Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sam Sapadi ist ein Kind seiner Zeit, ein junger Mann, den es von der Provinz in die Großstadt treibt. Ein gescheiterter Revolutionär, der sich in die Literatur flüchtet, sich als Speisekartenlektor, Literaturredakteur und schließlich als Werbetexter verdingt und am Ende alles verrät, was ihm dereinst als gut und richtig erschien. Ein Mann versucht das Unmögliche. Er versucht mit dem Rauchen aufzuhören. Nicht einmal, sondern viele Male. Je öfter er scheitert, desto tiefer wird er hineingezogen in einen Strudel aus Abhängigkeit und Selbstbetrug. Er belügt sich, seine Mitwelt und seine Frau. Sam Sapadis Geschichte vom Ausbruch aus der sozialen Enge der Provinz, vom berufl ichen Aufstieg und damit verbundenen neuen Zwängen und Abhängigkeiten ist auch eine subjektiv erlebte Entwicklungsgeschichte Österreichs ab den 1970er Jahren. Peter Klein erzählt von Süchten. Die einzelnen Etappen dieser Karriere, die auch eine Geschichte des Rauchens ist, werden durch Zigarettenmarken defi niert. Der Held raucht sich hoch. Befreit fühlt sich Sam erst, als er aufhört, Widerstand zu leisten. Er kapituliert. Und aus den kleinen, schönen Feinden werden Freunde.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
PETER KLEIN
ROMAN
MILENA
1. Dreier
2. Memphis
3. HB
4. Smart
5. Flirt
6. Zigarillos
7. Milde Sorte
8. Drum
9. Gauloises Blondes
10. Stuyvesant
11. Beedis
12. Camel lights
13. Camel
14. Nicorette
15. Joints
16. Nicotinell
17. Marlboro rot
Alle Zigaretten, die ich jemals geraucht habe, mögen mir beistehen.
Italo Svevo
Seine erste letzte Zigarette rauchte Sam Sapadi im Juni vor sechsundzwanzig Jahren. Sie würde ihn nicht länger küssen, hatte Lucinda gesagt, wenn er weiterhin so stinke.
Sam zögerte nicht. Er spürte etwas Heldenhaftes in sich aufsteigen. Es war nötig zu zeigen, dass er Herr seiner selbst war. Dass er sich im Griff hatte. Morgen, sagte Sam, gib mir Zeit bis morgen. Morgen höre ich auf.
Lucinda war, obwohl sie nicht reiten konnte, Argentinierin. Ringo und er hatten sie und Samantha, eine kleine, drahtige Schottin mit kurzen Zöpfen, in Kufstein an der Grenze aufgegabelt. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, am frühen Abend Tramper einzusammeln. Sie kamen aus Deutschland, Dänemark oder Holland und wollten in den Süden. Die meisten waren froh über ein Abendessen und einen Platz im Matratzenlager. Manche blieben eine Nacht, andere eine Woche, Einzelne verbrachten den ganzen Sommer in Tiefenbach. Das Haus am Inn war jahrelang leer gestanden. Ringos Großeltern hatten es bald nach dem Krieg gebaut. Jetzt roch es nach Moder, und der Hang drückte Wasser in den Keller.
Der Garten war verwildert. Ringos Eltern, ein glückloser Fotograf und eine evangelische Heimleiterin, zahlten die Baumaterialien; renovieren müsse er es selbst. Ringo ließ sich das nicht zweimal sagen. Seine Schwester Edda, die in Heidelberg Sozialpädagogik studierte, brachte ihren Freund und dessen Freunde mit. Revolutionäre, die Rudi Dutschke kannten.
Oder zumindest jemanden kannten, der Rudi Dutschke kannte. Bruno, er war bereits siebenundzwanzig und versuchte auszusehen wie der junge Fidel Castro, hatte in Heidelberg eben sein Medizinstudium abgeschlossen. Er hatte gegen den Vietnamkrieg demonstriert und wollte Schönheitschirurg werden. Man müsse die Reichen dort treffen, wo’s wehtut, sagte er.
Mit dem Skalpell mitten ins Gesicht. Dafür sollten sie bluten und blechen, die Fettsäcke und ihr Aufputz. Nicaragua sei bloß ein Alibi, Kaffee ernten könne jeder. Sam, der damals noch Thomas hieß, gefiel das. Er wollte raus aus dem Schweinesystem.
Sam rauchte Dreier. Billig und unparfümiert. Zumindest während er arbeitete, rauchte er Dreier. Allein schon aus Solidarität mit der Arbeiterklasse. Wiewohl die Arbeiterklasse selbst die filterlose Ära auf dem Weg zum Kleinbürgertum bereits hinter sich gelassen hatte. Sams Vater und seine Kollegen rauchten mittlerweile Hobby oder Smart. Teurer, aber gesünder, sagte Sams Vater. Als ob er sich jemals um seine Gesundheit geschert hätte.
Die Dreier konnten herrlich sein, vorausgesetzt, sie waren einigermaßen frisch. Ausgetrocknet sprühten sie, wenn man sie anzündete, wie Weihnachtskerzen und schmeckten nach Stroh.
Die Schachteln waren flach, die Zigaretten elliptisch. Man konnte sie, wenn man sie bis auf den Stummel rauchte, mit Daumen und Zeigefinger wie mit einer Pinzette halten und anziehen, bis die Glut an den Fingerspitzen brannte.
Viele Jahre später, Sam lebte bereits in Wien, zündete er sich, als man in U-Bahnstationen noch rauchen durfte, in der U1-Station am Süditroler Platz eine Zigarette an, um das Eintreffen des Zugs zu beschleunigen. Das funktionierte immer. Als er mit dem Fingernagel gerade die Glut wegschnippte, um den Rest der Zigarette zu retten, legte sich eine schwere, behaarte Hand auf seine Schulter. Du auch Arbeiterklasse?, sagte ein offenbar vom Balkan stammender Mann mit Arbeitsschuhen und einem Malerkübel in der Hand. Sam hätte ihn umarmen mögen. Er schenkte dem Mann die halb volle Packung. Ich habe noch genug, sagte er, ich habe genug.
Abends, wenn beide Hände frei und sauber waren, wuzelte Sam sich seine Zigaretten. Zunächst aus Landtabak, später brachten die Heidelberger Drum mit nach Tiefenbach. Ein Tabak, der nach »holländischer Art« aufbereitet wurde, wie es hieß. Und Holland war immer gut. Wenn der Tabak austrocknete, legte man über Nacht ein, zwei Apfelspalten in die Packung oder mischte ein paar Tropfen Wasser bei. Cognac wäre besser, sagte Bruno.
