RAVNA – Tod in der Arktis - Elisabeth Herrmann - E-Book
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RAVNA – Tod in der Arktis E-Book

Elisabeth Herrmann

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Beschreibung

Ein Mord in der Arktis, uralte Geheimnisse und eine starke Heldin zwischen Tradition und Moderne

Vardø, eine kleine Stadt weit über dem Polarkreis in der Arktis. Der Mord am reichen norwegischen Waldbesitzer Olle Trygg verstört alle, auch Ravna Persen, gerade frisch als Praktikantin bei der örtlichen Polizeidienststelle gelandet. Ravna hat keinen leichten Stand bei ihren Kollegen: Sie ist eine blutige Anfängerin, sie ist eine Frau und … sie ist Samin. Keiner nimmt sie ernst, als sie am Tatort glaubt, Hinweise auf einen samischen Hintergrund der Tat zu finden – einen Strich in der Erde. Als kurz darauf der umstrittene Kommissar Rune Thor eintrifft, um den Fall zu übernehmen, spitzen sich die Konflikte zu. Doch Ravna weiß durch ihre Urgroßmutter Léna viel über die Geheimnisse der Samen – und darüber, dass der Strich auf ein uraltes Ritual hindeutet, mit dem die Wanderseelen der Toten daran gehindert werden sollen, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Wer immer die Tat begangen hat, muss dieses Geheimnis kennen.

Elisabeth Herrmann fesselt ein großes Publikum mit ihren mitreißenden und atmosphärischen Thriller. Leser*innen erwarten starke Heldinnen, dunkle und mystische Fälle und intelligente Hochspannung. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.

Alle Bände der RAVNA-Reihe:
Tod in der Arktis (Band 1)
Die Tote in den Nachtbergen (Band 2)
Arktische Rache (Band 3)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 582

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ELISABETH HERRMANN

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Wir danken dem Baobab Verlag für die freundliche Erlaubnis, zitieren zu dürfen aus dem Buch:

Sissel Horndal: Máttaráhkkás weite Reise. Eine Erzählung aus dem Samenland.

© 2019 Baobab Books, Basel, Switzerland.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Kartenillustration: Markus Weber, Guter Punkt München

Coverillustration: Shutterstock.com (Viktorio Marianov Nitov , Jamen Percy, phive, Bizi88, Jne Valokuvaus, Roxana Bashyrova, Husjak)

SK • Herstellung: AJ

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23166-8V005

www.cbj-verlag.de

Für meine Eltern, Loni und Friedrich Herrmann

In den skandinavischen Ländern wird die Berufsbezeichnung in weiblicher Form kaum noch praktiziert. Eine Ärztin ist doktor, eine Lehrerin ist laerer, eine Praktikantin ist ein praktikant. Ebenso wird kaum noch gesiezt (nur noch Mitglieder des Königshauses, aber sogar die bieten gerne an: Nenn mich einfach Harald …).

Für uns klingt das ungewohnt. Um den authentischen Charakter der Geschichte zu bewahren, habe ich mich jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, für die norwegischen Umgangsformen entschieden.

Elisabeth Herrmann

I.

Die Flüsse froren zu. Der Wald wurde weiß und still.

Der Frost presste sich in die kleinsten Spalten hinein,

Die Kälte drang bis auf die Knochen.

Die Dunkelheit war gekommen.1

1 Sissel Horndal, »Máttaráhkkás weite Reise. Eine Erzählung aus dem Samenland«.

1.

Montag, 25. November 2019, Mortensnes/Varangerfjord, Arktis.

Sonnenaufgang: 9:59 Uhr, Sonnenuntergang 11:33 Uhr

Tageslänge: 1 Stunde 34 Minuten

Eine Schneeflocke.

Sie war winzig, fast noch ein Kristall. Sie schwebte hinunter aus dem grauen Himmel, tanzte über die Felsen und wurde dann vom Sog des Meeres erfasst, bevor sie, zwei Fuß über dem bemoosten Grund, verschwand.

Cahki, dachte Ravna, die sie beobachtet hatte. Passt das zu ihr? Klein, etwas Eis … nein. Wir Samen kennen über zweihundert Wörter für Schnee. Grauer Schnee. Von Rentieren gestampfter Schnee. Schnee, der in den Fellen der Hunde hängen bleibt. Nasser Schnee im Frühling. Gefrorener Schnee auf Bäumen. Aber die erste Flocke, die den Winter ankündigt und die Polarnacht und die Lichter der Götter am Firmament – welchen Namen geben wir ihr?

»Hallo?«

Ein Hieb in den Rücken. Mikkel tauchte vor ihr auf. Das verschlagene Glitzern in seinen Augen verriet, dass er nur auf diesen Moment gewartet hatte.

»Schläfst du? Hier.«

Er hielt ihr die Rolle mit dem Absperrband entgegen. Der Schlag hatte wehgetan, und eine Sekunde lang fragte sich Ravna, wie der Schnee heißen würde, mit dem sie ihm gerne eine Abreibung verpassen würde.

»Aufspannen. Von da«, er deutete auf den Bärenstein, einen riesigen Felsbrocken, »bis da.« Ein windschiefer Zaun, der das Plateau vom Tal trennte.

Sie griff nach dem Band und Mikkel stapfte wieder davon.

Es war kalt. Nur ein paar Grad über null. Was verdammt noch mal mache ich hier?, fragte sie sich und sah hinüber zu den Polizisten, die sich über den Toten beugten.

Du beißt die Zähne zusammen und stehst das durch, hörte sie die Stimme ihrer Schwester Inga im Kopf. Es sind doch nur sechs kurze Wochen. Danach kannst du drei Jahre auf die Polizeischule in Oslo. Großstadt, Baby! Glitzernde Lichter, Bars und Restaurants. Und vor allem andere Typen als der fette Mikkel, der dich schon in der Grundschule gemobbt hat.

Der Wind holte tief Luft und blies eine Böe über den Varangerfjord. Das graue Wasser kräuselte sich, ein paar matte Wellen schwappten ans Ufer. In der Ferne des Nordens das große Nichts. Die Einsamkeit der Arktis. Mortensnes. Schon immer ein ganz besonderer Platz mit Opferstätten, Steinkreisen und Labyrinthen. Walfänger, Händler und Fischer hatten sich hier seit Anbeginn der Zeiten getroffen. Wilde Rentiere, Bären und Wölfe. Ein breiter, sanft abfallender Hang, der einen überwältigenden Blick auf das Meer zur einen und die Felsen zur anderen Seite bot. An dieser Stelle war der Fjord schon fünf Kilometer breit. Das andere Ufer war nur noch schemenhaft zu erkennen. Bei Kiby verbreiterte sich das Wasser noch mehr und wurde Teil der Barentssee, des Eismeeres. Möwen kreischten. Die Fahnen vor dem Museumsbau an der Straße knatterten im Wind.

Das weite Gelände war zum Kulturerbe erklärt worden, es lag an der schmalen Küstenstraße, die erst hundert Kilometer weiter oben in Vardø enden würde: in der letzten Stadt vor dem Nordpol.

Von dort näherte sich ein Campmobil, bog ab, fuhr auf den Parkplatz vor dem Museum und hielt an. Die Türen öffneten sich, ein Ehepaar in Wanderausrüstung stieg aus.

Mikkel machte eine Kopfbewegung in Ravnas Richtung. Sie lief dem Paar entgegen, das erst jetzt die Polizisten und den Krankenwagen bemerkte – das einzige Gefährt zum Abtransport einer Leiche, das hier auf die Schnelle zu kriegen war.

»Halt. Stopp! Ihr könnt hier nicht weiter«, rief sie.

Die beiden blieben stehen und sahen sich ratlos an.

»Das ist ein Tatort.« Ravna hielt die Rolle mit dem Absperrband hoch. »Ich muss euch bitten, weiterzufahren.«

»Aber …« Der Mann zog ein Gesicht, als hätte sie gerade sein Geburtsrecht infrage gestellt, den heiligen Platz zu betreten, wann immer er wollte. »Wir sind extra aus Kirkenes hier hochgekommen.« Sein Norwegisch klang holperig. Ravna tippte auf Russen oder Esten.

