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„Als es begann, konnte noch niemand ahnen, wozu es noch führen würde, doch als die Ersten die Gefahr erkannten, war es längst zu spät. Es gab bald nur noch Wahnsinn, Chaos und Gewalt - der Untergang der Zivilisation.“ Flo, 34, ehemals Fahrradkurier, erzählt, wie es zur globalen Zombie-Apokalypse gekommen ist. Von den ersten Ausbrüchen der heimtückischen Krankheit und ihrer bald nicht mehr zu stoppenden Ausbreitung. Er konnte sich zu einer kleinen Gemeinschaft von Überlebenden durchschlagen, er ist dort in Sicherheit und wäre auch für unbestimmte Zeit mit Vorräten versorgt, doch er will mehr als nur überleben...
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Summer of Love
My Home is my Castle
Zwischenspiel
Geisterstunde
Essen, Gemeinschaft und ein sicheres Versteck!
Leidenschaft
Verluste
Ora pro nobis
Tibor Nemelka
RaVa
Pandemie Z
© 2024 Tibor Nemelka
Covergrafik von: Tredition Bilddatenbank
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
ISBN
Paperback978-3-384-34474-8
Hardcover978-3-384-34475-5
e-Book978-3-384-34476-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Orte und Personen der vorliegenden Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Orten und Personen erklären sich als das Produkt der Fantasie des Autors. No offense.
„Die Aufgabe der Weisen ist, die Katastrophe vorauszusehen. Die Aufgabe der Tapferen, die kommende Katastrophe zu bewältigen.“
Pittakos von Mytilene (651/50 - ca. 570 v. Chr.), griechischer Staatsmann
Ich will hier von den Ereignissen erzählen, deren Zeuge ich in den vergangenen Wochen und Monaten wurde, doch ich will nicht in Form eines rein nüchternen Berichts davon erzählen, sondern in Form eines Romans. Bestimmte Charaktere, den Ablauf einzelner Geschehnisse, vor allem aber Dialoge habe ich gelegentlich ein wenig aufbereitet, wenn es mir von der Dramaturgie her notwendig erschien, im Großen und Ganzen hat sich aber alles ziemlich genau so zugetragen, wie ich es hier darstelle.
Kurioserweise wollte ich mich in meinem nächsten Roman so oder so an das Genre Zombie-Apokalypse heranwagen. Ich konnte mich schon immer sehr für dieses Genre begeistern und hatte den durch Massen von Zombies herbeigeführten Untergang der Zivilisation immer als Bereicherung meines Lebens angesehen - solange er eben noch Fiktion gewesen war. Die Vorstellung, mich in einer solchen Welt zurechtfinden zu müssen, in der beinah die gesamte Menschheit den Bach heruntergegangen ist, fand ich schon immer faszinierend und erschreckend zugleich. Ein Leben, das kaum mehr noch als ein Überleben ist - beschränkt aufs Allernötigste, sodass die ganze Dekadenz an der modernen Welt, der ganze Überfluss und Luxus, der weit über das Nötigste hinausgeht, umso deutlicher zutage tritt. Als es dann aber tatsächlich so weit kam, wie es sich bisher immer nur in irgendwelchen Geschichten abgespielt hatte, war es für mich einfach nur erschreckend.
Ich habe natürlich auch für mich selbst geschrieben; das war von Anfang an jedoch viel mehr als nur ein Ordnen der Gedanken und Gefühle oder der Versuch, dem ganzen Wahnsinn einen Sinn zu geben. Das Schreiben war für mich ein Rückzugsort, an dem ich von den furchtbaren Dingen, die ich erleben musste, Abstand gewinnen konnte, auch wenn sich doch genau um diese alles drehte - ein scheinbarer Widerspruch, der sich wohl so erklärt, dass ich stets in einer gewissen Distanz und deshalb vom Gefühl her sicher über dem Geschehen stand, als ich darüber schrieb. Ich war dabei völlig unbeschwert und frei und gleichzeitig doch oft auch so vom Schreiben vereinnahmt, dass es mich alles andere komplett vergessen ließ. Das ging dann manchmal sogar so weit, dass ich den Figuren meiner eigenen Geschichte dabei zusah, wie sie schon fast von ganz allein zu reden, zu handeln, zu fühlen oder zu denken begannen - was immer ziemlich geil ist und vielleicht das Beste an der ganzen Sache überhaupt. Es ist in etwa so, wie wenn jemand einen Film ansieht und dabei vor lauter Aufregung vergisst, dass er genau das gerade tut; ungefähr so erlebte ich meine eigenen Erlebnisse beim Schreiben oft noch einmal. Wie jemand, den das Geschehen, das er als ein eigentlich unbeteiligter Beobachter verfolgt, für eine Zeit lang so gefangen nimmt, dass er selbst zu einem Teil dieses Geschehens wird.
Aber natürlich sollten es immer auch andere lesen - die ganze Form war gar nicht darauf ausgerichtet, dass ich alles nur für mich allein geschrieben hätte. Auch nicht nur für die eine Handvoll Typen, mit denen ich hier in der Gemeinschaft lebe. Ich dachte da an möglichst viele, die ich mit dieser Geschichte erreichen würde. Ein paar von uns gibt es da draußen dann ja doch noch.
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: es war an einem Dienstag oder einem Mittwoch Anfang August, der Tag, an dem bekanntgegeben wurde, dass für Deutschland und die gesamte EU ein Einreisestopp für Einreisen aus Indonesien, Malaysia, Singapur und dem Sultanat Brunei verhängt worden war. Kathi kam zu mir an diesem Tag und schlug überraschenderweise vor, dass wir es doch einfach einmal miteinander treiben könnten. Sie hätte gerade ziemlich Bock darauf - wie wär’s?
Vielleicht sollte ich zunächst einmal von mir und Kathi erzählen. Wir waren seit einer Ewigkeit noch mehr als gute Freunde, wir waren fast ein Paar und waren es doch auch wieder gar nicht. Wir wohnten nicht zusammen, aber wir wohnten doch im selben Haus - ich im ersten Stock und sie in ihrer eigenen Wohnung im Erdgeschoss desselben typisch innerstädtischen Mehrfamilienwohnhauses. Wir besuchten uns beinah jeden Tag und verbrachten viel Zeit miteinander, aber wir hatten niemals miteinander Sex. Es war eine feste Übereinkunft zwischen uns, die sie in dieser Form auch mehr als einmal deutlich ausgesprochen hatte, dass wir nämlich unsere wunderbare Freundschaft nicht in Gefahr bringen dürften, indem wir uns darauf einließen, richtig zusammen zu sein. Zwangsläufig würde das ja irgendwann wieder vergehen und könnte allzu leicht dann auch die Freundschaft mit sich in den Untergang reißen.
