Mörderische Witwen - Pascal Engman - E-Book
SONDERANGEBOT

Mörderische Witwen E-Book

Pascal Engman

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Terror in Stockholm. Der Justizminister wurde vom IS ermordet. Doch Vanessa Frank ist sich sicher: Das war erst der Anfang. Denn vor kurzem wurden ihre syrische Ziehtochter Natasja und ein Polizist tot aufgefunden. Der Verdacht bestätigt sich: Natasja war eine Witwe des IS. Kann Vanessa das Schlimmste verhindern? In einem Stockholmer Park werden die Leichen eines Polizisten und einer syrischen Frau entdeckt. Die Ermittlungen der Polizei konzentrieren sich zunächst auf den Mord an ihrem Kollegen, die Frau wird als Kollateralschaden abgetan. Doch als Vanessa Frank hinzugezogen wird, gewinnt der Fall neue Brisanz, denn die Tote war ihre Ziehtochter Natasja. Was wusste sie wirklich über die junge Frau? Vanessa versucht Licht ins Dunkel zu bringen und gerät mitten in die Vorbereitungen eines Terroranschlags. War Natasja daran beteiligt? Zusammen mit Nicolas Paredes macht sich Vanessa auf die Suche nach der Schläferzelle. Doch sie müssen vorsichtig sein, denn geeint in ihrem Hass und ihrem Verlangen nach Rache lassen die Witwen des IS nichts zwischen sich und ihr Ziel kommen. Ein Rennen gegen die Zeit beginnt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 554

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Pascal Engman

Mörderische Witwen

Ein Fall für Vanessa Frank

Aus dem Schwedischen vonNike Karen Müller

Tropen

Impressum

Das vorangestellte Zitat entstammt der Übersetzung von Hanns Grössel und erschien zuerst in folgender Ausgabe: Tomas Tranströmer, Sämtliche Gedichte, herausgegeben von Michael Krüger, Carl Hanser Verlag, München 1997, S. 195.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Änkorna« im Verlag Bookmark, Schweden

© 2020 by Pascal Engman

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Gestaltung: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Abbildung von © FinePic®, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50515-3

E-Book ISBN 978-3-608-11862-9

Für Linnea. Ich liebe dich.

böse Idealisten sind es, und was sie auf dem Hinterhof der Greuel getan haben, kann ich nicht beschreiben, kann nicht Blut in Tinte verwandeln.

Aus dem Gedicht »Carillon« von Tomas Tranströmer

Die Presseagentur AP berichtet unter Berufung auf Quellen aus militärischen Abschirmdiensten in Europa und dem Irak, dass mindestens 400 IS-Terroristen ausgebildet worden seien, um Anschläge in Europa zu verüben. Diese seien in mehreren Zellen organisiert, mit dem Ziel, eine ganze Reihe von blutigen Attentaten zu begehen.

Laut eines hochrangigen Offiziers des irakischen Geheimdiensts habe sich die Zelle, die sich zu den Terroranschlägen von Paris bekennt, nach Deutschland, Großbritannien, Italien, Dänemark und Schweden verzweigt.

Der Islamische Staat verfügt nach eigenen Angaben über Trainingslager in Syrien, im Irak und in ehemaligen Sowjetstaaten, in denen die Dschihadisten ein Spezialtraining absolvieren.

Wie eine nachrichtendienstliche Quelle berichtet, würden die Männer in Kampftechniken und Überwachung ausgebildet sowie im Umgang mit Sprengstoffen. In der Vergangenheit seien die Attentäter lediglich einem mehrwöchigen Spezialtraining unterzogen worden. »Nun hat man die Strategie geändert und Spezialeinheiten geschaffen. Die Ausbildung dauert bedeutend länger«, so der Informant.

Radio Sverige beruft sich auf Angaben des investigativen Nachrichtenformats »Panorama« der BBC, laut denen der IS über ein Netzwerk aus 1500 als Terroristen ausgebildeten Rekruten verfügt, die neue Anschläge in Europa planen könnten.

Presseagentur Omni, 23. März 2016

Vanessa biss sich so kraftvoll auf die Unterlippe, dass sie Blut schmeckte. Sie schloss die Augen und drückte gleichzeitig die drei Knöpfe. Hinter ihren Lidern begann es zu flimmern. Sie barg das Gesicht in der Achselhöhle und machte sich vor Verzweiflung so klein sie konnte.

Sie wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Vor ein paar Jahren hätte sie nichts dagegen gehabt, aber das war nun anders. Seit Celine in ihrem Leben eine Rolle spielte und ihr einen Grund gegeben hatte zu kämpfen. Um etwas Schönes. Wunderbares. Celine verließ sich auf sie, und sie brauchte sie.

Drei.

Tränen traten ihr in die Augen. Ihre Lippen bebten, ihre Halsmuskeln brannten, als sie den Rücken durchdrückte und sich zwang, aufrecht zu stehen. Sie wollte nicht in gebeugter Haltung sterben. Das wollte sie den Terroristen nicht gönnen. Niemand würde jemals erfahren, wie sie die letzten Sekunden ihres Lebens verbracht hatte, aber sie würde es wissen. Sie redete sich ein, dass das tatsächlich etwas bedeutete.

Zwei.

»Mörder, verfluchte«, flüsterte sie.

Sie sog Luft in ihre Lunge und begriff, dass dieser Atemzug ihr letzter sein konnte.

Eins.

Prolog Gelegentlich kam es vor, dass die zweiundzwanzigjährige Molly Berg in den Mittelmeerraum zu palastähnlichen Villen geflogen wurde, wo sie die meiste Zeit mit Warten verbrachte, um anschließend mit einem dicken Kuvert voller Scheine wieder nach Hause zurückzukehren, und alles, was sie dafür tun musste, war, Däumchen zu drehen. Immerhin konnte sie sich mit ihrem Mobiltelefon beschäftigen oder sie las Bücher. Diesmal hatte ihr ein Wachmann mit finsterer Miene das Telefon weggenommen, als sie an Bord der rund 45 Meter langen Luxusjacht Lucinda geklettert war. Das Buch, das sie zurzeit las, Der Mann mit der Ledertasche von Charles Bukowski, hatte sie zu Hause in ihrer Wohnung in Barcelona vergessen. Im Fernsehen liefen nur spanische Sender, und obwohl sie bereits seit einigen Jahren in Spanien wohnte, war ihr die Sprache fremd geblieben. Das Honorar war jedoch besser als sonst: fünftausend Euro, pro Tag.

Durch das Bullauge der luxuriösen Kajüte konnte Molly die mallorquinische Küste und den Hafen Puerto Portals sehen. In den Geschäften und Straßencafés herrschte reges Treiben, die Luxusjachten lagen am Kai vertäut. Touristen schlenderten an ihnen entlang und fotografierten sich davor. Für die größten Jachten wie die Lucinda war kein Platz im Hafen selbst, und so lagen sie direkt vor der Mole fächerförmig verteilt vor Anker.

Molly knurrte der Magen. Sie schaltete den Fernseher aus und warf die Fernbedienung auf das Doppelbett. Als sie in die Kajüte gebracht worden war, hatte man ihr aufgetragen zu warten, bis sie jemand holen würde.

Sie trat vor den Spiegel.

»A girl’s gotta eat«, sagte sie mit verstellter Stimme.

Dann todernst: »Hör auf mit den Selbstgesprächen.« Sie drückte mit Zeige- und Mittelfinger auf ihre Nasenwurzel. »Na gut, entschuldige, Molly«, sagte sie näselnd.

Dann steckte sie sich die dunklen Haare hoch und zog ein schwarzes T-Shirt über ihr Bikinioberteil.

Im Korridor war niemand zu sehen. Auf dem Weg nach achtern kam sie an vier geschlossenen Türen vorbei und erreichte eine Treppe. Ein Mann in weißer Kellner-Livree war auf dem Weg nach unten und blieb abrupt stehen.

»The kitchen?«, fragte sie mit einem Lächeln. Der Mann starrte sie wortlos an. Molly legte eine Hand auf ihren Bauch und machte eine kreisende Bewegung. »Food. I’m hungry.«

Der Mann bedeutete ihr zu folgen. Er zog eine Stoffserviette aus der Gesäßtasche und trocknete sich damit die Stirn, dann blieb er vor einer Tür aus Holz stehen und zeigte darauf.

Molly trat in ein kleines Restaurant. Direkt vor sich registrierte sie eine Glastür, die an Deck führte. Fünf runde Tische warteten auf Gäste, an den Wänden hingen nostalgische Schwarz-Weiß-Fotografien von Schiffen. Vor einem der Fenster standen silberne Platten mit frischem Obst und einem Kühler mit Eiswürfeln für Mineralwasserflaschen.

»Ich habe mir da eher einen Hamburger vorgestellt, elender Geizkragen«, murrte sie und bedachte das Obst mit einem strafenden Blick. Das hellblaue Meer draußen war verlockend.

Sie nahm sich ein Mangostück, schob es in den Mund und leckte sich die Finger ab, dann umrundete sie die Bar auf der Suche nach Snacks. Zog eine Schublade auf, in der San-Miguel-Flaschen lagen. Sie nahm zwei heraus, malte einen Smiley auf eine beschlagene Flasche und stellte beide auf die Bar. Beugte sich wieder vor, suchte weiter, stieß auf eine Tüte Chips und Cashewnüsse.

»Gott sei Dank«, murmelte sie.

Sie drückte die Schublade wieder zu und hörte, wie die Tür zum Deck aufging.