»Da liegt ein Toter«, sagte sie.

»Nur einer? Ich dachte, das wäre ein Begräbnisort der Samen.«

Der Witz kam nicht an. Weder bei ihr noch bei seiner Frau. Die zupfte ihn am Ärmel und wollte ihn wegziehen, aber er riss sich ungeduldig los.

»Wir stören euch nicht. Wir werden nur kurz schauen und ein paar Fotos machen.«

Er wollte Ravna zur Seite schieben, aber sie wich keinen Millimeter.

»Nein.« Warum zum Teufel trug sie keine Uniform? Einer Achtzehnjährigen in Jeans, Boots und dickem Anorak traute wohl keiner etwas zu. Aber die Polizeistation in Vardø hatte keine Dienstkleidung in ihrer Größe gehabt. Der erste Tag des Praktikums, da rechnete doch keiner mit einer Leiche! Noch dazu an diesem Ort.

»Ich darf euch nicht durchlassen. Hallo?«

Er ging einfach an ihr vorbei!

Mikkel, ausgerechnet Mikkel bekam mit, dass es ein Problem gab. Seine Uniform spannte und über den Winter würde er noch ein paar Pfund zulegen. Er war gerade zurückgekommen aus Oslo, als frischgebackener politibetjent 1, Polizeiwachtmeister mit kaum einundzwanzig. Und ein Junge aus ihrer Stadt, aus Vardø. Alle kannten sich. Und deshalb wussten sie auch, wer Ravna war. Woher sie kam und dass sie zu denen gehörte, denen man besser erst einmal gar nichts zutraute.

»Hei!«, rief er. »Weg da. Sofort!«

Der Mann hielt inne. »Hei. Immer langsam.«

»Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?« Mikkel zückte ein Notizbuch und schlug es auf. Es war niegelnagelneu, und er brannte sichtlich darauf, seine erste Zeugenvernehmung hineinzuschreiben.

»Wir sind Touristen!« Der Mann bekam endlich mit, dass er hier nicht erwünscht war. »Mortensnes steht doch in jedem Reiseführer. Die alten Grab- und Opferstätten der Eingeborenen und der Bärenstein.«

Ravnas Gesicht vereiste bei dem Wort Eingeborene. Er meinte die Samen, die hier den Kontakt zur Saivo, der Götterwelt, gesucht hatten.

»Kommt später wieder.« Mikkel klappte seinen Block zu. Er war unzufrieden, weil die beiden weder Täter noch Zeugen waren. »In einer Stunde sind wir hier fertig.«

»Kann man irgendwo einen Kaffee trinken?«, fragte die Frau. So ungeduldig wie sie von einem Bein aufs andere trat, brauchte sie wohl eher eine Toilette, traute sich aber nicht zu fragen.

»Im Museum«, sagte Ravna und schaute auf ihre Armbanduhr. »Wenn es schon auf hat.«

Es war kurz nach zehn. Sie hatten nur eine knappe Stunde Tageslicht, dann würde sich schon wieder die Dämmerung über alles senken. Vor zwei Stunden, da war es noch stockdunkel gewesen, hatte sie sich zum Dienst gemeldet. Ein paar Minuten später war der Notruf eingegangen. Männliche Leiche am Varangerfjord. Ravna hatte eigentlich nur im Weg herumgestanden, während um sie herum alle in Aufruhr gerieten. Streifenwagen vorfahren, Krankenhaus in Vadsø informieren, den Museumsmitarbeiter am Telefon beruhigen, der den Schock seines Lebens erlitten hatte, in die beiden Polizeiwagen springen, losfahren. Ankommen. Männliche Leiche. Bleib du mal lieber am Wagen. Ist nichts für Mädchen. Und, ein paar Meter weiter, einer zum anderen: Was macht die eigentlich hier?

»Adjø.«

Sie wandte sich ab und lief zu einem windschiefen Holzzaun. Während sie das Band verknotete, konnte sie die Ausgrabungsstätten sehen, die weiter unten Richtung Meer lagen. Dann rollte sie es ab bis zum Bärenstein. Ravna wusste, was hier in Vorzeiten geschehen war: Opfer hatten die Götter besänftigen sollen. Der Stein war von blutroten Flechten überzogen. Nirgendwo eine Möglichkeit, etwas zu verknoten.

»Mikkel?«

Dass sie ausgerechnet ihn um Rat fragen musste! Aber er war der Einzige, der bis jetzt ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Und der tat so, als hätte sie ihn gerade bei etwas besonders Wichtigem gestört. Dabei bohrte er nur heimlich in der Nase.

»Hol Stecken und Hammer!«, fauchte er. »Im Wagen!«

Alles war gut, was sie von dem Toten wegführte. Ravna hatte bisher erfolgreich versucht, nicht hinzusehen. Aber sie wusste, dass ihr das noch bevorstand. Wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort. Bei einem anderen Fall. Das gehörte dazu, wenn man Polizistin werden wollte. Ravna hätte es nur gerne nicht unvorbereitet an ihrem ersten Tag erlebt.

Die verhinderten Touristen hatten sich zurückgezogen. Der Mann stand neben der geöffneten Fahrertür seines Wohnmobils, eine Thermoskanne in der Hand. Seine Frau umrundete gerade den Museumsbau. Also doch Toilette.

Ein weiteres Auto bretterte über den Schotter der schmalen Zufahrt. Es hielt hinter dem Wohnmobil. Ein Mann und eine Frau stiegen aus und gingen zum Kofferraum. Der Tourist mit der Thermoskanne wollte anfangen zu diskutieren, aber die beiden ließen sich gar nicht erst darauf ein. Sie streiften weiße Papieroveralls über und holten zwei schwere Koffer hervor. Damit machten sie sich auf den Weg zum Leichenfundort.

Sie passierten Ravna, die gerade den Polizeiwagen nach Werkzeug durchsuchte und den beiden hinterhersah. Rechtsmediziner. Es war, als ob mit ihnen die Luft noch etwas eisiger würde.

»Brauchst du eine persönliche Einladung oder was?«, brüllte Mikkel.

Sie fand den Hammer und die Stecken und lief zurück zum Bärenstein. Dort maß sie eine Fläche von ungefähr zwanzig mal zwanzig Metern ab und befestigte das Band.

Der Tote war ein Mann.

Jemand hatte ihn erschlagen.

Der Fahrer des Wohnmobils hupte.

Die Sanitäter holten eine Trage.

Die Rechtsmedizinerin öffnete einen Leichensack.

Ravna verfluchte ihr Frühstück.

»Na? Die erste Leiche?«

Mikkel stellte sich neben sie. So nah, dass ihre Schultern sich berührten. Vielleicht war das genauso wenig Absicht wie der heftige Schlag. Vielleicht auch nicht. Sie trat einen Schritt zur Seite.

»Ja. Wer ist es?«, fragte sie.

»Keine Papiere. Und das Gesicht …«

»Danke.«

»Du solltest es dir ansehen.«

»Danke!«

»Erinnert mich daran, wie ihr ausseht, wenn’s mal wieder ein paar auf die Fresse gibt.«

Sie schwieg. Das hatte sie schnell gelernt. Einfach schweigen, obwohl man am liebsten um sich schlagen würde. Es war Inga, die ihr das beigebracht hatte: runterkommen, wenn es in einem brodelt. Cool bleiben. Einen Fettsack wie Mikkel anlächeln und fragen: »Für dich?«

»Für mich?«

Im selben Moment wusste Ravna, dass der Spruch ein Fehler gewesen war. Mikkel stand im Rang über ihr. Er war das, was Ravna werden wollte. Wenn sie Pech hatte, war sie ihm die nächsten sechs Wochen ausgeliefert. Er konnte ihr das Leben zur Hölle machen. Und so, wie er sie gerade ansah, ging ihm wohl genau das Gleiche durch den Kopf.