Eine solche Befürchtung speiste sich aus ihrer persönlichen Erfahrung mit Beziehungen. In ihren manischen Phasen hatte sie sehr viele kurze Affären und fast alle beendete sie auch wieder selbst. Es war für sie nie ein Problem, sich jemanden zu angeln, sie sah ja auch verdammt gut aus, allein schon ihre Figur, ihre Brüste, aber auch ihr Gesicht war richtig hübsch und ihre mähnenartig wilden langen Haare setzten dem Ganzen noch eins drauf. In ihren depressiven Phasen heulte sie mir manchmal vor, dass sie den einen oder anderen ganz zu Unrecht fortgejagt hätte, dass es mit dem auch etwas hätte werden können, und ich hörte ihr dann immer zu, weil es ihr guttat, wenn ich ihr zuhörte, musste ihr ab und an aber gestehen, dass ich doch eigentlich darunter litt, mir ihre Männergeschichten anhören zu müssen. Wenigstens lag ihre Wohnung nicht gleich direkt unter meiner, sonst hätte ich es vermutlich manchmal auch noch live mitbekommen, wenn sie sich dort mit irgendjemandem vergnügte.
Kathi hätte regelmäßig Psychopharmaka nehmen sollen, setzte aber immer wieder aus, weil sie meinte, es müsste doch auch ohne gehen. Sie nahm dafür dann immer wieder Ecstasy, Speed oder anderes Zeug, das sie sich bei einigen ihrer zahlreichen Bekanntschaften beschaffte, wobei es in manchen Fällen aber sicher so war, dass eine feste Abmachung dabei bestand, sie also jemanden an sich ranließ, damit sie im Gegenzug Drogen erhielt. So langsam, mit Anfang dreißig, sah man ihr die Drogen auch an, vor allem um die Augen, aber sie sah immer noch verdammt gut aus und ich stellte mir auch gar nicht selten sie vor, ihre geilen Brüste, wenn ich mir einen runterholte. (Tatsächlich verdiente sie sich ja etwas Geld dazu als Webcam-Pornomodel; ich kannte jedoch nur den Gastbereich von ihrer Webcam-Seite und „besuchte“ sie dort nie - schon lange nicht mehr -, weil mir die Vorstellung nicht gefiel, dass gleichzeitig mit mir noch viele andere sie gerade „besuchten“ und sich an ihrem Anblick aufgeilten.)
Ich glaube, ohne mich hätte sie es nicht geschafft - ich meine natürlich, früher schon nicht, denn was dann noch kam, ist etwas anderes. Ich kaufte manchmal für sie ein, räumte bei ihr auf, brachte den Müll weg, überredete sie, ihre Medikamente zu nehmen, legte manchmal auch die Miete aus, wenn sie sie einmal nicht bezahlen konnte, tröstete sie regelmäßig und redete ihr in ihren düstersten Momenten ihre um Selbstmord kreisenden Gedanken aus. So ziemlich alle unter meinen Freunden und Bekannten, die etwas von uns wussten, rieten mir, dass ich mich nicht so sehr in Kathis Probleme hineinsteigern dürfe und ich mich nicht gar so für sie aufarbeiten solle. Sie hatten den Eindruck, dass mich Kathi als seelischen Mülleimer für ihre miesen Phasen benutzte. Aber das war bestenfalls die halbe Wahrheit - Kathi brauchte mich ganz einfach und mir hätte es das Herz gebrochen, sie im Stich zu lassen. Ich liebte sie und ich hätte was weiß ich was dafür gegeben, mit ihr in einer „normalen“ Beziehung zusammenzuleben, in der es nur uns beide füreinander gegeben hätte und in der wir unsere Liebe auch körperlich zum Ausdruck gebracht hätten. Ich wusste immer, dass das ein unerfüllbarer Traum war, dem ich da nachhing, doch weil es eben immer wieder eine solche Harmonie zwischen uns gab, wenn es sich so anfühlte, als wäre dieser Traum auf einer rein geistigen Ebene längst schon wahr geworden und könnte deshalb eines Tages vielleicht doch in jeder Hinsicht wahr werden, konnte ich die Hoffnung niemals aufgeben. Und was das Körperliche anging, so war es immerhin einmal - ein einziges Mal - ja doch schon so weit gekommen, dass wir uns geküsst hatten und auch schon heftig aneinander rumgefummelt hatten. Wir saßen da bei mir vorm Fernseher, alles war perfekt an diesem Abend und es wäre sicher auch noch mehr passiert, aber dann stand sie auf einmal auf, streifte ihr T-Shirt wieder ganz herunter, machte ihre Hose wieder zu und sagte, dass sie jetzt besser gehen würde. Wir redeten danach kein einziges Mal von diesem kleinen Ausrutscher; es blieb unser Geheimnis, die einzige Ausnahme von der festen Übereinkunft, die zwischen uns bestand.
Genau daran musste ich als Erstes denken, als sie nun bei mir auf der Couch saß und mir mit ihrem frechen Lächeln vorschlug, dass wir es doch einfach einmal miteinander machen könnten. Gleich als Zweites dann an die Geschichte von dem Reggae-Fick, an die ich mich stellvertretend für alle ihre Männergeschichten bei den seltsamsten Gelegenheiten erinnern musste - ein Erlebnis, von dem sie mir vor Jahren einmal vorgeschwärmt hatte, wie sie es angeblich exakt im Rhythmus der flotten afrokaribischen Klänge mit ihrem supersexy Rastaman getrieben hatte.
„Was wird dann jetzt aus unserer Freundschaft?“, fragte ich. „Ist es auf einmal doch nicht mehr so wichtig, dass wir nicht zu weit gehen dürfen?“
„Ist doch jetzt egal“, sagte sie und lächelte. „Ganz egal, was gestern war und was morgen wieder sein wird. Jetzt ist eben jetzt.“
„So egal ist es mir nicht, was morgen wieder sein wird. Du weißt ganz genau, wie gerne ich mit dir zusammen wäre - du weißt schon, was ich meine: nur wir beide, du und ich.“
„Ach, vergiss doch einfach mal, was du da noch alles hineindeuten könntest! Lass es uns doch einfach nur mal machen! Komm schon, lass uns jetzt ficken!“ Sie zog ihr T-Shirt aus. Einen BH trug sie zu Hause nie.
Ich war hin- und hergerissen. Etwas in mir wollte sich natürlich auf sie stürzen und es mit ihr tun, wie sie es vorschlug, andererseits musste ich aber an unsere Übereinkunft denken, die bis vor einer Minute ja noch als eine Art oberstes Gesetz unsere Beziehung miteinander geregelt hatte. Und ich musste wieder an den Reggae-Fick denken, eine Vorstellung, die mich nun gleichermaßen an- wie abtörnte. Ich musste daran denken, dass es mir sicher wehtun würde, wenn diese Sache ein einmaliges Ereignis bliebe und die so häufig wiederkehrenden Enttäuschungen danach genauso weitergingen wie davor.