Sie schnappte sich eine Bierflasche und versteckte sich hinter dem Bartresen. Zwei Männer redeten leise miteinander. Als die Stimmen näher kamen, hörte sie, dass sie Arabisch sprachen.

»Sind die Märtyrer so weit?«

»Sie warten auf das Okay. Sie sind sehr demütig und haben lange gewartet …«

Seine Stimme war heiser, und Molly konnte den Rest nicht mehr verstehen. Sie rührte sich nicht, hielt den Atem an und bereute es, dass sie sich versteckt hatte.

»Und das Ziel?«

Einer der Männer machte eine Flasche auf. Er ließ die Verschlusskappe fallen und fluchte.

»Stockholm, die Hauptstadt.«

»Wann?«

Ein Teller schepperte, die Stimmen wurden leiser, und die Männer entfernten sich wieder Richtung Deck.

Molly atmete langsam aus und kam vorsichtig auf die Füße. Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe sie die Chips, das Bier und die Nüsse an sich nahm. Sie stellte sich neben der Tür an die Wand und spähte Richtung Deck. Die Männer waren nicht zu sehen. Eilig kehrte sie in die Kajüte zurück.

Mit zittriger Hand führte Molly ein paar Chips zum Mund und kaute mechanisch. Das Hungergefühl war weg. Sie war sicher, dass sie sich nicht verhört hatte. Die beiden Männer hatten von einem Terroranschlag auf Stockholm gesprochen.

Im Laufe der Jahre war sie zwangsläufig einigen Dreckschweinen begegnet, Männern mit Macht und Geld, die die Frauen, für deren Gesellschaft sie bezahlten, schlimmer als Vieh behandelten. Männer, die es genossen, sie zu demütigen und grob zu sein. Sie hatte jedoch noch nie um ihr Leben gefürchtet. Nicht ernsthaft. Dieses Mal war es anders, sie spürte die Angst mit jeder Faser ihres Körpers.

Niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Ihr Vater glaubte, sie würde in einer Modeboutique in Barcelona arbeiten. Er hatte nicht einmal ihre Adresse. Und Marc, der Mann, der ihre Einsätze koordinierte, würde keinen Finger rühren, wenn sie verschwand.

Doch auch wenn sie entdeckt worden wäre, konnten sie nicht wissen, dass sie Arabisch verstand. Sie hatte einen schwedischen Pass. Sie sah vielleicht nicht typisch skandinavisch aus, aber auf keinen Fall arabisch.

Sie erhob sich vom Bett, als Motorengeräusch vom Wasser her näher kam.

Es klopfte an der Tür, und sie musste unfreiwillig husten.

»I’m coming«, rief sie. Sie prüfte, ob ihre Frisur akkurat saß, und machte auf. Draußen stand ein Wachmann, in weißem Hemd und mit einem Holster quer über der Brust.

»I need you to come with me«, sagte er.

Ein kleines Boot hatte soeben von der Lucinda abgelegt und hielt Kurs auf Puerto Portals. Achtern stand ein Mann mit einer blauen Cap. Vielleicht war er einer der beiden Männer, die sie vorhin gehört hatte?

Das Motorboot legte am Kai an, der Mann sprang behände hinaus, und das Boot fuhr wieder zurück.

In den folgenden Tagen würde sie das einfältige Luxus-Escort spielen. Unter keinen Umständen durfte jemand herausfinden, dass sie Arabisch sprach.

Molly machte an der Schreibtischkante das zweite Bier auf, trank einen großen Schluck und wischte sich den Mund ab.

Teil I

Eins Auf der Fahrbahn des Valhallavägen stand das Wasser. Der Regen ging auf Vanessas schwarzen BMW nieder. Ein Blitz erhellte das Dunkel, und sie begann zu zählen. Bei fünf knallte der Donner und übertönte die Nachrichtensprecherin im Radio.

»Sturm Gertrud erreicht Stockholm im Laufe des Freitagabends«, verkündete eine ernste Frauenstimme. »Die Bevölkerung wird gebeten, zu Hause zu bleiben und nur im Notfall das Haus zu verlassen.«

»Shit«, murmelte Vanessa und nahm den Blick von der Straße, um das Radio leiser zu stellen.

Im nächsten Augenblick machte sie eine Vollbremsung, als ein Fahrradfahrer in einem Affenzahn die Straße kreuzte. Um Haaresbreite hätte sie sein Hinterrad touchiert.

Gertrud. Warum bekamen Stürme keine vernünftigen, furchterregenden Namen wie Odin oder Thor? Etwas aus der nordischen Mythologie, damit die Leute begriffen, wie ernst es war. Gertrud klang wie eine zerstreute Grundschullehrerin, die Nägel kaute und nach Kaffeeatem roch.

Es hatte so gut wie den ganzen Oktober über geregnet, und nun war es fast Mitte November. Vanessa hatte diese Dunkelheit wirklich satt. Sie kam am Einkaufszentrum Feldöversten vorbei und riss das Lenkrad herum, um einer großen Wasserpfütze auszuweichen, aus der ein Elektroroller herausragte. Ein paar Hundert Meter weiter konnte sie durch die Regenschnüre das Blaulicht erkennen.

Vanessa bog in die Oxenstiernsgatan im Stadtteil Gärdet und parkte in zweiter Reihe vor den Absperrungen, die auf Höhe des Rundfunkhauses aufgestellt worden waren. Sie machte die Autotür auf, drehte sich um und nahm den Regenschirm von der Rückbank. Im Aussteigen spannte sie den Schirm auf. Ein Windstoß zerrte daran, und Vanessa schwankte. Ein Polizeibeamter in Regenjacke mit hochgestülpter Kapuze musterte sie flüchtig, dann winkte er sie durch.

Vanessa ging nach rechts in die Taptogatan. Drei Scheinwerfer erhellten den Bürgersteig, auf dem ein Mann neben einem SUV auf dem Rücken lag.

Einige Kriminaltechniker in weißen Schutzanzügen waren damit beschäftigt, ein provisorisches Zelt aufzuspannen, sodass der Regen den Fundort nicht kontaminierte. Eine Technikerin bemerkte Vanessa und bedeutete ihr mit einer Geste, stehen zu bleiben. Vanessa hielt zehn Meter von der Leiche entfernt inne und versuchte, den Schirm in einen günstigen Winkel zu drehen, während sie sich umsah. Zu ihrer Rechten mündete der Fußweg in eine abschüssige Rasenfläche. Am Ende der Straße konnte sie die Klettergerüste und Schaukeln des Gustav-Adolf-Parks ausmachen.

Die Technikerin bedeutete Vanessa, ihr zu folgen, und ihrer Statur und Körpersprache nach zu urteilen, war Vanessa sicher, dass es sich um Trude Hovland handelte. Sie schätzte die norwegisch-indische Kriminaltechnikerin, die in ihren Augen ungewöhnlich kompetent war. Außerdem mochte Vanessa ihren trockenen Humor.

Sie stellten sich in einen Hauseingang, und Trude schob den Mundschutz unter das Kinn.

»Rikard Olsson, ein Kollege. Zwei Schüsse in den Rücken.«

Trude wischte sich ein paar Regentropfen von der Stirn.

»Wo hat er gearbeitet?«, fragte Vanessa.

Wieder zuckte ein Blitz über den schwarzen Himmel.

»Team 2022.«

»Bandenkriminalität also.«

Nun war das Zelt über der Leiche aufgestellt. Trude zog den Mundschutz wieder bis über die Nase und ließ Vanessa allein.

In den letzten Jahren waren Drohungen gegenüber Polizisten und ihren Familien häufiger und heftiger geworden. Nicht nur Beamte, die mit Bandenkriminalität zu tun hatten, waren davon betroffen. Bevor Vanessa die sogenannte Novagruppe verlassen hatte und zur Mordkommission gewechselt war, war sie ebenfalls bedroht worden.

Sie nahm ihr Telefon zur Hand, um ihren Chef Mikael Kask anzurufen und um Verstärkung zu bitten. Und schob es wieder in die Innentasche zurück, als ihr klar wurde, dass sie seine Nummer nicht in ihrem neuen iPhone gespeichert hatte, das sie früher am Tag einem endlos quasselnden Verkäufer in einem Laden in der Kungsgatan abgekauft hatte. Außerdem hatte sie eine neue Nummer, und ihr Diensthandy lag noch im Auto. Sie hatte eben beschlossen zurückzugehen, um es zu holen, als der uniformierte Beamte, der vor der Absperrung postiert gewesen war, einen Mann in schwarzer Regenjacke über den Fundort führte. Als sie Vanessa bemerkten, kamen die beiden Männer auf sie zu.

Sie drängten sich ebenfalls in den Hauseingang. Der Mann mit der Regenjacke, er war in den Dreißigern, streckte die Hand aus.

»Samer Bakir«, sagte er mit schonischem Dialekt, und Vanessa musste dabei an Zlatan Ibrahimović denken.

»Sind Sie neu?«

Er zog die durchnässte Kapuze in den Nacken und fuhr sich durch das kurze schwarze Haar.

»Aus Malmö. Jetzt bin ich bei den Kapitaldelikten.« Er machte eine Geste in Richtung des aufgestellten Zeltes. »Was wissen wir?«

»Ein Kollege, Rikard Olsson«, sagte Vanessa. Die Männer starrten sie an. Der Funk des uniformierten Beamten knackte, aber er machte keine Anstalten zu antworten. Samer und Vanessa nickten in Richtung Funkgerät. Der Mann fuhr zusammen, wandte sich ab und bat die Zentrale, die Meldung zu wiederholen.

»Wissen wir, ob er im Dienst war?«, fragte Samer.

