Räume der Kindheit -  - E-Book

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Beschreibung

Es klafft eine Lücke in der Kindheitsforschung, was ihre randständigen, verdeckten, tabuisierten und scheinbar langweiligen Räume und Bereiche betrifft. Mit 63 Begriffen nimmt das Glossar nun diese oft übersehenen »Räume der Kindheit« in den Blick. Aus der Perspektive verschiedener Disziplinen widmen sich die Beiträge sowohl den institutionellen Hot Spots der Vergesellschaftung von Kindern als auch den gewöhnlichen und unauffälligen Orten des täglichen Lebens. Die aufgesuchten Orte und Räume werden als Chiffren machtpolitisch umkämpfter Schauplätze der Sozialisation ebenso erschlossen wie als situative Milieus, an denen kindliche Welt-Beziehungen spontan gelebt werden.

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Jürgen Hasse (Prof. Dr. rer. nat. habil.), geb. 1949, lehrte von 1993 bis 2014 am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. phänomenologische Raumforschung, Mensch-Natur-Verhältnisse und Stadtforschung.

Verena Schreiber (Jun.-Prof. Dr. phil.), geb. 1976, lehrt Humangeographie am Institut für Geographie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie forscht zu Geographien der Kindheit sowie aktuellen Prozessen der Stadtentwicklung.

JÜRGEN HASSE, VERENA SCHREIBER (HG.)

Räume der Kindheit

Ein Glossar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, BielefeldAlle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: www.schwarzplan.eu Print-ISBN 978-3-8376-4424-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4424-5 EPUB-ISBN 978-3-7328-4424-1 https://doi.org/10.14361/9783839444245

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung   Jürgen Hasse und Verena Schreiber

Adoptiert werden   Celina Rodriguez Drescher

Atmosphäre   Jürgen Hasse

Bauch   Sabine Dörpinghaus

Bildraum   Mirka Dickel

Brennpunkt   Anika Duveneck und Viola Dollinger-Rauch

Buch   Tina Hartmann

Elternhaus   Doris Bühler-Niederberger

Flüchtlingsheim   Albert Scherr

Freizeitpark   Renate Freericks und Dieter Brinkmann

Friedhof   Marlene Lippok und Michael Lippok

Fußboden   Dana Ghafoor-Zadeh

Haltestelle   Christian Reutlinger

Heim   Mechthild Wolff

Höhle   Reinhard Knodt

Hort   Itta Bauer

Hospiz   Miriam Sitter

Inklusionsraum   Andreas Köpfer

Internat   Markus Rieger-Ladich und Angela Janssen

Karussell   Katrin Bauer und Gabriele Dafft

Katzentisch   Jürgen Hasse

Keller   Silke Steets

Kinderarztpraxis   Helga Kelle

Kinderbett   Thorsten Albrecht

Kindergarten   Sabine Bollig

Kinderwagen   Lotte Rose

Kinderwunschklinik   Carolin Schurr und Laura Perler

Kinderzimmer   Claudia Wucherpfennig

Kiosk   Oliver Müller

Klassenraum   Klaudia Schultheis

Kleiderschrank   Melanie Haller

Küche   Susan Chales de Beaulieu

Kunstwerkstatt   Katrin Höhne und Eva Nöthen

Laufen   Philip Lambrix

Loch   Gudrun M. König

Lunchbox   Bendetta Cappellini und Vicki Harman

Matsch   Renate Zimmer

Mensa   Lotte Rose

Morgenkreis   Friederike Heinzel

Niemandsland   Egbert Daum

Pferderücken   Robert Pütz

Ruhen   Nicole Thiemer

Schoß   Jan S. Hutta

Schreibtisch   Markus Kluge

Schulbus   Jürgen Hasse

Schule   Ina Herrmann

Schulhof   Verena Schreiber

Schultoilette   Verena Schreiber

Seele   Christoph T. Burmeister

Spielplatz   Jürgen Hasse

Sportstätte   Thomas Alkemeyer

Straße   Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker †

Tracking   Inga Gryl

Unterwegssein   Michaela Schier

Utopie   Amalia Barboza

Verkehrsübungsplatz   Annika Busch-Geertsema

Versteck   Simon Runkel

Virtuelle Räume   Heinz Hengst

Warten   Heinz Schilling

Wildnis   Antje Schlottmann

Zaun   Sebastian Feldhusen

Zoo   Jan-Erik Steinkrüger

Zuhause sein   Sebastian Schinkel

Zur-Welt-Kommen   Steffen Kluck

Autorinnen und Autoren

Abbildungsnachweise

Einleitung

Räume der Kindheit können überall sein. Dabei gibt es sie im engeren Sinne genauso wenig wie Räume der Adoleszenz. Mit dem Älterwerden eines Menschen wandeln sich die subjektiven Lebenssituationen, und mit ihnen das Verhältnis zu Umgebungen. Sie lassen ein und denselben Raum in der Abhängigkeit von Perspektiven, sozialen Rollen und gesellschaftlichen Zuschreibungen von Normen »richtigen« Verhaltens mal als diesen und mal als jenen erscheinen. Letztlich werden im Laufe eines Lebens – vom frischgeborenen Säugling bis zum hinfälligen Greis – Räume und Orte also nicht gewechselt wie die Kleider. Die Straße kann im Erleben von Kindern eine Welt des Spiels sein, im Erleben (beaufsichtigender) Erwachsener ein Raum pädagogisierter Bewegung, ein Terrain lauernder Unfallgefahren und vielleicht ein Milieu sozialer Begegnung. Kleinkinder kriechen mit großer Lust in engste und entlegenste Ecken, in die Eltern nicht passen und Großeltern nicht mehr wollen; Kinder, die sich in einer Höhle verstecken, gelten als kreativ, Erwachsene, die dasselbe tun, als sozial auffällig. Weder Gebüsche noch Spielplätze, Betten oder Gebäude sind allein für Kinder da, noch nicht einmal die Kinderarztpraxis, die Schule oder die Bushaltestelle. In all diesen Räumen sind neben Kindern auch andere Menschen in ihrer persönlichen Situation: ältere Geschwister, Verwandte, Polizisten, Busfahrerinnen oder x-beliebige Passanten. Es gibt aber nicht nur tatsächlich Anwesende, sondern auch politische und pädagogische Programme, die von Hinterbühnen her auf verdeckte und versteckte Weise steuern, Räume überwachen sowie strukturieren und den Staat samt seiner Werte und Normen repräsentieren. Aber im subjektiven Erleben werden all diese mit anderen geteilten Räume doch zu höchst persönlichen Welten: das Gebüsch zum imaginären Schloss, der Spielplatz zum Labor experimenteller Selbsterprobung, das Kinderbett zur Startrampe in die phantastischsten Traumblasen und das Schulgebäude zu einer Stätte, die zu spüren gibt, was es heißt, als Folge sozialisatorischer Zwänge ein anderer werden zu müssen.

Es gibt sie, die Räume der Kindheit und es gibt sie nicht. Vielleicht ist es gerade diese Spannung, die sie so interessant macht und zu immer neuen Wechseln der Standpunkte wie zur Suche nach irritierenden Betrachtungsweisen herausfordert, um alle möglichen Räume auch als solche der Kindheit in den Blick nehmen zu können. Dies kann jedoch stets nur ein Blick sein und nur ein Blick auf fiktive Situationen. Noch die relativ dauerhafte, zuständliche Situation »der« (generalisierten und konventionell gedachten) Kindheit gibt es im sozialen Leben nur in variantenreicher Mannigfaltigkeit. Eine strukturell vergleichbare biographische Passagenzeit wird sie erst in der Absehung vom Einzelfall. In Gänze entziehen sich jene »Räume der Kindheit«, die es nur im Spiegel aktueller Situationen gibt, wenngleich doch allein in ihnen das individuelle Leben in sinnlicher wie affektiver Evidenz spürbar und erfahrbar werden kann.

In einem Buch über Räume der Kindheit wird nicht zuletzt der Raum selbst denkwürdig, als etwas am eigenen Leib Erlebbares. Aber es ist nie der Raum an sich, der das Leben und Erleben tangiert und das Befinden stimmt, sondern die RaumZeit des So-Seins in Situationen. Rudolf zur Lippe spricht deshalb von existenziellen Orten (2010, S. 111), die es nur in Wandlungen gibt, im Handeln wie im Ausgesetzt-Sein gegenüber Geschehnissen und Widerfahrnissen. Räume der Kindheit stoßen uns schon wegen der hohen Präsenz zeitlich-biographischen Werdens mit besonderer Eindrücklichkeit auf die Bedeutung der Zeit. Gerade der Begriff der Er-fahr-ung verweist nicht nur auf einen Raum des Hindurch; darüber hinaus impliziert er ein lebendiges Moment der Zeit. Keinen Raum können wir diesseits der Dauer erleben, geschweige denn kritisch verarbeiten; zu einem Ort gehört immer, was zu einer Zeit in seiner Gegend war und geschah.

Jeder wissenschaftliche Zugriff auf Räume und Orte, die im Leben von Kindern eine denkwürdige Rolle spielen, verlangt eine Gratwanderung zwischen der theoretischen Welt luftig-abstraktionistischer Konzepte, Begriffe und Modelle zum einen und der Erlebniswelt, die Kinder als etwas höchst Vitales am eigenen Leib zu spüren bekommen, zum anderen. Wissenschaft kann sich aber nur mit sprachlich verfassten Erkenntnismitteln Wege des Denkens bahnen. Damit wird die Gratwanderung zum Hochseilakt. Zu ihm gehört das Risiko, daneben zu treten und abzustürzen. Jeder der in diesem Buch erscheinenden Beiträge beschreitet somit einen Weg zwangsläufig hypothetischer Annäherung; sie alle sind Versuche des Sich-Einlassens auf vage bleibende Lebenswirklichkeiten. Wo sie lebendig werden, sind es in aller Regel biographische Erinnerungen, die sich aus dem Bereich eigener Erfahrung melden und konkret werden lassen, was es in einem individuellen Leben gegeben hat.