Ich stand auf, wandte mich von ihr ab und dachte weiter nach. Sie stand ebenfalls auf, ging zu mir hin und drückte sich an mich. „Jetzt komm schon“, hauchte sie mir verführerisch ins Ohr.
„Kathi, ich glaube, ich will das nicht“, sagte ich und schob sie sanft von mir weg. „Zieh dich bitte wieder an.“
„Flo“, sprach sie mich nun ihrerseits mit meinem Namen an, „ich verstehe dich nicht, du wolltest es doch immer mit mir machen? Jetzt kannst du mich haben und du kannst alles mit mir machen, was du immer wolltest! Alles, wirklich alles!“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, fasste sie mir zwischen die Beine, wo sich natürlich bereits ein gewaltiger Ständer unter meiner Hose verbarg.
Ich schob sie wieder von mir weg. Es gefiel mir, wie sie darum bettelte, doch aus einem gewissen Trotz heraus gefiel es mir auch, sie nur weiter betteln zu lassen und es ihr am Ende genauso zu versagen, wie sie es mir so oft versagt hatte. Außerdem kam sie mir in ihrer Überdrehtheit zunehmend fremd und seltsam vor - als wäre sie gar nicht sie selbst, nicht jene Kathi, die ich bisher kannte. „Zieh dich bitte wieder an“, wiederholte ich, ernster und bestimmter als beim ersten Mal.
„Echt jetzt?“, fragte sie ungläubig und sah mich noch einen Augenblick lang ironisch lächelnd an. Dann zog sie ihr T-Shirt wieder an, schnell und ruckhaft wie in Eile - sie war sauer, das erkannte ich gleich. „Du weißt schon, dass du gerade alles versaust!“, schimpfte sie. „Lässt mich einfach abblitzen, ich fass es nicht - du lässt mich echt hier stehen, als wäre ich irgendeine hässliche fette Sau oder als hätte ich was ganz Unmögliches von dir gewollt! Weißt du was, Flo, du bist ein Arschloch!“
Sie verließ wütend meine Wohnung, nicht ohne das „Arschloch“, das sie mich bereits genannt hatte, noch einmal ausdrücklich als ein „dummes Arschloch“ zu präzisieren.
Natürlich bereute ich meine Entscheidung sofort, als sie gegangen war, aber ich blieb stark und war bald auch stolz darauf, dass ich so stark geblieben war. Ihre Whatsapp-Meldungen bestanden - typisch Kathi - zuerst noch ausschließlich aus wüsten Beschimpfungen, wurden später aber allmählich milder, bis sie schließlich in ein „Ist schon ok so, du Schlappschwanz“ übergingen. Ich antwortete ihr mit der Feststellung, dass ich sie auch sehr gernhätte und sie eigentlich sehr süß fände, wenn sie sauer sei. Am Ende schlug ich vor, dass wir doch einfach noch einmal in Ruhe über diese Sache reden sollten, worauf sie aber nichts mehr zurückschickte.
Während wir diese kurzen Botschaften austauschten, sah ich mir im Fernsehen diverse Nachrichtensondersendungen („Brennpunkte“) und später dann auch Talkrunden an. Es ging in allen immer um das eine Thema, und wenn doch nicht, wurde immer mit dazugesagt, dass es jetzt extra einmal nicht um dieses eine Thema gehe. (Ich verfolgte solche Sendungen sehr aufmerksam, schon vor Rava, auch schon zu Corona und generell zu allen möglichen brisanten Themen; oft auch gemeinsam mit Kathi, jedoch immer bei mir, denn sie selbst hatte ja keinen Fernseher.) Das aktuelle Thema war natürlich die Ausbreitung der rätselhaften Beißattacken, die mittlerweile schon die halbe Welt erfasst hatte. Es konnte bereits eindeutig eingegrenzt werden, dass der erste Ausbruch der Krankheit in Borneo aufgetreten war, von wo aus sie sich insbesondere auf ganz Indonesien und Malaysia ausgebreitet hatte. Für Einreisende, die in den letzten vier Wochen vor ihrer Einreise einen Aufenthalt in Borneo gehabt hatten, bestand schon seit einer Woche eine Meldepflicht, die seit ein paar Tagen auch rückwirkend galt für jeden, der ab dem Stichtag erster Juli eingereist war und sich irgendwo in Indonesien, Malaysia, Singapur oder dem Sultanat Brunei aufgehalten hatte - bei nachweislich fehlerhaften Angaben drohte unter anderem ein hohes Bußgeld. Es galt also bereits eine Meldepflicht nach einem Aufenthalt in den genannten Ländern, als nun für Einreisen aus diesen Ländern der vollständige Einreisestopp in die EU verhängt worden war. Man sprach auch schon länger von einer „Krankheit“, für die sich der Name „RaVa-Syndrom“ oder einfach nur „Rava-Krankheit“ durchgesetzt hatte, nach wissenschaftlich nicht bestätigten ersten Vermutungen, wonach es sich um eine Tollwut-, also Rabies-Variante handelte. Und vielleicht weil der Name Rava ja so treffend fast genau wie Java klang, wo zwar nicht der allererste Ausbruch stattgefunden hatte, das aber in der Region lag und bald doch ins Zentrum der Ausbreitung geriet, war somit ein Name gefunden, der medientauglich kurz und prägnant das neue Phänomen bezeichnete.
Die Rava-Krankheit äußerte sich durch auffällig aggressives Verhalten, bei dem die Betroffenen andere anfielen und versuchten sie zu beißen, was, wenn es ihnen gelang, freilich meistens an den Händen oder im Armbereich erfolgte, wenn sich die Angegriffenen gegen die Angriffe wehrten. Ich kann mich noch gut an ein besonders eindrückliches kurzes Video erinnern, das mit einer Handy-Kamera aufgenommen worden war und wieder und wieder in den Nachrichten ausgestrahlt wurde: eine nächtliche Straßenszene in einer dörflich oder kleinstädtisch wirkenden Umgebung, wahrscheinlich noch auf Borneo, in der ein äußerlich an sich unauffälliger Mann mittleren Alters wie in Raserei verfallen auf andere losgeht und sie ständig beißen will; uniformierte Sicherheitskräfte halten ihn schließlich zurück und drücken ihn zu Boden, während er mit allen Kräften versucht sich zu wehren. Die Kamera schwenkt noch kurz zur Seite und zeigt ein paar Leute, die sich gerade um Verletzte kümmern - einer blutet klar erkennbar am Unterarm -, dann endet das Video. Am eindrücklichsten fand ich daran schon beim ersten Mal, als ich das Video gesehen hatte, wie irr die Augen und das Geschrei des Angreifers wirkten, denn er redete nicht, gab gar nichts Artikuliertes von sich, sondern schrie nur immerzu wie ein komplett Verrückter.