Vanessa schüttelte den Kopf.

»Können Sie Ihren Chef anrufen und Verstärkung anfordern? Bisher weiß noch niemand, dass der Tote ein Kollege ist.«

»Haben Sie das denn noch nicht gemacht?«

»Neues Telefon, ich hatte noch keine Zeit, die Kontakte zu synchronisieren«, flunkerte Vanessa. Tatsächlich war es aber so, dass Vanessa keine Ahnung hatte, wie das ging.

Samer tastete seine Jacke ab, als der uniformierte Beamte sich zu ihnen umdrehte. Er wirkte erschrocken.

»Sie haben eine zweite Leiche gefunden.«

Samers Hände hörten auf zu tasten und senkten sich kraftlos.

»Wo?«, fragte Vanessa.

Der Beamte benetzte die Lippen.

»Ein paar Hundert Meter von hier im Park«, gab er zurück.

Zwei Axel Grystad lag in seinem schmalen Bett, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, und betrachtete die Risse in der Zimmerdecke. Der Regen schlug gegen die Fensterscheibe, schien aber etwas nachgelassen zu haben.

Er war betrübt. Morgen würde er sich von seinem neunjährigen Sohn verabschieden müssen, und es würde eine Woche dauern, bis er wieder bei ihm wohnen würde. Die Wochen mit Simon waren es, für die er lebte, der Rest war ein einziges langes Warten.

Er hörte Schritte in der Diele, dann wurde die Klinke gedrückt. Simon, bekleidet mit seinem blauen Pyjama, schob die Tür auf.

»Ich kann nicht schlafen.«

Axel rückte in seinem Bett zur Seite, damit Simon neben ihm Platz hatte.

»Warum denn nicht?«

»Ich habe Hunger.«

Vor ein paar Stunden hatten sie erst Spaghetti mit Hackfleischsoße gegessen, und Axel wusste, dass er Simon eigentlich wieder in sein Bett zurückschicken musste, damit er nicht zu müde war für das Fußballtraining am nächsten Tag. Aber er war einfach nur glücklich.

Er ließ seinen Blick auf Simons Gesicht ruhen.

»Ich auch.«

Axel blinzelte Richtung Fenster und stellte fest, dass der Regen wirklich schwächer geworden war. Dann schielte er zum Wecker auf dem Nachttisch, die roten Ziffern zeigten 21:30 Uhr.

»Was hältst du davon, wenn wir uns was beim Grillimbiss holen?«

Simon strahlte übers ganze Gesicht, ihm fehlte ein Schneidezahn. Er erinnerte Axel an einen Eishockeyspieler, der nach einem Sieg ein Fernsehinterview gab.

»Dann nehme ich diesmal den Dünnbrot-Wrap, den du sonst immer nimmst.«

»Du wirst ihn lieben. Aber wir erzählen Mama nichts davon. Wenn sie fragt, haben die Grystad-Jungs die ganze Woche lang Brokkoli gegessen und sind zeitig schlafen gegangen.«

»Klar, Papa.«

Sie klatschten einander mit einem High five ab. Axel liebte es, wenn Simon ihn »Papa« nannte.

Kurz darauf waren sie in ihre Regenmonturen geschlüpft und aus dem Haus auf die Rådmansgatan getreten. Simon legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel.

»Es hat aufgehört«, stellte er fest und ließ den Fußball, den er stets bei sich hatte, auf den Gehweg prallen. Er kickte den Ball und rannte ihm hinterher, wendig und geschmeidig. Jedes Mal, wenn Axel ihn so laufen sah, wurde er von Erleichterung und Dankbarkeit übermannt, weil sein Sohn nicht die ungelenke und unterentwickelte Motorik geerbt hatte, die seine Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht hatte. Simon hatte sogar Talent. Axel hingegen machte nie Sport. Physische Betätigung war für ihn für immer mit Qualen verknüpft. Er hatte sich nie verletzlicher gefühlt als im Sportunterricht. Zahlreiche seiner besonders demütigenden Stunden hatte er während der Schulzeit in den Umkleideräumen erlebt.

Deshalb hatte er sich zuerst Sorgen gemacht, als Simon ihm erzählt hatte, dass er mit Fußball anfangen wollte. Aber dann hatte Axel keine einzige Trainingseinheit und kein einziges Spiel von Simon versäumt. Es war pures Glück, seinen Sohn hinter dem Ball herjagen zu sehen. Wenn Simon ein Tor schoss, umarmten ihn die Mannschaftskameraden. Manchmal kam es Axel so vor, als würde er selbst über den Platz rennen.

Der Ball blieb in einer Pfütze liegen, und Simon stoppte, nahm den Ball auf seinen Rist und spielte ihn ein paarmal in die Luft.

Das ist Zauberei, dachte Axel, dass das mein Sohn ist und dass er solche Sachen kann.

»Schau mal«, rief Simon und begann, den Ball auf der Stirn zu jonglieren.

Axel wurde ganz kribbelig, wenn er an die Reise dachte, die er für Simon und für sich gebucht hatte. In ein paar Wochen würden sie Simons Lieblingsverein, den FC Barcelona, spielen sehen. Axel hatte sich geschworen, nichts zu verraten vor Simons Geburtstag.

Das Match fand in einer Woche statt, in der Simon eigentlich nicht bei Axel war, aber er hatte Rebecca gefragt, und sie hatte selbstverständlich nichts dagegen. Sie waren beide flexibel und großzügig dem anderen gegenüber, was Tage und Uhrzeiten anbelangte. Axel hörte oft von geschiedenen Eltern, die immer nur stritten, doch für ihn war das ganz einfach. Wenn Rebecca und ihr Mann Thorsten eine Reise machen wollten, die ein paar Tage länger dauerte, dann blieb Simon natürlich länger bei ihm. Sein Sohn war das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutete in seinem Leben, und andere Freunde hatte er nicht.

Selbstredend gefiel ihm sein Job als IT-Techniker bei der Danske Bank. Eigentlich war er überqualifiziert für diese Tätigkeit, und einige seiner Aufgaben waren wirklich simpel. Die Arbeitskollegen könnten allerdings netter sein. Er spürte ihre Blicke, ihr höhnisches Grinsen und Feixen hinter seinem Rücken, wenn er ins Stammeln geriet und kein Wort mehr herausbrachte. Aber es könnte auch schlimmer sein. Alles könnte schlimmer sein.

Axel hatte Simon, Simon liebte ihn, und das war alles, was er brauchte.

Er konnte es nicht fassen, wie er die Barcelona-Reise so lange hatte für sich behalten können. Er beschloss, Simon davon zu erzählen, sobald das Essen auf ihren Tellern lag. Das wäre dann der perfekte Abschluss für diese Woche.

Axel bückte sich und nestelte an seinem Schnürsenkel, der aufgegangen war.

Im nächsten Moment hörte er Autoreifen quietschen. Es durchfuhr ihn wie ein Stoß in die Magengrube, der sich durch den ganzen Körper fortpflanzte. Als er sich wieder aufrichtete, sah er einen dunklen Wagen davonrasen.

Die Fußgängerampel zeigte grün.

Auf dem Überweg lag Simon, reglos.

Drei Vanessa verließ das Gebäude des Senders SVT durch die Drehtür, nachdem sie die vergangene Stunde damit zugebracht hatte, das Filmmaterial von den Überwachungskameras durchzugehen, die auf die Oxenstiernsgatan zeigten.

Es hatte aufgehört zu regnen, sie warf den Schirm in den Kofferraum ihres BMW und sah sich um.

Sie hatten das volle Programm aufgefahren, Blaulichter zuckten über die Fassaden der Häuser ringsum und den grauen Betonkoloss des Fernsehsenders, von den Balkonen und aus den Fenstern spähten neugierige Nachbarn herüber.

Jeder einzelne Streifenwagen in Stockholm war zum Fundort gerufen worden. Sogar die Spezialkräfte waren gekommen und suchten die Umgebung ab. Sie waren bewaffnet, denn es war nicht auszuschließen, dass es sich um die Tat eines Wahnsinnigen handelte. Ein Reporter und ein Fotograf lauerten an der Absperrung, und weitere Journalisten würden ihnen folgen.

Vanessa spähte Richtung Ladugårdsgärdet. Zwei Wagen der Kriminaltechnik waren durch den Matsch des Sportplatzes gepflügt und hatten an der Steinformation gehalten, die an eine kleinere Version von Stonehenge erinnerte. Hier war das zweite Opfer gefunden worden. Sie konnte sehen, wie die Techniker im Scheinwerferlicht ihrer Arbeit nachgingen.

Samer Bakir kam auf ihr Auto zugetrabt. Seine weißen Sneakers waren durchnässt, und die Hosenbeine seiner Jeans hatten braune Flecken.

»Das Opfer ist eine Frau in den Zwanzigern. Ich tippe auf arabische Herkunft, wie bei mir«, sagte er.

»Auch erschossen?«

Samer beugte sich hinunter und machte sich an den schlimmsten Spritzern am Schienbein zu schaffen.

»Erstochen.« Er gab den Versuch auf, den Schlamm zu beseitigen, und richtete sich wieder auf. »Brustkorb und Hals. Was haben die Überwachungskameras ergeben?«

»Nicht gerade viel.« Eine Windböe fuhr in Vanessas Haare, sie schauderte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Samer.

Wortlos öffnete sie die Autotür und setzte sich auf den Fahrersitz. Startete den Motor und drehte die Heizung hoch. Samer nahm den Beifahrersitz in Beschlag und rieb sich die Handflächen, um die Blutzirkulation in Gang zu bringen, während er sich umsah.