Aber Cognac hatten sie nicht. Wenn Sam Beton mischte, auf dem Gerüst stand, um den groben Außenputz abzuschlagen, oder wenn er den Garten zu roden versuchte, mussten es Dreier sein. Austria 3 hieß die Marke offiziell. Irgendwann einmal nahm die Österreichische Tabakregie die Zigarette vom Markt. Billig allein reichte nicht mehr.
Sam sah sich gern mit einer Dreier im Mundwinkel. Das erinnerte ihn an die Fotos amerikanischer Bauarbeiter, die beim Bau von Wolkenkratzern in schwindelnden Höhen auf Stahlträgern sitzend eine Arbeitspause machten und sich eine Zigarette gönnten. In einem Kino in Graz hatte er einmal ein Plakat gesehen. Arbeiter in atemberaubender Höhe. Direkt daneben ein zweites Plakat. Humphrey Bogart ließ lässig eine Zigarette aus seinem Mundwinkel hängen. Niemand konnte rauchen wie er.
Sam hatte spät damit angefangen. Nicht mit fünfzehn oder sechzehn, sondern in den großen Ferien vor dem letzten Schuljahr. Er hatte in einer Kettenfabrik in der Obersteiermark im Zweischichtbetrieb gearbeitet. Sie stellten Schneeketten her. Auch Schiffsketten. Sam bediente eine der Maschinen, die die bereits zu einem Glied gebogenen, manchmal fingerdicken Ketten an der noch offenen Stelle verschweißten. Seine Aufgabe bestand darin, darauf zu achten, dass die offenen, unverschweißten Stellen immer oben zu liegen kamen, bevor die Maschine die Kettenglieder ruckweise fraß. Die Maschine erledigte alles. Fast alles. Nur oben und unten konnte sie nicht unterscheiden. Seine Maschine stand an der Frontseite der riesigen Halle direkt unter der Uhr. Immer wieder bemühte er sich, mindestens fünf Minuten lang nicht auf die Uhr zu blicken. Es gelang selten. Es konnte Ewigkeiten dauern, bis der große Zeiger mit einem federnden Ruck in die nächste Minute sprang.
Beim Bier nach der Arbeit, wenn sie auf den Bus warteten, gehörte es dazu. Es war das Mindeste, was Sam tun konnte, um guten Willen zu beweisen. Als Kind hatte er sich geschworen, niemals, niemals eine Zigarette anzurühren. Wenn sein Vater, egal zu welcher Tageszeit, aufstand, hörte man aus dem Obergeschoß sein langes, trockenes Husten. Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis der Schleim sich aus den Tiefen der Lunge löste und Vater sich mit einer Hand am Treppengeländer in Richtung Badezimmer zitterte. Immer noch in Unterhosen und Trägerleibchen kam er mit bleistiftdicken Adern am Hals und rotblau angelaufen grußlos in die Küche, nahm ein Bier aus dem Kühlschrank, trank es stehend in zwei, drei Zügen und rauchte, während er sich mit einer Hand am Kühlschrank abstützte, die erste Zigarette des Tages. Das nie, dachte Sam. Niemals wolle und werde er so enden.
Mit achtundfünfzig wurde Vater als Schicht- und Schwerarbeiter mit einem Warenkorb verabschiedet und in Rente geschickt. Wenige Jahre später war er tot. Die Lunge hatte nicht mehr mitgemacht.
Von dem Moment an, als Sam Lucinda versprochen hatte, ab dem nächsten Morgen nicht mehr stinken zu wollen, war jede Selbstverständlichkeit verflogen. Er sagte es niemandem. Er wollte, falls er es nicht schaffte, nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Es war sein erstes Mal. Sam hatte noch nie aufgehört zu rauchen. Es könne nicht so schwierig sein, dachte er, nachdem er ja erst seit drei oder vier Jahren rauchte. Er fühlte sich nicht süchtig. Sucht war kein Thema. Er rauchte bloß. Alle rauchten. Bis auf Ringo. Nachdem man einen Schatten auf seiner Lunge festgestellt hatte, war die Sache für ihn erledigt. Er verbrachte fast das ganze Sommersemester der siebten Klasse in einem Lungensanatorium. Davor hatte er filterlose Gitanes geraucht. Nicht viele, aber doch. Nach den vier Monaten im Sanatorium nutzte Ringo die Chance und kehrte nicht mehr in die Schule zurück.
In diesem Sommer war Ringo schon zwei Monate vor Sam nach Tiefenbach gekommen. Er hatte, während Sam sich auf seine Lehramtsprüfungen vorbereitete, den Präsenzdienst absolviert. Nicht den Zivildienst, den Präsenzdienst. Ringo war an praktischen Dingen interessiert. Auch Waffen, sagte er, seien Geräte, die man auseinandernehmen und wieder zusammenbauen könne. Wie Autos, Möbel oder Häuser. Mac, Soziologe, Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei und Roth-Händle-Raucher, der auf dem Weg nach Kreta gemeinsam mit Lilo mehrere Wochen in Tiefenbach verbrachte, war der Einzige, der Ringos Entscheidung guthieß. Bruno und er kannten sich seit ihrer Schulzeit. Es ginge nicht, meinte Mac, dass alle linken Wichser in den Zivildienst auswichen. Man könne das Militär nicht den Arschlöchern überlassen. Mac war pausbäckig und rotgesichtig. Er wirkte, als ob er dem Etikett einer Schweizer Kräuterschnapsmarke entstiegen wäre. Lilo, die ihre violett verspiegelte John-Lennon-Brille nur selten abnahm, schwieg. Sam wusste wenig über sie. Nur, dass sie aus einer Ärztefamilie in Hannover stammte. Manchmal sah man sie gemeinsam mit Edda im Garten sitzen, sie sprachen lange und leise. Edda in einem lang wallenden, indisch anmutenden Gewand, Lilo in kurzen, abgeschnittenen Jeans. Edda rauchte nicht. Sie habe es mit dem Magen, sagte sie. Sam verstand nicht, was Zigaretten mit dem Magen zu tun haben sollten. Lilo paffte. Manchmal wäre Sam gerne eine Frau gewesen.