Die reflexive Durchquerung biographisch bedeutsamer Räume nimmt in diesem Band ihren Ausgang in spezifischen Theorien, auf die die Mitglieder ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Communities in ihren eher kollektiven als individuellen Denkwegen zurückgreifen. Mit Ludwig Fleck (2011 [1947]) gesagt, stehen die Beiträge in der Tradition von »Denkstilen«. Damit folgen sie denkhygienischen Richtungen, etwas so oder anders zu begreifen und Dritten gegenüber darzustellen. Wie Personen aus ihrer Kindheit herauswachsen, zur Schule gehen, den Führerschein machen, Kinder bekommen und vielleicht steinalt werden, so steht alles, was mit den Mitteln der Wissenschaft gedacht und ausgesprochen wird, in seiner Zeit. Das impliziert: Es steht unter der Macht je herrschender affektlogischer Dispositive. Es gibt kein voraussetzungsloses Denken und Schreiben – nicht über das Wetter und nicht über Kinder oder Alte.

Die Vielfalt der Annäherungen an Räume und Orte der Kindheit durch 63 Beiträge drückt sich in mehrfacher Hinsicht aus. Sie ist zum einen in der Sache begründet; zwischen einem kalten Kellerraum und einem warmen Pferderücken liegen in gewisser Weise Welten. Indem die Herangehensweisen disziplintheoretisch und -historisch je eigenen Bahnen folgen, unterscheiden sich zum anderen auch die Profile und Sensibilitäten der Thematisierung kategorial. Da die wissenschaftlichen Disziplinen ihre eigenen Theorietraditionen haben, drückt sich das Denken ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten im Allgemeinen in fachspezifischen Sprachen sowie in fachtypischen Argumentationsketten aus. Nicht zuletzt sind es immer Individuen, die ihrem Denken schreibend Ausdruck verleihen. So sahen wir auch keinen Anlass zur Vereinheitlichung, wenn in den einzelnen Beiträgen etwa sehr unterschiedliche Weisen gewählt wurden, der Gleichbehandlung der Geschlechter sprachlich gerecht zu werden. Denk- und Sprachstile bezeugen die biographische Verortung und Verwurzelung in einer Disziplin. Wer sich eine solche als Angehörige des sogenannten »wissenschaftlichen Nachwuchses« erschließt, denkt und schreibt anders als jemand, der aus einer karrierebiographischen Retrospektive auf die Vermögen »seines« Faches blickt. Eine Monographie zeichnet sich durch einen einheitlichen Stil des Ausdrucks wie der Wortwahl aus; dies darf von einem Glossar mit so vielen Beiträgen, wie sie in diesem Buch versammelt sind, nicht erwartet werden.

Wie liest man aber folglich ein solches Buch, das keiner einheitlichen wissenschaftstheoretischen Richtung, keiner »Schule« oder homogenen Denktradition, geschweige denn einer erwünschten politischen Programmatik folgt? Wie liest man ein Buch, das zwar mit einer umfänglichen Liste an attraktiven Reisezielen bestückt ist, die Wegbeschreibungen dorthin aber immer nur kursorisch mitliefern kann? Eine Essaysammlung, an der so viele Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Disziplinen mitgewirkt haben, lässt uns wie vor einem gut bestückten Regal einer Bibliothek stehen, deren einzige Ordnung zunächst die alphabethische Sortierung ihrer doch höchst ungleichen Gesellschaft an Büchern zu sein scheint. Wie diese Bücherwände, sind auch Essaysammlungen gleichwohl nicht dazu da, einen vorgegebenen Weg abzustecken, von der ersten bis zur letzten Seite. Letztlich fängt man mehr oder weniger zufällig mit dem Lesen an irgendeiner Stelle an und merkt schon bald, dass sich zwischen den einzelnen Beiträgen möglicherweise interessante Verbindungen aufspannen. Diese Pfade können von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit sein: Mal sind sie Schneisen, geradlinig, planiert und auf den Landkarten gängiger wissenschaftlicher Zugriffe auf Kindheit mit dickem Strich markiert. Mal sind die Wege so schmal, dass kaum ein Durchkommen ist und ihre Kartierung noch auf sich warten lässt. Wir haben während der Erstellung dieses Buches viele Wege entdecken und durchstreifen dürfen; sind auf dem verschlungenen Pfad der Utopie durch Niemandsländer gewandert, haben in Verstecken und Höhlen ausgeharrt, uns in der Wildnis verirrt. Wir haben uns in Grenzsituationen begeben, im Hospiz und auf dem Friedhof von Leid und Trauer erfahren. Wir sind Kindern durch ihren Tag gefolgt, haben uns morgens mit ihnen auf den Weg gemacht, sind aus dem Bett aufgestanden, haben in der Küche gefrühstückt, sind mit dem Schulbus gefahren, haben eine Tag in der Schule verlebt, mussten nachmittags erst zum Arzt und anschließend zur Sportstätte, bevor wir wieder Zuhause waren. So ließen sich noch zahlreiche Wege aufzeigen und immer neue Räume und Orte entdecken.

Ungeachtet aller Relevanz im tatsächlichen Leben von Kindern haben sich bestimmte Räume und Orte der Kindheit insofern als »Undinge« erwiesen, als sie trotz breit gestreuter Anfragen Brachen geblieben sind. Was als denkwürdig gilt, ist eben nicht nur oder in erster Linie Spiegel der Bedeutung, die etwas im Leben hat, sondern viel mehr Ausdruck wissenschaftlicher Relevanzsysteme. Diesen zum Trotz will das Glossar das Übersehene und Vergessene, das scheinbar Marginale und Gewöhnliche (wieder) denkwürdig machen. Deshalb liegen viele Räume und Orte, die in den folgenden Beiträgen diskutiert werden, im Abseits großer Themen jener wissenschaftlichen Diskurse, die sich der Welt von Kindern zuwenden. Aber nicht nur das Themenspektrum, auch die Form der Schreibweise soll dazu beitragen, (wieder) in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, was in abstrakten Begriffen so nicht zu finden ist. So bedienen sich die meisten Beiträge einer essayistischen Schreibweise, die programmatisch nicht den trockenen und sachlich distanzierten Stil der Abgehobenheit vom Leben nur variieren würde. Eine gewisse Befreiung von wissenschaftlichen Sprachkonventionen zugunsten kreativer und zuspitzender Pointierung soll der Öffnung »alter« Themen und Begriffe zugunsten ihrer Auffächerung und Verfremdung dienen. Das Ziel ist die Vergrößerung der Denkräume – überall dort, wo Fragen der Vergesellschaftung des Menschen durch seine räumlichen Umgebungen Beachtung verdienen.

Deshalb kann der hier zustande gekommenen Sammlung von Begriffen auch keine Systematik zugrunde liegen. Der Katalog der Stichworte ist provisorisch und Spiegel dessen, was in einer überschaubaren Zeit eines guten Jahres von zwei Personen rein organisatorisch und praktisch beherrscht werden konnte. So sind letztlich auch Räume und Orte, die das Leben von Kindern im globalen Süden prägen, eine Leerstelle im Buch geblieben. Die Entscheidung, kindliche Selbst- und Mitwelt-Beziehungen an anderen Orten der Erde außen vor zu lassen, begründet sich nicht zuletzt darin, den Fokus auf die gewöhnlichen wie unauffälligen Plätze des täglichen Lebens zu richten, die durch das Raster wissenschaftlicher Betrachtung des globalen Nordens fallen. Allzu leicht lassen sich daher Lücken, Leerstellen und Auslassungen konkretisieren und vielleicht bemängeln. Sie mögen als Aufforderung aufgefasst werden, das Feld des Denkbaren zu erweitern, das Leben von Kindern über das hinaus zu bedenken, was wir gelernt haben über sie und ihre Welt zu sagen.

Selten hat uns die Erstellung eines Buches so viel Vergnügen bereitet wie dieses. Schon die ersten Wochen waren gespeist von Momenten freudiger Erregung – immer dann, wenn wieder ein neuer Begriff gefunden war. Anschließend folgte das sich über Wochen hinziehende und dabei doch gedeihliche Anlegen eines Registers: Begriffe sortieren, wieder verwerfen, was doch zunächst so vielversprechend klang, eine Auswahl treffen müssen. Und welche Autorinnen und Autoren würden nun, da die Begriffe feststanden, denn überhaupt bereit sein, sich auf das unkonventionelle Format und so manch absurden Ort einzulassen? Dann trafen die ersten Beiträge ein, und da es kaum Vorschriften gab, waren wir jedes Mal in gespannter Erwartung, was die Autorinnen und Autoren uns wohl mitteilen werden. Die Synchronisation so vieler Artikel – von der motivierenden Gewinnung der Autorinnen und Autoren bis zur gestalterischen Fertigstellung aller Texte – hat einen beträchtlichen organisatorischen Aufwand gefordert; in der gesamten den Band betreffenden Korrespondenz waren mehr als 1.700 E-Mails zu schreiben und zu lesen. Das Ergebnis dieser interdisziplinären Zusammenarbeit ist das vorliegende Glossar. Uns bleibt zum Schluss daher nur der Dank an die über 60 am Buch beteiligten Autorinnen und Autoren. Sie haben nicht nur unseren ehrgeizigen Zeitplan mitgetragen und sich auf mehrere Überarbeitungsrunden eingelassen, sondern uns auch ihre Gedanken, Stimmungen und mitunter sehr persönliche Erfahrungen durch ihre Texte anvertraut. Wir bedanken uns außerdem bei Annika Lutz, die das Glossar vom Eintreffen der ersten Beiträge bis zur Drucklegung redaktionell begleitet hat.

Jürgen Hasse und Verena Schreiber

Literatur

Fleck, Ludwik (2011 [1947]), Schauen, Sehen, Wissen, in: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hg. v. Sylwia Werner und Claus Zittel, Berlin: Suhrkamp, S. 390-418.

Zur Lippe, Rudolf (2010), Zeit-Ort im post-euklidischen Zeitalter, in: V. Jahrbuch für Lebensphilosophie: Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, hg. v. Jürgen Hasse und Robert Kozljanič, München: Albuena, S. 109-120.