Es klopfte an der Seitenscheibe, und Trude Hovlands Gesicht tauchte auf. Sie hielt einen verschließbaren Plastikbeutel mit einem Mobiltelefon hoch. Vanessa bedeutete ihr einzusteigen.

»Rikard Olssons Handy«, sagte Trude.

»Was ist mit dem Code?«, wollte Samer wissen.

»Unbekannt bisher.«

Vanessa wog das Smartphone in der Hand. Sie war frustriert. Zwei Morde an einem Abend, in einem von Stockholms ruhigsten Stadtvierteln. Sie brauchte etwas Konkretes, damit die Ermittlungen am morgigen Tag Fahrt aufnehmen konnten. Ein Team befand sich bereits in Rikard Olssons Wohnung, die nur wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt im Karlavägen lag, direkt gegenüber vom Bürokomplex Garnisonen.

»Wo ist die Leiche?«

»Sie wird gerade abtransportiert«, gab Trude zurück.

Vanessa machte die Autotür wieder auf und ging Richtung Taptogatan, Samer und Trude im Schlepptau. Zwei Männer trugen die Bahre mit Rikard Olssons Leiche gerade zum Wagen, und Vanessa rief ihnen zu, kurz zu warten. Sie zog das weiße Tuch zurück und deckte den Oberkörper des Polizisten ab. Drückte den Knopf seitlich am iPhone und drehte das Display dem Gesicht des Toten zu, um die Gesichtserkennungsfunktion zu aktivieren.

»Danke«, sagte sie und legte das Tuch wieder zurück.

Während die Leiche eingeladen wurde, schauten Trude und Samer über Vanessas Schulter auf das Telefon. Zuerst erschien das Foto von einem Kind auf einer Schaukel. Vanessa seufzte und tippte links unten den grünen Punkt mit dem weißen Hörer an, um die letzten Telefonverbindungen aufzurufen.

»Das ist ja Wahnsinn«, rief Samer aus.

»Die Kollegen sollen auch gleich die Audiodatei raussuchen«, sagte Vanessa.

Die letzte Nummer, die Rikard Olsson angerufen hatte, war die 112. Der Anruf war um 19:04 Uhr eingegangen und hatte 23 Sekunden gedauert.

Vier Axel Grystad durchlitt den schlimmsten Albtraum seines Lebens. Er war mehr als einmal überzeugt, dass er schlief, und kniff sich in den Unterarm.

Er ging in dem kahlen weißen Korridor der Universitätsklinik Karolinska auf und ab, Simons Fußball gegen die Brust gedrückt. Kurz zuvor waren die Türen des Saals aufgegangen, in dem sein Sohn notoperiert wurde. Sechs Personen in grüner OP-Kleidung und Mundschutz standen um Simons kleinen Körper herum. Axel begriff, dass sie mit allen Mitteln darum kämpften, Simons Leben zu retten.

Diesen Anblick würde er nie vergessen.

Jedes Mal, wenn er blinzelte, hatte er die Szene vor Augen.

Als er Simons reglosen Körper auf der Straße liegen sah, war sein erster Impuls gewesen, ihn ins Auto zu tragen und ins Krankenhaus zu fahren. Das wäre schneller gegangen, als erst auf den Krankenwagen zu warten. Dann war eine Frau Mitte fünfzig angelaufen gekommen. Sie war Krankenschwester und hatte erklärt, Simon könne Rückenmarksschädigungen davontragen, wenn man ihn bewege, ohne ihn vorher zu stabilisieren.

»Ich habe den Krankenwagen schon gerufen, er ist unterwegs«, hatte sie außer Atem gerufen.

Sieben Minuten später war er eingetroffen. Axel hatte auf der Bordsteinkante gesessen, das Gesicht in den Händen vergraben, während die Sanitäter mit der Krankenschwester geredet hatten. Sie hatten Simons Verletzungen rasch untersucht, die Halswirbelsäule fixiert und ihn dann auf eine Bahre gehoben. Wie gelähmt hatte Axel danebengestanden und war sich vollkommen nutzlos vorgekommen. Er schämte sich, dass andere darum kämpften, das Leben seines Sohnes zu retten.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als eine junge Krankenschwester auf ihn zukam.

»Sind Sie Simons Vater?«

Axel nickte.

»Er wird noch operiert. Ich bringe Sie zum Warteraum.«

»Wird er wie-wieder g-ganz gesund?«

Die Einzigen, in deren Gegenwart Axel nicht stotterte, waren Rebecca und Simon.

»Wir tun, was wir können«, entgegnete sie und legte ihm behutsam einen Arm um die Schulter. »Kommen Sie mit, hier drüben können Sie sich setzen.«

Sie führte ihn an den Fahrstühlen vorbei in einen anderen, schmaleren Gang, und Axel spürte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. Die Schwester bugsierte ihn auf ein Sofa und setzte sich neben ihn.

»Simons Mutter ist auf dem Weg hierher, ich bringe sie dann zu Ihnen«, sagte sie und erhob sich, und langsam verhallten ihre Schritte.

Kurze Zeit später stürmte Rebecca auf ihn zu und schlang die Arme um seinen Hals. Er versuchte zu erklären, aber sie legte einen Finger an seine Lippen.

»Sie haben mir schon alles erzählt.«

Axel wusste nicht, was er sagen sollte. Er wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Machte sie ihm Vorwürfe? Meinte sie, er sei schuld? Er hätte natürlich besser auf Simon aufpassen müssen, keine Frage.

»Sie operieren ihn immer noch«, sagte er, um nicht nur hilflos zu schweigen.

Rebecca war bleich, ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er fand, sie sah Simon sehr ähnlich, und er fand, Rebecca und Simon waren die schönsten Menschen auf der Welt.

»Alles wird gut.«

»Es ging alles so schnell. Ich habe mich nur kurz gebückt, um die Schnürsenkel zu knoten …«

»Ich weiß, dass du nie leichtsinnig bist, wenn es um Simon geht.«

»Das stimmt.«

Rebecca griff nach Axels Hand und hielt sie fest. Er lehnte sich zurück und versuchte, ruhig zu atmen.

Zwei Beamte tauchten im Korridor auf, und eine Schwester deutete in Axels Richtung. Er legte Simons Fußball zur Seite und ging ihnen entgegen.

»Ich gehe mal einen Kaffee holen«, sagte Rebecca und verschwand.

Die Polizisten stellten sich mit vollem Namen vor, baten Axel, sich wieder zu setzen, und nahmen seine Personalien auf. Fragten ihn, ob er in der Lage sei, zu schildern, was geschehen war.

Er berichtete, dass das Auto angerast gekommen und über Rot gefahren war. Als er wieder aufgeblickt hatte, hatte Simon reglos auf der Straße gelegen. Der Fahrer hatte nicht angehalten, sondern beschleunigt und war Richtung Roslagstull verschwunden.

Der Beamte musterte ihn mitfühlend.

»Haben Sie die Automarke erkannt?«

»Ich kenne mich mit Autos nicht aus. Es war schwarz, mehr weiß ich nicht.«

»Kennzeichen?«, fragte der Kollege.

Axel schüttelte den Kopf.

»L-leider, es ging einfach zu schnell.«

»Verstehe.«

Die Beamten standen auf, einer der beiden klopfte Axel unbeholfen auf die Schulter und sagte, sie würden sich melden.

Als er sicher war, dass sie gegangen waren, nahm Axel sein Telefon zur Hand und rief das Zentrale Fahrzeugregister auf. Ins Suchfeld gab er das Kennzeichen des Wagens ein: HNC – 106.

Fünf Vanessa parkte in der Tiefgarage unter dem Norra-Real-Gymnasium. Der Himmel hatte sich verfinstert, und es nieselte. Obwohl es Freitagabend war, lag die Vasastan verlassen da, bis auf ein Taxi, das an Vanessa vorbeirauschte, als sie die Odengatan querte.

Wie so oft blieb sie am Monica-Zetterlunds-Park stehen und schloss die Augen. Sie lauschte der Musik, die von der Parkbank erklang, die zu Ehren der Jazzlegende dort aufgestellt worden war und rund um die Uhr ihre Songs spielte. Vanessa musste ins Bett, der morgige Tag würde hektisch werden mit einem Meeting um acht Uhr früh im Präsidium. Die Notrufzentrale hatte ihnen zugesichert, die Datei von Rikard Olssons Anruf so schnell wie möglich zu mailen, was vermutlich im Laufe der Nacht der Fall sein würde. Die Identität der toten Frau konnte noch nicht festgestellt werden, weder Mobiltelefon noch Ausweispapiere waren gefunden worden. Bislang war es unklar, ob zwischen den beiden Morden ein Zusammenhang bestand.

Vor dem Haus entdeckte Vanessa ein in Jeans gekleidetes Paar Beine. Sie nahm an, sie gehörten zu einem Obdachlosen, der vor dem Regen Schutz gesucht hatte und eingeschlafen war. Leise näherte sie sich, um die schlafende Gestalt nicht zu wecken, dann fiel ihr Blick auf den rosa gefärbten Haarschopf. Es war Celine Wood, das dreizehnjährige Mädchen, das sie vergangenen Sommer kennengelernt hatte. Bei einem Amoklauf im Stockholmer Stadion war Celine durch einen Bauchschuss schwer verletzt worden und um Haaresbreite dem Tod entronnen. Seit ein paar Monaten wurde sie von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht, haute immer wieder mal ab und kam zu Vanessa, um sich satt zu essen und sich dann wieder aus dem Staub zu machen.