Seit etwa einer Woche gab es Berichte von einzelnen solcher Angriffe aus Europa, Australien, USA und Kanada, Japan, von fast überall, noch mehr Vorfälle auch in China, aber das verwunderte nicht, dass es dort noch stärker auftrat, denn es lag ja geographisch näher und war relativ stark mit der anfänglich betroffenen Region verbunden. Noch überwog die Zuversicht, dass es sich hier eingrenzen ließe und schon nicht so schlimm kommen würde, wie es sich in Indonesien und Malaysia bereits zeigte. Die Experten in den Talkrunden betonten, dass wir hier ganz andere Möglichkeiten hätten, ein solches Phänomen rein organisatorisch in den Griff zu bekommen und auch, was die Wissenschaft betreffe, an es heranzugehen. Außerdem hätten wir das Glück, dass es zuerst nicht uns, sondern andere erwischt habe, auch wenn das zynisch klinge, aber das verschaffe uns nun zeitlich einen Vorsprung. Bisher waren es zwar nur einzelne Angriffe außerhalb jener am stärksten betroffenen Länder Asiens, nicht gleich Dutzende wie dort, aber die Zahlen wuchsen auch hier, und das löste bei anderen Experten wiederum Besorgnis aus. Es wurde heftig diskutiert, wie schlimm es sei, wie schlimm es noch kommen werde, und um was es hier eigentlich gehe. Dabei hörte es sich an diesem Abend aber auch noch nachvollziehbar und vernünftig an, wenn jemand mit „Aufbauschung in den Medien“ argumentierte, dass sich die Medien nämlich auf das Thema stürzten und es breittraten, während es doch in Wahrheit weitaus Schlimmeres zu berichten gäbe. So seien bisher ja keine Todesfälle bekannt, unter den Angegriffenen gebe es meist nur Leichtverletzte und unter den Angreifern selbst eben die genannten psychischen Auffälligkeiten, für die natürlich noch adäquate Behandlungsmöglichkeiten gefunden werden müssten. Teilweise gebe es auch widersprüchliche Meldungen, wonach hauptsächlich Tiere und nicht etwa Menschen Ziel der Beißattacken seien; in manchen Fällen seien Menschen ganz eindeutig verschont, geradezu ignoriert worden, und Tiere dann umso gezielter angegriffen und gebissen worden.
Ich bemerkte es am nächsten Tag auch in der Arbeit, dass etwas nicht mehr stimmte. Ich erlebte zwar keinen einzigen Beißangriff an diesem Tag, an diesem noch nicht; es war etwas völlig anderes, das auch erst im Nachhinein so richtig Sinn ergab. Ich arbeitete als Fahrradkurier, hatte nach meinem Zivildienst nie etwas anderes gemacht. Meine Arbeit bestand hauptsächlich darin, Blutproben und andere Proben von einem Krankenhaus, Institut oder privaten Labor zu einem anderen solchen quer durch die Stadt zu fahren, was gerade in der Innenstadt und bis zu einer bestimmten Entfernung tatsächlich am schnellsten mit dem Rad erledigt werden konnte. Um besser zu erklären, was ich nun an diesem Tag bemerkte, muss ich noch erwähnen, dass ich eine kräftige, athletische Figur habe - mir bei meinem Job ja auch nicht erlauben konnte, fett zu sein -, und dass ich auch von meinem Gesicht her eher gut aussehe, nicht wie ein Model, aber ohne Frage eher gut als schlecht. Trotzdem hatte ich über ein gelegentliches Flirten hinaus einfach nie Erfolg bei Frauen, da ich nun einmal ziemlich verklemmt bin. (Es ist bei mir wie bei der Frage mit der Henne und dem Ei, was zuerst da war: bin ich nun so verklemmt, weil ich nie Erfolg bei Frauen hatte, oder hatte ich nie Erfolg bei Frauen, weil ich so scheißverklemmt bin? Aber was auch immer da als Erstes aufgetreten ist, es hat sich wie in einem Teufelskreis wohl beides mit der Zeit verstärkt.) Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um damit wirklich klarzukommen. Dass ich zum Beispiel mit Mitte dreißig in gewisser Weise immer noch Jungfrau bin - erst seit ein paar Jahren kann ich es so sehen, dass es nun einmal so ist, scheiß drauf.
Ich bin Jungfrau vom Standpunkt einer intravaginalen Ejakulation her, eine ordentliche Penetration ohne dieses kann ich dafür aber durchaus vorweisen - ich hatte ihn also wenigstens schon einmal richtig drin. Genau genommen sogar zweimal, auch wenn sich eine derart spärliche Aufzählung erbärmlich anhört, aber es ist mir tatsächlich nicht öfter als zweimal in meinem Leben passiert, dass ich Sex hatte. Beim ersten Mal war ich gerade siebzehn; es war auf einer Party mit Freunden und vielen anderen Leuten und ich war total besoffen. Es ergab sich irgendwie, dass ich in dieser Nacht mit einem Mädchen, das ich vorher noch nie gesehen hatte - übrigens auch nie wieder nachher -, rummachte und schließlich sogar mit ihr schlief. Doch weil ich so besoffen war, erschlaffte er in ihr, bevor ich es beenden konnte, und er wollte sich auch partout nicht wieder steifmachen lassen, worauf wir es dann eben aufgaben. Das zweite Mal ist auch schon einige Jahre her, sieben vielleicht, als die Freundin eines guten Freundes auf einmal mit mir schlafen wollte. Sie hatte einen gewissen Ruf, sie galt als eine Schlampe, die es mit jedem machte, zumindest bevor sie die Freundin meines Freundes geworden war, und an diesem Abend - es war wieder eine Party mit viel Alkohol und einigen Joints -, suchte sie sich warum auch immer mich aus. Wir flirteten und redeten und redeten, waren dann auf einmal ganz allein und so kam eben eines zum anderen. Ich dachte spontan, ich würde das Vertrauen meines Freundes vielleicht nicht ganz so arg missbrauchen, wenn ich es wenigstens nicht vollständig zu Ende bringen würde, als bestünde der Vertrauensbruch ausschließlich oder wenigstens zum größten Teil im Abspritzen in ihr. So zog ich ihn also kurz davor heraus. Die Freundschaft mit dem Freund ging später aus ganz anderen, relativ unspektakulären Gründen sowieso auseinander, aber so ganz hat er es mir nie verziehen, was ich an jenem Abend mit seiner Freundin angestellt hatte. (Ich gestand es ihm, als ein paar Wochen nach diesem kleinen Zwischenfall ihre Beziehung zerbrach.)
