Raus aus der ewigen Dauerkrise - Prof. Dr. Maren Urner - E-Book
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Raus aus der ewigen Dauerkrise E-Book

Prof. Dr. Maren Urner

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Beschreibung

Psychologie als Gesellschaftspolitik: Wir müssen unser Denken und unsere Denkmuster ändern, um die Krisen unserer Zeit zu meistern, fordert Maren Urner, Professorin für Medien-Psychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. Nach ihrem Bestseller "Schluss mit dem täglichen Weltuntergang" präsentiert die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Maren Urner in ihrem neuen Buch Methoden, die uns helfen, gesellschaftliche und persönliche Krisen zu meistern, indem wir unsere Denkmuster ändern und unser Denken neu ausrichten. Krisen haben Konjunktur - unser Alltag ist vielfach geprägt von persönlichen Herausforderungen (Privates und Berufliches unter einen Hut bringen, Gutes tun, immer up to date sein ...) und gesellschaftlichen Problemen (Klima-Krise, Corona-Krise, Finanz-Krise, Wirtschafts-Krise, Rechtspopulismus). Wie treffen wir hier die richtigen Entscheidungen? Wir kriegen wir es hin, Gutes zu tun und uns dabei gut zu fühlen? Die gewohnten Rezepte und Denkmuster sind überholt und funktionieren in Zeiten wie diesen nicht mehr, sagt Maren Urner. Folgen wir unseren biologischen Mustern wie Sicherheitsstreben, Kosten-Nutzen-Analysen und Lager-Denken, ist der Misserfolg vorprogrammiert. Diesem "statischen" Denken setzt Maren Urner ein Modell des "dynamischen" Denkens entgegen, das sie aus neuen Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen und psychologischen Forschung entwickelt. Es braucht Neugier, Mut und Verstehen, um unsere Denkmuster zu ändern und die Herausforderungen und Probleme kreativ und lösungsorientiert angehen zu können - das ist der einzige Weg aus der Dauer-Krise. Er führt zu einem nachhaltigen Leben, das von Kooperation, Sinnstiftung und positiven Beziehungen bestimmt ist, so Maren Urner. "Sobald mich meine Berufskrankheiten Zorn, Angst oder Verzweiflung befallen, lese ich Maren Urner. Klug und mit frischer Schärfe zeigt sie, was ein verantwortungsvoller Journalismus leisten kann." Hajo Schumacher

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Seitenzahl: 351

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Maren Urner

Raus aus der ewigen Dauerkrise

Mit dem Denken von morgen die Probleme von heute lösen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Unser Alltag nervt: Wir sollen Privates und Berufliches unter einen Hut bringen, Gutes tun und immer up to date sein. Und als wäre das nicht genug, schwirrt uns der Kopf vor lauter Krise: Klima, Corona, Finanzen, Wirtschaft, Demokratie … Wie kommen wir raus aus dieser Endlosschleife?

Die gewohnten Denkmuster funktionieren in solchen Krisenzeiten nicht mehr, weiß die Neurowissenschaftlerin Maren Urner. Sie bringt die neuesten Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen und psychologischen Forschung auf den Punkt und zeigt, wie wir die Fähigkeiten unseres Gehirns besser nutzen können, um den Krisenmodus zu überwinden. Ihr Credo: Alles beginnt in unserem Kopf!

Inhaltsübersicht

MottoVorbemerkungWarum wir immer bei uns selbst anfangen müssenI Dauerkrise? Worum geht es wirklich?1 Wahrnehmen, was ist2 »It’s all in your head!«Kein Thema, sondern eine Methode (zu denken und zu leben)3 Die »persönliche Krise«Auf der Suche nach dem GlückHedonistisches GlückLebenszufriedenheitEudaimonieErfüllungWir wissen (häufig) nicht, was uns glücklich macht und was wir wirklich wollenDepressive StudierendeDer unglückliche MillionärDrei Irrtümer bei der Suche nach dem GlückDas Gefühl von BedeutungslosigkeitDenn wir wissen nicht, was wir wollen4 Die »wissenschaftliche Krise«Die erste Irrung: Wunschvorstellung ObjektivitätDie zweite Irrung: Verwechslung von Meinungen und FaktenDie dritte Irrung: Trennung von Herz und Verstand5 Die »gesellschaftlichen Krisen«Erstes Missverständnis: Optimiert nicht für menschliches Wohlergehen, sondern für kurzfristige ProfiteZweites Missverständnis: Falsche Vorstellungen von Erfolg und MachtDrittes Missverständnis: Unsere Werte-VorstellungII Dauerkrise! Wie konnte es so weit kommen?6 Der Teil des Gehirns, der uns das Leben schwer macht7 Die Verlockung des statischen Denkens8 Herausforderung Nummer 1: Ein faules Gehirn in einer komplexen, von Zufällen geprägten WeltDas Gehirn ist ein GewohnheitstierUnser Gehirn sucht ständig nach Erklärungen, Sinn und Zusammenhängen9 Herausforderung Nummer 2: Die Vorhersage-Apparatur Gehirn in ständiger UngewissheitEin Gehirn auf dem HolzwegUnser Gehirn ist ungern allein10 Herausforderung Nummer 3: Ein Gehirn im KontrollverlustUnser Gehirn ist ein mieser RisikobewerterEin Gehirn in Angst will bloß überleben11 Besser umdenkenIII Raus aus der Dauerkrise. Was kann ich tun?12 Unsere Natur zeigt uns den Weg13 Dynamisches Denken: Fokus auf das, was wirklich wichtig istZutat Nummer 1: Beim dynamischen Denken stellen wir bessere FragenZutat Nummer 2: Dynamisches Denken überwindet das LagerdenkenZutat Nummer 3: Beim dynamischen Denken erzählen wir uns neue Geschichten14 Chance Nummer 1: Ein Gehirn braucht andere GehirneDie Trennung von Körper und Geist über Bord werfenGeben und Nehmen: »Wir sind leider soziale Wesen«DankbarkeitGebenBerührungenRezept Nummer 1: Das Sozial-RezeptKreislauf Nummer 1: Gemeinsam besser fühlen15 Chance Nummer 2: Unser Gehirn kann sich selbst hinterfragenPsychologische Flexibilität: Unsicherheit aushaltenWissenschaft 1.0: Unterschiede zwischen Wissenschaft und GlaubeVariante 1Variante 2Variante 3Die humorvolle VariantePersönliche Kommunikation: Jedes Wort verändert die WeltMediale Kommunikation: Eine Impfung gegen die InfodemieGefühle lassen sich nicht mit Fakten »bekämpfen«Spielend zum nächsten Level des kritischen DenkensWissenschaftliche Kompetenz fördernGesellschaftliche Kommunikation: Wo wollen wir eigentlich hin?Rezept Nummer 2: Das Kompetenz-RezeptKreislauf Nummer 2: Jeder Gedanke verändert uns16 Chance Nummer 3: Ein mutiges Gehirn ist gesund, aktiv und erfolgreichEines Tages klopfte die Angst an die Tür. Der Mut öffnete, und niemand war daAlles ist … relativAlles ist … eine Kosten-Nutzen-AnalyseWas ist das Ziel?Welchen Zeitraum betrachten wir?Wer gehört dazu?Alles ist … eine EntscheidungErstes F: FokusZweites F: ForcefulDrittes F: (zu) Fuß (oder mit dem Fahrrad)Rezept Nummer 3: Das Wohlfühl-RezeptKreislauf Nummer 3: Jede Interaktion verändert unsSchlussworte
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Die größte Revolution unserer Generation ist die Entdeckung, dass menschliche Wesen die äußeren Aspekte ihres Lebens verändern können, indem sie die inneren Einstellungen ihres Geistes verändern.

