, die immer dasselbe sagten: Anzeigen!

Jasmina war überzeugt gewesen, dass, wenn sie jemals vergewaltigt werden würde, sie nicht zögern würde, den Mund aufzumachen. Für sich einstehen würde. Aber wenn sie zur Polizei ging, dann käme alles raus. Jeder Kollege würde davon erfahren. Und sie wäre für alle Zeiten »die Journalistin, die vergewaltigt worden ist«. Und vor allem würde ihre Mutter davon erfahren. Ihre kleine Mama. Das durfte sie ihr auf keinen Fall zumuten. Alles, aber das nicht.

Außerdem hatte sie keine Kraft, mit jemandem zu reden, sie konnte keine Fragen beantworten, nichts schildern, sich nicht erinnern. Jedenfalls nicht jetzt.

Jasmina machte den Schrank auf und nahm eine Plastiktüte heraus. Zog sich die Kleider und die Unterwäsche aus und stopfte alles in die Tüte. Langsam ging sie ins Bad, stellte sich breitbeinig auf die kalten Fliesen und führte einen Wattebausch ein. Bewegte ihn hin und her. Nahm einen zweiten und wiederholte die Bewegung. Dann legte sie die Watte in eine Brotdose, umwickelte sie mit Klarsichtfolie und legte sie in ihren leeren Kühlschrank.

Das Telefon klingelte. Sie griff danach in der Annahme, der Anrufer sei der Bulle oder jemand anders von der Zeitung – aber es war ihre Mutter.

»Hej, Liebes. Ich will nicht stören, aber ich bin so neugierig. Wie ist es denn gelaufen mit deinem Text?«

Jasmina schloss die Augen.

»Hallo?«

Sie ballte die Faust, zwang sich, zu antworten, normal zu wirken.

»Aus dem Artikel wird nichts«, sagte sie kleinlaut.

Es entstand verwirrtes Schweigen. Jasmina starrte ins Leere.

»Was ist denn passiert?«, fragte ihre Mutter.