Was ich nun an diesem Tag bemerkte, war, wie mich nicht wenige Frauen ansahen, aus dem Auto heraus, Fußgängerinnen auf dem Bürgersteig oder Radfahrerinnen neben mir, wenn sie zum Beispiel mit mir an der Ampel warteten. Nicht alle, eigentlich nur einzelne, aber es ereignete sich doch auffällig oft und immer wieder. Viele dieser Frauen waren ziemlich hübsch und ganz gar nicht meine Liga. (Wobei meine Liga, wenn ich denn überhaupt in einer spielte, meiner Scheißverklemmtheit wegen sowieso nur die allerunterste gewesen wäre, aber ich lasse es der Eindrücklichkeit halber hier trotzdem einmal so stehen.) Zuerst erklärte ich es mir noch so, dass es vielleicht etwas mit Kathis eindeutigem Annäherungsversuch am Tag zuvor zu tun haben könnte, dass ich also selbst Signale aussendete, deren Reaktionen mich dann wiederum verwunderten - dass mich ein gewaltiger Selbstbewusstseinsboost ganz unbewusst zu einem kleinen Casanova gemacht hatte. Aber es war viel zu eindeutig, wie sie mich immer wieder ansahen, und der letzte Zweifel verflog, als ich in einem Labor meine Proben abholen wollte und mich die junge Assistentin dort beinahe schon bedrängte. Sie händigte mir das Päckchen aus, lächelte mich die ganze Zeit schon ziemlich auffällig an und meinte dann plötzlich, hier nebenan - da deutete sie auf eine geschlossene Tür -, könnten wir ein Weilchen ungestört sein, und als sie das sagte, leckte sie sich über ihre Lippen. Ich meine, sie leckte sich tatsächlich über ihre Scheißlippen dabei, und es lag sicher nicht daran, dass sie vielleicht kurz davor etwas gegessen und auf diese Art einen letzten noch hängengebliebenen Krümel beseitigt hätte! Nur meine Scheißverklemmtheit konnte mich da noch retten.
Kathi klopfte an der Tür, kaum dass ich wieder zu Hause war. (Wir benutzten gegenseitig bei uns nie die Klingel, sondern klopften immer nur - die Klingel war für Fremde vorbehalten.) Sie kam dann gleich herein, grüßte mich nur knapp im Vorbeigehen und steuerte zielstrebig das Wohnzimmer an. Dort zog sie wie selbstverständlich sofort ihre Hose aus und verkündete: „Wir ficken jetzt, dass das klar ist!“
Es erregte mich, sehr sogar, aber im gleichen Maße kam es mir auch wieder seltsam vor, wie sie sich verhielt - sie war jetzt ja noch überdrehter als schon am Tag davor. Ich brachte es sofort damit in Verbindung, was ich in der Arbeit erlebt hatte, und ich begann, ihr von meinen Erlebnissen zu erzählen, aber sie wollte mir da gar nicht richtig zuhören.
„Wir können doch auch nachher quatschen, jetzt bitte, halt doch einfach mal den Mund und mach es mir!“ Sie legte sich auf eine Weise auf meine Couch, dass ein Gynäkologe einen guten ersten Überblick gewonnen hätte, und ich musste mich von diesem Anblick abwenden, sonst hätte ich ihr wohl nicht mehr widerstehen können.
„Kathi, ich will das nicht! Ich will nicht mit dir schlafen, nicht auf diese Art! Was ist denn eigentlich seit gestern mit dir los?“, sagte ich, ohne sie dabei direkt anzusehen.
„Mit mir?“, fragte sie ungläubig zurück. „Was mit mir los sein soll, das fragst du mich ernsthaft? Was ist denn mit dir auf einmal los? Du wolltest es doch immer mit mir machen! Tausendmal hast du mich darauf angesprochen, hast mich fast schon darum angebettelt! Ich kann mich noch gut an ganz bestimmte Momente erinnern, da hätte ich nur so machen müssen“, sie schnippte zur Verdeutlichung mit den Fingern, „und du wärst sofort bei mir gewesen und hättest auf jeden Fall zu allem Ja gesagt! Wenn da also einer von uns spinnt, bist es doch eher du!“ Sie kicherte. „Schau einfach mal her, du Spinner, was dich hier erwartet! Krieg dich mal wieder ein und komm jetzt her!“
Ich sah kurz zu ihr hin, wie sie sich lüstern räkelte und nun auch noch an ihr herumzuspielen begann. Für einen Moment lang vergaß ich beinahe alles, dann wandte ich mich aber wieder ab und fragte sie: „Ist dir das denn nicht auch schon aufgefallen, dass sich manche Leute auf einmal so komisch verhalten? Ich meine zum Beispiel, wenn du draußen warst, dass dich da irgendwer angemacht hat, also nicht nur einer, und das vielleicht auch deutlich mehr als sonst - ist dir denn noch gar nichts aufgefallen?“
„Eigentlich nicht“, antwortete sie und kicherte wieder. „Ich habe mir da nur selbst jemanden angelacht heute, zu Mittag beim Einkaufen, so einen supersüßen Schnucki - er war vielleicht achtzehn, oder so sah er wenigstens aus, so richtig knackig jung und heiß eben. Den habe ich dann mit nach Hause genommen, und ich kann dir sagen, er war nicht so zimperlich wie du!“
„Das sagst du doch jetzt nur, um mich zu ärgern!“
„Ein bisschen vielleicht“, sagte sie, wieder kichernd. „Aber es war ja gar nicht nur der eine Junge. Als der wieder weg war, hatte ich nämlich erst recht Bock auf Ficken und habe dann einfach mal bei den Kiermaiers geklingelt - um nach Salz zu fragen, obwohl ich doch gar keins brauchte... Ich wusste ja, wie er mir immer hinterherschaut und mir am liebsten einmal an den Arsch langen würde, wenn ich an ihm vorbeigehe. Ich wusste ganz genau, dass sie da nicht da war und nur er für seinen langweiligen Home Office-Scheiß, von dem er einem manchmal was vorjammert. Ich musste also nur ein bisschen mit den Augen spielen, mir über die Lippen lecken und noch einmal wie ein kleines Mädchen darum betteln, dann sind wir schon in seinem, also ihrem Bett gelandet, es war ziemlich geil!“
Ich sah sie wieder an. Meine Erregung vermischte sich mit Abscheu und Kathi begann, mir richtig leidzutun, wie sie da so völlig schambefreit auf meiner Couch lag und dazu diese ganzen befremdlichen Dinge erzählte. „Du weißt, dass ich das gar nicht hören will“, sagte ich. „Das war auch so eine Art Abmachung zwischen uns, dass du mir von deinen Sexerlebnissen nicht auch noch was vorschwärmst.“
„Ach, komm schon, ich sage das doch nur, um dich jetzt richtig geil zu machen!“, sagte sie und lachte frech. „Stell dir vor, dass alles nur für dich jetzt war - alles, was passiert ist, war nur eine Übung. Du warst ja auch die ganze Zeit nicht da. Komm schon, lass mich dir-“
„Hör auf, du erreichst damit bei mir eher das Gegenteil“, fiel ich ihr ins Wort. Ich stellte klar, dass das so nicht gehen werde und mir gar nicht passe, nicht auf diese Art, ganz sicher nicht, basta, und um dann damit abzuschließen, schlug ich vor, dass wir doch jetzt einfach nur was essen und vielleicht zusammen noch was anschauen könnten.