 

William James, Begründer der Psychologie (1842–1910)

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Die Verlagsgruppe Droemer Knaur ist in ihrem Handeln wie in den Inhalten ihrer Bücher dem hohen Wert der Diversität verpflichtet und möchte dabei eine möglichst gute Lesbarkeit gewährleisten. Um beiden Zielen gerecht zu werden, verwendet der Text dieses Buches eine geschlechtersensible Sprache.

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Warum wir immer bei uns selbst anfangen müssen

»Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?«

Während ich meinen Koffer im Raum so platziere, dass wir nicht bei nächster Gelegenheit darüber stolpern, merke ich, dass die Frage nun den kompletten Raum erfüllt. Einen Raum, den wir vor wenigen Stunden zum ersten Mal betreten haben. Irgendwo im Nirgendwo. Irgendwo in Frankreich kurz vor der Normandie. Vielleicht genau der richtige Ort für diese Frage nach dem großen Ganzen, die mir so unerwartet in den Kopf gekommen ist und wie von selbst ihren Weg von meinen Gedanken zum ausgesprochenen Satz gefunden hat. Der Raum steht symbolisch für das Spannungsfeld, in dem wir uns gerade befinden. Hier das kleine Paradies irgendwo im Nirgendwo mit Hühnern, Ziegen, Ponys und Schotterstraße, dort draußen eine Welt in Unsicherheit angesichts einer Pandemie, die seit Monaten unser Leben in jeder Hinsicht auf den Kopf gestellt hat oder zumindest den Anschein erweckt, dies getan zu haben. Nichts auf der Welt scheint mehr, wie es mal war. Das Spannungsfeld begegnet uns auf so vielen Ebenen. Zwischen Glauben und Wissen, wenn wir das Gefühl haben, die Welt zu verstehen oder aber den Verstand zu verlieren. Zwischen Banalem und Wichtigem, wenn wir das Gefühl haben, nicht mehr hinterherzukommen, weil sich alles zu überschlagen scheint.

»Und? Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?« Meine Begleitung lässt nicht locker.

Es gibt Momente, in denen ich das tatsächlich denke. Wenn ich den Eindruck habe, jeden Gedanken mit Blick auf die großen Fragen des Lebens nach Sinn und Unsinn durchdacht zu haben oder gar jede Gefühlslage durchlebt zu haben. Das hält exakt so lange an, bis mir ein neuer Gedanke begegnet, ich einen dieser Aha-Momente erlebe, weil ich einen Zusammenhang verstehe, der mir bis dahin unklar war. Gefühlt macht es dann laut »Plopp« in meinem Kopf, weil Groschen, Euro, Kreditkarte oder Bitcoin gefallen sind. Stelle ich mir meine Gedankenwelt wie eine riesige Rubbel-Weltkarte vor, sind das die Momente, in denen eine weitere Straße oder gar eine Verbindung zwischen zwei Orten freigerubbelt wird. Der kurze Moment der Gewissheit, es nun verstanden zu haben, hält genau bis zum nächsten »Plopp« an.

Wie schnell diese Momente aufeinander folgen, hängt davon ab, wie lange es dauert, bis ich mich erneut auf einen interessanten Diskurs einlasse, ausgelöst durch einen Gedanken, den mir eine Unterhaltung, ein Artikel oder eine Studie beschert. In jedem Fall sind diese Momente begleitet von der ernüchternden bis schmerzhaften Einsicht: Ich weiß so wenig! Je nach Gemütslage lautet der Gedanke in meinem Kopf dann möglicherweise auch: Ich weiß doch gar nichts! In diesen Momenten gewinnt das große Ganze die Oberhand über die banalen Dinge, die unseren Alltag ausmachen, und sorgt mit seiner Komplexität und Größe für ein überwältigendes Gefühl des Kontrollverlusts. Was kann ich kleiner Mensch auf diesem Planeten, dessen Komplexität ich niemals begreifen werde, schon tun geschweige denn beeinflussen oder verändern?

Was in solchen Momenten hilft? In diesen Momenten der schmerzhaften Ungewissheit und Überforderung? Das beste Gegenmittel zum Kontrollverlust sind meine Laufschuhe.

Wer läuft, setzt einen Fuß vor den anderen – meist kontrolliert und bestimmt. Wer läuft, ist bei sich und seinem Körper. Laufend fällt es leichter, sich den unzähligen Informationskanälen zu entziehen, die in Zeiten von Smartphone, Dauererreichbarkeit und Nachrichtentickern auf uns einprasseln. Es fällt leichter, sich zu fokussieren. Ein wenig ist Laufen das Gegenmodell zur Komplexität der blinkenden und immer schreienden Welt des 21. Jahrhunderts.

Aber auch dieses Gefühl der Kontrolle ist natürlich nur in meinem Kopf. Denn auch das Laufen verstehe ich auf zahlreichen Ebenen nicht. Angefangen bei den Vorgängen in meinem Fuß, wenn dieser gefedert durch Socken und Schuh den Waldboden berührt. Mein Verständnis ist auch hier »relativ«. Genau wie mein Smartphone, das ich zu verstehen glaube, nur weil ich verstanden habe, dass es beim Nachrichteneingang blinkt oder je nach Werks- oder von mir gewählten Einstellungen anders auf sich aufmerksam macht. Sollte ich es einmal aufschrauben und auf die Einzelteile schauen, wäre es mit dem Verständnis schnell vorbei.

Ganz abgesehen davon, dass auch das Gefühl von Sicherheit beim Laufen nur in meinem Kopf ist. Genauso wenig wie ich weiß, wie sich die geopolitische Lage im Nahen Osten in den kommenden Monaten entwickeln wird, weiß ich nicht, was hinter der nächsten Kurve auf mich wartet oder ob ich mir auf einer Wurzel den Fuß vertreten werde.

 

Ziemlich genau einen Monat nach dem Koffergedanken, bin ich mal wieder laufend unterwegs. Bis eben habe ich am Schreibtisch gesessen und am Manuskript für dieses Buch gearbeitet. Plötzlich und ungefragt kommt mir auf dem Rückweg wieder der Koffergedanke in den Sinn.

»Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?«

Die letzte Kurve, kurz hinterm Waldausgang, danach geht es nur noch geradeaus. Ich mag die Frage, weil sie eine Einladung für dieses Buch sein kann. Eine Einladung, sich bewusst zu machen, dass alles im Leben in unserem Kopf – unserem Gehirn – beginnt. Und dass wir uns immer Geschichten erzählen. Angefangen bei der Geschichte einer flüchtigen Begegnung über die Geschichte unseres Lebens hin zur Geschichte von Werten wie Freiheit, Sicherheit und Frieden. Sie ist eine Einladung, ebendiese Anfänge der Geschichten, die unser Leben ausmachen, immer wieder zu suchen und dabei immer wieder zu erkennen und zu akzeptieren: Alles ist ungewiss und komplex – egal, ob es um den nächsten Schritt auf dem Waldboden, die Eindämmung einer Pandemie oder die Anpassung an die Klimakrise geht. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als einen Schritt vor den anderen zu setzen.

»Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?«

Die Frage ist auch eine Einladung zum dynamischen Denken – was logischerweise eine Verabschiedung vom statischen Denken bedeutet. Dynamisches Denken lässt uns erkennen, dass alle Anfänge in unseren Gedanken liegen. Egal, ob diese Anfänge uns, unsere Beziehungen oder Politik und Gesellschaft betreffen. Und wenn wir eins ändern und beeinflussen können, dann sind es unsere Gedanken.

Die Unterscheidung zwischen »statischem« und »dynamischem« Denken durchzieht dieses Buch wie ein roter (oder eigentlich bunter) Faden. Im ersten Teil des Buches zeige ich, wie das statische Denken uns auf allen Ebenen – persönlich, wissenschaftlich und gesellschaftlich – in den »Krisenmodus« versetzt (hat). Im zweiten Teil beschreibe ich die Funktionsweisen unseres Gehirns, die uns dorthin gebracht haben. Im dritten Teil stelle ich das Gegenmittel vor: das dynamische Denken, das es uns ermöglicht, diesen Modus hinter uns zu lassen.

An dieser Stelle die beste Nachricht vorab: Unser Gehirn bringt zwar einige Tücken mit sich, die das statische Denken so verlockend machen. Der weitaus größere Teil unserer »wahren Natur« ist aber am dynamischen Denken interessiert – wir müssen es nur wollen.

Ausgerüstet mit dieser Erkenntnis, beginnt das dynamische Denken immer bei der Frage: Welche Rolle spiele ich gerade? Damit meine ich keine Theaterrolle, sondern die vielen Gruppen, zu denen wir häufig ganz automatisch und manchmal auch durch bewusste Entscheidungen, dazugehören – oder eben nicht. Weiblich oder männlich, Boomer oder Millennial, Sommersprossen oder keine, progressiv oder konservativ, auf dem Rad oder im Auto. In jedem Moment bin ich mit vielen unterschiedlichen Titeln auf der Stirn unterwegs. Diese Titel und Rollen gehen mit Werten, Erwartungen und Regeln einher, die wir häufig als statisch betrachten. Wir kategorisieren und ordnen zu, schließen ein und aus, ziehen Grenzen und meiden Veränderungen.

Genau wie alles andere sind auch diese Grenzen, Zuordnungen und Aufteilungen nur in unserem Kopf. Sie sind Ausdruck unseres Denkens, das uns eine Kontrolle und vermeintliche Sicherheit weismacht, die es nicht geben kann. Denn Normen, Wertvorstellungen und damit verbundene Rechte und Pflichten sind keine Naturgesetze, sondern immer menschengemacht und damit alles andere als statisch.

»Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?«

So also soll dieses Buch beginnen. Und dann? Wie geht es dann weiter?

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I Dauerkrise? Worum geht es wirklich?

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1 Wahrnehmen, was ist

Wenn es um Antworten auf große Fragen geht, hilft als erster Schritt meist eine Bestandsaufnahme.

Also: Wo stehen wir gerade?

Klimakatastrophe, Corona-Pandemie und Vermüllung der Ozeane – täglich prasseln neue Hiobsbotschaften auf uns ein, denen wir uns häufig hilflos ausgeliefert fühlen. Die Menschheit bringt den Planeten Erde im wahrsten Sinne des Wortes an seine Grenzen: 2009 stellte eine Gruppe aus achtundzwanzig Wissenschaftlern aus den Bereichen Erdsystem- und Umweltwissenschaften neun »planetare Grenzen« auf.[1] Von diesen Belastungsgrenzen unseres Planeten waren schon damals drei überschritten. In der Folgeveröffentlichung von 2015 waren es bereits vier.[2]

Gleichzeitig stehen wir vor zahllosen alltäglichen, persönlichen Herausforderungen an uns und unser Leben, inklusive Zehntausender Entscheidungen, die von uns täglich getroffen werden wollen. Wir sind also »im Großen« und »im Kleinen« kontinuierlich überfordert. Denn längst ist aus der persönlichen Generalentschuldigung »Du, ich hab’s nicht geschafft, es war einfach zu stressig!« ein Mantra geworden, das eine ganze Gesellschaft prägt, die täglich den Spagat übt. Eben weil wir ständig versuchen, eine Balance zwischen »Klar kann ich Kinder und Karriere unter einen Hut bringen!« und »Digitalem Detox- und Yogawochenende« zu finden.

Die Krise herrscht also auf allen Ebenen: persönlich, beruflich und auf der Welt sowieso. Und zwar dauerhaft und sehr wahrscheinlich für immer, mindestens aber noch sehr lange. Weder ausreichend Impfstoffe noch das Pflanzen von Millionen Bäumen,[3] noch Bankenrettungen werden das Steuer herumreißen. Die Welt ist gefangen in der Dauerkrise.

Moment mal! Das ist doch Quatsch! Halten wir einen Moment inne und schlagen kurz nach, was das Wort »Krise« bedeutet. Die »krísis« meint im Altgriechischen ursprünglich nichts weiter als »Beurteilung«, »Entscheidung« und »Meinung«. Daraus wurde die »Zuspitzung«, die wiederum zum Verb »krínein« führte, das »trennen« und »(unter)scheiden« meint. In der deutschen Sprache kommt die Krise vom lateinischen »crisis«[4] und meint einen »Wende- oder Höhepunkt einer bis dahin kontinuierlich verlaufenden Entwicklung«[5]. Die erste Anwendung fand der Begriff Krise im Deutschen in der Medizin. Vor allem bei fieberhaften Erkrankungen beschrieb sie die »Entscheidung« oder den »Wendepunkt« und bezieht sich auf die Krankheitsphase, nach der bei gutem Verlauf die Besserung einsetzte.[6] In ihren ursprünglichen Bedeutungen ist die Krise also ein Zeitpunkt oder eine nicht besonders lang anhaltende Phase der Entscheidung mit ungewissem Ausgang: Nach der Krise kann es besser oder schlechter werden.

Erst in der heutigen Verwendung ist die Krise durchweg negativ konnotiert. Heutzutage sind Krisen bedrohlich und lösen bei den Betroffenen Unsicherheit aus. Häufig sorgen sie für Konflikte oder andere negative Folgen. Aus dem einstigen Wendepunkt mit offenem Ausgang ist ein Bedrohungszustand geworden. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Fachmann für Krisenmanagement Charles F. Hermann definierte 1969 drei Zutaten für eine so verstandene Krise:[7]

Sie bedroht Ziele von höchster Priorität der Akteure in Entscheidungspositionen.