Celine war abgemagert, und Vanessa fröstelte schon beim Anblick ihrer Jacke, die viel zu dünn war für die Novemberkälte. Sie ging in die Hocke und tippte Celine leicht auf die Schulter.

Das Mädchen schlug die Augen auf.

»Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?« Celine gähnte, streckte die Hand aus und strich über Vanessas neue Pagenfrisur.

»Das sagt die Richtige.«

Nach einer kurzen festen Umarmung gab Vanessa den Türcode ein und ließ Celine den Vortritt, die sich aufrappelte und ins Treppenhaus schlurfte.

In der Diele hängten sie ihre Jacken auf, und Vanessa suchte einen weißen Pyjama heraus, der Celine viel zu groß war.

»Wie lange hast du denn schon gewartet?«, fragte Vanessa.

»Ein paar Stunden, glaube ich. Aber das macht nichts, ich bin ziemlich schnell eingeschlafen.«

»Wie war’s in der Schule?«

Celine schwieg.

»Du musst da wirklich mal wieder hingehen.«

Vanessa durchforstete den Gefrierschrank auf der Suche nach etwas Essbarem, während Celine es sich auf dem Sofa bequem machte. Ihre Müdigkeit schien sie abgeschüttelt zu haben.

»Ich habe nachgedacht. Warum sind alle von Greta begeistert, wenn sie schwänzt, aber ich werde dafür nur angemeckert? Das ist echt unfair.«

Vanessa verdrehte die Augen, machte die Mirowelle auf und legte eine Gorby’s-Pirogge hinein. Sie stellte den Timer auf eine Minute.

»Greta hat einen großen Plan. Sie demonstriert für den Klimawandel und begehrt gegen das System auf für eine bessere Welt.«

»Ich begehre auch gegen das System auf. Ich bin Punk.«

Celine stand auf und trat an den offenen Kamin, nahm ein gerahmtes Foto vom Sims und betrachtete es.

»Die ist ja süß.«

Das Bild zeigte das syrische Flüchtlingsmädchen Natasja, für das Vanessa vor zwei Jahren das Sorgerecht übernommen hatte. Nun war sie wieder in Syrien, bei ihrem Vater. Vanessa vermisste sie so sehr, dass es wehtat. Jeden Tag hoffte sie, Natasja würde sich melden und ihr sagen, sie würde wieder nach Stockholm zurückkommen.

Die Pirogge in der Mikrowelle war fertig, Vanessa nahm sie heraus, legte sie auf einen Teller und schob ihn über die Kücheninsel. Celine stellte die Fotografie von Natasja zurück und setzte sich auf einen der Barstühle. Ein Drittel der Pirogge verschwand mit dem ersten Bissen.

»Ich versuche, mich eher vegetarisch zu ernähren, aber heute mache ich mal eine Ausnahme. Ich will ja kein undankbarer Gast sein«, meinte sie.

»Noch eine?«, fragte Vanessa.

»Wenn du drauf bestehst«, gab Celine mit vollem Mund zurück. »Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen. Aber davor hatte ich zur Abwechslung Burger King. Eine halbe Stunde musste ich warten, bis so ein Reicher seinen halben Whopper nicht mehr haben wollte. Man kann ja sagen, was man will, über die Reichen, aber Geschmack haben sie.«

Als Celine die zweite Pirogge verdrückt hatte, legte sie sich aufs Sofa, und Vanessa ließ sich neben ihr nieder.

»Isst du nichts?«, wollte Celine wissen.

Vanessa schüttelte den Kopf.

»Ich bin nicht wirklich hungrig«, log sie. Die Wahrheit war, dass sie nur noch zwei Piroggen gehabt hatte und Celine sie dringender brauchte als sie selbst.

Celine streckte sich und schloss die Augen. Das Pyjamaoberteil rutschte hoch und entblößte den Bauch. Die Narbe direkt über dem Bauchnabel von dem Einschuss, der sie fast das Leben gekostet hatte, schimmerte weiß.

»Du darfst nicht immer wieder abhauen, mein Herz. Und du musst zur Schule gehen«, sagte Vanessa.

Celine nickte mit einem schwachen Lächeln.

»Kannst du mir nicht die Haare kraulen? Das fühlt sich so gut an.«

Vanessa rückte auf Celines Seite, nahm ihren Kopf auf den Schoß und fuhr mit den Fingern durch das rosafarbene Haar. Es war fettig, verfilzt und roch streng.

Celine kniff die Augen zusammen, eine Träne kullerte ihre Wange hinab und hinterließ eine weiße Spur in ihrem ungewaschenen Gesicht. Mürrisch wischte sie sie weg. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Vanessa reckte sich nach einem Kissen, schob es langsam unter Celines Kopf und erhob sich.

Sie zückte ihr Mobiltelefon, die Audiodatei von Rikard Olssons Notruf war eingegangen. Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, nahm sich ihre Ohrhörer, setzte sich auf einen Barhocker an die Kücheninsel und spielte die Datei ab.

»SOS 112, was ist passiert?«, sagte eine Frauenstimme.

Nur schweres Keuchen und schnelle Schritte waren zu hören. Im Hintergrund pfiff der Wind.

Vanessa justierte die Ohrhörer.

»Hallo?«

Rikard Olsson sagte noch immer nichts, nur seine gehetzten Atemzüge, die Schritte und das Rascheln seiner Kleider waren zu hören. Wurde er verfolgt? Alles deutete darauf hin, nicht zuletzt der Umstand, dass von hinten auf ihn geschossen worden war.

»Hallo?«

Die Stimme der Dame von der Zentrale klang angespannt.

Sekunden verstrichen.

»Mit wem spreche ich bitte?«

Ein lauter Knall ertönte. Rikard Olsson schrie auf. Ein spitzer, durchdringender Schrei. Dann ein dumpfer Aufprall. Er musste zu Boden gegangen sein und hyperventilierte. Wimmerte. Dann fiel der zweite Schuss.

»Hallo?«

Knistern. Schritte, die sich entfernten. Sekunden später war es still, nur der Regen ging auf den Asphalt nieder.

Sechs Es hatte die ganze Nacht geregnet, und eine dünne Eisschicht lag auf den Pfützen vor dem Krankenhaus. Axel Grystad saß der Frau, die er liebte, gegenüber. Doch Rebeccas Hand ruhte auf dem Tisch und berührte Thorstens Hand. Rebecca und Axel waren die Nacht über im Krankenhaus geblieben, Thorsten war nach Hause gefahren, um für Rebecca frische Kleidung und ein paar Hygieneartikel zu holen. Er hatte in der Wohnung übernachtet und war früh am Samstagmorgen wieder eingetroffen. Nun saßen sie zu dritt zusammen und frühstückten.

»Ich bin diesen elenden Krankenhauskaffee wirklich leid«, sagte Thorsten und deutete auf die leere Tasse, die vor ihm stand. Er und Axel hatten jeweils ein Schinkenbaguette gegessen, Rebecca war seit ein paar Jahren Vegetarierin und hatte sich für ein Putenbaguette entschieden, weil alles andere aus war. Die Putenscheiben hatte sie heruntergenommen und sorgsam auf dem Tellerrand aufgereiht.

Thorsten unterdrückte einen Rülpser und kratzte sich im Bart.

»Ich muss kurz verschwinden, möchtet ihr noch etwas?«, fragte Rebecca und schob den Stuhl zurück.

Thorsten und Axel schüttelten den Kopf.

Simon war auf die Intensivstation verlegt worden. Sein Zustand war unverändert, die Ärzte wussten nicht, ob er es schaffen würde. Jedes Mal, wenn Axel die Augen schloss, sah er den kleinen drahtigen Körper vor sich, umgeben von blinkenden Maschinen.

Rebecca verschwand in Richtung Toiletten. Wenn Axel und Thorsten allein waren, wurde die Stimmung zwischen ihnen verkrampft. Sie hatten nichts gemeinsam, außer dass sie in dieselbe Frau verliebt waren. Doch mit den Jahren schien es, als sei das nicht mehr so wichtig. Thorsten begegnete Axel stets mit Freundlichkeit, wenn sie sich auf Geburtstagen begegneten oder Simon abholten. Außerdem hatte Thorsten Simon gern, er behandelte ihn wie seinen eigenen Sohn. Und Simon wiederum liebte Thorsten. Natürlich hatte Axel sich in den ersten Jahren darüber Sorgen gemacht, dass Simon seinen Stiefvater lieber mögen würde als ihn, wer hätte das nicht? Thorsten war witzig, gesprächig und erfolgreich. Machte immer eine gute Figur. Das Maklerbüro, er war einer der Gründer, erwirtschaftete Hunderte Millionen Kronen Umsatz im Jahr. Er, Rebecca und Simon unternahmen ausgedehnte Luxusreisen, im Sommer wie im Winter. Bali, Thailand, Dubai, die Malediven.

Thorsten musterte Axel angestrengt. Er nahm sich von dem Putenaufschnitt von Rebeccas Teller. Im Treppenhaus tapste ein Klinikclown mit weißem Gesicht und roten Haaren vorbei.

»Wie oft habe ich dir gesagt, dass er mit dem verdammten Ball nicht auf dem Gehweg spielen soll?«, sagte er.

Axel überraschte die urplötzlich aufflammende Aggressivität. Er kniff die Lippen zusammen und hielt sich an der Tischkante fest. Aber was sollte er darauf erwidern? Thorsten hatte recht.

»Das ist deine Schuld. Kapierst du das überhaupt? Du bist schuld, dass der Junge halb tot da drinnen liegt. Wenn er stirbt, bist du schuld.«

Jedes Wort, jede Silbe versetzte Axel einen Stich.