Ringo zeigte sich von den endlosen Debatten genervt. Es gab nichts, was nicht auf seine gesellschaftliche und politische Relevanz hin überprüft werden musste. Ringo war aber in der Welt des Praktischen zu Hause. Er konnte alles. Er reparierte Autos, legte Leitungen, wusste, wie man ein Dach isolierte und welche Materialien man dazu brauchte.
Ringo hatte einen Körper wie eine Festung: bestenfalls mittelgroß, stämmig, ein kleiner, muskulöser Bauch. Sein Großvater, der Erbauer des Hauses, war Bahnhofsvorstand in Wörgl und ein nicht untalentierter Hobbymaler gewesen. Seine Landschaftsaquarelle überlebten alle Umbauarbeiten. Sie seien »authentisch«, sagte Lilo. Kunst aus sich selbst heraus und damit nicht dem kapitalistisch gesteuerten Kunstmarkt verpflichtet. Ringo hatte ein sicheres Gespür für die herablassende Aufmerksamkeit, mit der Brunos Freunde ihn und Sam behandelten. So müssen katholische Missionare Eingeborene gesehen haben. Gute Menschen an sich, unverfälschte, naturwüchsige Subjekte, formbares Material.
Wenn Ringo nicht arbeitete, nichts reparierte, nicht kochte oder gerade nicht Fußball spielte, trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte, schlug mit der flachen Hand Rhythmen auf die Oberschenkel oder schnippte mit den Fingern. Ringo hatte ein Schlagzeug im Keller stehen. Er hatte kein Interesse, in einer Band zu spielen, aber er liebte sein Schlagzeug. Das Schlagzeug hatte ihm auch früh seinen Spitznamen eingebracht. Wiewohl er mit Ringo Starr gar nicht so viel am Hut hatte. Wenn schon, dann Ginger Baker, sagte Ringo, er verehrte den Schlagzeuger der Cream. Manchmal, wenn oben in der Küche zum wiederholten Mal das Privateigentum abgeschafft, die Monogamie als reaktionär verurteilt und Eifersucht als »psycho-emotionales Korrelat des kapitalistischen Eigentumsdenkens« erkannt wurde, hörte man, gleichsam als Gegenstimme, Ringo im Keller Schlagzeug spielen. Ringo hielt Intellektuelle für Schwätzer. Und er kommentierte das Geschwätz auf seine Weise. Später holte er eine Tischlerlehre nach, machte die Meisterprüfung, baute Wohnungen um und renovierte Häuser.
Am Abend bevor Sam Sapadi seine erste letzte Zigarette rauchen sollte, fuhren sie wie fast jeden Abend zum See. Das Badezimmer war noch nicht fertig, sie nutzten die ganz große Badewanne, wie Bruno zu sagen pflegte. Auch wenn das Wasser im Juni noch einigermaßen frisch war. Manchmal kickten auch die Frauen mit, wenn sie, um sich aufzuheizen, am Ufer Fußball spielten. Sam mochte das, es ging dann nicht ganz so kämpferisch zu. Er war schlecht im Sport. Erhitzt und übermütig wie junge Hunde stürzten sie sich anschließend ins Wasser. Manchmal lagen abends bereits Nebelschwaden auf dem See. Lucinda band sich ihre Haare hoch und glitt ohne jede Hast ins Wasser. Sie konnte endlos schwimmen. Samantha schwamm nicht. Sie behielt ihren Pullover an, stieg ein Stück weit in den See, blieb regungslos stehen und sang schottische Lieder. Zumindest glaubte Sam, dass es schottische Lieder waren. Manchmal meinte er zu sehen, wie sich die Töne über den See verbreiteten und mit den Nebelschwaden verschmolzen. I can see your music!, rief er Samantha zu. Sie wendete den Kopf und sah ihn ausdruckslos an.
Nachdem Sam sich die Haare gewaschen hatte, rauchte er noch eine. Die Zigarette nach dem Schwimmen liebte er besonders. Der tief inhalierte Rauch fühlte sich gut an in der Lunge.
Ein leichtes Brennen, ein sanftes Schwindelgefühl.
Er werde morgen nicht mitkommen an den See, dachte Sam. Er würde sie zu sehr vermissen, diese herrlichen tiefen Züge und das Gefühl von Intensität, wenn man den Körper von innen her spürte.
Lucinda beobachtete ihn amüsiert. Wie jemand, der ein Spiel in Gang gesetzt hatte und nun zusah, was weiter geschah. Sam fühlte einen leichten Groll in sich aufsteigen. Er kam sich vor wie eine Maus im Labor. Eigentlich wollte er Lucinda diesen Triumph nicht gönnen. Aber aufgeben, noch bevor es angefangen hatte, war keine Option. Sam fürchtete sich vor dem, was kommen würde. Es würde in jedem Fall ein langer Abend werden. Von nun an war jede Zigarette eine letzte. Die nach dem Schwimmen, die nach dem Abendessen und irgendwann die allerletzte.
Zu Hause gab es Nudeln. Bruno und Edda waren nicht mit an den See gefahren und hatten gekocht. Vielleicht waren sie auch nur froh darüber gewesen, zwei, drei Stunden für sich zu haben, viel Privatsphäre gab es im Haus nicht, obwohl Bruno und Edda unten im Erdgeschoß ein eigenes Zimmer hatten. Ringo bewohnte die kleine Kammer neben der Küche, alle anderen, auch Sam, schliefen in Schlafsäcken im ausgebauten Dachboden, einem großen, mit Holz verkleideten Raum. Sie hatten den Dachboden im Sommer davor unter Ringos Anleitung ausgebaut. Im Sommer waren die Nächte heiß, im Winter kalt. Ein weiteres Zimmer, eines für Sam, sollte noch entstehen. Ein kleines, aber hübsches Zimmer mit Zugang zum Balkon. Sam mochte es nicht besonders, Nacht für Nacht in den Schlafsack zu kriechen. Er schlief schlecht, wenn er die Füße nicht ins Freie stecken konnte.
Abend für Abend schafften sie es, gestaffelt im Obergeschoß zu verschwinden. Sam wollte nicht beim Ausziehen gesehen werden. Er zeigte seinen Körper nicht gerne; die Beine zu dünn, kaum Muskeln. Er sei nicht stark, aber zäh, pflegte er zu sagen. Als ob Zähigkeit irgendjemanden interessiert hätte. Er vermied es, kurze Hosen zu tragen, auch beim Fußballspielen behielt er die dunkelblaue Arbeitshose an; man hatte eine angeborene Hüftgelenksdysplasie nicht erkannt und nicht behandelt. Er war ein schlechter Fußballer, ein schlechter Schifahrer, schlecht in allem, was körperliche Kraft, Beweglichkeit und Geschicklichkeit erforderte.