Sie kommt für die Betroffenen überraschend.

Sie limitiert die Zeit, die bleibt, um zu reagieren.

Aktuellere Definitionen aus der Wissenschaft haben immer eins gemeinsam: Auch wenn die genaue Dauer einer Krise, während sie herrscht, meist nicht absehbar ist, ist sie zeitlich begrenzt.[8] Mit anderen Worten: Auch wenn die Krise ihren offenen Ausgang mit möglicher Chance in unserem Sprachgebrauch irgendwo auf dem Weg ins 21. Jahrhundert verloren hat, gilt – zumindest laut aktueller Definition – weiterhin, dass Krisen ein Zeitfenster meinen, sie also einen Anfang und ein Ende haben.

So wird die vermeintliche »Dauerkrise« oder die »ewige Krise« schnell ihrer Daseinsberechtigung beraubt. Sie ist genauso unmöglich wie der tägliche Weltuntergang, der sich jeder Logik widersetzt. Spontan muss ich an das Gedicht denken, bei dem lauter Widersprüche zu einer auf den ersten Blick sinnvollen Erzählung zusammengebastelt wurden.[9] Die ersten beiden Verse bringen das trefflich auf den Punkt:

Dunkel war’s, der Mond schien helle,

schneebedeckt die grüne Flur,

als ein Auto blitzeschnelle

Langsam um die Ecke fuhr.

 

Drinnen saßen stehend Leute,

schweigend ins Gespräch vertieft,

als ein totgeschossener Hase

auf der Sandbank Schlittschuh lief.

So in etwa verhält es sich mit der »ewigen Dauerkrise« – es kann sie genauso wenig geben wie den totgeschossenen Hasen, der auf der Sandbank Schlittschuh läuft. Statt also von »Dauerkrisen« und »Krisenmodus« zu sprechen, sollte uns bewusst werden: Was wir häufig mit Blick auf Klima-, Finanz- und Flüchtlingskrise eigentlich meinen, sind keine Krisen, sondern dauerhafte Zustände, vielleicht eingeleitet durch Wendepunkte in der Geschichte. Diesen Zuständen sind wir nicht hoffnungslos ausgeliefert – wie das Rutschen von der einen in die nächste Krise suggeriert –, sondern wir können sie aktiv mitgestalten!

Der Kernbegriff dieses ersten Teils lautet dementsprechend: Krise und die dazugehörige Kernfrage: Worum geht es wirklich?

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2 »It’s all in your head!«

Mich als Neurowissenschaftlerin fasziniert die Frage, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und wie genau das unweigerlich dazu führt, dass wir die Welt alle unterschiedlich sehen und wahrnehmen. Auch wenn wir beide auf dasselbe Bild schauen, den gleichen Satz lesen oder eine Erdbeere teilen, unterscheiden sich unsere Wahrnehmungen. Immer. Genauso, wie sich unsere Erinnerung an die jeweilige Erfahrung unterscheiden wird. Sei es an den Blick auf das Bild im Pariser Louvre oder an die gemeinsame Erdbeerernte im Sommer.

Das liegt daran, dass zwei Gehirne niemals gleich sind und wir die Welt stets aufgrund unserer individuellen Biologie, Erfahrungen, Hoffnungen und Erwartungen sehen. An dieser Stelle möchte ich zum ersten (und nicht zum letzten) Mal Bezug auf das Zitat von William James nehmen, das ich diesem Buch vorangestellt habe.

Warum? Weil William James mit seiner Aussage noch einen Schritt weitergeht als mit seiner Erkenntnis, dass unser Leben nichts anderes ist als das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten. Dieses Zitat habe ich übrigens meinem vorherigen Buch Schluss mit dem täglichen Weltuntergang vorangestellt. Darin geht es unter anderem darum, wie unsere Aufmerksamkeit zur wichtigsten Ressource des digitalisierten 21. Jahrhunderts geworden ist. Und auch darum, wie jeder Einzelne besser mit dem Dauerfeuer aus Informationen und Ablenkungsangeboten umgehen kann, wie wir also die von mir beschriebene »digitale Vermüllung unserer Gehirne« abwehren können. Es geht also vor allem um eine Bewältigungsstrategie, ein Reagieren und das dafür notwendige Rüstzeug auf gedanklicher und Verhaltensebene angesichts der Informationsflut, der wir alltäglich ausgesetzt sind.

Jetzt und im Rahmen dieses neuen Buches lade ich gemeinsam mit William James ein, (mindestens) einen Schritt weiterzugehen. Denn wenn wir begreifen, dass die »größte Revolution unserer Generation die Entdeckung [ist], dass menschliche Wesen die äußeren Aspekte ihres Lebens verändern können, indem sie die inneren Einstellungen ihres Geistes verändern«, bedeutet das: Wir können uns nicht nur »wehren«, indem wir bestimmen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, sondern wir können durch die aktive Beeinflussung unserer Gedankenwelt – also unseres Gehirns – die Welt selbst verändern.

Ein großes Versprechen, und vielleicht klingt es an dieser Stelle noch kryptisch und wenig greifbar. Es ist aber in jedem Fall die fundamentale Erkenntnis, auf der alles, was nun folgt, aufbaut.

So hat William James es auch schon vor digitalen Zeiten und Smartphone auf das beschriebene Stress-Mantra bezogen, als er feststellte: Die beste Waffe gegen Stress ist unsere Fähigkeit, einen Gedanken nach dem anderen zu wählen. Jedes Handeln und damit auch jede Lösung für eine Herausforderung beginnt also bei uns – oder besser gesagt: in unserem Kopf. Und um es nicht bei dem alten William James zu belassen, möchte ich die ugandische Luftfahrttechnik-Ingenieurin, Frauenrechtlerin und Politikerin Winnie Byanyima zitieren, die seit 2019 geschäftsführende Direktorin des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) ist. Im März 2019 hat sie in einem Twitter-Post geschrieben: »Als ich jung und clever war, wollte ich die Welt verändern, jetzt, wo ich älter und weiser bin, möchte ich mich selbst verändern.«[10]

 

Anknüpfend an diese sehr weisen Worte mache ich einen praktischen Vorschlag: Wir müssen nicht erst alt sein oder werden, um diese Erkenntnis zu verstehen und anwenden zu können, sondern wir können sie in jedem Alter und jetzt sofort nutzen. Stärker noch: Wenn wir verstehen und akzeptieren, dass »alles in unserem Kopf« beginnt, ist plötzlich vieles möglich. Im Englischen bringt es der Ausdruck »It’s all in your head!« gut auf den Punkt. Dabei wird der Ausdruck manchmal fast vorwurfsvoll benutzt, wenn jemand einer übermäßigen Vorstellungskraft beschuldigt wird, die wenig mit der Realität zu tun zu haben scheint. Mit Ausrufungszeichen und mahnendem Unterton klingt das »It’s all in your head!« dann wie eine Zurechtweisung, verbunden mit dem gut gemeinten Rat, die eigene Welt zu verlassen und »zurück zur Realität« zu kommen. Was aber unmöglich ist, weil wir immer in unserem Kopf und unserer Welt »gefangen« sind.