„Okay“, antwortete sie, offensichtlich wieder sauer, diesmal aber darum bemüht, dass sie sich zusammenriss. Sie stand auf und zog sich hastig wieder an. „Ist gut so“, versicherte sie mir, als ich sie kurz noch skeptisch ansah, weil ich mich wunderte, dass sie so ganz ohne Murren auf meinen Vorschlag einging und nicht gleich schon wieder abhauen wollte. Sie sagte: „Aber vielleicht könnten wir ja zwischen Essen und Fernsehen doch schon einmal ficken?“, und ich murmelte etwas, dass sie wohl als Zustimmung verstand und mit „Super!“ kommentierte, obwohl ich nichts dergleichen gesagt hatte, doch ich ließ es offen.
Fast wäre es dann tatsächlich noch so weit gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte, und ich muss zugeben, dass mich ihr Spiel, auf besonders erotisch wirkende Art zu essen und dazu ihre ständigen Blicke und ihr Lächeln tatsächlich sehr erregten. Aber es wurde dann doch klar für mich, dass ich an diesem Abend ganz bestimmt nicht mit ihr schlafen würde. Ich fragte sie, noch beim Essen, ob es wirklich stimmte, was sie mir erzählt hatte von dem Jungen, den sie angeblich beim Einkaufen getroffen und dann zu Hause vernascht hatte, und so ähnlich von Herrn Kiermaier vom zweiten Stock, da kicherte sie erst wieder und lachte nur, als hätte ich etwas sehr Komisches gesagt. Ich dachte zuerst: zum Glück war es also gar nicht wahr, sie hatte mich damit nur aufziehen wollen, doch dann erzählte sie, dass es sogar noch jemanden gegeben habe, den Paketboten, der bei ihr geklingelt habe, um etwas bei ihr abzugeben. Er habe nicht viel Zeit gehabt, darum habe er gerade einmal ein Stück weit die Hose heruntergelassen, wie sie auch die ihre, und dann auf dem kleinen Tisch in ihrer Küche - aber noch genauer wollte ich es gar nicht wissen.
Die Meldungen des Tages waren eigentlich der Hammer. Auf das Drängen der WHO hin wurde ab dem nächsten Tag bis auf weiteres der gesamte weltweite Reiseverkehr eingestellt. China sei dem sogar noch zuvorkommen und habe bereits an diesem Tag alle Verbindungen aus dem Ausland und ins Ausland gekappt. Meldepflichtige, die sich in den relevanten circa neun bis zehn letzten Wochen in Indonesien, Malaysia, Singapur oder dem Sultanat Brunei aufgehalten hatten, wurden dazu aufgefordert, sich umgehend in häusliche Isolation zu begeben - somit bestand nun Isolationspflicht -, weiterhin wurde die schon laufende Kontaktrückverfolgung für diesen Personenkreis intensiviert. Und es wurde zum ersten Mal nicht nur davon berichtet, dass Einzelne auffällig geworden waren, indem sie versucht hatten, andere zu beißen, sondern es wurde nun eindringlich vor dem entsprechenden Verhalten gewarnt. Der Aufhänger der Sondersendungen war der erste mit Rava verbundene Todesfall, den es in Europa zu verzeichnen gab - eine junge Mutter in Utrecht in den Niederlanden war auf ihr eigenes Baby losgegangen, hatte es offenbar totgebissen und teilweise aufgegessen und hatte dann auch noch Nachbarn, Verwandte und die zu Hilfe gerufenen Polizisten angefallen.
Die Experten aus Politik und Wissenschaft waren nach wie vor darüber zerstritten, was getan werden müsste. Sie schwankten zwischen dem Standpunkt, dass man jetzt unbedingt die Ruhe bewahren müsse, bloß kein Alarmismus, bloß keine Panik in der Gesellschaft, das mache alles nur noch schlimmer, und dem Standpunkt, dass jetzt sofort entschieden gehandelt werden müsse, man könne der Entwicklung gerade im anfänglich betroffenen Borneo nur mit größter Sorge entgegensehen, denn dort sei die öffentliche Sicherheit ja bereits am Zusammenbrechen. Genauso herrschte aber auch Uneinigkeit darüber, ob man es hier überhaupt mit nur einer einzigen Krankheit zu tun habe oder vielmehr doch mit mehreren, mindestens zweien, die zufällig gleichzeitig auftreten würden, denn die größeren Probleme im genannten Borneo würden doch vielmehr auf ein sich dort rasant ausbreitendes diffuses Schwächesyndrom zurückgehen, während Beißangriffe gegen Menschen eher am Abnehmen oder zumindest am Stagnieren seien. Bei der Krankheit, die in Borneo hinter den Beißangriffen stecke, handle es sich möglicherweise schon um eine etwas mildere mutierte Form, da dort inzwischen ganz eindeutig Tiere öfter noch als Menschen angegriffen würden - sehr wahrscheinlich sei das mit einer mittlerweile verringerten Aggressivität und einem verringerten Verlust von kognitiver Kontrolle zu erklären. Einige Stimmen warnten, es gebe Hinweise, dass das diffuse Schwächesyndrom und das aggressive Verhalten lediglich zwei Seiten einer einzigen Krankheit darstellten, doch diese Hinweise wurden meist noch als reine Spekulation abgetan und belächelt. Man solle hier den Teufel nicht gleich an die Wand malen, hieß es da, die Symptome seien viel zu unspezifisch, da könne man ja gleich eine jede Hausfrau mit Migräne vorsichtshalber einsperren. Andere Hinweise, die ein gewisses abnormes sexuelles Verhalten in den am meisten betroffenen Ländern nahelegten - gesteigerte Promiskuität und gleichzeitig auffällig viele Vergewaltigungen -, wurden meist ebenfalls noch als Spekulation bezeichnet. Und dies, obwohl namhafte Wissenschaftler bereits Daten aus der Kontaktrückverfolgung in Deutschland und anderen europäischen Ländern vorbringen konnten, wonach es durchaus oft auffällig viele sexuelle Kontakte gebe und eine sexuelle Verbreitung dieser Krankheit gar nicht auszuschließen, sondern sogar sehr wahrscheinlich sei.
Als ich das hörte, schrillten bei mir sofort die Alarmglocken! Ich sprach Kathi darauf an, aber sie wollte einfach nicht verstehen, warum ich mich über diese Einzelheiten gar so aufregte. Ich saß extra nicht direkt neben ihr, damit sie gar nicht erst so leicht an mir herumfummeln konnte - sie sollte es hören, was da im Fernsehen gesagt wurde, und ich wollte es natürlich auch mitbekommen.