Er gehe schlecht, sagte die Mutter. Er sei faul, sagte der Großvater. Irgendwann, Sam muss ungefähr acht gewesen sein, brachte ihn die Mutter zum Gemeindearzt. Er ließ Sam in seiner schwarzen Turnhose zweimal diagonal durch das Ordinationszimmer gehen. Er geht halt schlampig, sagte der Doktor, das wächst sich noch aus. Fortan verprügelte ihn die Mutter, wenn er es nicht wie die anderen mit ausholendem Beinschwung auf das Herrenfahrrad schaffte, wenn er humpelte, bei der Kartoffelernte oder beim Brennholzmachen schwächelte. Erst bei der Musterung, Sam war achtzehn, erkannte der Militärarzt, dass etwas nicht stimmte. Er schickte ihn zu einem Orthopäden, dieser zum Röntgen. Hüftgelenksdysplasie. Nicht schwer, aber doch. Wäre leicht zu vermeiden gewesen. Sam war dankbar für diese Diagnose. Erstens musste er nicht zum Militär, zweitens hatte er sich bisher für eine selbstverschuldete Fehlkonstruktion gehalten. An der Fehlkonstruktion hatte sich durch die neue Einsicht nichts verändert, aber immerhin: Er war nicht mehr schuld.
Seit der Zigarette am See rauchte Sam im Viertelstundentakt. Selbst während des Essens hatte er den Drang zu rauchen. Er aß schnell und wenig. Lucinda schwieg. Als ob er ihr leidtäte.
Als ob sie ihn in etwas getrieben hätte, was sie so gar nicht wollte. Lucinda war auf einer ausgedehnten Europareise. Ihr deutschstämmiger Vater, ein Verehrer Heinrich Heines, hatte es bis zum Senatspräsidenten gebracht. Was immer das in Argentinien auch heißen mochte. Lucinda und ihre beiden jüngeren Brüder mussten auf eine deutsche Schule. Sie sprach ein gepflegtes, nahezu akzentfreies Deutsch. Zum Schulabschluss hatte ihr Vater ihr eine zweimonatige Europareise geschenkt: Paris, London, die alte deutsche Heimat, Italien, Griechenland. In Amsterdam hatte sie Samantha kennengelernt. Da sie beide nach Italien wollten, beschlossen sie, ein Stück gemeinsam zu reisen. Manchmal nahmen sie den Zug, manchmal trampten sie. Tiefenbach kam ihnen gelegen.
Spät am Abend fuhren Sam, Samantha, Lilo und Mac noch in die Diskothek. Lucinda wollte nicht mit; sie müsse endlich ihren Eltern schreiben, sagte sie. Sam fühlte sich im Stich gelassen. Während der Fahrt, es war nicht allzu weit von Tiefenbach bis nach Wörgl, rauchte er. Er war stolz darauf, sogar im Auto, als Lenker, im Dunkeln Zigaretten drehen zu können. Er legte beide Hände auf die untere Seite des Lenkrads und wuzelte. Nur auf geraden Strecken natürlich. Aber er kannte den Weg. Vor allem im Sommer, wenn Holländerinnen, Deutsche und Skandinavierinnen Urlaub in den Bergen machten, fuhren sie die Strecke oft. Manchmal konnte Sam sich nicht mehr erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Einmal hatten sie ernsthaft darüber diskutiert, wer nach Hause fahren müsse. Die Entscheidung war aus Gründen der Verkehrssicherheit auf Ringo gefallen. Er hatte nur acht Bier getrunken, bei Sam waren es zehn. Sie waren stolz darauf gewesen, so vernünftig zu sein.
Das Edelweiß war ein hässliches Gewölbe im Keller des gleichnamigen Hotels; die Wände waren aus Sichtbeton, die neonfarbenen Sitzecken unbequem. Aber wenigstens war es laut und schummrig, und der Discjockey spielte nicht Franz Josef Degenhardt, sondern Creedence Clearwater Revival. Mindestens stündlich Kung Fu Fighting und, als speziellen Gruß an die Gäste aus Skandinavien, Waterloo von Abba. Wie immer hatten sie einen Kasten Bier im Auto. Mehr als eine bezahlte Konsumation am Abend war nicht drin. Und wann immer sich die Gläser leerten, schlüpfte einer von ihnen in den übergroßen Parka, ging zum Auto und schmuggelte ein, zwei Flaschen in die Disco. Das Bier war warm, aber billig. Eric, der eigentlich Erich hieß, aber fand, dass sich Eric in einer international bevölkerten Disco besser mache, drückte ein Auge zu. Es war nicht der einzige Deal, den sie mit ihm hatten. Wer immer einen Musikwunsch äußerte, den Eric auch erfüllen konnte, musste ein paar Schilling in ein rosa Sparschwein werfen. Die Spenden sollten einem Kinderhilfswerk zugutekommen, das sich um krebskranke Kinder und deren Eltern kümmerte. Wenn Eric nach »Dienstschluss«, wie er zu sagen pflegte, mit ihnen zurück nach Tiefenbach fuhr, nahm er das Sparschwein mit. Wochen davor, nachdem Eric die Sparschweinidee nicht ganz selbstlos vorgebracht hatte, stritten sie sich eine halbe Nacht lang über den Namen der Aktion. Eric hatte »Tod dem Kindertod« vorgeschlagen. Edda war das zu drastisch. Bruno argumentierte, zweimal »Tod« sei zu viel für einen kurzen Satz. In der Schule wäre das mit Sicherheit nicht durchgegangen. Sam fand, dass die gute Laune in der Disco nicht mehr als nötig getrübt werden dürfe. »Tod dem Kindertod« sei definitiv zu viel des Bösen, das könne der Spendierfreudigkeit schaden. Ringo hatte moralische Bedenken. Krebskranke Kinder, fand er, dürften nicht missbraucht werden. Andererseits schade man ja niemandem. Die vierzig, fünfzig Schilling, die nach Erics Schätzungen Abend für Abend zusammenkommen würden, taten keinem weh und könnten die chronisch notleidende Haushaltskassa entlasten. Man verjuble das Geld ja nicht, sagte Bruno. Schließlich arbeite man hier an einem wegweisenden gesellschaftlichen und politischen Projekt, das eben kreativer Finanzierungsmöglichkeiten bedürfe. Sam schlug schließlich »Kinder in Not« vor. Das sei allgemeiner und nicht so unappetitlich. Man könne die Kinderaugen förmlich glänzen sehen. Zudem verstünde er etwas von Slogans, sagte Sam, wobei er selbst nicht wusste, warum man ihm das glauben sollte. Bruno hob fragend die Augen, unterließ es aber, eine Kompetenzdebatte anzuzetteln. Na dann, sagte er und schlug vor, zuzustimmen. Edda war müde und nickte. Ringo stimmte, weil er nicht länger diskutieren wollte, ebenfalls zu. Eric, der den Slogan in der Discothek über die Rampe bringen musste, waren starke Sprüche lieber als schwache, nahm aber wahr, dass es offenbar auch in Landkommunen Regeln gab. Er wusste zwar nicht welche, ahnte jedoch, dass sie vor allem von ihm nicht übertreten werden sollten. Außerdem konnte es ihm ja letztlich egal sein, welcher Spruch auf dem blöden Sparschwein stand.