»Na ja.« Sie zauberte von irgendwoher ein bewunderndes Lächeln hervor. »Du bist ja bekannt dafür, dass man sich besser nicht mit dir anlegt.«

Mikkel überlegte. Wie war das jetzt gemeint? Dann grinste er. Ravna sah zu Boden. Ein Blick in ihr Gesicht, und er würde wissen, dass sie sich immer noch über ihn lustig machte. Doch dann sagte sie: »Da ist ein Strich.«

»Was?«

»Da ist ein Strich auf dem Boden.«

Mikkel sah über seinen Bauch hinunter auf die spärliche Erde, an die sich gerade noch ein paar Flechten klammerten. Ravna hatte ihre ersten Bäume mit sechs Jahren gesehen, unten, in Kirkenes, wo die Straßenschilder in Norwegisch, Samisch und Russisch beschriftet waren. In der Arktis gab es nichts, das nach oben wuchs.

»Siehst du das?«

»Da ist nichts.«

»Es ist ein Strich. Schau.« Sie hatte noch einen Stecken in der Hand und fuhr mit ihm über den felsigen Boden. Ein Kratzer, ein Strich. Genau wie der vor ihnen. »Jemand hat ihn gezogen.«

»Okay.« Mikkel grabbelte nach einem Kaugummi in seiner Jackentasche, wickelte ihn aus dem Papier und steckte ihn in den Mund. »Zum einen kontaminierst du gerade einen Tatort, du Idiotin. Zum anderen – das waren Kinder. Wanderer«, nuschelte er. »Das hat nichts zu sagen.«

»Aber«, sie sah hoch, »wir sind in Mortensnes. Hier hat alles eine Bedeutung.«

»Erzähl doch keinen Quatsch. Für euch vielleicht. Aber das hier ist eine klassische Ermittlung. Ohne Striche. Ich lach mich tot.«

Ravna presste die Lippen zusammen. Für euch vielleicht.

Mikkel kaute und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er wartete wohl darauf, dass er endlich weg von diesem seltsamen Mädchen gerufen wurde, hin zu den wirklich wichtigen Leuten: Jonas und Filip zum Beispiel, den beiden Distriktpolizisten aus Vardø, die sich gerade mit der Rechtsmedizinerin unterhielten. Ihr Mitarbeiter hockte neben der Leiche und streifte sich weiße Gummihandschuhe über. Während sie, die Praktikantin und der Frischling von der Polizeischule, zwei absolute Beginner, für die nächste halbe Stunde am Rand stehen und zusehen durften. Ravna fiel das definitiv leichter als Mikkel.

Mittlerweile hatte der Museumswärter das Klo offensichtlich freigegeben und zwei Thermoskannen Tee gebracht. Ravna wurde zur Straße geschickt, damit sie weitere Besucher davon abhielt, auf das Gelände zu fahren. Das Ehepaar im Wohnmobil war kurz vorm Ausflippen (auch, weil die Toilette noch so lange gesperrt gewesen war), bis Mikkel sich die Autoschlüssel der Rechtsmediziner geben ließ, sich hinters Steuer setzte und die beiden aus ihrer Sackgasse erlöste. Dann trabte er zurück zum Bärenstein.

Der Tote wurde auf den Leichensack gelegt.

»Fass mal mit an!«, brüllte Mikkel.

Ravna fuhr zusammen. Meinte er sie?

»Los! Steh nicht so dämlich in der Gegend rum!«

Er meinte sie.

Ravna duckte sich, um unter dem Band hindurch hinter die Absperrung zu gelangen. Jonas und Filip standen abseits und telefonierten. Die Rechtsmedizinerin hatte sich eine Zigarette angezündet. Sie war blond, vielleicht Ende dreißig, genau konnte Ravna das nicht einschätzen. Aber ihre harten Züge verrieten, dass sie schon einiges gesehen hatte in ihrem Leben. Ihr Kollege stand am Kopf der Leiche, Mikkel an den Füßen. Der Leichensack flatterte im Wind.

»Drück die Folie runter, sonst fliegt sie uns weg!«

Die beiden hoben den Körper an. Ein schwerer Mann, kräftig. Viel getrocknetes Blut auf dem Anorak. Es hatte ihn von vorne erwischt, vielleicht hatte er den Täter erkannt? Oder es war in der Dunkelheit geschehen? Am Beginn der Polarnacht verloren Tageszeiten ihre Bedeutung. Ravnas Blick fiel auf die Hand des Toten. Er trug einen Ring aus schwerem, geschmiedetem Silber.

»Das ist Trygg«, sagte sie.

Mikkel und der Rechtsmediziner, gerade im Begriff, den Toten hochzuheben, ließen los.

»Was?«, fragte Mikkel.

»Das ist Olle Trygg«, wiederholte Ravna. »Ich kenne ihn.«

»Heiliger Himmel«, sagte Mikkel. »Bist du sicher?«

Ravna nickte. Der Rechtsmediziner stand auf, auch Mikkel kam wieder hoch und wischte sich die Hände ab, obwohl er Handschuhe trug. Filip, der ältere der beiden Polizisten, beendete sein Gespräch und kam zu ihnen.

»Das ist Trygg«, sagte Mikkel.

Filip beugte sich über den Toten, der auf dem Rücken lag, die Arme ausgebreitet. Ravna versuchte, nur auf die Beine zu sehen, die in dicken Cordhosen steckten, auf die Stiefel, den verrutschten Anorak. Filip – ein gemütlicher Mann Anfang sechzig, kurz vor der Pensionierung und für Mikkel deshalb von besonderem Wert, weil er scharf auf die frei werdende Stelle war – steckte sein Handy weg und schüttelte den Kopf. Weniger, weil er an Mikkels Worten zweifelte. Eher, weil sich offenbar Probleme zusammenbrauten, von denen Ravna keine Ahnung hatte.

»Woher willst du das wissen?«

Mikkel deutete auf seine Praktikantin. »Ravna sagt es.«

»Ich kenne ihn«, wiederholte sie.

Und die Handbewegung, mit der er an diesem Ring drehte, wenn die mächtigen Rentierherden auf ihre Winterweiden getrieben wurden. Immer eine Umdrehung für hundert. Wie er auf der Anhöhe stand und auf seinen Reichtum blickte, wenn die Tiere in gewaltige Gehege getrieben und für die Wanderung gezählt wurden … Unter ihren braunen Rücken war kein Schnee mehr zu sehen, es waren Tausende, Hunderttausende, Millionen, ihr Atem dampfte in der eisigen Luft, ihre Hufe hämmerten, die Geweihe wogten über diesem Meer von Leibern, der Qualm aus den Lagerfeuern biss in den Augen, jemand schlug die Trommel, und Trygg zählte seine Tiere, Sarves und Vaia, Hirsch und Kuh, und bellte mit heiserer Stimme seinen Treibern Befehle zu, bevor er zu Ravnas siida2 stapfte und sagte: »Eines Tages steck ich euch auch noch in den Sack.« Olle Trygg. Der reichste Same, den sie je kennengelernt hatte. Und der böseste. Hinterhältigste. Widerwärtigste.

Jetzt wurde auch Jonas aufmerksam. »Was ist los?«

Er war der Zweite nach Filip in der Rangordnung der Polizeiwache Vardø. Dann kam Mikkel. Und dann, vielleicht, Ravna. So genau wusste sie das nicht. Ihr erster Tag. Ihr erster Toter. Und dann ausgerechnet Trygg …

»Ravna sagt, das ist er.«

»Wer ist Ravna?«

»Ich«, sagte sie.

Filip kratzte sich am Kopf. Noch nicht einmal ihren Namen hatte er behalten.

Die Rechtsmedizinerin gesellte sich jetzt auch zu ihnen. »Ihr habt ihn identifiziert?«

Jonas brummte etwas. Filip sagte: »Das … ähm … Mädchen glaubt, sie kennt ihn.«

Die Frau drückte ihre Zigarette in einem kleinen Marmeladenglas aus, verschloss es sorgfältig, steckte es weg und reichte Ravna die Hand. »Hei. Ich bin Eva Hovland, Pathologin am Vadsø helsesente.« Dem Krankenhaus.

»Hei. Ravna Persen. Praktikant.«

Sie reichten sich die Hand.