Doch was, wenn wir das nicht länger als Einschränkung, sondern als Gewinn sehen? Was, wenn wir begreifen: Wir haben es im Hirn und damit in der Hand – egal, ob es um die Frage geht, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten und somit wie wir unsere Zeit verbringen, oder ob es um unsere Zufriedenheit, die anderer Menschen oder gar unsere gemeinsame Zukunft auf diesem Planeten geht?

Denn egal, wen oder was wir ändern, verbessern oder gar retten wollen: Die Veränderung und die Rettung beginnt bei uns. Genauer gesagt, beginnt sie bei jeder einzelnen Entscheidung, die jeder Einzelne von uns trifft. Welche Dinge dabei eine Rolle spielen und worauf wir bei unseren Entscheidungen achten können, zeigen uns zahlreiche Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften und der Psychologie – vor allem der Positiven Psychologie, die sich im Gegensatz zur traditionellen Psychologie viel mehr mit positiven Aspekten wie Glück, Vertrauen und Solidarität beschäftigt. Die zentrale Frage ist dabei, unter welchen Bedingungen Menschen ein gutes und zufriedenstellendes Leben führen.[11] Statt also wie in der traditionellen Psychologie Faktoren ausfindig zu machen, die uns ängstlich und krank machen, geht es bei der Positiven Psychologie im Kern darum, Faktoren zu identifizieren, die glückliche und gesunde Menschen auszeichnen.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse zahlreicher Forschungsarbeiten aus diesem Bereich mit Blick auf die Frage, wann wir gute Entscheidungen treffen, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Stress, Angst und das Gefühl von Machtlosigkeit sind keine guten Berater. Wenn wir uns hingegen sicher, befähigt und gut fühlen, sind wir sehr viel besser in der Lage, clevere und weise Entscheidungen zu treffen. Es sind ebendiese Gefühle, die uns lösungs- und zukunftsorientiert denken und handeln lassen. Außerdem fällt es uns leichter, Gewohnheiten zu entwickeln, die uns befähigen und helfen, mutig zu sein. Der Clou besteht darin, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse immer wieder eins bestätigen: Die »richtigen« Entscheidungen machen im Kleinen, also bezogen auf die klassischen »Ich-Themen« von Gesundheit bis Geld, nicht nur jeden Einzelnen von uns zum glücklicheren und gesünderen Individuum, sondern beeinflussen gleichzeitig auch unser Umfeld und unsere Umwelt positiv. Jackpot sozusagen. Oder anders ausgedrückt: Wäre dies ein Businessbuch und der beschriebene Zusammenhang eine dort behandelte Fallstudie, würde das Urteil lauten: »win-win«!

Doch bevor wir uns nun alle entspannt zurücklehnen und auf die Erlösung warten, kommt hier die »schlechte Nachricht«: Was wir aktuell sowohl im Kleinen als auch im Großen je nach Wetter- oder Krisenlage häufig bis meistens machen, gleicht eher dem Gegenteil und würde im Businessbuch als Paradebeispiel für »lose-lose« – also beiderseitiger Verlust – geführt.

Kein Thema, sondern eine Methode (zu denken und zu leben)

Wichtige Zwischenerkenntnis ist also: Es geht hier nicht um ein Thema, sondern um eine Methode. Und weil sich unser Gehirn Geschichten besser merken kann als Fakten oder einfache Aussagen, vielleicht hier kurz die Einbettung der Zwischenerkenntnis in die Geschichte meiner »Weisheit«. Ich hatte im Sommer 2019 im Fernsehen über mein erstes Buch gesprochen und erhielt daraufhin Anfragen aus den unterschiedlichsten Richtungen. Bis dahin hatte ich meinen Schwerpunkt vor allem im Journalismus und in der Bildung gesehen, hatte Redaktionen, Konferenzen und Bildungseinrichtungen besucht, um über den aus meiner Sicht notwendigen Wandel im Journalismus zu sprechen. Hin zu einer konstruktiven und lösungsorientierten Berichterstattung, wie ich sie mit dem von mir mitgegründeten Online-Magazin Perspective Daily praktiziere. Nun klopften plötzlich Vertreter aus Politik und Wirtschaft an meine Tür. Verbände, Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und sogar der DFB fragten Vorträge, Workshops und Seminare an. Als ich schließlich auch noch eine Einladung vom Bundespräsidenten erhielt, erreichte – neben der Freude darüber – meine Verwirrung ihren Höhepunkt, und ich fühlte mich zugegebenermaßen auch ein wenig überfordert angesichts der vielen Entscheidungen, die so viele Menschen auf einmal von mir erwarteten. Vor allem beschäftigte mich aber die Frage: »Wo ist die Verbindung in dieser bunten Mischung aus Anfragen?«

Erst als ich meine Verwirrung in einem Gespräch zum Ausdruck brachte, machte es – mal wieder – »Plopp« in meinem Kopf: »Du hast kein Thema, sondern eine Methode. Und die kann potenziell jeder nutzen!« Als mir die anscheinend »globale« Anwendbarkeit meiner Überlegungen und meiner sich weiter entwickelnden Arbeit klar wurde, begann ich die Struktur eines zweiten Buches zu skizzieren.

Die darauffolgenden Monate waren davon geprägt, dass ich ebendiese Struktur immer wieder hinterfragte, anpasste und mehr als einmal davor stand, alles über Bord werfen zu wollen, da mir das Ausmaß meiner Thesen zu groß erschien. An manchen Abenden, die auf Tage voll thematischer Pingpongspiele in meinem Kopf folgten, lag ich frustriert im Bett, weil mein Gehirn nicht zur Ruhe kommen wollte. Das war doch alles eine Nummer zu groß! Fast bockig dachte ich: »Sollen sich doch andere damit beschäftigen! Ich habe auch mit meiner bisherigen Arbeit genügend zu tun.« Der mühselige Prozess und der damit verbundene Versuch, aus einem Netzwerk von Gedanken, Ideen und Konzepten einen linearen Verlauf zu stricken, den ich aufschreiben kann, führte mir ironischerweise ganz häufig auf der Metaebene die erste zentrale Erkenntnis des Buches vor Augen: »It’s all in your head!« – »Alles nur in deinem Kopf!«

Es geht also darum, uns selbst besser zu verstehen. Lange bevor das mit Hilfe von Neurowissenschaften und Positiver Psychologie erforscht wurde, hatten das schon die alten Griechen erkannt. Sie nannten es »Gnothi seauton – Erkenne dich selbst« Damit einher ging für sie die Aufforderung »gut zu leben« was natürlich einer weiteren Definition bedarf.

Der erste Schritt, um aus der vermeintlichen »ewigen Dauerkrise« zu kommen, ist also getan, wenn wir erkennen, dass wir in unserem Kopf beginnen müssen.