„Wie lange willst du dir das denn eigentlich noch ansehen?“, fragte sie. „Okay, da ist gerade eine ziemlich üble Scheiße am Laufen, aber was sie sagen, ist doch immer wieder nur das Gleiche - sie wissen gar nichts und reden und reden die ganze Zeit denselben Mist. Ich hätte eine viel bessere Idee, was wir zwei da jetzt machen könnten...“ Sie lächelte mich ein weiteres Mal verführerisch an.
„Aber hast du denn nicht gehört“, setzte ich an und wies sie noch einmal auf das abnorme sexuelle Verhalten und die sexuelle Verbreitung von Rava hin, von der die Rede gewesen war. Sie meinte jedoch, das sei alles nur Spekulation und total unspezifisch, genau wie die Sache mit diesem Schwächesyndrom, die Menschen trieben es doch schon immer durcheinander, wie es ihnen passte, und jetzt sei es auf einmal verdächtig, wenn sie das täten. Auf genau dieselbe Art hätten selbsternannte Moralapostel schon immer behauptet, dass hinter irgendwelchen Katastrophen das angeblich sündige Verhalten der Menschen stecke. Das Einzige, das Kathi wirklich Sorge bereitete, war die angekündigte Intensivierung der Kontaktrückverfolgung. Sie fand es nicht richtig, dass sie jetzt vielleicht Probleme bekommen könne, nur weil sie zu jemandem „Kontakt“ gehabt habe, der kurz davor im Urlaub in Asien gewesen sei, genau dieselbe Scheiße wie schon bei Corona und sogar noch schlimmer. Ich fragte sie, ob sie es denn gar nicht verdächtig fände, dass sie es heute und auch gestern schon auf einmal auf mich abgesehen habe, und was sie mir erzählt habe von dem Jungen aus dem Supermarkt, dem Paketboten, Herrn Kiermaier - ob das überhaupt schon wirklich alle seien. „Das bist doch gar nicht wirklich du, Kathi, siehst du das denn gar nicht?“
„Willst du mir jetzt einreden, dass ich krank bin, oder wie?“, fragte sie ungläubig zurück. „Dass ich diese Scheiße auch schon habe? Okay, es stimmt: was Männer angeht, ist es bei mir schon gerade ein bisschen anders als sonst, aber-“
„Ein bisschen?“, fiel ich ihr ins Wort und fragte ich nun ungläubig zurück.
„Ja, okay, vielleicht ist es auch noch mehr als nur ein bisschen. Okay, es ist schon ziemlich krass gerade - es geht wirklich ganz schön ab. Aber du wolltest es doch auch nicht immer so genau wissen, wenn ich mit irgendwem gevögelt-“
„Ja, schon gut. Ich glaube, ich will es nach wie vor nicht wissen. Aber du willst es auf einmal auch mit mir machen, das ist der große Unterschied - wo es dir doch immer so wahnsinnig wichtig war, dass wir genau das nicht tun. Oder was wäre da denn jetzt mit unserer Freundschaft?“
„Hey, ich fühle mich einfach so verdammt gut gerade, wie vielleicht noch nie in meinem ganzen Leben! Ich hatte noch nie so Bock, einfach nur zu ficken, ganz egal, mit wem - mit jedem, den ich will! Völlige Freiheit, keine Hemmungen, einfach freie Liebe - du verstehst schon ungefähr, wie ich das meine, oder? Und irgendwie hat es mir auch noch nie so viel Spaß gemacht wie heute, ich meine sooo viel Spaß! Wie zum Beispiel heute Vormittag, mit dem Paketmann, als er mir seinen dicken-“
„Ist gut jetzt, Kathi, ich will das gar nicht hören!“
Danach versuchte sie mich wieder zu verführen und ich sie zu besänftigen, irgendwann stritten wir uns aber nur noch, sie ging oder ich warf sie sogar raus, mehr oder weniger, und sie brüllte im Weggehen noch das ganze Treppenhaus mit „Arschloch“, „blöder Dreckskerl“ und sonstigen Beschimpfungen zusammen.
Ich wollte etwas Abstand zu Kathi gewinnen, deshalb fuhr ich am nächsten Tag nach der Arbeit nicht nach Hause zu meiner Wohnung, sondern zu meiner Mutter nach Daglfing am östlichen Rand von München, wie ich es aber sowieso etwa einmal in der Woche tat. Ich hatte dort noch mein altes Zimmer, in dem ich übernachten konnte, im selben Haus mit Garten, wo ich auch aufgewachsen war und wo wir früher einmal zusammen mit meiner Schwester und meinem Vater eine richtige Familie gewesen waren, bis mein Vater eben eines Tages zu einer anderen Familie ausgezogen war.
Wie schon am Tag zuvor erlebte ich an diesem Tag in meiner Arbeit Flirtversuche und auch wieder ein ziemlich eindeutiges Angebot, auf das ich natürlich gar nicht einging. Am bemerkenswertesten war jedoch eine Szene, die ich auf dem Weg nach Daglfing in einem Park beobachtete: auf einem kleinen Spielplatz war eine junge Frau, Mitte oder Ende zwanzig, völlig ungeniert gerade mit ein paar Jugendlichen zugange, Gruppensex in aller Öffentlichkeit, am helllichten Tag! Sie lag breitbeinig auf einer Bank, die Hose ganz ausgezogen oder wenigstens sehr weit heruntergelassen, das Oberteil bis zu den Brüsten hochgeschoben, während einer der sechs oder sieben etwa Sechzehnjährigen - so genau sah ich es dann doch nicht im Vorbeifahren - gerade auf ihr lag und es ihr besorgte. Gleichzeitig befriedigte sie einen anderen oral und wieder zwei andere mit den Händen; zwei oder drei standen dann noch gleich daneben und sahen zu, zumindest zu dem Zeitpunkt noch, denn auch sie hatten bereits die Hosen heruntergelassen und spielten schon an sich herum. Mein erster Gedanke, als ich das sah, war der, dass es sich um eine Vergewaltigung handeln musste, ein ganz übler Gang Bang, und dass ich der armen Frau in Not sofort zu Hilfe eilen sollte, aber auf den zweiten Blick sah es schon gar nicht mehr danach aus, höchstens um eine Verführung Minderjähriger, die aber eher keine Hilfe brauchten.
Die Aussagen der Wissenschaftler aus dem Fernsehen noch im Kopf, dass eine sexuelle Verbreitung der Krankheit sehr wahrscheinlich sei, hatte ich den ganzen Tag lang schon so ein ungutes Gefühl, dass da etwas Übles vor sich ging, vor dem ich mich besser in Acht nehmen sollte, das kam zu meiner Scheißverklemmtheit noch hinzu. Mit diesem Gefühl schien ich jedoch ziemlich allein zu sein, so wie ich andere Leute oft viel offener als vorher miteinander flirten sah, und ja, in diesem Park dann auch noch mehr. Über die Gruppensexszene könnte man sich streiten, aber was das Flirten anging, war es ja eigentlich etwas Schönes, Ausdruck eines richtigen Summer of Love oder so etwas, eines späten zumindest, wenn ich da nicht schon die Wissenschaftler gehört hätte.