Er senkte den Kopf und nickte.

»Ich weiß. Ve-ve-verzeih mir.«

Thorsten verdrehte die Augen.

»Du warst schon immer ein Idiot. Aber das hier … Weißt du, was du für Leid angerichtet hast? Hörst du mir überhaupt zu? Wenn er stirbt, kommt sie nie darüber hinweg. Dann hast du zwei Leben auf deinem Gewissen.«

Thorsten schnaubte, schüttelte den Kopf und schob den Teller von sich weg.

»Aber du kommst damit ja sogar durch. Mit deinem pathetischen Gestammel und deiner schwachsinnigen Visage.«

So hatte Axel ihn noch nie erlebt, auch wenn er wusste, dass Thorsten nicht begreifen konnte, wie Rebecca sich mit jemandem wie ihn für ein Kind entschieden hatte.

»Wenn sie nicht wäre, würde ich dich zusammenschlagen.« Thorsten deutete Richtung Toilettenräume. »Aber du tust ihr leid.«

Rebecca kehrte an ihren Tisch zurück, hielt jedoch plötzlich inne und sah die beiden an.

»Worüber redet ihr?«, wollte sie wissen.

Thorsten stieß einen Seufzer aus und hob abwehrend die Hände.

»Ich habe nur gesagt, wie es ist.«

Rebecca beugte sich zu ihm vor.

»Soll heißen?«

»Dass Axel daran schuld ist, dass wir hier sind. Verflucht, Becca, irgendwer muss das mal aussprechen. Er kommt doch mit allem durch. Er ist ein erwachsener Mann und muss die Wahrheit abkönnen.«

Nun klang er schon nicht mehr ganz so selbstsicher. Rebecca starrte ihn an.

»Du stellst Axel nicht als Schuldigen hin. Verstanden? Nicht jetzt. Nicht, solange unser Sohn da oben liegt und vielleicht …«

Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und begrub ihr Gesicht in den Händen. Thorsten legte einen Arm um sie, doch sie zuckte zurück. Er seufzte erneut.

»Ich brauche frische Luft«, sagte er gereizt, griff sich seine Jacke, schob die Hände in die Taschen und strebte mit langen Schritten auf den Ausgang zu.

Axel wusste nicht, was er sagen sollte. Es brach ihm das Herz, Rebecca so traurig zu sehen, und er schämte sich dafür, dass er einen Keil zwischen Thorsten und Rebecca getrieben hatte. Er hätte besser für sich selbst sprechen sollen. Trotzdem war er froh darüber, dass sie ihn verteidigt hatte. Er konnte einfach nicht anders, aber es gefiel ihm, dass sie ihn in Schutz genommen hatte.

Keiner setzte sich so für ihn ein wie Rebecca.

»Hör einfach nicht auf ihn«, murmelte sie, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen.

»Er hat recht. Ich hätte auf keinen Fall erlauben dürfen, dass Simon den Ball mitnimmt, aber er hat sich so darüber gefreut. Er ist gesprungen und gerannt und … nichts hat mich glücklicher gemacht, als ihn so laufen zu sehen.«

Rebecca richtete sich auf und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»So darfst du nicht denken. Wie er war oder was er gemacht hat. Er lebt. Simon lebt, und eines Tages wird er auch wieder Fußball spielen.«

Sie zuckte zusammen und schluckte die Tränen hinunter.

»Du bist ein guter Vater, Axel. Und Simon erzählt mir immer, was für ein toller Vater du bist. Ich wusste schon bei unserer ersten Begegnung, dass du das sein würdest.«

Er hatte niemandem von dem Autokennzeichen erzählt, nicht einmal Rebecca. Die Adresse des Mannes, auf den das Fahrzeug zugelassen war, konnte er inzwischen auswendig.

»Ich muss nach Hause«, sagte er. »Duschen und neue Klamotten anziehen.«

Es war das erste Mal, dass er Rebecca anlog.

Er hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Die Person, die Simon und Rebecca das angetan hatte, musste sterben.

Sieben Der Garten hinter dem Haus war trist und grau. Der Pool ruhte unter seiner Abdeckung, hinter ein paar kahlen Obstbäumen war die weiße Steinmauer zu erkennen, die das Grundstück mit der vierhundert Quadratmeter großen Villa in Djursholm umgab. Aus der ersten Etage konnte man über die Bucht blicken, aber Nicolas Paredes’ Zimmer lag im Erdgeschoss. Es maß rund dreißig Quadratmeter und war schlicht möbliert.

Es gab einen Schrank und ein Bett, einen Schreibtisch samt Stuhl sowie ein leeres Bücherregal.

Routiniert legte Nicolas das Schulterholster mit seiner Dienstwaffe an, einer Glock 17, die er mit Lizenz auch in Schweden benutzen durfte. Offiziell lautete sein Titel Sicherheitskoordinator, ein Begriff der schwedischen Bürokratie, was in der Praxis das Gleiche bedeutete wie zuvor, als er für die Sicherheit von Familie Karlström in London verantwortlich gewesen war: Er war ihr Bodyguard. Seit dem Umzug waren die Sicherheitsvorkehrungen heruntergeschraubt worden, und anstelle von vier Personen war nun nur noch Nicolas für ihre Sicherheit verantwortlich. Als die Chefs verkündet hatten, dass Johan Karlström wünschte, Nicolas solle die Familie begleiten, hatte er das mit Verwunderung zur Kenntnis genommen.

Allerdings war Johan unberechenbar. Mehrmals hatte Nicolas seine Chefs kontaktiert, um darauf hinzuweisen, dass Johan seine Arbeit erschwerte und sich selbst unnötigen Risiken aussetzte. Mal war er ohne Vorwarnung mit dem Auto verschwunden und hatte Nicolas allein im Restaurant oder in der Hotellobby zurückgelassen. Dann wieder war er Nicolas geradezu feindlich begegnet. Nicolas hatte allmählich einsehen müssen, dass er dagegen nicht besonders viel tun konnte. Johan Karlström war CEO bei Gambler, einem der weltgrößten Online-Casinos. Und dieses Unternehmen war einer der wichtigsten Kunden der AOS Risk Group. Nicolas’ britische Chefs gaben ihm stets denselben Rat: Halte ihn bei Laune und tu einfach dein Bestes.

Nicolas hoffte, dass außer ihm noch niemand auf war, aber schon als er die Tür zur Wohnküche aufschob, hörte er, dass der Fernseher lief. Er wollte unbedingt raus aus diesem Haus, um Johan Karlströms überhebliches Grinsen und seine Gemeinheiten nicht immer ertragen zu müssen. Nicolas’ Chefs hatten ihm nach Weihnachten eine eigene Wohnung in Aussicht gestellt, doch bis dahin musste er mit der Familie unter einem Dach leben.

Zu seiner Erleichterung sah er James, den zehnjährigen Sohn der Familie, auf dem Sofa sitzen. Auf dem Schoß balancierte er einen Teller mit einem Marmeladentoast. Neben dem Fernseher hing eine große Schwarz-Weiß-Fotografie von Erica Karlström im Bikini.

»Na, wie geht’s?«, fragte Nicolas, machte den Kühlschrank auf und nahm ein paar Eier heraus. »Bist du fit für das Match?«

James nickte, aber Nicolas merkte ihm an, dass er nervös war. Schon in London hatte der große Hockey-Fan Johan darauf gedrungen, dass sein Sohn mit dem Hockeysport anfing, und inzwischen war James bei Djursholm Hockey und würde heute sein erstes Match auf Eis spielen.

Nicolas befüllte die Kaffeemaschine, schlug die Eier in eine Schüssel und verquirlte sie.

»Möchtest du Rührei?«

»Nein, danke.«

»Kaffee?«

»Nein, danke.«

»Einen Whisky?«

James wandte sich um und prustete los. Nicolas stellte die Pfanne auf den Herd, sog den Duft von frisch gebrühtem Kaffee ein, den die Maschine verbreitete, und kam zum Sofa herüber. Er ging vor dem sommersprossigen Jungen in die Hocke.

»Ernsthaft, Partner. Du packst das. Es ist ja nur ein Spiel, und du machst einfach das Beste draus. Ich drück dir die Daumen.«

»Kommst du und guckst zu?«, wollte James wissen. Seine Stimme war hell und brüchig zugleich. Obwohl seine Eltern beide aus Schweden kamen, sprach er mit britischem Akzent, er war in England geboren und aufgewachsen.

»Ich habe leider keine Zeit, ich treffe mich mit meiner Schwester. Sie hat Geburtstag.«

Vor genau zwei Wochen hatte Familie Karlström London verlassen, um nach Stockholm zurückzukehren, und Nicolas hatte heute seinen ersten freien Nachmittag und Abend. Die AOS Risk Group würde einen Kollegen von einer schwedischen Sicherheitsfirma als Vertretung schicken.

»Wie schön«, sagte James, bemüht, seine Enttäuschung zu verbergen.

Nicolas ging zum Herd zurück, und in dem Augenblick kam Erica Karlström die Treppe hinunter. Sie trug einen weißen Morgenmantel aus Seide.

»Guten Morgen«, sagte sie heiser und gab James einen Kuss aufs Haar. Ihr Blick war leer, abwesend. Nicolas registrierte, dass sie betrunken war. Für gewöhnlich mischte sie Schlaftabletten mit Alkohol. Er nahm zwei Becher, schenkte Kaffee in beide und reichte einen Erica. Sie musterte ihn verständnislos, ehe sie ihn langsam entgegennahm.