Das gelingt am besten, wenn wir uns fokussieren und sämtliche Ablenkungen, die um uns herum so viel und häufig vorhanden sind, ignorieren beziehungsweise sie erst gar nicht wahrnehmen. Wer ein Smartphone besitzt und täglich nutzt, weiß, wie schwierig es sein kann, sich dem Blinken, Vibrieren und Pingen, dem ständigen digitalen Geschrei zu entziehen. Den Fokus zu finden fällt uns so schwer, weil unser Gehirn sich so herrlich gern ablenken lässt – in Zeiten von Säbelzahntiger und Mammut eine gute bis überlebenswichtige Eigenschaft. Denn hätten wir weiter konzentriert auf die mathematischen Gleichungen gestarrt oder unsere Aufmerksamkeit kompromisslos auf den neuesten Roman gerichtet, wäre das im Angesicht des Raubtiers vor unserer Nase potenziell das Letzte gewesen, was wir jemals getan hätten.

Die Herausforderung ist mir als Neurowissenschaftlerin wie auch als Mensch, der sich selbst ständig mit diversen Ablenkungen konfrontiert sieht, bewusst und bekannt. Dennoch bin ich nicht nur aufgrund der weisen Worte von Winnie Byanyima und William James davon überzeugt, dass wir bei uns selbst beginnen müssen, wenn es darum geht, die Welt besser zu verstehen und vielleicht sogar positiv zu beeinflussen. Und so beginne ich mit dem zentralen Begriff der »Krise« genau dort: auf der persönlichen und individuellen Ebene.

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3 Die »persönliche Krise«

Vor einigen Jahren – manche mögen sagen, »früher« – sprachen wir im Zusammenhang mit persönlichen Krisen häufig von der Midlife Crisis. Diese »Krise in der Mitte des Lebens« trifft vor allem Männer irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Vielleicht kaufen sich die hadernden Herren dann einen Sportwagen oder zumindest ein dickes Motorrad, haben eine Affäre mit einer viel zu jungen Frau oder sprechen wiederholt davon, nun endlich ihren Lebenstraum wahr werden zu lassen, endlich den richtigen Weg zu gehen und mit gesellschaftlichen Erwartungshaltungen zu brechen.

Ja, das ist natürlich eine sehr klischeebehaftete Zusammenfassung. Doch sie zeigt: Die »Midlife Crisis« passt in die eigentliche Bedeutung des Begriffs Krise, weil sie einen Wendepunkt darstellt, der je nach Individuum ein paar Wochen, einige Monate oder wenige Jahre umfassen kann.

Was wir dagegen aktuell beobachten, ist der inflationäre Gebrauch des Begriffs der Krise mit Bezug auf die persönliche Ebene. Es scheint, als rauschten viele Menschen von der einen Sinnkrise in die nächste. Irgendwo zwischen Karriere, Kindern und Kochkurs suchen Menschen in der zivilisierten, aufgeklärten Welt täglich oder wenigstens am Wochenende nach dem oder einem Sinn. Die einen versuchen es mit Spaß, die anderen mit Selbstkasteiung. Vom Büro direkt in die Boulderhalle inklusive Feierabendbier und Feierlaune oder alternativ mit dem Tesla ins Schweigeretreat, zum ayurvedischen Yogawochenende, Räucherstäbchengeruch und Mantrasingen inklusive. Die einen zählen Kalorien und berechnen die Differenz aus den aufgenommenen und den verbrauchten Energieeinheiten. Sie betreiben Selbstoptimierung oder gar Selbstkasteiung. Früher stellten sie sich morgens und abends auf die Waage im Badezimmer, heute sind sie vielleicht Mitglied der Quantified-Self-Bewegung. Während bis vor wenigen Jahren das ständige Messen und Auswerten möglichst vieler personenbezogener Daten chronisch Kranken und Spitzensportlern vorbehalten war, ist die Vermessung des Selbst längst zu einer internationalen Bewegung geworden. Dank Fitnessarmbändern und Self-Tracking-Apps versammeln sich in knapp zweihundert Quantified-Self-Gruppen knapp hunderttausend Menschen weltweit regelmäßig, um sich auszutauschen.[12]

Die anderen wollen frei und selbstbestimmt sein oder sich zumindest so fühlen. Da passen weder Ernährungsampeln noch Tempolimit in den (Speise)Plan. Sie suchen den Sinn vielleicht in Grenzerfahrungen, im Besonderen, im nächsten Adrenalinkick, der nie lange allzu lange auf sich warten lassen sollte.

Natürlich ist auch diese Beschreibung eher eine Zeichnung der Extreme. Dennoch kann sich wohl jeder irgendwo dazwischen (und in einzelnen Erfahrungen vielleicht auch bei den Extremen) wiederfinden.

Die wichtige Frage, die sich hinter der Sinn- und Seinskrisen versteckt, ist ja: Wonach suchen wir alle? Oder anders formuliert: Worum geht es wirklich? Diese letzte Frage wird hier noch öfter vorkommen, sie ist für diesen ersten Teil des Buchs von zentraler Bedeutung.

Auf der Suche nach dem Glück

Beginnen wir also ganz naiv, uns einer möglichen Antwort auf die große Frage nach dem Sinn anzunähern. Abgesehen von konkreten Zielen, die $eine jede im Leben vielleicht verfolgt, sollen ebendiese Ziele am Ende des Tages ja dazu führen, dass wir uns gut fühlen. Manche nennen es zufrieden, andere glücklich. So wird Glück oft als ein kurzfristiger Zustand beschrieben, der nur möglich ist, gerade weil wir nicht dauerhaft glücklich sein können. Vergleichbar mit der Erkenntnis, dass wir die Dunkelheit kennen müssen, um Licht wahrnehmen zu können. Dagegen meinen Wissenschaftler, die sich ernsthaft mit der Thematik beschäftigen, mit »Zufriedenheit« oder auch dem »subjektiven Wohlbefinden« weniger einen akuten Zustand als einen messbaren langfristigen Daseinszustand, der natürlich gewissen Schwankungen unterworfen ist. Anders formuliert: Ein zufriedener Mensch durchlebt neben Glücksmomenten auch Phasen von Trauer, Angst und anderen negativen Emotionen.

Im Englischen gibt es ähnlich verschiedene Auslegungen des mittlerweile fast eingedeutschten Begriffs »Happiness«. Wann sind wir »happy«? Ist die »Happiness«, die der US-amerikanische Musiker Pharell Williams in seinem preisgekrönten Song »Happy« besingt, die gleiche, die Menschen in Berlin am 9. November 1989 beim Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs fühlten? Mal sind Momente wie eine Achterbahnfahrt, ein berufliches Erfolgserlebnis oder ein schöner Tag am Strand gemeint. In anderen Zusammenhängen meint »Happiness« eher das allgemeine Wohlbefinden, das anhand verschiedener Kriterien gemessen wird.