Seit das Sparschwein mit Letraset beschriftet und unübersehbar auf dem Tresen platziert war, übernachtete Eric oft im Haus. Er war an den Girls interessiert, weniger am ideologischen und politischen Kram. Und die Girls zeigten sich nicht abgeneigt. Wenigstens ein Tiroler in Tirol. Sam war eifersüchtig auf Erics Erfolge. Eric trug immer weiße Hemden und rote Hosen. Sein Skilehrerenglisch war beschränkt, aber vital. Nicht dass Sam es besser gekonnt hätte. Aber er hatte seines wenigstens in der Schule gelernt, und nicht auf der Piste oder beim Après-Ski.
Eric hatte neben seinem ruralen Charme und seinen Geldsammlerqualitäten noch einen weiteren Vorzug. Er war gelernter Elektriker. Er schlief im Regelfall bis Mittag. Selbst der Baulärm schien ihn nicht zu stören. Nachdem man ihn mit entsprechenden Mengen Kaffee und zwei Spiegeleiern versorgt hatte, tat er, wenn notwendig, das, wofür man ihn brauchte: Er kümmerte sich um das Elektrische.
Zurück aus der Disco blieb Sam noch alleine in der Küche sitzen. Es gab noch eine halbe Flasche Selbstgebrannten im Küchenschrank. Ringos Vater hatte ihn bei seinem letzten Besuch mitgebracht. Sam suchte ein Schnapsglas im Küchenschrank. Aus der Flasche zu trinken wäre ihm, trotz allem, als zu dramatisch erschienen. Das Wissen, dass die letzte Zigarette die allerletzte sein sollte, überforderte ihn. Also rauchte er eine vorletzte. Und noch eine vorletzte. Schon während er eine Zigarette rauchte, überkam ihn das Bedürfnis, die nächste zu rauchen.
Und obwohl er wusste, dass man nicht auf Vorrat rauchen konnte, tat er es trotzdem. Die allerallerletzte, nahm er sich vor, würde er erst rauchen, nachdem er sich die Zähne geputzt und sich ausgezogen hatte. Der Zeitraum zwischen dem letzten Zug und dem Moment, als er in seinen Schlafsack kroch, musste so kurz wie möglich gehalten werden. Mit einem letzten Schnaps und der allerallerallerletzten Zigarette in der Hand ging er, in Unterhosen und T-Shirt, hinaus in den Garten. Es begann bereits hell zu werden. Die Kälte tat ihm gut. Sam sog sich voll. Es war herrlich, das Brennen in den Lungen zu spüren. Besser noch als nach dem Schwimmen. Er wusste nicht mehr, warum er auf dieses Gefühl, lebendig zu sein, verzichten sollte. Er wusste nicht, ob er es konnte. Es ging nicht mehr um Lucinda. Es ging um Sieg oder Niederlage. Er hatte sich in ein Duell gegen sich selbst zwingen lassen. Eines, in dem er gewann, wenn er verlor. Und verlor, indem er gewann.
Noch im Schlaf wusste Sam, dass er keinesfalls aufwachen dürfe. Oft schon hatte er darüber nachgedacht, wie seltsam es war, sieben, acht oder mehr Stunden nicht rauchen zu müssen, kein Verlangen zu spüren, wo er doch im Kino bereits nach der Werbung fürchtete, sich nicht mehr auf den Film konzentrieren zu können. Filme mit Überlänge waren ihm ein Gräuel. Er kaute und lutschte Sportgummis. Ins Theater ging er damals noch nicht. Später, in Wien, wählte er Aufführungen mit überschaubarer Länge. Sein Großvater väterlicherseits, der Sapadi-Opa, ein dürrer, leicht gebeugter Mensch mit großer Nase, der in der alten, rumänischen Heimat ein Sägewerk besessen hatte und in der neuen Heimat nahezu nichts, musste ähnlich empfunden haben. Nacht für Nacht stellte er sich den Wecker auf ein Uhr, um eine bereits vorsorglich vor dem Schlafengehen gedrehte Zigarette zu rauchen. Um Oma nicht zu stören, schlief er auf dem Kanapee in der Küche, eingeklemmt zwischen Wand und Ofen. Er machte Licht, setzte sich auf, trank ein paar Schlucke Tee mit Rum, der auf dem Herd warmgehalten wurde, und schlief, nachdem er geraucht hatte, zufrieden wieder ein. Den Zeitpunkt hatte er präzise berechnet. Um neun ging er schlafen, um fünf stand er wieder auf. Acht Stunden. Die Zigarette teilte seinen Nachtschlaf exakt in der Mitte. Um fünf kam Oma in die Küche, heizte den Ofen an, machte Milchkaffee. Nach dem Kaffee schlüpfte er sommers wie winters in eine dicke Jacke, ging über den Hof, fütterte den Ochsen und den Hund und belohnte sich mit dem ersten Schnaps des Tages. Opa hatte sich sein Leben gut eingeteilt.
Als es kein Entkommen mehr gab, versuchte Sam sich zu orientieren. Es war gleißend hell.
Er schwitzte. Die Stelle zwischen den Augenbrauen sandte Blitze unter die Schädeldecke.