»Wie kommen Sie denn hin zum Spiel?«

»Ich fahre. Oder ist das ein Problem?«

Nicolas widmete sich dem Rührei in der Pfanne, während Erica auf einem der hohen Küchenstühle Platz nahm. Es war, als gäbe es eine unsichtbare Membran zwischen ihr und ihrer Umwelt. Sie stützte das Kinn in die Handflächen, die Ellenbogen ruhten auf der Marmorplatte vor ihr. Da der Morgenmantel von seinem Gürtel nur lose zusammengehalten wurde, blitzte ihre Brust unter dem Stoff hervor. Nicolas wandte sich verlegen ab.

»Möchten Sie von dem Rührei?«, fragte er mit dem Rücken zu ihr.

Sie reagierte nicht und starrte ins Leere. Schien vollauf damit beschäftigt, den Kaffeebecher zum Mund zu führen. Nicolas fluchte im Stillen. Er konnte sie auf keinen Fall den Jungen fahren lassen. Es hatte Frost gegeben, und die Straßen waren vereist. Sie konnten von der Fahrbahn abkommen, einen Fußgänger überfahren. Er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche seiner Jeans, tat, als konzentriere er sich auf den Bildschirm, und nahm dann einen großen Bissen Rührei.

»Meine Schwester ist krank, und ich will mich nicht anstecken. Ist es in Ordnung, wenn ich mitkomme und mir das Spiel ansehe?«

James sprang vom Sofa auf, lief zur Kücheninsel und fiel Nicolas um den Hals.

»Ist das dein Ernst?«

»Na klar.«

Erica verzog keine Miene, aber Nicolas merkte, dass sie das fuchsteufelswild machte. Sie stellte den Becher mit einem Klirren auf die Marmorplatte und verließ die Küche.

»Willst du noch ein bisschen trainieren?«, fragte er.

James streckte sich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

Sie holten sich zwei Schläger und einen Ball aus James’ Zimmer und gingen in den Garten. Sie stellten zwei Tore im Abstand von zwanzig Metern auf. Der Junge nahm den Ball und führte ihn mit seinem Schläger in raschen Zügen. Nicolas hob seinen Schläger an und luchste so James den Ball ab.

»Gilt nicht, ich war noch nicht bereit«, rief James und jagte dem Ball hinterher, doch Nicolas lag um eine Schrittlänge vorn und schoss ins Tor.

Eine Viertelstunde später stand es drei zu drei, und sie machten eine Pause. Nicolas war aus der Puste und stützte sich auf den Schläger, James hatte einen hochroten Kopf und setzte sich auf den Torrahmen.

Nicolas machte Johan Karlström am Fenster aus, er trank aus einem Kaffeebecher und beobachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Als sich ihre Blicke trafen, tippte Johan mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Armbanduhr. Nicolas legte den Schläger aus der Hand und ging ins Haus.

»Wir holen einen neuen Wagen«, erklärte Johan.

»Und wann?«

»Jetzt. Wir nehmen den alten und brechen gleich auf.«

»Ich habe versprochen, James und Erica zum Spiel zu fahren.«

»Welches verfluchte Spiel?«

»James hat heute Nachmittag ein Spiel.«

Johan schnaubte.

»Sie schaffen das, wenn Sie hier nicht länger rumstehen und meckern.«

Kurz darauf setzte Johan sich auf die Rückbank, schräg hinter den Fahrersitz. Nicolas startete den Motor, öffnete mit der Fernbedienung das Garagentor und fuhr los.

»Sie sind wirklich Ihr Geld wert, Nicolas.« Johan bedachte ihn mit einem verächtlichen Lächeln im Rückspiegel. »Bodyguard und Nanny in einem.«

Nicolas schwieg. Hinter ihnen glitt das Garagentor wieder zu.

»Als Nächstes vögeln Sie wohl auch noch meine Frau.«

Acht Das Fitnessstudio in der Kronobergsgatan war voll. Immer wieder fielen schwere Hantelstangen zu Boden und brachten das Laufband zum Beben. Ein Mann mit Muskelshirt und Pferdeschwanz stöhnte wie ein Pornostar, während er seine Hanteln bis über den Kopf hob und dabei seinen mit Anabolika vollgepumpten Körper im Spiegel bewunderte.

Vanessa stellte »Flash« von Freddie Mercury in ihren Ohrhörern lauter und erhöhte das Tempo. Mit langen Schritten und Eisengeschmack im Mund quälte sie sich durch den letzten Kilometer.

Eigentlich trainierte sich nicht gerne mitten am Tag, aber sie wollte den Kopf freikriegen. Sie dachte an die beiden Morde, die seit gestern auf ihrem Tisch lagen, und an ihren neuen Kollegen Samer Bakir. Sie hatte nichts gegen ihn, nicht wirklich. Er hatte ein gesundes Selbstbewusstsein, sowohl was seinen Job als auch was die Frauen betraf. Er war attraktiv und hatte ein entwaffnendes Lächeln, das die Frauen in seiner Umgebung sicher nicht kaltließ, wie Vanessa annahm.

Im Morgenmeeting hatte sich Samer wacker geschlagen, hatte konstruktive Vorschläge gemacht und kluge Fragen gestellt. Aus naheliegenden Gründen lag der Fokus der Ermittlungen zunächst auf Rikard Olsson. Vor dem Hintergrund seiner beruflichen Tätigkeit im Zusammenhang mit Bandenkriminalität war er möglicherweise bedroht worden.

Das Mobiltelefon der Toten war ein paar Meter von ihrem Fundort entfernt gelegen. Trude Hovland von der Kriminaltechnik fürchtete, es würde eine Weile dauern, es wieder zum Laufen zu bringen, aber Vanessa rechnete schon bald mit dem Nachweis der Einzelverbindungen.

Merkwürdigerweise waren ihr die Ermittlungen relativ gleichgültig, obwohl es um einen Kollegen ging.

Seit dem Amoklauf im Stadion, bei dem elf Frauen ums Leben gekommen waren, war es, als würde alles an ihr abperlen. Ihr Leben lief auf Sparflamme. Ein halbes Jahr war vergangen, doch die Bilder in ihrem Kopf waren noch immer präsent. Vielleicht war das der Grund, warum sie sich nicht richtig um Celine kümmern konnte. Das Mädchen war einsam. Ihr Vater hatte ein Alkoholproblem, ihre Mutter war tot. Sie brauchte eine Freundin, aber sie erinnerte Vanessa viel zu sehr an das, was sie viel lieber vergessen wollte. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie den Kontakt zu Nicolas Paredes hatte einschlafen lassen. Er war an ihrer Seite gewesen, als die beiden Attentäter getötet worden waren, und seit er nach London übergesiedelt war, hatte er sie mehrmals angerufen, aber sie hatte keine Kraft gehabt, ihm zu antworten. Mittlerweile hatte er offenbar aufgegeben, denn seit ein paar Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört.

Auf den letzten hundertfünfzig Metern plingte ihr Handy. Vanessa stellte das Laufband wieder langsamer und griff nach ihrem Handtuch. Sie trocknete sich Arme und Nacken und trank mit großen Schlucken aus ihrer Flasche. Wasser lief ihr am Kinn hinunter.

Die SMS war von Trude, die sie aufforderte, ihre E-Mails zu checken. Sie hatte ihr die Liste mit den Einzelverbindungen der toten Frau geschickt.

Vanessa scrollte bis zur letzten Nummer, die die Frau angerufen hatte.

»Das gibt’s ja nicht«, murmelte sie vor sich hin. »Das gibt’s einfach nicht.«

Sie klaubte ihre Sachen zusammen und steuerte die Umkleiden an. Verzichtete auf eine Dusche, zog sich die Winterjacke über die verschwitzten Sportklamotten und rief Trude an.

Während das Freizeichen ertönte, dachte sie an die Frau. Sie hatte die Leiche noch gar nicht angesehen, ihre Aufmerksamkeit hatte Rikard Olsson gegolten. Die Tote sollte im Laufe des Tages obduziert werden, das Labor hatte bislang noch keine Ergebnisse geschickt. Ihre Identität war ungeklärt. Nur die Todesursache in Form von zwei gezielten Messerstichen war bekannt. Einer hatte den Brustkorb verletzt, der andere den Halsbereich. Danach war sie im Matsch verblutet.

Aber das hier änderte alles.

»Ich muss sie sehen«, sagte Vanessa, als Trude sich meldete. »Jetzt.«

»Dann musst du nach Solna fahren. Die Obduktion fängt jeden Moment an. Gibt’s was Neues?«

Vanessa holte tief Luft und versuchte, sich zu sammeln. Zu viele Gedanken auf einmal gingen ihr durch den Kopf.

»Die letzte Nummer, die sie vor ihrem Tod angerufen hat, war meine. Meine alte. Die, die ich hatte, bevor ich gewechselt habe.«

Sie legte auf und rannte Richtung Präsidium, um ihr Auto zu holen. Der Endorphinkick, den sie normalerweise nach dem Training spürte, war ausgeblieben. An seine Stelle trat plötzliche Beklommenheit. Wer war diese Frau? Jemand, den sie kannte?

Sie spürte einen Stich in der Magengegend. Ihr fiel nur eine Person ein, auf die die Beschreibung passte.