»Und du kennst den Toten?«

»Ich kann es nicht beschwören, aber …« Ravnas Blick fiel auf Tryggs Stiefel. Etwas an ihnen kam ihr seltsam vor. »Ist das Birkenrinde?«

Eva war ihrem Blick gefolgt. »Im Schaft? Kann sein. Warum?«

»Weil …« Alle sahen sie an. Birkenrinde im Stiefel. Bei einem Rentierzüchter und Großgrundbesitzer. Ist das seltsam? Für euch vielleicht … »Nichts. Ich habe seinen Ring erkannt. Er ist aus Silber und hat zwei Linien, die durch einen Kreis führen. Siehst du?«

Eva zog einen Plastikhandschuh aus der Tasche, streifte ihn über, ging in die Knie und hob Tryggs Hand hoch, um sich den Ring genauer anzusehen.

»Das ist unserer Flagge nachempfunden«, sagte Ravna. »Ich meine, sehr vereinfacht.«

Die Frau sah hoch. Sie hatte hellblaue Augen, die Ravna interessiert musterten. »Du bist sámi?«

Sah man ihr das nicht an? Nein. Dunkle Haare hatten viele, und ihr vor Kälte gerötetes Gesicht mit der Stupsnase verriet wohl wenig.

Mikkel vergaß, auf seinem Kaugummi zu kauen. Filip und Jonas schwiegen.

Half ja nichts, wussten doch alle.

»Ja«, sagte Ravna.

Eva lächelte. »Und Trygg auch?«

»Ja.«

Eva legte sanft die Hand zu dem Toten zurück, dann stand sie auf.

Der Rechtsmediziner an dem Ende von Trygg, das mal sein Kopf gewesen sein musste, äußerte sich mit einem ungeduldigen Räuspern.

Filip sagte: »Wir kümmern uns darum. Wenn er es ist …« Er sah sich vielsagend um.

Eva vollendete den Satz für ihn. »Dann geht die Sache direkt nach Kirkenes.«

Die Männer nickten. Sie wirkten erleichtert, dass die Kollegen in der Provinzhauptstadt den Fall übernehmen würden.

»Warum?«, fragte Ravna.

Eva strich sich die windzerzausten Haare aus dem Gesicht. Sie antwortete nicht geradeheraus. Sie schien etwas zurückzuhalten, obwohl die Antwort, die sie schließlich gab, absolut natürlich klang. »Es war Mord. Ein Stich in den Nacken, einer ins Herz. Und zuvor wurde er noch zusammengeschlagen. Wir können nur feststellen, wie er gestorben ist. Nicht warum. Deshalb …« Sie gab den Männern einen Wink. »… sollten wir ihn jetzt ins Bezirkskrankenhaus nach Vadsø bringen.«

»Nicht nach Kirkenes?«

Die Pathologin lächelte wieder. Es war erstaunlich: Es hellte ihr Gesicht auf, wie ein Sonnenstrahl, der durch die dunklen Wolken aufs Wasser fällt. »Ich lass mir doch meine interessanteste Leiche seit Monaten nicht vom eigenen Seziertisch klauen.« Und zu den Männern sagte sie: »Den Blutspuren nach zu urteilen, ist Leichenfundort auch Tatort. Irgendeine Spur vom Tatwerkzeug?«

Stummes Kopfschütteln. Alle schienen verdauen zu müssen, dass Eva die Höchste der Rangordnung war. Zumindest so lange, bis jemand aus Kirkenes kam und anfing zu ermitteln.

»Die Spurensicherung muss gleich hier sein. Die Absperrung bleibt und sollte bewacht werden.«

Die drei aus Vardø drehten sich gleichzeitig zu Ravna um. Es sah aus, als hätten sie diese Bewegung monatelang für ein Laientheaterstück geprobt.

»Klar«, antwortete sie hastig. »Kein Problem. Aber wie kann ich mich ausweisen, wenn wieder Leute kommen?«

»Sie ist nur Praktikant«, brummte Filip. »Mikkel, übernimm du das.«

Während Ravna die Plastikhandschuhe einsammelte und den Rest des Absperrbandes zum Wagen trug, ging Eva mit ihrem Kollegen zurück zum Parkplatz. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis die Truppe fertig war. Mikkel blieb zurück, und er sah nicht gerade erfreut darüber aus, den Rest des Tages am Bärenstein von Mortensnes verbringen zu müssen.

Die Rückfahrt dauerte wieder fast zwei Stunden. Sie zuckelten die Küstenstraße entlang, und die wilden Felsen am Ufer wurden sanfter und flacher, als ob sie Respekt hätten oder sich verneigen würden vor dem, was weiter im Norden vor ihnen lag: das ewige Eis. Irgendwann, es war nach der langen Dämmerung völlig dunkel geworden, schlief Ravna ein und erwachte erst wieder, als sie in den Unterwassertunnel fuhren, der das Festland mit der Vardø-Insel verband.

»Na?« Jonas drehte sich zu ihr um. »Was gelernt am ersten Tag?«

Ravna rieb sich die Augen und überlegte. »Einen Tatort absperren?«

»Den Mund halten, du Dummkopf. Woher weißt du, dass es Trygg ist?«

»Ich weiß es halt«, erwiderte sie trotzig.

Filip, der am Steuer saß, schüttelte den Kopf. »Sie weiß es halt. Meine Güte. Jetzt kriegen wir Besuch aus Kirkenes. Schönen Dank.«

2 Samisch: Familie.

2.

»Trygg?«

Ravnas Urgroßmutter Léna goss sich noch eine Tasse Tee ein. Es ging ziemlich viel daneben, aber Ravna wusste, dass man sich hüten sollte, die alte Frau auf Missgeschicke hinzuweisen. Dann konnte sie ziemlich ruppig werden. »Trygg, ermordet in Ceavccagðe?«3

Ravna nickte. »Jemand hat ihn erstochen. Heute Nacht. Ich hab den Tatort abgesperrt. Und Touristen weggeschickt.«

Ob Mikkel immer noch da war? Ravna nahm sich einen von Lénas steinharten Keksen. Sie war nur kurz vorbeigehuscht, um nach dem Rechten zu sehen, weil ihre Mutter wieder draußen auf den Winterweiden war. Die Herde der Persens war nicht groß, aber mit der staatlichen Unterstützung hielten sie sich einigermaßen über Wasser. Eigentlich sollte sie, Ravna, jetzt dort sein und helfen. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, kam sie so oft bei Léna vorbei, wie es ging. Die Zahl ihrer Freunde war ohnehin sehr überschaubar, vor allem, seit sie sich entschieden hatte, zur Polizei zu gehen. Sie hatte Zeit, deshalb machte es ihr nichts aus, abends nach Léna zu sehen. Ravna war die Erste in der Familie, die einen Beruf lernte. Einen »richtigen« Beruf. Das mit den Rentieren war ja in den Augen der Norweger nur Folklore.

Léna schüttelte den Kopf und schlürfte einen Schluck. »Soll er schmoren in skjærsild«, dem Höllenfeuer. »Die Welt ist ohne ihn ein besserer Platz.«

Ravna zermalmte den Keks. Trygg war ein echter Kotzbrocken gewesen. Ungehobelt, egoistisch, einer, der nie den Hals voll genug kriegen konnte. Aber jetzt war er tot. Gönnte man der Seele da nicht was Netteres als ewige Verdammnis?

Léna lachte. »Was, stimmst du mir etwa nicht zu?«

Ravna zuckte mit den Schultern. »Ich hab ihn ja gar nicht richtig gekannt.«

»Aber die Geschichten, die man über ihn erzählt, die kennst du. Wie er die Leute schikaniert hat? Wie er den kleinen Nikko so verprügelt hat, dass er bis heute hinkt? Wie er seine Frau ins Grab geflucht hat?«

»So was gibt es nicht.«

Léna wurde schlagartig ernst. »Hast du eine Ahnung. Natürlich gibt es das. Andere Menschen durch böse Worte zur Verzweiflung bringen, bis sie eines Nachts raus in den Schnee laufen und nicht mehr wiederkommen.«

Ja, das war eine dieser Geschichten um Trygg. Dass seine erste Frau sich umgebracht hatte, weil sie es mit ihm nicht mehr aushielt und lieber draußen erfror als an seiner Seite zu sein. Aber in den Tod geflucht? Ravna hielt solche Legenden im Kern für wahr. Doch Flüche allein hatten die Arme nicht ins Eis getrieben. Eher Gewalt und seelische Grausamkeit.