Adoptiert werden

Ein Kind wird adoptiert, wenn seine Eltern oder seine (allein lebende) Mutter nicht (mehr) in der Lage sind, gut für es zu sorgen. Die Adoption bedeutet dann häufig eine positive Wendung, denn viele vernachlässigte Kinder verbleiben in ihren Ursprungsfamilien, oder sie leben in Heimen. Diese können zwar häufig eine gewisse Geborgenheit bieten, aber sie stellen oft nur einen Übergang dar. »Gut sorgen« heißt, einen gesicherten »Raum« zu schaffen, in dem das Kind im Umgang mit einer stets verfügbaren Bezugsperson allmählich so etwas wie ein »kohärentes Selbst« entwickeln kann. Der psychoanalytische Entwicklungspsychologe Donald Winnicott – »There is no such thing as a baby« (1956) – hat diesen (imaginären) Raum als einen Raum möglicher Interaktionen zwischen Mutter und Kind beschrieben. Sigmund Freud lehrte, dass der Mensch nur »am Nebenmenschen« erkennen lernt (1895, S. 426), und dass die Entfaltung des seelischen Binnen-»Raums« und die Erfahrung des äußeren Raums in einem Wechselverhältnis zueinander stehen (1938, S. 152). Sind die leiblichen Eltern aufgrund ihrer materiellen Situation, ihrer Lebensgeschichte und ihrer psychischen Verfassung außerstande, ihrem Kind einen verlässlichen Rückhalt zu bieten und es auf seinem Weg durch die Kindheit zu begleiten, vernachlässigen und misshandeln sie es, bietet sich die Adoption als eine Art Notlösung an. Adoption ist also immer begleitet von Umständen, die schmerzhaft sind, die die Idee von »normalen« Eltern-Kind-Beziehungen durchbrechen, sie markiert einen Bruch, auch, wenn die Notlösung ein Glücksfall für die Beteiligten werden kann.

Da es den betroffenen Eltern oft an Einsicht mangelt, greifen in vielen Fällen öffentliche Instanzen ein. Sozialämter nehmen die geschädigten oder von Schädigung bedrohten Kinder aus den defizitären Familien heraus und suchen geeignete Adoptiveltern für sie. Was so einfach klingt, ist ein langer und, wie ausgeführt, häufig schmerzhafter Prozess für alle Beteiligten, vor allem für die Kinder; manchmal sehr engagiert von Sozialarbeitern begleitet, manches Mal schleppend und holprig. In Sozialämtern arbeiten Menschen, und insofern werden manches Mal auch Fehlentscheidungen getroffen.

Für die adoptierten Kinder bedeutet die Adoption die abrupte Verpflanzung in ein ihnen unbekanntes Milieu, die Auslieferung an ihnen fremde Menschen, einen »Kulturschock«. Auch ein gleich nach der Geburt adoptiertes Kind muss den schützenden Raum der Mutter, die es bis dahin »trug«, verlassen. Für eine Adoption, die direkt nach der Geburt stattfindet, gilt jedoch häufig, dass die Mutter dem Kind gute Startchancen bieten möchte, die sie ihm nicht zu offerieren imstande ist. Für ein älteres Kind, das schon Monate oder Jahre in Heimen oder Pflegefamilien verbracht hat, ist der adoptionsbedingte neuerliche Verlust der halbwegs vertrauten Welt, des »Raums«, an den es sich gewöhnt hat, ein neuerlicher Schock. Der Sozialpsychologe Kurt Lewin nannte die Gruppe, deren Teil ein Mensch ist, den »sozialen Boden«, auf dem er steht (1948, S. 242). Der Verlust der Mikro-Gesellschaft, der man zugehört – oder in die man sich geflüchtet hat –, kommt einem Erdbeben gleich.

Und bei den Adoptiveltern löst es neben aller Freude häufig Ängste aus, ein Kind in ihren Raum aufzunehmen – einen kleinen Menschen, auf den sie fast immer lange gewartet haben, der dann jedoch fast immer sehr plötzlich zu ihnen kommt. Wie wird das, sind wir gute Eltern, passen wir zum Kind, passt das Kind zu uns? Ungewollte Kinderlosigkeit, die eine Adoption ja meist erst einleitet, kann einen großen Schmerz auslösen und Ambivalenzen gegenüber dem Kind und der eigenen Elternschaft.

Die Reaktion auf den Adoptions-Bruch der Lebens-Kontinuität der Adoptierten ist gemischt aus der Trauer über das (bald schon idealisierte) Verlorene und der Auflehnung gegen die (wiederholt erfahrene) Fremdbestimmung. Daraus erwächst ein – zeitweilig latenter, dann wieder jäh aufbrechender – Konflikt zwischen Adoptiveltern und Adoptionskindern. Die Kinder kämpfen mit der Furcht, dass auch das »bessere« Milieu, in das sie geraten sind, sich als trügerisch erweisen könnte, sodass sie abermals »emigrieren« müssen. Darum erproben sie stets wieder, ob ihr Argwohn nicht doch berechtigt ist, und provozieren ihre neuen Eltern, die das zumeist überhaupt nicht verstehen, um eben das herauszufinden.

So hatten Freunde von mir, die bereits eine eigene (ältere) Tochter hatten, einen kleinen Jungen adoptiert, dem die Ruhe dieser Schwester, die in einem Buch las, unerträglich war. Er liebte sie zwar, aber er litt auch darunter, dass sie, das leibliche Kind, immer schon berechtigt gewesen war, in diesem behaglichen Familien-Raum zu leben. Er revoltierte gegen dies »Unrecht« und warf in seiner Wut mit Reis und Nudeln um sich, um den Raum zu verschandeln und auch, um seine eigene »frühere« Welt (einen Teil seines Selbst) einzubringen, sich (destruktiv) den neuen Raum anzueignen und sich und »seinen« früheren Raum den Anderen, Glücklicheren, aufzuzwingen.

Für die Adoptiveltern ist es natürlich eine schwierige Aufgabe – umso herausfordernder, je weniger sie die Reaktion ihres Schützlings verstehen – in solchen Test-Situationen besonnen zu bleiben, dem provozierenden Kind sowohl Grenzen aufzuzeigen, als auch ihm zu versichern, dass sie es dennoch, so, wie es ist, liebhaben. Je sicherer sich das Adoptivkind in seiner (neuen) Familie eingebunden fühlt, desto eher wird es das Agieren mindern und selbständiger werden können (vgl. Rodriguez Drescher 2006). Der Kummer der Adoptivkinder kann immens sein und für die Adoptiveltern schwer zu ertragen.

In einem von mir geleiteten Workshop erzählte eine verzweifelte Adoptivmutter: »Ich schreie plötzlich und fühle den Impuls, ihn [das Adoptivkind] zu schlagen; er bringt mich an Grenzen – dabei lag mir so etwas immer ganz fern. Ich schäme mich dafür.« Melanie Klein (1946) hat dieses unbewusste Wechselspiel, bei dem das Kind etwas ihm Unerträgliches auf ihm nahestehende Andere projiziert, diese sich damit identifizieren und sich dem entsprechend verhalten, als »projektive Identifikation« bezeichnet. Entscheidend für den Ausweg aus diesem Dilemma ist die Fähigkeit der Eltern zu verstehen, was vorgeht, und sich in der Situation zurechtzufinden: »Das Kind ist verzweifelt, seine Wut greift auf mich über, aber ich halte das aus und halte den Raum für die Auseinandersetzung und für eine Bändigung der Affekte offen.«

Eine zumeist eher latent gehaltene Sorge von Adoptiveltern gilt der genetischen Mitgift ihres Adoptivkindes. Sie ist umso größer, je weniger sie von dessen leiblichen Eltern wissen und je befremdlicher es mitunter reagiert. Wenn es trotzt, im Zuge der Ablösung aggressiv wird, sich in der Pubertät auffällig und aufmüpfig verhält, bemächtigt sich ihrer der Argwohn, das könnte vielleicht am »schlechten Blut« des Kindes liegen. Das spürt natürlich das Kind, es fühlt sich abgewertet, und abermals beunruhigt es die Frage: Wie sicher bin ich hier wirklich?

Die Frage »Wer bin ich eigentlich«, also die Frage nach der Identität, ist zweifellos für Adoptierte eine besonders heikle, da die Kohärenz ihres Selbst schon wiederholt in Frage gestellt wurde. Werner Bohleber schreibt (1999, S. 517), dass Menschen Subjekte sind, die »sich mit der Erfahrung von Kontingenz, Differenz und Andersheit auseinanderzusetzen [haben] und angesichts dieser Erfahrungen [bemüht sind], Kohärenz und Kontinuität des Selbst herzustellen […]. Identität gründet insofern in krisenhaften Erfahrungen des Menschen, die ihn zwingen, sich seiner selbst zu versichern.« Adoptivkinder vergleichen natürlich ihre »neue« Familie und deren Lebensverhältnisse mit ihrer Herkunftsfamilie, soweit sie sich daran erinnern (oder zumindest versuchen, sich ein Bild davon zu machen). Dann steht die neue »gute« gegen die frühere »schlechte« Familie, und das heißt zugleich: Dort wollte man mich nicht, ich war nicht willkommen, wurde abgelegt. Die Adoptiveltern versuchen, den Kindern das auszureden, versichern ihnen, dass sie schon lange auf sie gewartet hatten und dass sie sie so lieben, wie sie sind. Doch dem Kind fällt es schwer, das zu glauben. Der Sozialpsychologe Stefan Hormuth schreibt (1990, S. 197): »A person’s understanding is formed through social experience.« Menschen reagieren nicht einfach auf einen (realen oder sozialen) Ort, sondern auf die Bedeutung, die sie ihm aufgrund ihrer Erfahrung beimessen. Ein radikaler Bruch mit einem bestimmten Ort, einem bestimmten Milieu, destabilisiert das Selbstkonzept.