Neun Nicolas und Erica Karlström saßen auf einer knarzenden, halb mit Zuschauern gefüllten Tribüne in der Eishalle von Tumba. Das letzte Spieldrittel neigte sich seinem Ende zu. James, die Acht auf dem Spielfeld, war der Kleinste in der Mannschaft. Der Helm mit Vollvisier war viel zu groß für seinen Körper, und das rote Trikot reichte ihm bis zu den Knien. Ein paar Minuten hatte er spielen dürfen, aber die meiste Zeit hatte er auf der Bank gesessen und den Kopf hängen lassen. Nicolas litt mit ihm. Erica hatte das Spiel hinter ihrer überdimensionierten Sonnenbrille verfolgt und keine Regung gezeigt. Auch als James mit einem Ellbogencheck zu Fall gebracht worden und auf dem Eis liegen geblieben war, hatte sie nicht besorgt gewirkt. Tatsache war, dass sie kaum Notiz davon genommen hatte. Er wusste, wie sie mit James umging, wenn sie nüchtern war – aufmerksam und liebevoll.

»Ich besorge noch einen Kaffee, den können Sie dann auf dem Heimweg im Wagen trinken«, entschied er.

Sie zuckte mit den Schultern.

Als er mit zwei Pappbechern und einem Schokoriegel zurückkam, um James damit aufzumuntern, hatte Erica die Sonnenbrille abgesetzt.

Sie nahm den Kaffee entgegen, ohne Nicolas anzusehen.

»Ich weiß, dass Sie die Absage Ihrer Schwester nur vorgeschoben haben.«

Nicolas tat, als wisse er nicht, was sie meinte. Er vermochte nicht zu sagen, ob das ein Vorwurf oder ein Dank war. Erica mahlte mit den Kiefern, griff wieder nach ihrer Sonnenbrille und schob sie sich auf die Nase.

Die Sirene ertönte, das Match war zu Ende. Djursholm hatte 6 : 2 gegen Tumba verloren. Die Spieler glitten über das Eis zu ihren Umkleiden.

Entgegen Nicolas’ Befürchtungen war James guter Dinge, als er mit seiner schweren Sporttasche angetrottet kam. Er wandte sich an seine Mutter.

»Carl-Johan hat gefragt, ob ich bei ihm übernachten darf«, sagte er begeistert. »May I?«

»Natürlich darfst du«, sagte Erica mit einem erleichterten Lächeln. »Ich schicke dir Zahnbürste und Kleidung mit dem Kurierdienst, wenn du mir die Adresse durchgibst.«

Nicolas, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat einen Schritt nach vorn.

»Gut hast du gespielt, James. Viel Spaß heute Abend. Wir sehen uns morgen.«

Dann schulterte er die Sporttasche und folgte Erica, die bereits auf ihren Wagen zuging. Er schloss den neuen schwarzen Range Rover auf, hievte James’ Sporttasche und Schläger in den Kofferraum und setzte sich hinters Steuer. Das Auto war mit dem alten identisch, worüber Nicolas sich gewundert hatte, als er es früher am Tag mit Johan abgeholt hatte. Ein Stück entfernt sah Nicolas, wie James und sein Mannschaftskamerad sich angeregt unterhielten und auf die Rückbank eines SUV setzten. Ganz automatisch merkte er sich das Nummernschild und parkte rückwärts aus.

Erst, als sie in nördlicher Richtung auf die E4 gefahren waren, räusperte Erica sich und drehte das Radio leiser.

»Ich war nicht immer so, wissen Sie«, begann sie. »Ich sehe Ihnen an, dass Sie mich verachten, und von Ihren vorwurfsvollen Blicken wird mir schlecht.«

Nicolas schwieg.

»Ich war glücklich, bevor ich Johan kennengelernt habe. Ich verfluche den Tag, an dem ich ihm begegnet bin, verdammt noch mal. Ich war 24 ich hatte doch keine Ahnung. Ein paar Jahre vorher habe ich bei einer Doku-Soap mitgemacht, und dann habe ich langsam die Kontrolle über mein Leben verloren. Irgendwann konnte ich nicht mal mehr in Bars auftreten. Für fünfzig Dollar durfte ich meine Möse in die Kamera halten, das waren die einzigen Angebote, die ich bekommen habe. Ich war pleite. Und ich dachte, es würde mir Sicherheit geben, mit jemandem wie Johan zusammenzuleben. Verflucht.«

»Erica, ich …«

Sie hob abwehrend eine Hand, und Nicolas verstummte.

»Jeden Tag, jeden einzelnen Tag erinnert er mich daran, wie dankbar ich ihm sein muss. Weil er mich vor mir selbst gerettet hat. Vor einem Leben als White-Trash-Mutter, die von Sozialhilfe lebt. Ich habe alles, Nicolas, und nichts. Er kann mich jederzeit rauswerfen, wenn er will. Verurteilen Sie mich ruhig, wenn Sie wollen. Ich bin sein Eigentum, genau wie Sie. Der Unterschied zwischen uns ist nur der, dass Sie jederzeit Ihre Sachen packen und gehen können.«

Nicolas tat Erica leid, aber er wusste nicht, was er sagen sollte, um sie zu trösten.

»Wissen Sie, warum Johan seinen Wagen austauschen wollte?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.

»Ich wusste gar nicht, dass er das gemacht hat«, gab sie zurück und starrte auf die düsteren Hochhäuser des Millionenprogramms, das Ergebnis des staatlichen Wohnungsbauprojekts aus den Sechzigern, ehe sie das Radio wieder lauter drehte.

Zehn Vanessa stellte ihren BMW auf dem Parkplatz im Retzius väg in Solna ab. Sie schob sich an Hecken und Motorhauben vorbei und folgte den Schildern, die den Weg zur Pathologie wiesen. Ihre Sportklamotten klebten ihr am Leib. Sie drückte die Klingel an dem großen Backsteingebäude und wartete. Nichts passierte. Sie klingelte ein zweites Mal, und das Licht ging an. Ein Mann in den Fünfzigern mit zurückgekämmten, schwarz glänzenden Haaren machte auf. Seine Brille mit dunkler Fassung hatte er auf den Kopf geschoben, im Ohrläppchen glänzte ein kleiner Goldring.

»Vanessa Frank?«

Er streckte die Hand aus, und Vanessa ergriff sie. Er roch nach Zigarettenrauch. Der Mann bat sie herein, und sie trat in eine große Halle mit Steinfußboden.

»Ich bin Peter Thysell. Ihre Kollegin hat mir gesagt, dass Sie die Frauenleiche sehen wollen, die gestern in Gärdet gefunden wurde.«

Vanessa nickte und zeigte ihren Polizeiausweis. Per Thysell ließ die Brille auf die Nase wandern, studierte den Ausweis und reichte ihn Vanessa zurück.

»Was wollen Sie denn wissen? Der Obduzent und ich fangen gleich an.«

»Ich möchte eigentlich nur einen Blick auf die Leiche werfen.«

Ihre Schritte hallten durch den Gang. Per Thysell blieb vor einer dicken Stahltür stehen und hielt einen Smartkey vor das Lesegerät. Dann gab er mit Zeige- und Mittelfinger einen vierstelligen Code ein. Es klickte, und die Tür glitt auf. Die Kälte, die Vanessa entgegenschlug, ließ sie frösteln. An der Längsseite des Raumes befanden sich Luken aus rostfreiem Stahl. Vanessa holte tief Luft. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Der Pathologe trat vor eine Luke, umfasste ihren Griff und zog sie auf.

Jetzt würde sie gleich alles hinter sich haben und das Gesicht eines völlig fremden Menschen sehen. Danach würde sie wieder nach Vasastan zurückfahren, sich duschen und Haare waschen. Gemütlich zu ihrer Stammkneipe McLarens hinunterschlendern, um ein bisschen mit dem Inhaber Kjell-Arne zu plaudern. Ein helles, unkompliziertes Lagerbier trinken, wieder nach Hause trotten und sich ausschlafen. Und weiter den Täter jagen, ohne jegliche Gefühle für das Mordopfer. Es gab mit Sicherheit eine vollkommen schlüssige Erklärung dafür, dass die Frau sie angerufen hatte. Oder sie hatte sich schlicht und ergreifend verwählt.

Per Thysell las den Leichenzettel, der an einem bleichen Zeh befestigt war.

»Das hier ist sie«, stellte er fest, zog die Bahre heraus und trat zur Seite.

Das grelle Neonlicht brachte die Schönheit ihres Gesichts besonders gut zur Geltung. Die dicken, schwarzen Haare glänzten. Ohne die beiden Messerstiche sähe sie aus, als würde sie schlafen, wie sie es so oft in ihrem Zimmer in Vanessas Wohnung getan hatte. Sie ließ den Blick über ihren Körper schweifen, über das geronnene Blut auf ihrem Bauch, über ihr Geschlecht, ihre Schenkel bis zu den Füßen. Die Natasja von Syrien bis nach Schweden getragen hatten, die zerschunden und müde durch Europa gewandert waren, auf der Suche nach einem Leben in Würde. Bis nach Stockholm. Zu Vanessa.

Natasja sollte in Syrien sein, bei ihrem Vater, und nicht hier. Nicht nackt auf einer Pritsche aus rostfreiem Stahl in der Pathologie in Solna liegen.

Per Thysell hatte die Arme vor der Brust verschränkt und musterte Vanessa stumm.

Sie brachte keinen Laut heraus. Als hätte sie eine Kiefersperre. Sie ging einen Schritt auf Natasja zu, streckte die Hand nach ihr aus und zog sie wieder zurück, ehe sie ihre Wange berühren konnte. Sie brachte es nicht über sich, ihren kalten Körper zu spüren.

Eine Träne rann Vanessas Wange hinab und tropfte auf den Klinkerboden.

Per Thysell wurde unruhig.

»Wer ist sie?«

Vanessa antwortete mit belegter Stimme. »Mein Ein und Alles.«