»Jedenfalls, das war mein erster Tag.«

Léna hob die Tasse. »Herzlichen Glückwunsch. Ich hätte nicht gedacht, dass dein Weg bei der Polizei gesäumt ist von so schönen Nachrichten.«

»Àhkku!«4 Ravna legte den angebissenen Keks zurück. »Wie kannst du so was sagen? Er ist umgebracht worden, mit zwei Stichen. Und vorher verprügelt. Das ist bestialisch.«

Léna lächelte verträumt. »Genau das meinte ich.«

»Er ist mein erster Toter!«

Das Lächeln verschwand. »Das ist nicht schön. Dass er dir das auch noch antun muss!«

Ravna seufzte. »Alles klar.« Trygg konnte selbst durch seinen grausamen Tod bei Léna keine Punkte sammeln. »Brauchst du noch was?«

»Nein. Der Kleine vom Supermarkt bringt mir alles.«

Supermarkt war heillos übertrieben, wenn Ravna ihn mit den funkelnden Konsumtempeln in Kirkenes verglich. Und auch die waren nichts im Vergleich zu den richtigen Kaufhäusern, wie es sie in Oslo gab. Die Läden in Vardø konnte man an einer Hand abzählen. Sie führten das Wichtigste, was man so brauchte, aber leider nicht all diese verlockenden unwichtigen Dinge, von denen Inga ihr erzählt hatte und die Ravna noch nicht mal im Internet finden konnte. Man musste dort sein. Es mit eigenen Augen sehen.

Vor Jahren hatte Ravna eine Klassenfahrt in die Hauptstadt gemacht. Sie zehrte immer noch davon. Und während sie sich das Sehnen bis heute nicht abgewöhnt hatte, war Inga weggegangen nach Oslo, eines Nachts, ohne ein Wort zu sagen, weil sie das Leben hier nicht mehr ausgehalten hatte. Und das dort auch nicht. Wohin gehören wir?, hatte sie immer wieder gefragt, und Ravna wusste bis heute keine Antwort. Aber sie hatte sich für diesen Job entschieden. »Ich bin Polizistin« klang irgendwie konkreter als »Ich bin Same«.

»Ruf deine Mutter an.«

Ravna stand auf und räumte das Geschirr ab. Eigentlich eine gute Gelegenheit, um Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Aber nicht mit Léna.

»Hedda wartet darauf. Brich ihr nicht auch noch das Herz.«

»Dann hätte sie vielleicht einen Sohn statt zwei Töchter auf die Welt bringen sollen.« Kaum war der Satz heraus, hätte sie ihn am liebsten wieder zurückgenommen.

Léna hieb mit der Faust auf den Tisch, dass die übergebliebenen Tassen zitterten. »So etwas will ich nie wieder hören!«

»Entschuldige, àhkku, ich wollte nicht –«

»Sie hat genug mitgemacht mit diesem Lügner und Betrüger, der sich einfach aus dem Staub gemacht hat! Diesem Schwächling aus dem Süden, keine zwei Winter hat er es hier ausgehalten.«

Mühsam stützte Léna sich auf die Tischplatte und kam hoch. Ravna war nicht groß, aber Léna schien geradezu winzig. Wie alt war sie jetzt? Achtzig? Mit diesen tausend Fältchen im Gesicht, den strahlend weißen Haaren und den funkelnden Augen, dunkel wie Wacholderbeeren. Mal kräftig wie ein Holzhacker, dann fast zerbrechlich in den dicken Strickjacken, dem langen Rock und den kleinen Füßen in den Filzschlappen. Und trotzdem jemand, vor dem Ravna einen riesigen Respekt hatte.

»Nimm dir nie wieder heraus, so von deiner Mutter zu reden.«

»Es war nicht –«

»Und hör auf, mir Widerworte zu geben! So spricht man nicht mit mir. Hast du mich verstanden?«

»Ja.« Ravna trug die Teller in die Küche und atmete tief durch. Dann kam sie wieder zurück in das kleine Zimmer.

Die Stadt hatte Léna die Wohnung zugewiesen. Von dem beschlagenen Fenster aus konnte sie bei gutem Wetter den Hafen und die Bucht dahinter erkennen, die grauen Berge des Festlands, über das sie in ihrer Jugend die Herden getrieben hatte, damals, als man die Männer noch danach aussuchte, wie gut sie mit den Tieren umgehen konnten … Alles in Lénas überheiztem Zimmer erinnerte an diese Zeit. Die handgeknüpften Teppiche, die bestickten Leintücher, die bunten Kissen. Und tief verborgen in einem Regal, das unter lauter seltsamem Krimskrams ächzte, in weiches Leder verpackt, mit brüchigen Riemen umwickelt, die goavddies, die Trommel … Ob Léna wusste, dass Ravna und Inga diesen geheimen Schatz einmal gesehen hatten? Sie waren kleine Mädchen gewesen, so neugierig, so mutig und kühn, alles mussten sie wissen, nichts durfte ihnen verborgen bleiben. Und so war Inga auf einen Stuhl geklettert und hatte das Paket aus dem Regal gezogen. Ravna hatte es geöffnet und gespürt, dass ihr fast das Herz stehen blieb.

»Was ist das?« Ihr Flüstern klang atemlos. Inga beugte sich über sie, die Enden ihrer langen Zöpfe kitzelten Ravnas Nacken.

»Oh heilige Scheiße.« Inga, zwei Jahre älter – neun war sie damals gewesen, oder vielleicht schon zehn? –, hatte angefangen, Flüche und Schimpfwörter nicht mehr zu ignorieren, sondern auch zu benutzen. »Das ist eine Trommel! Léna ist ein Schamane. Hast du das gewusst?«

Wildes Kopfschütteln.

»Von diesen Dingern gibt es kaum noch welche. Die haben sie uns alle weggenommen.«

»Warum?«

Inga wickelte etwas aus, das wie ein kleiner Hammer mit einem silbernen Kopf aussah. Damit schlug sie leise auf das Fell, das mit rätselhaften, geheimnisvollen Zeichen bedeckt war – den Runen.

»Weil wir damit den Teufel rufen«, hatte sie geflüstert. Noch ein Schlag. Noch einer. Und Ravna spürte, dass etwas den Raum betrat, das sie nicht kannte und nicht sehen konnte. Das wie ein unsichtbarer Schatten in der Ecke stand, ein ungebetener Gast, eine Erinnerung, die Angst machte und die man verdrängte, bevor sie überhaupt auftauchte. »Den Gand.«5

»Inga!«

Und plötzlich lachte Inga auf, und die düsteren Ecken wurden hell.

»Hab doch nur Spaß gemacht.«

Léna reichte ihr die Zuckerdose. Ravna schreckte aus ihrer Erinnerung hoch. Ob die Trommel immer noch dort lag? Ein Schatz von unermesslichem Wert. Auf der ganzen Welt gab es kaum noch vierzig Stück davon, alle lagen in Museen oder wissenschaftlichen Sammlungen. Aber eine unentdeckte goavddies in Privatbesitz – das gab es nicht mehr. Oder das Geheimnis wurde einfach nur gut gehütet.

Sie stellte die Dose ins Regal, zwischen zerlesene Bücher, geflickte Fäustlinge, Gläser, alte Zigarrenkisten und dem, was sich im Lauf der Jahre noch so angesammelt hatte.