In diesem Zusammenhang ist Freuds Theorie des sogenannten »Familienromans« (1909) von Bedeutung. Etwa im Alter von fünf Jahren erkennt ein Kind allmählich, dass seine Eltern nicht unfehlbar sind. Es zweifelt »an der ihnen (zuvor) zugeschriebenen Unvergleichlichkeit und Einzigkeit«, und wenn es sich zurückgesetzt fühlt, macht es sich Luft, indem es die Phantasie entwickelt, es »sei ein Stiefkind oder ein angenommenes Kind« (GW VII, S. 227 f.). Dann erklären sie, die Mutter sei gar nicht ihre wahre Mutter, die sei vielmehr eine schöne Prinzessin. Auch der Vater sei nicht der wirkliche Vater, der sei vielmehr ein ganz besonderer, mutiger Mann. Diese (vorübergehende) Distanzierung von den realen, »niederen Eltern« ermöglicht, so Freud, eine »Ablösung des heranwachsenden Individuums von der Autorität der Eltern« – »eine der notwendigsten, aber auch schmerzlichsten Leistungen der Entwicklung.« Astrid Lindgren kommt in ihrem Kinderbuch »Lotta zieht aus« auf diesen Ablösungsprozess zu sprechen: Lotta hat sich geärgert und verlässt den Raum. Sie bezieht ein anderes, kleineres Zimmer, in dem sie ihre Eltern zu Besuch empfängt. Abends entschließt sie sich schließlich zur Rückkehr, nachdem ihre Eltern ihr sanft zugeredet und sie überzeugt haben, sie könne ohne Gesichtsverlust zu ihnen zurückkommen. Für Adoptivkinder ist das nicht so einfach. Da die Adoptionseltern nicht ihre leiblichen Eltern sind, können sie ihren »Familienroman« nicht dadurch auflösen, dass sie die positive und die negative Eltern-Imago verschmelzen. Die Adoptivkinder kennen ihre leiblichen Eltern manchmal kaum oder sogar gar nicht, und sie können sie darum auch in ihrer Welt nicht wirklich unterbringen. Das macht die Ablösungsprozesse komplizierter und hindert die Entwicklung eines eindeutigen und positiven Selbstwertgefühls.

Adoption ist eine andere Art der Familiengründung mit einigen spezifischen Chancen und Schmerzen. Grundfragen des menschlichen Lebens, jeden Lebens, wie die der Identität werden dort wie durch ein Vergrößerungsglas wahrgenommen. Adoptiveltern und Adoptivkinder sind mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Es ist weder möglich, die spezifischen Probleme dieser Kinder zu ignorieren, noch ist es den neuen Eltern möglich, ihr Verhalten gänzlich darauf auszurichten, ihnen Anpassung und Ablösung zu erleichtern. Es geht vielmehr darum, eine neue Form des Zusammenlebens zu erarbeiten, in der beide Seiten zu ihrem Recht kommen.

Celina Rodriguez Drescher

Literatur

Bohleber, Werner (1999), Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität, Psyche 53(6), S. 507-529.

Burghardt, Daniel (2014), Homo spatialis, Weinheim: Beltz Juventa.

Freud, Sigmund (1909), Der Familienroman der Neurotiker, in: Gesammelte Werke VII, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 227-231.

Freud, Sigmund (1938), Ergebnisse, Ideen, Probleme, in: Gesammelte Werke XVII, Schriften aus dem Nachlass, Frankfurt am Main: S. Fischer,S. 151-152.

Freud, Sigmund (1987), Entwurf einer Psychologie, in: Gesammelte Werke, Nachtragsband, Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 357-480.

Hormuth, Stefan (1990), The ecology of the self. Relocation and self-concept change, Cambridge: Cambridge University Press.

Klein, Melanie (1946), Notes on schizoid mechanisms, International Journal of Psychoanalysis 27, S. 99-110.

Lewin, Kurt (1948), Die Lösung sozialer Konflikte. Ausgewählte Abhandlungen über Gruppendynamik, Bad Nauheim: Christian-Verlag.

Rodriguez Drescher, Celina (2006), Familiendynamik bei spätadoptierten Kindern, Gießen: Psychosozial-Verlag.

Atmosphäre

Ein perfekter Kindergeburtstag verlangt mehr als coole Geschenke, leckeren Kuchen und bunte Girlanden. Gelungen ist er erst, wenn auch seine Atmosphäre gut ist und einfach »alles« stimmt. In der Art und Weise, wie eine atmosphärische Situation erlebt wird, spiegeln sich letztlich persönliche aber auch gemeinsame Stimmungen wider. Ob Frust entsteht oder Freude, die Zeit »schön entspannt« ist, grässlich langweilig oder die Gäste sich vor lauter Spannung beinahe in die Haare gehen, lässt sich im engeren Sinne nicht vorherbestimmen. Alltagssprachlich ist immer dann von Atmosphären die Rede, wenn ein spürbarer Gefühlston wie gute oder schlechte Luft im Raum gleichsam »ansteht«. Dann ist auch von guten oder schlechten, gemütlichen oder aufgeheizten Stimmungen die Rede. Wie die eine oder andere im Raum ausgebreitete Gefühlslage dann aber genauer beschrieben werden soll, bleibt meistens im Dunkeln. Vage Darstellungen, die vieles offen lassen, werden oft nur von denen als mehr oder weniger treffend empfunden, die das Umschriebene selbst miterlebt haben. Vor dem Hintergrund gemeinsamen Erlebens übermitteln hilfsweise benutzte alltagssprachliche Wörter wie »schön«, »gut«, »gelungen« oder »cool« nur sehr unscharf, was gemeint ist.

Atmosphären sind »etwas Unbestimmtes, schwer Sagbares« (Böhme 1995, S. 21); was sie als »Herumwirklichkeit« (Dürckheim 2005 [1932]), S. 36) ausmacht, ist zwar unmittelbar wahrnehmbar, lässt sich in Worten aber nicht leicht mitteilen (vgl. Tellenbach 1968, S. 62). Wo die wörtliche Rede lückenhaft ist, bleibt es beim Meinen und vagen Bedeuten. Gerade im Gebrauch von Metaphern drängt das schwer Aussagbare mit einer Schleppe impliziter Bedeutungen nach klärenden Ergänzungen. Es soll zur Sprache kommen, was sich in seinem Geschehens- und Ereignischarakter bestenfalls annäherungsweise in expressis verbis formulierten Sätzen fassen lässt. Eine gewisse Sprachnot wird offensichtlich, wo die wörtliche Rede in der Klarheit der explizierten Bedeutungen zu schwimmen beginnt, sprachliche Bilder und synästhetische Charaktere zu den bevorzugten Transportmitteln der Kommunikation werden und die kreative (Er-)Findung von Ähnlichkeitsformeln an die Stelle sicherer Rede tritt. Kinder bilden mit dem Beginn ihres Lebens ein pathisches Sensorium aus, das sie in die Lage versetzt, Situationen atmosphärisch mit einem Schlage zu verstehen. Solches Vernehmen-Können entscheidet in zahllosen sozialen Situationen (in Familie, Schule, unter Gleichaltrigen etc.) über Akzeptanz, soziale Integration und nicht zuletzt auch über schulischen Erfolg.

Schon in der Sache trefflichen Denkens und Sprechens liegt ein hinreichender Grund für eine kurze Autopsie dessen, was sich im Alltag im Gesicht von Atmosphären zu spüren gibt. Nicht erst das Leben von Kindern ist mit Atmosphären gesättigt. Es sei am Rande erwähnt, dass sie in allen gesellschaftlichen Bereichen oft lenkende Rollen spielen – in Politik, Ökonomie, Werbung, Sport, Religion, im landschaftlichen Erleben, in der Gestaltung der Städte, der Mode usw. Unverkennbar ist ihre zentrale Bedeutung in der Dynamik pädagogischer Kontexte. Atmosphären sind mitunter ohne ersichtlichen Grund »einfach da« wie ein Wind oder ein plötzlich niedergehender Regen. Sie entstehen dann wie aus dem Nichts (performativ, im Strom der Ereignisse), ohne dass es Sinn macht, nach einem Akteur als Urheber Ausschau zu halten. Aber sie werden – nicht zuletzt in pädagogischen Situationen innerhalb wie außerhalb der Schule – auch hergestellt und planmäßig eingesetzt, abgebaut, vereitelt und evoziert (etwa durch den Einsatz von Licht und Farbe, Klang und Geruch, den Gebrauch besonderer Dinge, den Einsatz von Stimme und Habitus u.v.m.), um eine Situation (oder Gegend) mit einer »Vitalqualität« (Dürckheim 2005 [1932]), S. 39) zu stimmen.

Atmosphären zeigen im sozialen Leben an, wie es den Menschen miteinander und in ihrer Umgebungen ergeht. Deshalb haben sie auch vom Kindergarten bis zur Universität einen beträchtlichen Einfluss auf das Klima des Lernens wie das Erleben des Miteinanders. Wenn Atmosphären ebenso mit dem Begriff des »Klimas« angesprochen werden, kündigt sich eine Nähe zu meteorologischen Bedeutungen an. Ganz ähnlich wie soziale Atmosphären als etwas blasenartig Herumwirkliches gespürt werden, so auch das Klima in seinen lokalen Ausprägungen des Wetters: in der scharfen Kälte eines winterlich verregneten Tages beengend und schneidend, in der schwülen Hitze eines sommerlichen Mittags drückend und verlangsamend. So kann auch eine Atmosphäre auf dem Pausenhof vom Wetter gestimmt sein und vielleicht in einer hitzebedingten Zähigkeit der Bewegungen bemerkbar werden. Dagegen sind ausgelassene Lebendigkeit oder knisternde Anspannung in einem sich gerade zuspitzenden Konflikt Spiegel sozialer Performanz.

Jede Unterrichtsstunde ist mit Atmosphären geradezu gesättigt, die das Ergehen aller berühren, die im Klassenraum sind. Schon wenn die Lehrerin den Raum betritt, löst sich eine noch lebendige »Rest«-Atmosphäre (vom Schulweg oder aus der Pause) langsam auf, um für einen formalisierten und effizienzorientierten Rahmen der Kommunikation gleichsam Platz zu machen. Dabei gelten Atmosphären des gegenseitigen Respekts im Allgemeinen als Voraussetzung für eine konstruktive Lernatmosphäre. Diese verliert sich allerdings spätestens in den letzten 10 Minuten der letzten Stunde eines Schultages wieder in eine vibrierende Unruhe. In ihr beginnt sich der von Anspannung, Disziplin und vielleicht auch Frust aufgestaute Druck des Tages (mal langsam, mal schlagartig) hör- und spürbar zu entladen.