Dort, wo früher die Zunge lag, hatte sich ein pelziges Tier breitgemacht. Sam hatte Durst. Von draußen drang fröhlicher Baulärm ins Matratzenlager. Es war niemand mehr da.
In der Küche war das Frühstücksgeschirr weggeräumt. Sam fand eine Dose mit Pfirsichkompott. Er wusste, dass ihm der süße, klebrige Saft nicht guttun würde. Und er spürte, dass der Feind eine andere, unerwartete Gestalt anzunehmen begann. Es war nicht das Verlangen. Sondern das Wissen, dass er ein Verlangen zu haben hätte. Blinzelnd, die Sonne schmerzte, trat er vor die Tür.
Wie geht’s?, fragte Lucinda.
Bestens, sagte Sam, ich werde jetzt hundert Jahre alt. Er wusste nicht, ob er ein Held war oder das Häufchen Elend, als das er sich fühlte. Er litt doppelt, wenn nicht gar dreifach. Er war verkatert, und er litt, weil er wusste, dass er leiden würde. Der Kopfschmerz und die Übelkeit schützten ihn vor Schlimmerem. Er litt nicht, weil er nicht rauchte, sondern er litt, weil er sich davor fürchtete, rauchen zu müssen. Die auf dem Fensterbrett liegenden Zigaretten, Dreier und Roth-Händle, strafte er mit Missachtung. Aus der Brusttasche von Brunos Arbeitsjacke lugte ein Päckchen Tabak. Mit der Schärfe einer hochauflösenden Kamera nahm er wahr, wer wann was rauchte, ob die Zigaretten mit Feuerzeug oder Streichhölzern angezündet wurden, ob die Zigaretten zwischen Zeige- und Mittelfinger oder in der hohlen Hand zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten wurden. Er sah, ob jemand mit zusammengekniffenen, trockenen oder mit geschürzten, feuchten Lippen rauchte. Er sah, ob die Stummel mit einem Mittelfingerkick in hohem Bogen weggeschnippt, in eine leere Bierflasche versenkt oder in eine der vielen mit Wasser gefüllten Dosen geworfen wurden.
Aschenbecher gab es nur im Haus. Sie bevölkerten Fensterbretter und die Küchenkredenz, einer war am Klo, nur oben im Matratzenlager war Rauchen verboten. Zu gefährlich, fand Bruno. Manche waren blechern und flach, einer warb für Martini Bianco und musste früher einmal in einer italienischen Bar seinen Dienst verrichtet haben. In der Mitte des Küchentischs thronte ein Ungeheuer aus schwerem geschliffenen Glas. Ein zum Aschenbecher degradierter Luster, der mit seinem Schliff und den vielen Kanten vorgab, aus Bergkristall zu sein. Wenn er überzuquellen begann, lupfte jemand mit dem seitlich am Herd hängenden Haken den inneren Ring der Ofenplatte und übergab die Reste dem Feuer. Falls eines brannte. Abends brannte aber meistens eines. Asche zu Asche, sagte Mac. Er war, obwohl er aus Norddeutschland stammte, früher Ministrant gewesen. Er kannte sich aus. Der Weg vom Katholizismus zum Kommunismus sei kürzer, als man denkt.
Ringo fragte, ob Sam mit ihm den Keller ausräumen wolle. Er musste diesen Sommer noch trockengelegt werden. Sam hatte keine Ahnung wie. Ringo wollte eine Werkstatt einrichten, und er fürchtete um sein Schlagzeug. Edda und Bruno hatten vorgeschlagen, aus dem Holz, das sie zurzeit für Verschalungen verwendeten, später Stellagen zu bauen, um für den Winter Äpfel, Kartoffeln, selbst gemachte Marmelade und Holundersekt einlagern zu können. Sam war dankbar. Alles war besser als Nichtstun. Und die feuchte Kühle des Kellers war gut für seinen Kopf. Die Tatsache, dass er nicht mehr rauchte, blähte sich auf und nahm sein gesamtes Bewusstsein in Anspruch. Andrerseits funktionierte er. Ringo hatte einen Plan. Er wusste, was anstand, was wohin gehörte. Sam war froh über jede Kiste, die er durch die Garage nach draußen schleppen durfte. Das meiste warfen sie in einen Container. Alte Kleider, Lederzeug, leere, bauchige Flaschen, Einweckgläser, Geschirr, Schachteln, unzählige Jahrgänge einer Zeitschrift der Transportarbeitergewerkschaft, mehrere Paar Ski, Schuhe, Stöcke, Steigeisen, Lampen und Werkzeuge, die man vielleicht einem Volkskundemuseum hätte anbieten können.
Sam fuhr nicht mit den anderen zum See. Er war verschwitzt und verdreckt, wusch sich umständlich mit kaltem Wasser und stutzte sich mit einer kleinen Schere den Bart. Er zog ein frisches T-Shirt an, betrachtete sich im Spiegel und bot sich an, Leberkäse zu braten. Mit Kartoffeln und Spiegeleiern. Lucinda wollte sich um den Salat zu kümmern. Sie war am Nachmittag mit Samantha einkaufen gewesen. Sie fühlte sich Sam gegenüber offenbar verpflichtet. Recht so, dachte Sam. Wie gern hätte er geraucht. Rauchen wäre eine Lösung gewesen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, deren Gedanken nicht um Zigaretten kreisten.
Am frühen Abend stand plötzlich ein knorriger, rotbärtiger Engländer in der Küche. Er heiße Roy, sagte er. Er sei auf der Durchreise und habe gehört, dass man hier übernachten und vielleicht ein, zwei Tage bleiben könne. Es hatte sich in der internationalen Trampercommunity herumgesprochen, dass es in der Nähe der deutsch-österreichischen Grenze eine Übernachtungsmöglichkeit gab. Es gefiel Sam nicht, dass man ihr Projekt mit einem Billighotel oder einer Jugendherberge verwechselte. Tourismus war schließlich scheiße. Andererseits waren zahlende Gäste durchaus nützlich. Er könne bleiben, sagte er. Der Komfort hielte sich in Grenzen, es gäbe ein Matratzenlager, kein Warmwasser, dafür aber einen See. Pro Tag sei für Frühstück und Abendessen ein bestimmter Betrag in die Haushaltskassa zu zahlen, Spenden seien willkommen, und wenn er, Roy, ein wenig Hand anlegen wolle, würde man sich freuen. Er sei Wasserbauingenieur, sagte Roy. Er könne zwar Flüsse umleiten und Staudämme regulieren, mit Häusern kenne er sich aber nicht so aus.