»Dann geh jetzt. Du musst ja morgen früh raus.« Léna griff nach Ravnas Arm, gemeinsam erreichten sie das durchgesessene Sofa, auf das sich die alte Frau mit einem leisen Stöhnen niederließ. »Wie sind sie denn so auf der Wache?«

»Na ja.« Ravna sammelte die Tassen und den Keksteller ein und ging in die Küche. Die Wohnung war so winzig, dass sie weiterreden konnten, als wäre sie im selben Raum geblieben. »Mikkel springen fast die Uniformknöpfe ab, wenn er sich aufplustert. Und die anderen, Filip, Jonas und Sjur, ich kenn sie ja nur vom Sehen.«

»Nicht ganz«, kam es knurrend zurück.

»Nicht ganz, stimmt. Aber ich glaube, sie erinnern sich nicht mehr daran.«

»Hast du eine Ahnung. Die vergessen kein einziges Mal, bei dem sie hier aufgetaucht sind.«

Mit einem Seufzen griff Ravna zum Spülschwamm und ließ Wasser ins Becken. »Es sind ja nur sechs Wochen. Da muss ich durch. Und danach geht es auf die Polizeischule.«

»Wenn sie dich nehmen.«

In zwei Schritten war sie zurück im Wohnzimmer. »Warum sollten sie mich nicht nehmen? Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Meine Zeugnisse sind gut, ich bin nicht vorbestraft, ich brauche nur eine gute Empfehlung, also?«

Léna saß auf dem Sofa, zurückgelehnt, mit einem schmerzerfüllten Zug um den Mund.

»Ist alles okay? Geht es dir nicht gut?«

»Doch, doch.« Ihre Urgroßmutter blinzelte und deutete dann auf den Schwamm in Ravnas Hand. »Du machst alles nass.«

Wortlos kehrte Ravna in die winzige Küche zurück, in der man sich kaum umdrehen konnte, ohne irgendwo anzustoßen. Sie beendete den Abwasch, dann holte sie ihren Anorak und die Stiefel.

»Ich komme morgen wieder vorbei.«

»Das musst du nicht.«

»Ich will aber.«

»Du hast jetzt Arbeit, Kind.« Léna beugte sich mit einem Ächzen vor. Ravna, die in die Knie gegangen war, um sich die Schnürsenkel zu binden, spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Klein, leicht, ein Hauch von einer Berührung, die in dem Moment zurückgezogen wurde, in dem sie fast erschrocken hochblickte. »Du bist die Erste in unserer Familie, die Arbeit hat.«

»Ihr habt euer ganzes Leben geschuftet.«

»Das gilt nicht. Nicht für die Norweger.«

Als Ravna die Treppen hinunterstieg und dann hinaus auf die Straße trat, atmete sie tief durch. Ein Blick hinauf in den zweiten Stock des heruntergekommenen Mietshauses verriet ihr, dass Léna das Licht gelöscht und sich auf dem Sofa schlafen gelegt hatte. Wenigstens das gönnte sie sich jetzt, früher war es eine Decke auf dem Fußboden gewesen. Die Umstellung vom Leben auf den Rentierweiden zu dem in Vardø war für sie alle hart gewesen.

Das Pflaster glänzte vom Regen, dichter Nebel lag über der kleinen Stadt. Kaum über dem Gefrierpunkt, noch zu warm für Schnee. Und trotzdem hatte sich heute die erste Flocke aus dem Himmel gewagt … Ravna musste nicht weit laufen, nur am Hafenbecken entlang hinüber auf die andere Seite der Insel, von der die Stadt ihren Namen hatte. Sie sah von oben aus wie ein Schmetterling, dessen linker Flügel in die Länge gezogen war. Auf dem rechten, dem kürzeren Flügel lebte Léna, nicht weit von der Polizeistation. Weiter oben Richtung Supermarkt gab es noch ein paar hübsche Einfamilienhäuser, aber hier, im Hafenviertel zwischen den beiden »Flügeln«, gähnten leere Fensterhöhlen aus Ruinen, verlassene Boote und verrostete Winden versanken im Schlick. Die Möwen schrien nicht mehr, aber der Wind hatte aufgefrischt.

Ravna wohnte auf der anderen Seite. Dort, wo grünes Gras im Sommer wuchs, wo kleine Häuser sich unter dem endlosen Himmel duckten, nahe dem Fort und der Steilneset, der alten Hinrichtungsstätte, die heute ein Mahnmal war. Inga hatte die Wohnung vor drei Jahren von einem Lehrerehepaar gemietet, das nichts dagegen hatte, dass jemand den feuchten Keller trocken wohnte. Dann war sie nach Oslo gegangen, und Ravna hatte übernommen.

Als sie die Tür aufschloss, das Licht anschaltete und in ihre nicht viel größere, aber wesentlich hübschere Küche trat, fiel ihr erster Blick auf einen Zettel am Kühlschrank.

»Mach es wie die Sonnenuhr … in der Polarnacht????« Daneben ein Foto von ihnen beiden: lachend, windzerzaust, mit roten Wangen und beide in den gleichen roten Anoraks mit pelzverbrämter Kapuze. Im Hintergrund konnte man unscharf Rentiere erkennen.

Ravna lächelte und stellte einen Kessel Wasser auf die Gasflamme des Herdes, um sich einen Tee zu kochen.

Mein erster Tag, Inga. Ich habe ihn überlebt.

3 Samische Bezeichnung für Mortensnes.

4 Samisch: Großmutter, auch Urgroßmutter.

5 Vorchristlicher Begriff aus dem samischen Schamanismus. Ein Schutzgeist mit großer Kraft, der im Zug der Christianisierung dämonisiert wurde.

3.

Dienstag, 26. November 2019, Vardø – Finnmark

Sonnenaufgang: 10:13 Uhr

Sonnenuntergang: 11:19 Uhr

Tageslänge: 1 Stunde 6 Minuten

Der nächste Morgen unterschied sich in nichts vom vorangegangenen: Es war so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen gesehen hätte, wenn nicht ein paar dürftige Straßenlampen die Kreuzungen beleuchtet hätten. Vom Wasser her kroch Nebel an Land und zerstreute das Licht, als trügen die Laternen Heiligenscheine.

Als Ravna am Hafenbecken vorbeikam, erwischte sie der eisige Wind von der Seite. Er kam aus dem Nichts, fauchte über die Dächer und peitschte Schaumkronen auf die Wellen. Die wenigen Fischerboote, kaum zwei Dutzend, schaukelten. Es gab Leute, die sagten, man könnte alle Jahreszeiten und jedes Wetter an einem einzigen Tag in Vardø erleben. Dieser Morgen Ende November hatte wenig Fantasie. Er blieb einfach ein Morgen Ende November.

Sie kam an dem kleinen Hotel vorbei, in dem die Touristen abstiegen, die kaum länger als eine Nacht blieben. Das Licht aus dem Frühstücksraum fiel aufs Trottoir, es duftete nach Kaffee. Die Eingangshalle sah gemütlich aus, viel Holz, ein großes Panoramafenster zum Hafen, Prospekte und ein paar Andenken an der Rezeption. Hier gab es warme Betten und Waffeln und Pfannkuchen zum Frühstück, Blaubeermarmelade und fette, gelbe Butter. Eines Tages, das schwor sie sich, würde sie eine Nacht hier verbringen. Touristin in der eigenen Stadt. Ob man diesen Flecken Erde dann mit ganz anderen Augen sah?

Ein Mann war aus dem Hotel auf die Straße getreten und rannte fast in sie hinein. Er war groß und hager und in Eile.

»Hei!«, rief sie.

Schon war er weitergegangen, aber für einen kurzen Moment hatte sie sein Gesicht gesehen: bleich, mit scharfen Zügen und glühenden Augen. Sie fröstelte. Es war wie damals, als Inga den Gand gerufen hatte. Seit wann war sie so schreckhaft?

Er ging mit weit ausholenden Schritten davon. Noch nicht einmal seinen langen schwarzen Mantel hatte er zugeknöpft. Eine hohe, düstere Gestalt, die schon nach wenigen Metern vom Nebel verschluckt wurde. Seltsam, dass er in Richtung Strandgata verschwunden war. Dort gab es nichts, zumindest nicht um diese Uhrzeit und in dieser Dunkelheit. Irgendwann im Lauf des Tages würde die Meieriet aufmachen, ein kleines Gasthaus mit Café, und der vietnamesische Imbiss, der den armen Campern das Leben rettete, die sich an die Nordspitze des Flügels verirrt hatten. Sogar im Hochsommer war es ein windiger, kalter Platz. Aber die Sonnenuntergänge … Es gab nichts, nichts auf der Welt!, was sich damit vergleichen ließ.