Die Atmosphäre in einer Klasse kann durch das Tun und Lassen einer Lehrerin gefördert aber auch belastet werden: Die für jedermann wahrnehmbare (wenn i.e.S. auch nicht sichtbare) Bevorzugung einzelner Kinder lässt die, die nicht von solcher Begünstigung profitieren dürfen, mit Skepsis bis Ablehnung reagieren. Eine empathische und emotional resonanzfähige Lehrperson versteht es besser, ein aufgeschlossenes Klima (wie einen solidarischen »Klassengeist«) zu schaffen als ein stumpfer Misanthrop. Wer schließlich glaubt, mit Konkurrenzdruck gute Leistungen erzwingen zu können, erntet allzu leicht Aggression und Desinteresse. Wenn Otto Friedrich Bollnow den heiter gestimmten Lehrer im Vorteil gegenüben jenem Typen sieht, der Kinder durch finstere und trübe Stimmungen, durch Missmut und Verdrossenheit (vgl. Bollnow 2001 [1964], S. 65) nur lähmt, wird schnell deutlich, dass es nicht zuletzt die Stimmungen sind, die auf Atmosphären wirken.

Es ist offensichtlich, dass Lehrende ein vitales Interesse daran haben müssen, Einfluss auf jene Gefühle zu nehmen, die den Verlauf des Unterrichts fördern oder stören können. Das Wissen um die Gefühlsanfälligkeit von Lernsituationen dürfte auch Bollnows Büchlein über Die Pädagogische Atmosphäre begründet haben (vgl. Bollnow 2001 [1964]). Jeder Versuch, auf Atmosphären einzuwirken (ihre Evozierung wie ihre Beherrschung) setzt ein hohes Bewusstsein ihrer Stimmbarkeit ebenso voraus wie ihres Zusammenspiels mit den Stimmungen. Die konstruktive Lernatmosphäre in einer Klasse ist Ergebnis von Vielem, das man an und in der Umgebung der Kinder herstellen kann, u. a. durch die architektonische und dingliche Ausstattung wie ästhetische Gestaltung des Lern-Raumes. Aber die soziale Situation des Lernens ist ebenso – wenn nicht sogar ganz wesentlich – von der leiblich-habituellen Präsenz der Lehrkraft abhängig, in der sie ihrer Klasse begegnet. Nicht weniger einflussreich ist die Stimmung aller anderen im Klassenraum Anwesenden. Stimmungen sind nicht nur individuelle Gefühlsgrundierungen, in denen man sich in einer gewissen Variation der Vitaltöne befindet; sie konstituieren sich auch aktuell als Resultat gemeinsamen Tuns und Mit-Seins – in Familie, Kindertagesstätte oder Schule. Wie sie in der Politik auf manipulativem Wege massenmedialer Suggestionen herbeigeredet werden können, so bieten sie sich als Variablen von Machtkalkülen der Umformung an – in totalitären wie in demokratischen Systemen mit je eigenen Mitteln. An Schul-Montagen fürchten viele Lehrkräfte vor allem jene Stimmungen, die zahllose Kinder aus dem zurückliegenden aber emotional noch nachwirkenden Wochenende mitbringen – aus einer ganz anders rhythmisierten Zeit noch vorragende Eindrücke, die nur langsam abflauen und schnell zur Hypothek halbwegs akzeptablen Unterrichts werden können. Weil dieser Zusammenhang so evident ist, widmet sich Bollnow eben nicht nur der pädagogischen Atmosphäre, sondern (neben Martin Heidegger, bei dem er Philosophie studierte) auch der Philosophie der Stimmungen.

Wie lassen sich Atmosphären begreifen und von Stimmungen abgrenzen? Vor allem in der Phänomenologie gibt es eine Reihe systematischer Annäherungen, die ein besseres Verstehen anbahnen können, das auch im alltäglichen Leben einen Nutzen verspricht. Der Psychiater Hubert Tellenbach spricht Atmosphären als »umwölkende« Gefühle (Tellenbach 1968, S. 111) an, die »dem Dasein eine andere Färbung, einen anderen Ton, eine andere Gestimmtheit« (ebd., S. 73) verleihen. Karlfried Graf von Dürckheim nennt sie mit Ernst Cassirer »Ganzqualitäten«, die dem »gelebten Raum« (im Sinne von Theodor Lipps) eine »Raumseele« geben (vgl. Dürckheim 2005 [1932]), S. 67 ff.). Wenn Atmosphären auch Gefühle sind, so haben sie doch keinen privativen Charakter, befinden sich vielmehr in einem Zwischen-, Umschlags- oder Schwellen-Raum, in dem sich keine einfache Grenze zwischen Person und umweltlichen Dingen ziehen lässt, wie das zwischen materiellen Körpern möglich ist. Der umwölkende Charakter der Atmosphären weist darauf hin, dass sie anders sind als materielle Körper, nicht drei-, sondern (im Sinne von Hermann Schmitz) prädimensional. Man hat sie nicht vor sich (wie Kühlschrank und Herd), vielmehr fühlt man sich in ihnen wie im Nebel, im Wasser oder in der Wärme. Zwar sind Atmosphären räumlich, aber nicht in einem materiell-dinglichen Sinne, weshalb sie auch keine Ecken, Kanten und Flächen haben. Sie breiten sich schließlich nicht im Ortsraum aus, der nach relationalen Abständen strukturiert ist, sondern im Weiteraum, der leiblich (aber nicht körperlich) gespürt wird. Obwohl sie in ihrem Volumen »ausgefüllt« sind, können sie im Unterschied zu einem festen Körper nicht zerteilt werden.

Atmosphären beeindrucken als gleichsam wabernd umgebende, blasenartige Gebilde. Deshalb gibt es auch Durchdringungen, Überlagerungen und konfliktreiche Berührungen. Nach Hermann Schmitz sind sie nicht »private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnt« (Schmitz 1993, S. 33). In ihren gefühlsmäßigen Bann gerät man in leiblichem Spüren. Willy Hellpach sprach von einem »Ergehen« und hob zudem den Akkord-Charakter ihrer stimmenden Momente und die Simultaneität all ihrer Wirkgrößen hervor (vgl. Hellpach 1946).

Abermals am Beispiel des Kindergeburtstages lässt sich zeigen, dass Atmosphären Situationen mit ihren vielsagenden Bedeutungen auf spürbare Weise stimmen können. Die meisten, zumindest gravierenden Veränderungen einer Situation spiegeln sich atmosphärisch wider. Wenn Hermann das Geburtstagsgeschenk von Lientje nicht zufällig, sondern aus böser Absicht kaputt macht, ist Einiges »am Dampfen« – wie der Volksmund sagt. Die markige Formulierung spielt letztlich auf eine Atmosphäre an, die (konfliktbedingt) »zum Kochen« gekommen ist. Durch Hermanns aggressiven Ausbruch ist die bis dahin »schöne« Atmosphäre einer gemeinsamen Zeit vergiftet worden. Der Junge muss in einer – wie auch immer im Einzelnen begründeten – ziemlich üblen Stimmung gewesen sein, als er sich Lientjes Heiligtum auf destruktivste Weise genähert hat. Unzweifelhaft dürfte sein affektgeladenes Agieren nicht nur in Lientjes Befinden eine Stimmungsänderung ausgelöst haben, sondern auch bei ihrer Mutter und vielleicht noch anderen Kindern, die sich (ihrerseits durch den Ausbruch umgestimmt) mit Lientje solidarisiert haben. Kurzum: Schon ein einziges Ereignis kann eine Kette von Stimmungsänderungen auslösen, in deren Folge eine bis dahin situationsbestimmende Atmosphäre »kippt« und ihren Vitalton an einen ganz anderen verliert.

Was »schön« begann kann »übel« enden. Wer die Fassung verliert, lässt erkennen, dass die Stimmung aus dem Lot geraten ist. Stimmungen sind es auch, die den Menschen fassen und ihm einen gefühlsmäßigen Rahmen geben, aus dem heraus er sein Leben ohne Affekt-Ekstasen in offener und vorbehaltsloser Begegnung mit anderen führen kann. Auch die alltagssprachliche Rede vom schiefhängenden Haussegen weist auf ein fragiles Zusammenspiel von Atmosphären und Stimmungen hin. Mehr noch zeigt sie an, dass die Grenze zwischen beiden oft kaum erkennbar ist. Nicht nur Atmosphären, sondern auch Stimmungen lassen sich mit Gernot Böhme als »Zwischenphänomene« (Böhme 1995, S. 22) begreifen, weil sie weder allein auf der Seite des Subjekts noch der eines Objekts (oder einer Umgebung) sind, sondern in einem Dazwischen bzw. auf einer Schwelle.

Schon eine Erwartung – eine gefürchtete Klassenarbeit oder ein unangenehmes Krisengespräch mit der Schulleiterin – kann so viel Macht über das aktuelle Befinden ausüben, dass sich eine bis dahin lenkende Grundstimmung ändert. Gefühle haben insofern Macht, als sie – im Unterschied zum (dialogisch definierten) soziologischen Macht-Begriff – Einfluss auf ein aktuelles So-Sein entfalten können. Das gilt für Stimmungen wie für Atmosphären. Beide spiegeln aber nicht nur Situationen wider, sie können auch selbst zu Situationen werden, zum Beispiel dann, wenn ein dominant werdendes Problem einen neuen Rahmen für die Suche nach rettenden Programmen absteckt. Hermanns Attacke auf Lientjes noch beinahe unbenutztes Geburtstagsgeschenk hat nicht nur eine Atmosphäre verdorben; mehr noch hat sie der Situation der Geburtstagsfeier die Epi-Situation eines kochenden Konfliktes aufgezwungen.

Was eine Atmosphäre zur Stimmung macht, ist das betroffene Ergriffensein von einem Gefühl. Es gibt aber auch atmosphärische Gefühle, die man erleben kann, ohne emotional von ihnen eingenommen zu werden. Die aufgeheizte Atmosphäre auf Lientjes Geburtstag kann man in diesem Sinne als gänzlich Unbeteiligter aus emotionaler Distanz wahrnehmen. Sobald man jedoch – wie ein unmittelbar Beteiligter – zum Betroffenen wird und emotional involviert ist, entfaltet die Atmosphäre die Macht einer Stimmung. Diese mobilisiert das eigene Befinden und gibt einer moralisch legitimierten Intervention (der Tadelung von Hermann) schließlich den initiierenden Impuls.

Jürgen Hasse

Literatur

Böhme, Gernot (1995), Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bollnow, Otto Friedrich (1995 [1941]), Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann.