Seit Jahrtausenden diskutieren Gelehrte und Philosophen darüber, was Glück ausmacht und was es wirklich ist. So sind sich Wissenschaftler mittlerweile vor allem darin einig, uneins zu sein – agree to disagree heißt die klingende englische Formulierung –, wenn es darum geht, eine Glücksdefinition zu finden. Auch wenn in der Wissenschaft je nach Forschungsfrage und Disziplin teilweise noch unterschiedliche Begrifflichkeiten genutzt werden, haben sich die Philosophen und Gelehrten im Großen und Ganzen auf vier verschiedene Formen des »Glücks« geeinigt, die sich wiederum wissenschaftlich untersuchen lassen. Hier also ein kleiner Abstecher in die Philosophie der Erforschung des Glücks im 21. Jahrhundert anhand der vier möglichen Auffassungen von »Glück«:

Hedonistisches Glück

Der Geschmack von Schokolade, Wein und Gourmet-Menü, der Siegestreffer der Lieblingsmannschaft oder die liebevolle Umarmung. Das sind die Momente, die wir vielleicht am ehesten als »Glücksmomente« oder auch Vergnügen beschreiben würden und um die es beim hedonistischen Glück geht. Stellen wir uns unseren aktuellen Gefühlszustand als eine Waage vor, bei der auf der einen Seite alle positiven und auf der anderen Seite sämtliche negativen Gefühle liegen, dann meint »Vergnügen« die Momente, in denen die Waagschale mit den positiven Emotionen schwerer ist als die mit den negativen.

Können wir uns ein Leben lang gut fühlen und vergnügt sein? Nein! Und da kommt Glück Nummer zwei ins Spiel.

Lebenszufriedenheit

Die Lebenszufriedenheit meint die Bilanz, die wir ziehen – egal ob auf dem Sterbebett oder zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Leben. Auch wenn sie nicht ganz unabhängig vom hedonistischen Glück ist (dazu gleich mehr), messen wir mit Blick auf die eigene Lebenszufriedenheit mehr als die Summe aller Schokoladen- oder Glücksmomente. Stärker noch: Wir können uns gerade vor Schmerzen winden und trotzdem eine hohe Lebenszufriedenheit haben. Mit anderen Worten: Unsere Lebenszufriedenheit, die wir ganz intuitiv bewerten können, ist nicht zwangsläufig davon abhängig, wie vergnügt wir unser Leben verbringen. Diese mögliche Diskrepanz und die damit verbundene Frage nach dem »guten Leben« bringt uns zu Glück Nummer drei.

Eudaimonie

Die Idee vom guten (»eu«) Geist (»daimon«) steckt in der Vorstellung der Eudaimonie. Das Konzept geht auf den griechischen Universalgelehrten Aristoteles zurück, wird manchmal auch als »Glückseligkeit« übersetzt und meint die ethisch-moralische Grundvorstellung, dass der Mensch nach einem wertvollen Leben strebt. Im Vergleich zur subjektiven Lebenszufriedenheit lässt sich diese Glücksdefinition sehr viel besser anhand von Kriterien in den unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, soziale Kontakte und Gesundheit messen. Statt Menschen zu fragen: »Wie zufrieden bist du mit deiner Berufswahl, deinem sozialen Leben, deiner Gesundheit …?«, werden hierbei von außen einsehbare Faktoren wie beruflicher Erfolg, soziale Eingebundenheit und gesundheitliche Kennzahlen gemessen. Bezogen auf ein Beispiel aus der Gesundheit: Statt den Nachwuchs zu fragen, ob er sich fit genug fühlt, um zur Schule zu gehen, können wir auch einfach das Fieberthermometer nutzen, um ein objektives Entscheidungskriterium für oder gegen den Schulbesuch zu erheben.

Gerade diese Vergleichbarkeit macht den Ansatz attraktiv für wissenschaftliche Studien, bringt aber auch einen riesigen Nachteil mit sich: Geht es nicht beim »Glück« gerade darum, dass es für jeden etwas Unterschiedliches bedeuten kann? Wir haben nicht alle die gleiche Lieblingsschokolade. Und auch wenn es mir unvorstellbar erscheint, soll es sogar Menschen geben, die keine Schokolade mögen – oder zumindest die Chipstüte der Schokolade vorziehen. Unsere Individualität bei der Vorstellung vom »guten Leben« liefert die Grundlage für die vierte und letzte Glücksdefinition.

Erfüllung

Die Kernfrage hier lautet: Habe ich bekommen, was ich möchte? Genau wie bei der Eudaimonie können Wissenschaftler eine Antwort auf diese Frage anhand objektiver Messungen geben. Im Unterschied zur Eudaimonie erfolgt der Abgleich dessen, was ich bekommen habe, aber nicht vor dem Hintergrund einer allgemeinen Definition, was Glück(seligkeit) ausmacht, sondern mit meinen subjektiven Wünschen. Sprich, der Schokofreund und die Chipsliebhaberin können in gleichem Maße »glücklich« sein, obwohl sie auf unterschiedlichem Weg dorthin gekommen sind. Gefühle und das genaue Ausmaß an Vergnügen spielen bei dieser Messung keine Rolle, da es nur um einen Vergleich von Wunsch – Was will ich? – und Wirklichkeit – Was habe ich bekommen? – geht. Damit liegt auf der Hand, dass diese Art der Glücksdefinition vor allem bei Ökonomen sehr beliebt ist.

 

Wie ich bereits bei der Erklärung zur Lebenszufriedenheit angedeutet habe, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse aus der Glücksforschung, dass beim Einzelnen nicht alle vier Arten von »Happiness« gleich ausgeprägt sind.

Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse einer der führenden Psychologinnen weltweit, die sich seit Jahrzehnten mit der Glücksthematik beschäftigt, der US-Amerikanerin Sonja Lyubomirsky: »Stellen Sie sich eine Sozialarbeiterin vor, die ihren Job sehr bedeutungsvoll findet und sich nichts anderes vom Leben wünscht, als anderen Menschen zu helfen. Gleichzeitig sieht sie sich täglich mit Ungerechtigkeit und Verzweiflung konfrontiert – Situationen, die sie selten fröhlich stimmen.«[13]

Sehr wahrscheinlich schneidet die beschriebene Sozialarbeiterin auf der hedonistischen Glücksskala eher schlecht ab, während sie nach den drei anderen Definitionen als »glücklich« gelten würde. Sie mag zufrieden mit ihrem Leben sein, einhergehend mit der Überzeugung, ein Leben gemäß ihren Wertvorstellungen zu leben und ihre Lebensziele erreicht zu haben. Aktuelle Forschungsergebnisse von Sonja Lyubomirsky und Kollegen deuten darauf hin, dass die unterschiedlichen Arten von Glück sich nur zu circa 50 Prozent überlappen. Wenn wir also die Lebenszufriedenheit einer Person kennen, haben wir lediglich 50 Prozent der Informationen, die wir benötigen, um einzuschätzen, wie die Person auf den anderen Glücksskalen abschneidet. Die meisten Menschen scheinen laut Umfragen Glück am ehesten mit Lebenszufriedenheit – also Definition Nummer zwei – gleichzusetzen.