Vielleicht ist er der Fliegende Holländer und verpasst gerade die Abfahrt seines Geisterschiffs, dachte sie und vergrub sich noch tiefer in ihren Parka. Nach einem strammen Marsch erreichte sie die politistasjon. Ihr neuer Arbeitsplatz.

Irgendjemand mit einem seltsamen Sinn für Humor musste sich vor Jahren gedacht haben: Streichen wir die Wache einfach mal knallorange. Vielleicht hatte es die Farbe auch im Sonderangebot gegeben. Oder sie war das Resultat einer verlorenen Wette. Oder jemand hatte sich auf dem Bestellformular in der Zeile vertan. Keiner wusste warum, aber das Gebäude wirkte in der düsteren Straße wie ein verirrtes Knallbonbon. Dazu kam, dass es nach vorne hin abgerundete Balkone hatte, was den Eindruck noch verstärkte. Ein seltsames Haus inmitten des Hafenviertels. Direkt gegenüber, in einer Brache zwischen zwei Schuppen, lag ein alter Kran umgekippt im Wasser. Als Kinder waren sie darauf herumgeklettert. Heute standen überall Verbotsschilder. Aber weggeräumt wurde das Ding nicht.

Es war kurz nach acht Uhr morgens. In der Wache im Erdgeschoss brannte Licht. Die Station war ein kleines Haus mit zwei Stockwerken und sechs Räumen. Zog man die Umkleide, den Eingang und den Pausenraum im Erdgeschoss ab, blieben drei. In denen hatten sich Jonas, Filip und Mikkel breitgemacht. Ravna, die am Tag zuvor kaum Zeit gehabt hatte, ihren Anorak auszuziehen, betrat die Wache und blieb deshalb erst einmal ratlos vor dem Tresen stehen. Dahinter saß Hanno, der Wachhabende. Auf den ersten Blick wirkte er gemütlich, der liebe, etwas übergewichtige Dorf-Cop.

»Hei, Hanno.«

»Hei. Kannst mir gleich einen Kaffee bringen.«

Auf den zweiten war er ein Arsch.

»Sind die anderen schon da?«

Hanno hob den Blick von seinem Smartphone, auf dem er wahrscheinlich unter Fakeprofilen tinderte, und fragte: »Welche anderen?«

»Filip? Jonas? Mikkel?«

»Schau doch selber nach.«

»Okay. Danke.«

Sie wollte die Klapptür des Tresens hochheben, aber Hannos fette Hand patschte darauf. »Auch für dich gilt der Personaleingang. Um die Ecke. Und lass dir endlich einen Dienstausweis geben oder irgendwas, damit ich dich nicht jeden Morgen rausschmeißen muss.«

»Schon klar.«

Sie war fast wieder auf der Straße, als Hanno einen Pfiff ausstieß. Ravna holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und drehte sich dann zu ihm um.

»Oben ist einer aus Kirkenes«, sagte er.

»Kirkenes?«, fragte sie und kam zu ihm zurück.

»Ein Inspektor. Politibetjent 3.«6 Er sah Ravna zum ersten Mal mit Interesse an. Vielleicht schaute er ihr auch nur auf den Busen, denn sein Blick wanderte unentschlossen rauf und runter. »Weißt du was darüber?«

»Schon möglich.«

Er wartete. Sie hob die Klappe und schlüpfte auf die andere Seite. Keine Lust, raus auf die Straße zu laufen, ums ganze Haus, hinten in den matschigen Hof, wo die beiden Dienstwagen standen, dann erst ins eiskalte Treppenhaus, wenn das vorne herum so viel einfacher war.

»Und was?«

»Frag Filip. Ich bin nur Praktikant.« Sie ließ die Klappe fallen. Es klang wie ein Schuss.

Hanno fuhr zusammen. »Hast du sie noch alle?«

Aber da war Ravna schon im Treppenhaus. Sie lief die Stufen hoch und riss die erste Tür auf – Mikkels Reich. Er war nicht da, aber es roch nach ihm, irgendwie fischig, und es sah auch nach ihm aus: unordentlich und trotzdem kahl.

Die nächste Tür – Jonas. Auch hier war es leer, aber er musste schon da gewesen sein, denn sein Computermonitor leuchtete, und daneben auf dem Schreibtisch stand ein Kaffeebecher. Er war halb voll und lauwarm.

Dann also Filip.

Vor seiner Tür strich sie sich die nassen Haare aus der Stirn und streifte den Anorak ab. Darunter trug sie einen dicken Pullover zu Thermohosen. Wenn es heute noch mal raus in die Kälte ging, wollte sie vorbereitet sein. Aber drei Minuten im Haus, und sie hatte das Gefühl, in ihren Klamotten zu ersticken.

Hinter der Tür ging es hoch her. Sie hörte Jonas’ fiepsenden Protest und Filips Brummen. Der Neue aus Kirkenes musste etwas gesagt haben, das den beiden gehörig gegen den Strich ging. Sie klopfte. Augenblicklich war es still.

»Ja?« Das war Filip.

Ravna öffnete die Tür und trat ein. An Filips Schreibtisch saß, nein, dahinter stand – der Gand. Sie fuhr zusammen und musste ihn so erschrocken angesehen haben, dass er stirnrunzelnd um den Tisch herum und auf sie zukam.

Er war immer noch groß und hager. Und nicht mehr jung. Mindestens vierzig. Obwohl er sich bewegte, als ob er jünger wäre. Er hatte ein altes Gesicht, eines, dem man die Jahre nicht mehr ansehen konnte, aber darin war Ravna noch nie gut gewesen.

»Guten Morgen«, sagte sie und freute sich, dass ihre Stimme ihr Herzklopfen nicht verriet.

Der Gand streckte ihr die Hand entgegen. Sie war eiskalt, hart und kräftig. »Lensmann Rune Thor, Finnmark politidistrikt, Kirkenes.«

»Ravna Persen, Praktikant.«

Er ließ sie los. Sie sah zu Jonas und Filip, aber die beiden sahen nicht aus, als hätten sie Lust, die Situation zu klären.

Der politiinspektør kehrte zum Schreibtisch zurück und klopfte ungeduldig an die Oberkante eines aufgeklappten Laptops. »Warum gibt es noch keinen Untersuchungsbericht?«

Jonas holte tief Luft, Filip räusperte sich. Weil ihr gestern Feierabend gemacht habt, sagte Ravna zu sich selbst. Statt sofort aufzuschreiben, was ihr da draußen in Mortensnes vorgefunden habt.

»Warum erfahre ich von einer Ärztin aus Vadsø, dass in ihre Provinzklitsche ein toter Same gebracht wurde?«

»Ähm«, begann Jonas. »Das macht Mikkel.«

Der entweder da draußen erfroren war oder noch im Bett lag.

»Er ist neu, wahrscheinlich wusste er das nicht. Ich werde es ihm sofort sagen, wenn er kommt.«

Sein Gegenüber war mit dieser Aussage nicht zufrieden. Eben hätte Ravna sich am liebsten noch den Pullover vom Leib gerissen, jetzt fröstelte sie fast. Es war, als ob in seiner Gegenwart die Heizung ihren Geist aufgegeben hätte.

»Die Leiche wurde gestern um vierzehn Uhr fünfundfünfzig ins Kreiskrankenhaus eingeliefert.« Sogar seine Stimme klang wie Eis. Klirrendes, knirschendes Eis. »Wer hat das angeordnet?«

»Ähm«, begann Jonas wieder und sah Hilfe suchend zu Filip. »Das war der Arzt. Eine Eva … Eva …«

»Eva Hovland vom Vadsø helsesente«, sagte Ravna. »Sie war auch am Tatort.«

»Am Tatort. Interessant.« Sein Blick traf sie wie ein Blitz aus Eis. »Das weißt du also schon, dass er dort ermordet wurde? Warst du dabei oder woher kommt diese erstaunliche Erkenntnis?«

Ravna schwieg. Jedes weitere Wort von ihr wäre eine Steilvorlage für seine ätzende Ironie. Filip und Jonas sahen betreten zu Boden.