Bollnow, Otto Friedrich (2001 [1964]), Die pädagogische Atmosphäre, Essen: Die Blaue Eule.

Dürckheim, Graf Karlfried v. (2005 [1932]), Untersuchungen zum gelebten Raum, hg. v. Jürgen Hasse, Frankfurt am Main: Selbstverlag des Instituts für Didaktik der Geographie.

Hellpach, Willy (1946), Sinne und Seele. Zwölf Gänge in ihrem Grenzdickicht, Stuttgart: Enke.

Schmitz, Hermann (1993), Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, in: Zur Philosophie der Gefühle, hg. v. Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 33-56.

Tellenbach, Hubert (1968), Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg: Otto Müller.

Bauch

Schon in der Grundschulzeit begleitete mich eine eigenwillig schmerzende Leibesinsel in der Körperregion des Bauches. Ich erinnere mich noch sehr gut an die bunt gesprenkelten Tabletten auf der Badezimmerablage über dem Waschbecken, die mir von unserem alten Hausarzt verordnet wurden, aber letztlich – bezogen auf den besitzergreifenden Schmerz – keine Besserung brachten.

Meine Klassenlehrerin setzte in den 1970er-Jahren in der Klasse noch mit viel Hingabe den Stock ein, insbesondere gegen eine bestimmte Person – Michael lachte damals dann immer, was ich erst als Erwachsene verstand. Ich war sehr berührt von der Art und Weise seines Umgangs mit der Situation. Mein Bauch und ich empfanden sie als sehr willkürlich, herrisch und ungerecht.

Hierzu passte dann auch, dass ich als Linkshänderin von der Lehrerin dazu aufgefordert wurde, mit der »richtigen« Hand zu schreiben. Meine Mutter, die besagte Grundschullehrerin auch schon in ihrer eigenen Kindheit erleben konnte, setzte sich gegen meine Klassenlehrerin durch: Ihre Drittgeborene sollte mit der linken Hand schreiben dürfen. Sie selbst wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bezogen auf ihre linke Hand »umerzogen«.

Ich verstand die Situation damals nicht, wusste nur, dass (m)eine »Besonderheit« zum Streitthema wurde und dass mir durch die Beharrungstendenz meiner Mutter ein »Privileg« zuteil wurde, wie es sonst doch nur ein vorbehaltenes Recht von Gruppen ist. In allen anderen Unterrichtsfeldern, wie dem Häkeln, setzte sich die institutionell befugte Autoritätsperson ohne weitere Diskussionen durch. Das Bauchweh begleitete mich vier Jahre lang. Michael entschied sich als Erwachsener für den Beruf des Polizisten.

In meiner Ausbildung zur Krankenschwester lernte ich viele Jahre später, dass der Bauchschmerz nicht nur eines der häufigsten Symptome bei Blähungen, Infektionen, zu üppigem Essen oder Stress ist, sondern gerade auch Befindlichkeitsstörungen anzeigen kann. Bauchschmerzen, in etymologischen Wörterbüchern immer wieder auch als Leibschmerzen bezeichnet, werden allgemeinhin als von den inneren Organen ausgehende viszerale (die Eingeweide betreffende) Schmerzen bezeichnet, die Anzeichen für Spannungszustände und Verkrampfungen der glatten und damit unwillkürlichen Eingeweidemuskulatur sind. Aber was bedeutet das und wieso wird der Bauch mit dem Leib synonym gesetzt?

Der Bauch ist ein Körperteil von Mensch und Tier. Dem südhessischen Wörterbuch ist zu entnehmen, dass die ursprüngliche Bezeichnung Leib ist, in affektbetonter Sprache besonders für den dicken Leib.

Eine bauchige Wölbung weist umgangssprachlich auf eine gleichmäßige runde Verdickung hin, die etwas aufnimmt. Damit ist bezogen auf den kindlichen Bauch mehr als Essen und Trinken gemeint, denn gerade im vorsprachlichen Zustand zeigt das Kind-Bauch-Verhältnis die Qualität des leiblichen Befindens an. Der Bauch kann diesbezüglich als Seismograph identifiziert werden.

Im Gegensatz zum Körper, dem sich die Naturwissenschaften zuwenden, ist der Leib diskret, weist eine dynamische Struktur auf und zerfällt in Leibesinseln (vgl. Schmitz 2007, S. 117, 119-121). Die Leibesinseln rund um den Bauch zeigen qualitativ unterschiedliche Dimensionen, die in der Lage sind, einen Sachverhalt anzuzeigen, der das Kind betrifft und dem es sich nicht entziehen kann.

Im Schwangerenbauch als »erstem Ort« war das Kind seinerzeit behütet. Aus der Körperperspektive behütet der Bauch jetzt die inneren Organe, man kann auf ihm kriechen und sein Nabel lässt unverkennbar das Verlassen des mütterlichen Bauches und den Lebensanfang erkennen.

Der Bauch reagiert im Schwimmbad empfindlich auf Bauchplatscher, ist beim Bauchredner in der Lage zu sprechen, hat ein dynamisches Wesen, das man verlieren oder bekommen kann. Man kann sich ihn vor Lachen halten, ihn einziehen oder vollschlagen. Manchmal trägt er sogar Schmetterlinge oder Wut in sich. Kinder sollen einen Löcher in denselben fragen können.

Bezogen auf das perzeptive Körperschema bildet der Bauch ortsräumlich betrachtet unsere Mitte – richtungsräumlich ist er dabei kein Virtuose. Auf der anderen Seite ist der Leib meisterhaft, wenn es darum geht Ärger, Sorge oder erlebte Ungerechtigkeit aufzunehmen, was nicht unbedingt eine Wölbung nach sich ziehen muss. Entscheidend ist, dass das Bauch-Empfinden als Leib-Erleben eine Beziehung zur Welt darstellt, der Bauch also in der Lage ist, als Resonanzboden zu fungieren. Dabei ist die Subjektgebundenheit der menschlichen Erkenntnis nicht als Mangel zu sehen; sie steht vielmehr dafür, was das Kind letztendlich gelten lassen kann (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 56). In diesem Zusammenhang ist die Evidenz der Leiblichkeit größer als die des reflexiven Bewusstseins, da nur die subjektiven Tatsachen des eigenleiblichen Spürens relative (nicht absolute) Gewissheit bieten (vgl. Uzarewicz 2011, S. 34, 153).

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Relevanz von Objektivierungen und propositionalem Wissen ist schwer zu begreifen und zu akzeptieren, dass der Evidenzvorsprung nicht in eine andere Person zu überführen ist (Mutter, Vater, Lehrer_in, Geschwister, Freund_innen usf.).

Entgegen den Sachverhalten, über die jede_r Mitschüler_in eine Aussage tätigen kann, entscheidet die Tatsächlichkeit der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins darüber, was das Kind selbst gelten lassen muss. Damit hängt ein Sachverhalt nicht davon ab, ob das Befinden mit Worten für andere vernehmbar gemacht wird oder sich mit den Empfindungen der anderen deckt. Die Tatsächlichkeit der subjektiven Tatsachen bleibt auch in der relativen Gewissheit an das Kind gebunden (vgl. Schmitz 2007, S. 7, 59-60, zitiert nach Dörpinghaus 2013, S. 98). Dabei wird es mit zunehmendem Alter erkennen, dass alle Menschen gleich sind. Es ist uns aber unmöglich, diese Gleichheit aufgrund der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins zu empfinden, denn in der Differenz ist die Identität begründet. Der eigene Bauch ist gerade in und mit seinem Bauchweh in der Lage zu verdeutlichen, dass wir nicht nur in einem System – wie dem der Schule – leben, sondern immer unser Leben erleben.

So ist der Leib des Kindes losgelöst von den Sinnen und jeglicher Sinnlichkeit auch in der Lage, etwas zu bemerken. Als Kind kann ich den Eindruck gewinnen, dass die Klassenlehrerin bestimmte Kinder bevorzugt behandelt. In dieser Situation kann ich sogar die Gewissheit haben, dass mein Eindruck nicht trügt, auch wenn die Pädagogin im Kritikgespräch das Gegenteil beteuert und sich in der Klasse den Anschein gibt, alle gleich zu behandeln und zu fördern. Gerade ihren beschwichtigenden und kommentierenden Äußerungen wird die aufgesetzte, bemühte Höflichkeit anzumerken sein. Insbesondere in der Kindheit sind wir einem unwohligen Diskrepanzerleben ausgeliefert, und häufig bildet sich als Zentrum für dieses Spannungsverhältnis der Bauch aus.

Das Kind ahnt noch nichts von der gesellschaftlichen Konvention, jegliches Erleben als erwachsene Person als rationalistischen Prozess aufzufassen. Es ist vielmehr in der Lage, Sachverhalte zu bemerken. Dies führt zu einer Provokation der traditionellen Erkenntnistheorie, denn die herkömmliche Auffassung besagt, dass die Sinnesorgane darüber entscheiden, was ein Mensch wahrnimmt. Entgegen klassischer erkenntnistheoretischer Positionen kann mit der Anerkennung der Fähigkeit zu spüren, das Bemerken von Sachverhalten als menschliche Eigenschaft verstanden werden (vgl. Großheim 2008, S. 26 f.). Neben der Körperlichkeit und Rationalität des Kindes tritt damit sein spürendes Wesen in den Vordergrund. Auf diese Weise tritt zugleich hervor, dass das Spüren dem Leib und die rationale Reflexion aus der Außenperspektive dem Bewusstsein vorbehalten ist.

Dieses Spüren ist vor-rational und das bedeutet, dass Selbst-Sein und Erleben immer erst zeitverzögert im Bewusstsein stattfinden. Das leibliche Bauchgefühl geht nicht nur der sinnlichen Wahrnehmung voraus, sondern auch jedem Bewusstseinsakt und damit jedem Urteil (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 91). Bedeutsam ist, dass Stimmungen, Unstimmigkeiten und insbesondere ihr epistemischer Charakter für das Kind erst im Nachklang und damit beim Verlassen der Situation in leiblicher Resonanz deutlich werden und ihm den Bauch zuschnüren können – mehr als das gesprochene Wort. Dann kann es zu der herausfordernden Situation kommen, dass es (bezogen auf die Leibesinsel seines Bauches) etwas in Sprache zu fassen versucht (stimmige oder unstimmig erlebte Atmosphäre), was sich selbst nicht sprachlich darstellt.