Unabhängig davon, was wir genau meinen, wenn wir über Glück sprechen, was mein Glück vielleicht von dem anderer Menschen unterscheidet und was es mit ihnen verbindet, ist unser Streben nach Glück vor allem eins: universell. Vielleicht ist der Wunsch nach dem »glücklichen Leben« gar das Einzige, was alle Menschen miteinander verbindet. Wissenschaftliche Einordnungen hin oder her, fest steht: Wir Menschen wollen glücklich sein.

Nicht nur der Dalai-Lama verkündet freimütig: »Der Sinn unserer Existenz besteht genau darin, nach Glück zu streben.«[14] Auch die Ergebnisse zahlreicher Studien definieren »Happiness« als eines der Hauptziele des menschlichen Daseins über kulturelle Grenzen hinweg.[15]

Unabhängig von Nationalität und politischer Einstellung sind wir auf der Suche nach dem ganz persönlichen Glück – für den einen mag es ein »einfaches Leben« im Zelt oder Tiny House sein, für die andere das Leben in Saus und Braus mit Villa und Dinnerpartys. Noch mal: Wie das Glück für jede Einzelne aussehen mag beziehungsweise welche Vorstellung sie davon hat, ist individuell. Universell ist lediglich der Wunsch danach, das Glück zu erreichen. Universell scheint übrigens auch der elterliche Wunsch für das Glück der eigenen Kinder. So zeigt eine Studie mit mehr als zehntausend Teilnehmern aus achtundvierzig Ländern verteilt auf sechs Kontinente, dass sich Eltern auf der ganzen Welt wünschen, ihre Kinder mögen glücklich sein.[16]

Die Folgefrage lautet also: Wie kommen wir dahin – zu diesem glücklichen Leben? Die Kurzantwort: Anders, als wir häufig bis immer vermuten!

Wir wissen (häufig) nicht, was uns glücklich macht und was wir wirklich wollen

Die etwas längere Antwort beginnt mit einer weiteren Frage. Und die Antwort auf diese Folgefrage offenbart uns, wie sehr wir möglicherweise selbst in dem bereits erwähnten »statischen Denken« gefangen sind.

Die Frage lautet: Was ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann, und was das größte Glück?

Damit es nicht zu schwierig wird, gibt es genau zwei Antwortmöglichkeiten, die den beiden Aussagen zugeordnet werden müssen:

Eine große Geldsumme im Lotto gewinnen.

In einem brennenden Geländewagen fast zu Tode kommen.

Die Frage ist keine Scherz- oder Trickfrage, sondern Auftakt zu einer kleinen Entdeckungsreise raus aus der »persönlichen Krise« hin zum »glücklichen Leben«. Gleichzeitig ist die richtige Antwort nicht nur wissenschaftlich begründbar, sondern auch die Geschichte von zwei Männern, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnte beziehungsweise war. Denn einer von beiden ist bereits tot.

Die Geschichte des Texaners Billie Bob Harrell klingt zunächst wie ein mittelprächtiger TV-Spielfilm. Hart arbeitender Familienvater mit drei Kindern im Teenageralter hofft mit dem zweimal pro Woche ausgefüllten Lottoschein auf die Erlösung aus der finanziellen Notlage, dem Job im Baumarkt und dem Gefühl, seiner Frau und seinen Kindern nicht zu genügen. Im Juni 1997 konnten seine Frau und er ihr Glück zunächst nicht fassen: 31 Millionen US-Dollar! Das war der Gewinn, den der Lottoschein von Billie Bob Harrell der Familie bescherte. Dann ging alles sehr schnell, und in den kommenden zwanzig Monaten wurde das Leben des Texaners nach einer kurzen Phase der Unbeschwertheit zur Tragödie inklusive Scheidung, Depression und weiterer negativer gesundheitlicher Folgen.

Kurz vor seinem Tod gestand Billie Bob Harrell einem seiner Finanzberater: »Dieser Lottogewinn ist das Schlimmste, was mir jemals passiert ist.«[17] Wenig später schloss er sich in einem der Schlafzimmer seines eleganten Holzhauses ein und war an dem Punkt angekommen, an dem er kein Zurück mehr sah. Er zog sich aus, presste den Lauf einer Schrotflinte gegen seine Brust und drückte ab.

Der zweite Mann ist Jose Rene Martinez. Im Alter von neunzehn Jahren erlebt der junge US-amerikanische Soldat, Sohn einer Einwanderin aus El Salvador, während des Irakkriegs zum ersten Mal einen Kampfeinsatz. Zwei Monate nach seiner Ankunft im Mittleren Osten trifft ein Vorderreifen seines mit Sprengstoffen beladenen Geländewagens eine Sprengfalle. Die darauf folgende Explosion befördert seine drei Mitfahrer aus dem Wagen. »Ich dachte, mein Leben sei vorbei«, beschreibt Jose Rene Martinez die Zeit allein im brennenden Wagen. Bis er gerettet wird, atmet der junge Mann sehr viel Rauch ein, und 34 Prozent seines Körpers erleiden schwere Verbrennungen. Es folgen knapp drei Jahre im Krankenhaus. Während dieser Zeit wird der junge Mann über dreißig Mal operiert. Mit plastischer Chirurgie und Hauttransplantationen werden seine Verbrennungen behandelt – die Narben bleiben.

Aber »Narben sind wie Tattoos mit besseren Geschichten«. Das ist der Slogan, der Besucher seiner Website des mittlerweile siebenunddreißigjährigen Schauspielers, Autors, Models, Moderators und Vortagsredners empfängt.[18] Dazu ein Foto eines sichtlich gebrandmarkten Mannes im grauen Hemd, eine Hand am Kinn, der lachend pure Lebensfreude ausstrahlt. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Austin, Texas. Danach gefragt, ob er den Lauf seines Lebens ändern würde, wenn er könnte, hat Jose Rene Martinez eine klare Antwort: »Nein, ich würde nichts ändern. Es war ein Geschenk.« Damit meint er die Verbrennungen, die vierunddreißig Monate im Krankenhaus im jungen Erwachsenenalter und einen Körper voller Narben.

Wie kann das sein? Auch wenn meine Darstellung bis hierhin anekdotischer Natur ist, widersprechen die Lebensläufe der beiden Männer wohl sehr deutlich der allgemein verbreiteten Vorstellung vom »Glück« und einem »guten Leben«. Allerdings stelle ich auch oder gleichzeitig fest: Wenn ich mich an Gespräche mit und Geschichten von Menschen erinnere, die mir als besonders lebensbejahende Individuen im Gedächtnis geblieben sind, dann sind das meistens Menschen, die es von außen betrachtet besonders schwer haben. Vielleicht leben sie mit einer Krebsdiagnose oder sind an einer anderen möglicherweise tödlichen Krankheit erkrankt, vielleicht haben sie Erfahrungen gemacht, bei denen sie knapp dem Tod entkommen sind. Vielleicht werden sie bis an ihr Lebensende in medizinischer Behandlung sein. Vielleicht haben sie ihnen wichtige Menschen unerwartet und plötzlich verloren.