Meine Mutter war sehr aufgeregt und besorgt wegen der allgemeinen Situation; sie meinte, die Leute seien so anders geworden, alle würden nur noch von dieser furchtbaren Krankheit reden und alle hätten große Angst. Sie erzählte, dass Frau Lechner, eine ältere Frau wie sie, die ich noch gut von früher kannte, vor zwei Tagen bestialisch vergewaltigt worden sei, gleich in der nächsten Straße um die Ecke, am Vormittag um kurz vor Mittag auf dem Weg vom Einkaufen zurück nach Hause! Es habe vielleicht gar nichts mit dieser neuen Krankheit zu tun, aber seitdem habe sie, meine Mutter, und alle ihre Bekannten und Nachbarinnen natürlich große Angst, dass ihnen das Gleiche passieren könne, der Täter sei ja nicht gefasst worden.
Von den Medien bekam ich an diesem Abend nicht viel mit, da meine Mutter der Meinung war, den Fernseher könne man gar nicht mehr anstellen, die ganzen Sondersendungen würden einen ja verrückt machen. Nur ein paar Breaking News schnappte ich auf, als ich darauf bestand, dass wir uns wenigstens die Hauptnachrichten gemeinsam ansahen. Da hieß es, dass auf das dringende Anraten der WHO hin aufgrund national und weltweit nach wie vor steigender Fallzahlen mit sofortiger Wirkung ein Lockdown in der EU verhängt werde. Schulen, Gastronomie, Museen, Kinos, Schwimmbäder und sonstige öffentliche Einrichtungen müssten umgehend geschlossen bleiben und es würden Abstandsregeln und weitere Kontaktbeschränkungen für den öffentlichen Raum in Kraft treten. Es gab eine erste offizielle Warnung vor sexuellen Kontakten mit fremden Personen, gleichzeitig wurde für solche Fälle eindringlich zur Benützung von Kondomen geraten, was sich für mich jedoch irgendwie zu widersprechen schien und mir ein bisschen hilflos vorkam.
Ich wollte natürlich noch weiter schauen, wie ich es in meiner eigenen Wohnung sicher getan hätte, wollte neueste Informationen, Details und Hintergründe erfahren, aber meine Mutter hatte definitiv genug und so blieb der Fernseher den restlichen Abend aus (und ich ließ es auch sein, noch weiter auf meinem Handy im Internet zu surfen). Wir unterhielten uns nur noch über möglichst harmlose Dinge aus unbeschwerten, vergangenen Zeiten, auch wenn das manchmal doch etwas gezwungen wirkte. Ein großer Teil unseres Gesprächs drehte sich natürlich um die Katze.
Ich fuhr am nächsten Morgen von meiner Mutter aus direkt zu meinen Touren und kehrte erst am Nachmittag zu meiner Wohnung zurück. Bevor ich zu mir in den ersten Stock hinaufging, klopfte ich aber erst noch bei Kathi an der Tür, das Erste, das ich tat, kaum dass ich das Haus betreten hatte. Sie öffnete kurz darauf und freute sich riesig, mich zu sehen, als wäre davor gar nichts gewesen, keine Beschimpfungen, keine Verstimmung und keine völlig überdrehten Verführungsversuche, aber sie habe gerade Besuch und daher leider keine Zeit für mich in dem Moment. Ihr Blick, ihr Grinsen und auch der Umstand, dass sie barfuß die Tür geöffnet hatte und sie so wirkte, als hätte sie sich sehr beeilt und doch viel zu lange gebraucht, verrieten ziemlich deutlich, um welche Art von Besuch es sich wohl handelte.
„Hey, ich kann nachher ja mal zu dir kommen“, schlug sie vor, und ich sagte: „Okay.“
Als sie dann später bei mir klopfte, blieb es jedoch bei einem eher kurzen Gespräch zwischen Tür und Angel. Sie wollte sich da gleich wieder bei mir hereindrängen, aber ich hielt sie auf und fragte sie: „Warte mal, sag mir erst mal: wie viele waren es denn schon heute?“
„Was?“, fragte sie zunächst noch irritiert zurück. „Was willst du denn damit...“ Dann sah sie mich finster an und schimpfte: „Hey, was geht dich das eigentlich an! Bist du jetzt meine Mutter, oder was?“
„Ich mache mir einfach nur Sorgen um dich, Kathi.“
„Weil sie jetzt schon vor Sex mit Fremden warnen, oder wie?“
„Ja, genau deswegen.“
„Ach, komm schon, das ist lächerlich!“
„Lächerlich?“, wiederholte ich kritisch das von ihr gewählte Wort. „Du siehst doch, was gerade überall abgeht, und wie die Leute draußen anders sind als sonst!“
Sie grinste auf einmal ironisch. „Du willst mich doch nur für dich allein haben, das ist es in Wahrheit, oder? Darum geht es doch bei dir die ganze Zeit! Wäre es nicht genau das, was du sowieso schon immer von mir wolltest?“
„Ja“, antwortete ich ehrlich. Das war zwar überhaupt nicht das, um was es hier ging, aber es kam mir in diesem Moment so vor, als hätte sie in gewisser Weise damit alles auf den Punkt gebracht - als hätte sie da etwas angesprochen, das eine einzige geniale Lösung für zwei völlig unterschiedliche Probleme darstellte.
„Ach, Flo“, seufzte sie. „Soll ich dir jetzt also echt versprechen, dass ich nur noch dir allein gehören will?“
„Warum nicht? Wo wäre das Problem?“
Sie dachte kurz nach und fing dann wieder damit an, dass es doch sowas von geil gerade sei und sie sich so gut fühle wie noch nie. „Es kommt mir so vor, als wäre ich jetzt erst so richtig auf den Geschmack gekommen - ich würde ja am liebsten nur noch ficken, echt! Ich würde es verdammt gerne auch mal mit dir machen, und ich könnte dir jetzt versprechen, dass ich wirklich immer dir allein gehören werde. Aber ausgerechnet jetzt, wo es so geil ist, und dann immer nur mit einem, verstehst du? Ich meine ausgerechnet jetzt, wo-“
„Hör auf jetzt, Kathi!“, fiel ich ihr ins Wort. „Ist dir eigentlich klar, dass du mir verdammt noch mal weh tust, wenn du so sprichst? Ich liebe dich, ich liebe dich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt, du weißt das ganz genau! Und jetzt hau ab, nenn mich von mir aus wieder Arschloch oder was auch immer du mich nennen willst, aber geh jetzt weg und lass mich bloß in Ruhe mit deinem blöden Alles-ist-so-geil-Scheiß!“ Darauf schob ich sie weg und schloss direkt vor ihr die Tür.