Je älter das Kind wird, kann es sich zu der Atmosphäre, die es pathisch berührt, allmählich bewusst verhalten und Stellung beziehen. Grundlegend ist ein Einlassen auf den unzensierten Eindruck, um ein Verstehen des menschlichen Ausdrucks zu ermöglichen, was ein »Sich-Aufschließen für den unreflektierten Eindruck« (Großheim und Volke 2010, S. 10) voraussetzt.

Dieses Zulassen birgt zweierlei Gefahren: Zum einen kann der Eindruck verletzend oder heftig sein und zum anderen zeigt sich für das Kind mit dem erlebten leiblichen Eindruck nichts, was man erfolgreich als Antwort auf eine Frage geben könnte. Was sich allerdings einstellt ist das leibliche Verstehen (vgl. Dörpinghaus 2017, S. 257 f.) eines Gegenübers, mit dem wir hingegen nicht ein gewissermaßen zuzementiertes Wissen teilen, sondern einen Bereich tastender Vergewisserung in einer Situation. Für die Erwachsenenwelt wäre zu klären, warum in unserer modernen rationalistischen Gesellschaft das leibliche Erleben in Form eines Betroffenwerdens »abgewählt« wird, obwohl Menschsein doch immer auch bedeutet, berührt zu werden.

Die Leibesinsel um den schmerzenden oder engenden Bauch hat eine Macht der Unterwerfung und benötigt keine intentionale Vervollständigung. Die Empfänglichkeit des Leibes steht für den Sachverhalt, dass wir in der Lage sind, etwas zu begreifen, wozu der Kopf so (noch) nicht in der Lage ist. Gerade in widersprüchlichen Situationen bietet er Orientierung.

Das Kind erhält einen leiblichen Eindruck, und hierbei kommt auch das pathische Moment des leiblichen Spürens zum Tragen (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 55 ff.). Mit diesem pathischen Moment ist gemeint, dass ein Eindruck nicht für die passive Seite steht, von etwas betroffen zu werden; das Kennzeichen des Affektiven (und Pathischen) ist auch, dass das Kind in der Region des Bauches etwas in Anspruch nimmt. Dieser leibliche Eindruck ist etwas, das dem Kind etwas zeigt, dem es sich nicht entziehen kann und was sich in seiner Tatsächlichkeit auch nicht bestreiten lässt. Mit zunehmendem Alter wird das Kind zu der Bewusstwerdung von Stimmigkeiten in Gesprächen oder Situationen und dem, was all dies bedeutet, mehr und mehr Stellung beziehen können.

Im Kern lehrt uns der Bauchleib, dass Aussagesätze reduktionistisch sind, wenn sie eine wesentliche leibliche Existenzweise und damit eine Orientierungsinstanz außer Acht lassen. Freilich ist eine objektivierende Darlegung dieser Bauchstimmigkeit beziehungsweise -unstimmigkeit nicht möglich. Die Sonderstellung des leiblichen Zugangs lässt sich jedoch mit der Neophänomenologie als epistemisches Prinzip eigener Dignität ausweisen und ontologisch wie anthropologisch fundieren. Fatal wäre es, wenn dem Kind mit dem erzieherischen Fremdblick, der unentwegt an die Fassung des Kindes rührt, in Form einer Überbetonung des Rationalistischen, der Fokussierung auf körperlich-sichtbare Ereignisse, die über die Inhalte von Erlebnissen gestellt werden oder vor dem Hintergrund des Objektivitätspostulates, seine Sensibilität aberzogen würde. Losgelöst von jeglichem Fremdblick muss das Kind erleben dürfen, sich Eindrücken als Angriffe auf seine Fassung auszusetzen lernen, um zu erfahren, was seine Fassung auf die Probe stellt (vgl. Großheim 2008, S. 6). Ein verständnisvolles Mitsein von Eltern, Geschwisterkindern, Freund_innen oder Spielkamerad_innen kann entsprechende fassungsberührende Situationen lindern.

Nur der sensible Mensch gewinnt Aufschluss über das Befinden seines Gegenübers und kann sein eigenes Verhalten entsprechend darauf abstimmen (vgl. ebd.). In existenziell bedeutsamen Situationen wünschen sich alle Menschen ein sensibles Gegenüber, welches die Gesamtsituation und das vorsprachliche Befinden aushält und in der Lage ist, das eigene Verhalten darauf einzustellen. Dem Bauchleib kommt also eine zentrale Rolle zu, denn nur mit einer fluiden und ausdrücklich nicht starren Fassung (sinnbildlich mit einem weichen und nicht angespannten Bauch) kann die Person angemessen reagieren (vgl. Dör-pinghaus 2017, S. 259 ff.). Wenn nun das Kind dazu aufgerufen wird, als Indianer_in keinen Schmerz zu kennen, sich auf alle Fälle im Griff oder in der Gewalt zu haben, die Contenance zu wahren und keinem Eindruck zu erlauben ihm die Fassung zu rauben, dann wird auch das Bauchweh in Diskrepanzsituationen negiert und sich in eine Reihe weiterer Sensibilitätsaustreibungen einreihen.

Es bleibt allerdings die Herausforderung, dass, sobald Menschen über ihr affektives Betroffensein zu sprechen versuchen, meist nur ein unverständliches und diffuses Stammeln oder vage Aussagen bleiben. Dies liegt zum einen darin begründet, dass der eigentümliche Mangel in der Sprachfähigkeit seinen Grund in der Missachtung der Phänomene menschlichen Erlebens hat. Zum anderen ist die Zeitverzögerung zwischen Gespürtem und sprachlichem Ausdruck unumkehrbar (vgl. Hasse 2005, S. 124, 163 f.) und das Phänomen bildet sich selbst nicht sprachlich ab. Es gilt zu akzeptieren, dass die in der Sensibilität enthaltene epistemische Dimension erst zeitverzögert hervortreten kann (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 124 f., 352, 395). Indes öffnet sich im Scheitern der Sagekraft von Sprache der Raum zur Artikulation leiblicher Bedeutsamkeit als Mittatsache (vgl. Dörpinghaus 2013, S. 222 f.; Dörpinghaus 2017, S. 263).

So ermöglicht eine Leibesinsel im Bereich des Bauches nicht die gesellschaftlich akzeptierte objektivistische, kategoriale oder kriteriale Zugangsweise und entzieht sich dem Logos-Diktat; sie entfaltet einen »Phänomenbezirk mit völlig eigenständiger Dynamik und Räumlichkeit« (Volke und Kluck 2017, S. 9) und damit eine Bedeutung, die sich ansonsten einer eindeutigen Bestimmung und Fixierung entzieht. Dem Kind bleibt die Einbettung seiner leiblich gespürten Erlebnisse verborgen. Dies gelingt erst der erwachsenen Person, die darüber hinaus gerade in existenziell bedeutsamen Situationen mit der ontologischen Basis des Leib- und Situationsverständnisses der Neophänomenologie ihr Erleben im professionellen Kontext einem erweiterten Verstehen zugänglich machen kann.

Sabine Dörpinghaus

Literatur

Dörpinghaus, Sabine (2013), Dem Gespür auf der Spur. Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber.

Dörpinghaus, Sabine (2017), Ich spüre was, was du nicht hörst. Zur Bedeutung leiblichen Verstehens im geburtshilflichen Kontext, in: Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin, hg. v. Giovanni Maio, Freiburg im Breisgau: Herder, S. 237-266.

Großheim, Michael (2008), Phänomenologie der Sensibilität, in: Rostocker Phänomenologische Manuskripte 2, Rostock.

Großheim, Michael und Stefan Volke (Hrsg. 2010), Gefühl, Geste, Gesicht. Zur Phänomenologie des Ausdrucks, Freiburg im Breisgau: Karl Alber.

Hasse, Jürgen (2005), Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens, Freiburg im Breisgau und München: Karl Alber.

Schmitz, Hermann (2007), Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier.

Uzarewicz, Michael (2011), Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen, Stuttgart: Lucius & Lucius.

Volke, Stefan und Steffen Kluck (Hrsg. 2017), Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit, Freiburg im Breisgau und München: Herder.

Bildraum

Dem Thema »Bildraum« können wir nur gerecht werden, wenn wir einem dahinter liegenden Problem nicht ausweichen, das Merleau-Ponty in »Das Auge und der Geist« (1961) als das Rätsel der Sichtbarkeit bezeichnet hat. Der Begriff des Rätsels deutet schon darauf hin, dass es sich bei der weitverbreiteten Annahme, dass Bilder unmittelbar zugänglich und verständlich sind, um einen Trugschluss handelt. Von einer phänomenologisch bildwissenschaftlichen Position wird das Bild nämlich nicht als Abbild eines Gegenstandes oder Dokumentation eines Sachverhaltes thematisch, sondern als etwas, das in seinem Sein auf die menschliche Subjektivität verwiesen ist. Das Eigentümliche der visuellen Vermittlung findet seinen Sinn nicht im Inhalt, sondern in der Art und (Erfahrungs-)Weise, im Bild zu sehen. In der Auseinandersetzung mit der Bilderfahrung geht es weniger um das Bild an sich, als vielmehr um das sich bildende und umbildende Verhältnis zwischen dem Bild und der es betrachtenden Person. Es geht um den Akt der Bilderfahrung selbst. Ein Lösungsversuch des Rätsels der Sichtbarkeit führt uns also direkt hinein in die Tiefen des philosophischen Nachdenkens darüber, was es heißt, eine Bilderfahrung zu machen und zu der Grundfrage nach dem Verhältnis von bildhaftem Erleben und rationalem Denken.