Schade, sagte Sam, doch am Anfang hätten auch sie nicht gewusst, wie man Rohrleitungen verlegt, Dachböden ausbaut und Wände hochzieht. Ein schönes Beispiel dafür, wie Verbände, Kammern und Wirtschaftslobbys Fähigkeiten und Fertigkeiten monopolisierten. Im Grunde könne man fast alles selber machen. Das sei billiger, mache glücklich, zufrieden und müde. Flüsse könnten sie freilich keine umleiten. Aber vielleicht könne Roy sich einmal den Keller ansehen, der sei feucht. Als Wasserbauingenieur müsse er ja was verstehen von Wasser und dessen Eigenschaften.
Roy, der nicht mehr sprach als unbedingt nötig, verzog keine Miene. Er hatte wenig, aber ausgesucht funktionsfähiges Gepäck, langsame, sichere Bewegungen, eine zusammengerollte Matte, die am Boden des Rucksacks befestigt war, einen federleichten Daunenschlafsack und einen Stock, dessen Griff sich zu einer kleinen Sitzfläche aufklappen ließ. Jäger würden so was verwenden. Er könne damit im Sitzen trampen, sagte Roy.
Gute Idee, sagte Sam.
Ob man hier rauchen dürfe, fragte Roy. Er rauche Pfeife, wenn auch nur abends.
Of course, sagte Lucinda, no problem, almost everybody is smoking here.
Almost everybody, wiederholte Sam.
Am späteren Abend, nach dem Essen, stopfte Roy bedächtig seine schlanke, leicht geschwungene Pfeife, zündete sie an, paffte und schwieg. Erst auf Nachfrage stellte sich heraus, dass er sich nach einem längeren Einsatz in Ägypten ein halbes Jahr Auszeit genommen hatte und von London nach Kapstadt reisen wolle. Er müsse unbedingt den Niger, den Kongo, den Sambesi und die Victoriafälle sehen. Den Nil kenne er ja schon. Den Mekong, den Amazonas, den Mississippi und die Wolga hebe er sich für spätere Reisen auf. Die Donau interessiere ihn nicht so. Europe is boring, sagte Roy. Sam ärgerte sich, wusste aber nicht genau, worüber.
Sam mied es, Bier zu trinken. Auch dem französischen Landwein, den Lucinda und Samantha aus dem Supermarkt mitgebracht hatten, widerstand er. Der Kater hatte sich zwar mittlerweile verkrochen, er spürte aber, dass Alkohol ihm gefährlich werden könnte. Gleichzeitig mochte er die Reinheit nicht, die sich in seinem Körper ausbreitete. Ein Gefühl der Sauberkeit, das von innen nach außen drängte. Dreck war eine Schutzschicht, immerhin. Sam fühlte sich verletzbar. Eine dünne Haut umspannte seinen Körper. Die Schutzschicht zwischen ihm und der Welt fehlte. Für Euphorie war es noch zu früh. Ob er denn nichts trinke, fragte Lilo, als sie, während sie sich selbst aus der Rotweinflasche bediente, bemerkte, dass Sam weder ein Glas noch eine Flasche Bier vor sich stehen hatte.
Nein, heute nicht, sagte Sam.
Mit oder ohne Grund?
Mit, antwortete Sam.
Und darf man fragen warum?
He stopped smoking, sagte Lucinda. Seit Roy da war, sprach sie wieder englisch.
Aha, sagte Mac. Wenn schon, denn schon. Kein Wein, beim Weib wisse man es nicht so genau, kein Tabak. Totale Askese quasi. Vorbildlich, der Genosse!
Und wie geht’s?, fragte Edda.
Schlimm, wirklich schlimm, sagte Lucinda, noch bevor Sam antworten konnte, seien nur der dritte Tag, die dritte Woche, das dritte Monat und das dritte Jahr. Das zumindest habe ihr Vater immer gesagt. Über das dritte Jahrzehnt konnte er, der Senatspräsident, noch nichts sagen.
Es sei erst knappe zwanzig Jahre her, dass er am Tage von Lucindas Geburt den letzten Zigarillo ausgedämpft habe. Sam ärgerte sich über Lucinda. Schließlich wäre das seine Show gewesen.
Good news, sagte er und ging zu Bett. Wenigstens hatte man bemerkt, dass er nicht mehr rauchte.
Lucinda schlief noch, als Sam am nächsten Morgen erwachte. Es war still im Haus. Sam stieg die Treppe hinab, in der Küche stand eine Kanne Tee. Roy war im Garten. Er saß mit unterschlagenen Beinen auf seiner Matte, die er auf dem kleinen, nicht überwucherten Wiesenstück ausgebreitet hatte und machte sich an seinem Rucksack zu schaffen. Er hatte eine Nähnadel zwischen den Lippen und wirkte konzentriert.
Nice place, sagte Roy, nachdem er bedächtig die Nadel in die Hand genommen hatte.
Yes, sagte Sam. Weiter reichte sein Englisch momentan nicht.
Zwei Tage später reisten Roy und Lucinda ab. Sie wollten gemeinsam nach Florenz, um die Uffizien zu besuchen. Samantha wollte nach Salzburg, weil es da ein Konzert mit den Schottischen Liedern von Joseph Haydn gab. Das hatte sie schon vor ihrer Abreise aus Aberdeen geplant. Sam war froh, dass er seinen Schmerz in Groll umwandeln konnte.
Er hatte noch nie gehört, dass Wasserbauingenieure sich für Renaissancekunst interessierten. Leonardo, sagte Roy ungefragt, sei ja nicht nur Maler, sondern auch Techniker und Erfinder gewesen. Ein Genie. Weit seiner Zeit voraus. Sam bot sich an, alle drei zur Grenze nach Kufstein zu bringen. Samantha würde in Richtung Salzburg trampen, Lucinda und Roy in Richtung Süden. You are a nice guy, sagte Lucinda zum Abschied und küsste ihn sanft auf den Mundwinkel.
I’m a Trottel, sagte Sam.
Take it easy, sagte Lucinda.