Dass angesichts eines Bildes das leiblich vollziehende Wahrnehmen und das Begreifen in der expliziten Reflexion, das Anschauungsvermögen und das Denk-vermögen, Erlebnis- und Erkenntnisformen zum Tragen kommen, wird dann einsichtig, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie Kinder einem Bild begegnen. Zwar ist die Integration der Modi des menschlichen Bewusstseins, der Sinnlichkeit und Geistigkeit, nicht allein dem Kinde vorbehalten. Denn Bilder können sowohl für Erwachsene als auch für Kinder neue Erfahrungen ermöglichen und alte Sehgewohnheiten in Frage stellen. Doch viele Erwachsene stellen sich den Erfahrungszumutungen von Bildern nicht, da das Erwachsenwerden mit der Disziplinierung und dem Verlust von Möglichkeiten der Erlebnis- und Erfahrungsweisen einhergeht. Im Unterschied zu einem Kind, das im sinnlichen Wahrnehmen auf die vorkognitive Weltbegegnung bezogen ist, wird die Sinnlichkeit des Erwachsenen dressiert, so dass er seine leibliche Verwurzelung in der Welt zumeist vergisst. Im Zuge der Intellektualisierung verliert der Erwachsene nicht selten sein Gespür für vorkognitive, leiblich vermittelte Erfahrungsverhältnisse. Die auf Logik und Stringenz bedachte Vernunft des Erwachsenen verhindert das ursprüngliche Erleben des Bildes, stattdessen werden diesem durch die Prozesse des Wiedererkennens, Einordnens, Benennens und Bewertens Konzepte übergestülpt. Über eine Sensibilität für die Aufladungen und Wirkungen des Bildes unterstellt das Kind dem Bild einen bleibenden Neuigkeitswert: Auch wenn es das Bild schon mehrfach betrachtet hat, so schaut es jedes Mal wieder so hin, als zeige sich ihm im Bild etwas Neues, als sei ihm beim letzten Hinschauen etwas Wichtiges entgangen. So berechtigt die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen der kindlichen und der erwachsenen Bildbegegnung auch ist, sie soll keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass es eine reine Kindheit, einen Naturzustand des Kindes, ein »vom Kinde aus« nicht gibt. Das Kind ist zweifelsfrei von Beginn an ein sozio-kulturell geformtes Wesen (vgl. Westphal 2016, S. 303).

Die Potentialität wird nun nicht durch das Kind an das Bild herangetragen. Vielmehr wohnt sie dem Bild inne. Der Begriff der Potentialität weist darauf hin, dass »der gleiche Gegenstand, je nach Sichtweise und Einstellung, ganz verschieden zu zeigen vermag und dabei doch seine Identität behauptet. Er verfügt über das Potential, sich in verschiedenen Ansichten zu zeigen« (Boehm 2010, S. 210). Die Potentialität des Bildes wird als ein sinnerzeugender Überschuss wirksam, der sich nicht auf das Sagen reduzieren lässt (vgl. ebd., S. 15). Nicht alles, was ein Bild ausmacht, lässt sich mit den Augen sehen. Nach Didi-Hubermann (1999) können wir das, was sich unseren Augen entzieht, spüren und fühlen. Er betont die taktile Dimension des Sehens, die sich in einem Ergriffen-Werden durch Bilder zeigen kann. Lässt sich ein Kind von einem Bild durchdringen, wird die ganze Leiblichkeit des Kindes in den Sehakt einbezogen. Die leibliche Ergriffenheit spiegelt sich in Augen- und Mundbewegungen, in Tast- und Erkundungsgängen mit dem Finger auf dem Bild, in Geräuschen, Gesängen, Selbstgesprächen, in der Veränderung der Haltung des eigenen Leibes zum Bild. Die Magie bzw. der Zauber des Bildes wirkt als Reizmittel. Die visuelle Erfahrung geht von einem Anreiz aus, einem An-Reiz, der das Kind aufstört und eine irritierende Wirkung hat (Waldenfels 2010, S. 43). Das Bild richtet sich an das Kind, dieses wird vom Bild erblickt und pathisch affiziert. Durch diese »Beredtheit« des Bildes wird das Kind angesprochen, angerührt, angelockt, zuweilen auch eingefangen, gebunden oder gefesselt. Etwas macht sich bemerkbar, fällt dem Kind auf – und dann merkt es auf (vgl. ebd., S. 110).

Kinder verschließen sich nicht in einer blinden Innerlichkeit, sondern sind darauf aus, ihr sinnliches Erleben zu artikulieren. Dazu wählen sie je nach persönlicher und situativer Vorliebe und Entwicklung zwischen verschiedenen körperlichen, sprachlichen und visuellen Darstellungs- und Inszenierungsformen: zum Beispiel Lauten, Worten, Sätzen, Geschichten, Fragen, Bildern, dem szenischen Spiel oder dem Puppenspiel mit und ohne Requisiten. Kinder bringen ihre Erfahrungen nicht nur eigensinnig zum Ausdruck, sondern häufig auch gegen den Sinn der konventionalisierten Gewohnheiten und Bedeutungszuschreibungen, da das Imaginäre und das Reale noch dicht verwoben ist. Über die Freiheit der spielerischen Darstellung, der nicht selten mit intensiven Momenten großer Ernsthaftigkeit, Zufriedenheit oder Euphorie einhergeht, bringt das Kind Neues hervor. So vollziehen sich ästhetische Bildungsprozesse. Insbesondere durch den bildlichen Ausdruck gestaltet das Kind lebensweltliche Erfahrungen, gestaltet es sich selbst. Stenger (2003) pointiert diesen Gedanken, indem sie darauf hinweist, dass der bildliche Ausdruck die Selbsterfahrung ermöglicht beziehungsweise erweitert:

»Bilder strukturieren, verdichten Erfahrungen, die vielleicht untergehen würden, wenn sie nicht in dieser Intensität bildlich gefasst werden. Erfahrungen werden immer gemacht, Kinder steigen überall auf Hügel, die für sie Berge sind, überall werden Löcher in Sand und Erde gegraben. Doch über das Bild, das plötzlich Bedeutung und Sinn bildet, gestalten sie sich in besonderer Weise aus, erweitern sich die Selbsterfahrungsmöglichkeiten und Wahrnehmungsmöglichkeiten des Kindes (groß, klein, dunkel, gefährlich […]). Die Erfahrung gewinnt an Tiefe. Bilder bilden sich sinnlich. Das kann man in der Arbeit mit 1-3jährigen besonders gut sehen. Bilder bergen und verdichten ein ungeheures Erfahrungspotential, einen Reichtum, der im besonderen Klang der Stimme und dem Leuchten der Augen sichtbar wird.« (Stenger 2003, S. 182)

Über das Gestalten von Bildern formiert sich ein Sinn für die Welt und das eigene Innere, das Selbst- und Weltverhältnis bildet sich im Zuge der kreativen Hervorbringung des Bildes um; es ist an der Subjektkonstitution maßgeblich beteiligt.

Die bisherigen Erläuterungen geben zu verstehen, was es für ein Kind heißt, eine Bilderfahrung zu machen. Nun gilt es zu klären, inwieweit »Raum« in diesem Erfahrungsprozess zum Tragen kommt. Raum ist zwar eine Grundkonstante menschlichen Lebens, jedoch keinesfalls eine konstante Größe, über die wir einfach verfügen können. Über den Leib sind wir in einer vortheoretischen Beziehung zum Sein, er fungiert als Mittelpunkt des gelebten Raumes, der sich in Erfahrungsvollzügen und über das sich formende und umformende Verhältnis des Selbst zur Welt permanent neu figuriert. Auch der Bildraum lässt sich als etwas verstehen, das sich im Prozess der Begegnung zwischen Bild und Kind formiert. Im Zuge dieser Raumöffnung werden sinnlich-leibliches Anschauen und rationales Begreifen miteinander vermittelt. Die komplementäre Relation von Sinn- und Sinnlichkeit ist keine additive Beziehung. Sie lässt sich mit Hilfe der von Waldenfels (2002, S. 33) begriffenen Paradoxie der Erfahrung als Doppelereignis von Pathos und Response verstehen. Der Vorgang, dass einem Kind etwas auffällt, dass ihm etwas geschieht, dass es von etwas getroffen wird, bezeichnet Waldenfels als Pathos, als Widerfahrnis oder Affektion. Der zweite Pol der Erfahrung ist die Response, die Erwiderung, in der es auf etwas antwortet, das ihm fehlt, sich ihm entzieht und es eben dadurch bewegt, anrührt und affiziert. Die Antwort vollzieht sich nicht als bloße Widerspiegelung des Widerfahrnisses. Vielmehr ist die Erfahrung in sich brüchig und verschoben. An ihren Bruchstellen ereignet sich etwas, worüber das Kind nicht verfügen kann. Es entstehen neue Differenzierungen, die Waldenfels als zeiträumliche Verschiebungen oder Diastase bezeichnet: »Diastase bezeichnet einen Differenzierungsprozess, in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht.« (Waldenfels 2004, S. 174)

In der Umwandlung dessen, wovon das Kind getroffen ist, in das, worauf es antwortet, entsteht ein Zwischenbereich. In ihm vollzieht sich Bildung als ästhetische Selbstbildung. In diesem Zuge bilden sich Raum (und Zeit) neu. Ein Bildraum figuriert sich aber nicht nur zwischen dem Bild und seinem Betrachter, sondern auch zwischen dem Bild und der Person, die das Bild schafft und ihm seine Aussagekraft verleiht. Der Künstler legt sein Raumerleben in das Bild hinein. Dem Bild ist die Räumlichkeit des Schaffensprozesses als Spur eingeschrieben. Es schiebt sich als Drittes zwischen den Blick der schaffenden und den der betrachtenden Person. Es überträgt etwas von der Räumlichkeit der Schaffensphase, das sich dem unmittelbaren Zugriff verweigert. Dass die Räumlichkeit des Bildes im Sinne einer Bildwerdung und nicht im Sinne der Abbildung thematisch wird, darauf weist auch Stenger (2003, S. 182) hin: »Bilder in dieser Art sind nicht Ausdruck eines bereits vorhandenen und durch sie nur noch gestalterisch zu fassenden Gehaltes. Die Wirklichkeit liegt nicht als vorhanden vor uns ausgebreitet, sondern die Wirklichkeit dieser Erfahrung wird vom Kind in der sich bildhaft formenden Gestalt erst mit erstellt.« Auch der Betrachter des Bildes überträgt etwas von der räumlichen Aufladung des Bildes, wenn er sein Erleben gestaltet und darstellt. Der Bildraum existiert ebenso wenig außerhalb des Bildes, wie im Bild, Bildraum formiert sich vielmehr zwischen Bild und Person, er ist auf Übertragungsprozesse im Zuge der Inszenierung von Erfahrung und der Erfahrung von Inszenierung verwiesen.