Als er an der Grenze umdrehte, um wieder zurückzufahren, sah er auf der einen Straßenseite Lucinda und Roy, auf der anderen Samantha stehen. Sie hatten jeweils Pappschilder mit ihren Wunschzielen bemalt. Italy stand auf dem einen, Salzburg auf dem anderen. Roy saß etwas abseits auf seinem Sitzstock. Lucinda hielt strahlend ihr Schild in die Höhe. Sie sah gut aus in ihrem weiten Hemd und ihrer großen, verspiegelten Sonnenbrille.
Sam wusste, dass er auf dem Rückweg nach Tiefenbach mindestens zwei Tabaktrafiken passieren würde. In Kundl hielt er an, kaufte eine Familienpackung Streichhölzer und eine Tiroler Tageszeitung. Es war der dritte Tag. Er musste widerstehen, Niederlage ausgeschlossen. Ab morgen würde alles einfacher werden.
Wenige Tage später rief Samantha an. Sie sei auf dem Weg vom Konzert in die Jugendherberge überfallen und ausgeraubt worden. Nein, es sei nichts passiert. Sie habe allerdings weder Reisepass noch Geld. Eine Nacht könne sie noch in der Herberge bleiben. Sam setzte sich ins Auto, passierte unbeschadet alle Tabaktrafiken, erledigte mit Samantha die Behördenwege und fuhr mit ihr zurück nach Tiefenbach. Samantha war dankbar. I didn’t really like her, sagte sie, nachdem sie gefragt hatte, ob Sam etwas von Lucinda gehört habe.
Sam verneinte.
She is an upperclass-girl, sagte Samantha.
No prejudices please, sagte Sam. But you are right.
Samantha blieb bis zum Ende des Sommers. Nachdem Sams Zimmer fertig war, legten sie ihre Matratzen nebeneinander. Sam hatte im Sportgeschäft in Wörgl einen Schlafsack mit einem umlaufenden Reißverschluss gefunden, den man auch als Decke nutzen konnte. Rückfällig war er nur einmal geworden. Am Parkplatz des Supermarkts sah er plötzlich eine unversehrte Zigarette liegen. Beinahe wäre er draufgetreten. Es war eine Dames. Parfümierter Frauenkram. Er hob sie auf, wartete, bis er jemanden sah, den er um Feuer bitten konnte, setzte sich bei offenem Fenster ins Auto – und rauchte. Ein leichter, angenehmer Schwindel überfiel ihn.
Erst nach Tagen legte sich das schlechte Gewissen. Er hatte es dem Rauch gestattet, sich Zutritt zu seinem Bewusstsein zu verschaffen. Es dauerte Wochen, bis er sich davon erholte.
Nie mehr, dachte Sam. Und wusste, dass er sich belog.
Es war, das war ihm klar geworden, nicht allein seine Entscheidung, ob er rauchte oder nicht. Zigaretten konnten kommen wie Eindringlinge. Zuerst einzeln, dann in Scharen. Sam musste sich wappnen. Er musste sich bewaffnen. Er wusste nur nicht, womit und wie.
Der Mann, der ihm die Tür öffnete, war barfuß, Ende zwanzig, trug eine helle, weite, von einem Kälberstrick zusammengehaltene Leinenhose, ein buntes Hawaiihemd, hatte wirre, schwarze Locken und einen Bauch. Molterer, sagte er. Er heiße Molterer.
Molterer, wie der Skifahrer?, fragte Sam.
Ja, allerdings nicht Anderl, sondern Ambros. Weder verwandt noch verschwägert, wiewohl er aus derselben Gegend komme wie der Anderl. Der Anderl, der weiße Blitz von Kitz, sei ja eigentlich der viel bessere Skifahrer gewesen, habe in allen Disziplinen gewonnen, nur bei den Großereignissen, Olympische Spiele und Weltmeisterschaften und so, da habe der Toni Sailer eben die besseren Nerven gehabt. Aber so ist das Leben. Kurz und schlecht und ungerecht. Andererseits müsse man sich um den Anderl keine Sorgen machen, der habe seine Schäfchen schon ins Trockene gebracht. Er selbst fahre übrigens nicht Ski. Oder genauer: nicht mehr. Er arbeite in der Logistikabteilung eines Transportunternehmens. Er bewege sich nicht selbst, sondern sorge für Bewegung. Der Mann lachte und zeigte seine großen, vorstehenden Zähne. Eigentlich aber sei er Schriftsteller und habe bereits eine Weihnachtsgeschichte in der Ö3-Musicbox veröffentlicht.
Ich komme wegen des Zimmers, sagte Sam. Er hatte in der Samstagausgabe der Tiroler Tageszeitung eine Kleinanzeige gefunden, die ihn ansprach. »Mitbewohner gesucht«, hieß es da kurz und bündig. Moderater Preis, Telefonnummer, Adresse.
Hab ich mir fast gedacht, sagte Ambros.
Sam Sapadi, sagte Sam förmlich. Ich heiße Sam.
Auch interessant, sagte Ambros und bat Sam einzutreten.
Die Wohnung hatte zwei Zimmer, eine große Küche, ein Bad, eine Loggia mit Blick auf die Nordkette – und keine Farben. Die Wände, die Linoleumböden, selbst die Badewanne und das Waschbecken waren stumpf und unter einer glanzlos bräunlich-gelben Schicht begraben. Sogar die einzige Zimmerpflanze, die in Ambros’ mit Büchern, Zeitungen und Zetteln vollgestopftem Zimmer stand, hatte es aufgegeben, ihr Grün behaupten zu wollen. Es roch wie in schlecht gelüfteten Kaffeehäusern, bevor morgens die ersten Gäste kamen. Sam wusste sofort, dass er bleiben wollte. Okay, sagte er nach der Besichtigung, die keine drei Minuten gedauert hatte. Ich glaub, wir kommen ins Geschäft.
Wenn du jetzt auch noch Konstantin Wecker magst, sagte Ambros, kann nichts mehr schiefgehen. Biermann und Pink Floyd gibt’s übrigens auch. Und für schwache Stunden André Heller. Notfalls könne er beim Umzug mit einem Transporter aushelfen. Er sei ja schließlich vom Fach.
Nicht nötig, sagte Sam. Er habe nicht viel. Eine Gitarre und ein paar Sachen zum Anziehen.
Und was machst du?, fragte Ambros.
Germanistik, sagte Sam. Ich studiere Germanistik. Eigentlich Literaturwissenschaft, sofern man mich lässt.
Super, sagte Ambros. Endlich jemand, der sich auskennt. Sams Vorgänger sei Drogenfahnder bei der Polizei gewesen. Undercover