»Eine Knochenbrecherin aus Vadsø und ein Praktikant treffen hier also die Entscheidungen.«

Der politiinspektør setzte sich hinter Filips Schreibtisch. Es war ein bisschen so wie früher, wenn drei Missetäter zum Schuldirektor gerufen wurden und stehen bleiben mussten.

»Die Obduktion beginnt in zwanzig Minuten. Wer von euch hatte denn vor, dabei zu sein?« Er erwartete keine Antwort. Er beugte sich vor und las etwas vom Bildschirm ab. »Tatort Mortensnes. Ich bin daran vorbeigefahren. Ihr hattet ja die Güte, wenigstens das Gelände abzusperren. Aber ich habe weit und breit keinen Beamten gesehen, der dort Wache hält, bis die Spurensicherung das Areal freigibt.«

»Ähm … Das sollte Mikkel machen.«

»Mikkel.«

Der Inspektor lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen aneinander und drehte sich ein wenig hin und her. Ravna konnte ihn nicht ausstehen. Filip und Jonas mochten nicht die größten Leuchten sein, aber im Gegensatz zu Mikkel hatten sie Ravna bisher in Ruhe gelassen.

»Wo ist denn dieser Wunderknabe? Hätte jemand von euch die Güte, ihn vielleicht anzurufen und ihn zu bitten, sich zu teilen? Denn zum einen soll er ja den Bericht schreiben und zum zweiten rund um die Uhr den Tatort bewachen, während ihr, zum dritten, hier im Warmen sitzt und euren Arsch nicht hochkriegt.«

Jonas stürzte zur Tür. »Ich ruf ihn an und fahr gleich raus.«

Weg war er.

Der Neue sah zu Filip.

»Ich … ähm … übernehme die Obduktion?«

»Hatte Trygg Familie?«

»Er ist noch nicht zweifelsfrei identifiziert.«

»Eben hieß es noch, dass eine …« DerInspektor sah wieder auf seinen Monitor, »eine Person namens Ravna Persen ihn angeblich erkannt hat. Angeblich ist nicht zweifelsfrei. Wer ist das?«

»Ich«, sagte Ravna. »Ich hatte mich gerade vorgestellt. Du erinnerst dich?«

Ihr neuer Boss runzelte die Stirn. »Ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis. Deshalb arbeite ich normalerweise auch nicht mit diesen Dingern.« Er klappte den Laptop zu. »Ich mache mir Notizen. Ravna Persen. Sámi?«

»Ja.«

»Genau wie Trygg. Ihr kanntet euch?«

»Ja.«

»Woher weißt du, dass er der Tote ist?«

»Er trägt einen auffälligen Ring an der rechten Hand. Außerdem passen Statur und Größe.«

»Sein Wagen wurde heute Morgen einen halben Kilometer weiter Richtung Vadsø in einer Parkbucht gefunden. Das scheint deine Annahme zu bestätigen. Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Vor sechs Wochen. Beim Auftrieb zu den Winterweiden.«

»Hat er Familie?«

»Eine Frau, Karen. Seine zweite, er war Witwer. Und er hat einen Sohn. Jonne.«

»Feinde?«

Ravna schwieg.

»Hatte Olle Trygg Feinde?«

»Er war kein angenehmer Mensch, wenn du das meinst.«

»Klare Frage, klare Antwort. Hatte Trygg Feinde?«

»Zumindest keine Freunde.«

Rune Thor schnippte mit den Fingern. Filip, dessen Kopf sich immer von einem zum anderen gewandt hatte, fokussierte sich wieder auf den Mann, der nicht nur seinen Schreibtisch, sondern offenbar auch die ganze Station im Handstreich genommen hatte.

»Du fährst zur Familie. Frag die Frau und den Sohn nach ihrem Alibi. Stell mir alles zusammen, was du über Olle Trygg finden kannst. Ich will die Frau auch in Vadsø haben. Sie soll ihren Mann identifizieren. Ravna?«

»Ja?«

»Du fährst mit mir zur Pathologie.«

Er stand auf, griff nach seinem Mantel, den er über die Stuhllehne geworfen hatte, und verließ das Zimmer.

Ravna und Filip sahen sich an.

»Ähm …«

»Tut mir leid, Filip.«

Und schon war sie draußen im Flur.

6 Polizeihauptkommissar.

4.

Thor stieg in einen schwarzen Mercedes. Ravna konnte sich gerade noch anschnallen, bevor er auf die Strandgata hinauspreschte und – sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel – hoffentlich kein verirrter Wintercamper seinen Weg kreuzen würde. Die Straße war bis zur Kreuzung leer. Aber auf dem Weg zum Tunnel überholte er einen Seat und tauchte bei Dunkelgelb in die schwarze, drei Kilometer lange Röhre ein, die unter das Meer führte.

»Also, Ravna. Wir sind unter uns.«

Tempo achtzig, erlaubt waren fünfzig. Sie tastete nach dem Haltegriff.

»Ich bin hier, weil die Regierung seit einigen Jahren gesteigerten Wert darauf legt, alle ihre Schäfchen gleich zu behandeln. Was im Klartext heißt: Ist ein Same in ein Verbrechen verwickelt, wird Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Damit es hinterher nicht von euch heißt, wir hätten nicht alles versucht. Deshalb, und hör mir gut zu, wirst du mir jetzt sagen, was du weißt. Sonst schmeiße ich dich am Dolmen raus und du kannst den Weg zurück zu Fuß gehen. Wohin, ist mir egal. Aber keinen Schritt mehr in die Station. Ist das klar?«

Ravna starrte auf den Mittelstreifen und die vorbeifliegenden Leitplanken. War er auf Koks? Hatte er nächtelang nicht geschlafen? War er nicht mehr ganz richtig im Kopf?

»Ravna?«

Sie drehte ihren Kopf zu ihm. »Runter vom Gas. Sonst setzen wir beide unseren Fuß überhaupt nirgendwohin.«

Er lachte und drückte das Pedal durch.

»Runter!«

Die Tachonadel stieg auf hundert. Er ließ das Fenster herunterfahren. Ein Schwall eiskalter Luft brauste ins Fahrzeuginnere, es war wie ein Orkan an der Nordspitze. Endlich hatte er die Kennleuchte aufs Dach gestellt. Jetzt zuckten auch noch blaue Blitze über die Tunnelwände.

Ravna schrie: »Hör auf!«

Er ließ das Fenster hochfahren und ging etwas runter vom Gas.

»Sag mir, was du weißt.«

»Das habe ich!«

»Okay. Ich hab’s mir anders überlegt.« Er legte eine Vollbremsung hin, bei der Ravna trotz des Sicherheitsgurtes fast durch die Windschutzscheibe flog. Mit quietschenden Reifen hielt er in einer Nothaltebucht.

»Raus.«

»Was?«

»Ich habe Mitleid mit Praktikanten. Du musst nicht den ganzen Weg vom Dolmen zurücklaufen. Du kannst hier schon gehen.«

Ravna sah sich hektisch um. Sie waren auf halbem Weg zwischen der Vardø-Insel und dem Festland. »Du bist verrückt.«

»Nein.« Er beugte sich zu ihr, und seine Augen verengten sich. »Ich habe nur was dagegen, an der Nase herumgeführt zu werden. Du musst dich entscheiden. Für uns oder für sie.«

Halleluja! Und das am zweiten Tag.

»Das ist meine Sache«, sagte sie.

Thor drückte auf einen Knopf, und die Zentralverriegelung öffnete sich. »Da ist die Tür.«

»Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass es mehr gibt als entweder oder?«

»Nein. Das ganze Leben, jeden Tag, jede Minute treffen wir Entscheidungen. Nirgendwo sind sie so lebenswichtig wie bei der Polizei. Wenn ich mit jemandem zusammenarbeite, muss ich mich hundertprozentig auf ihn verlassen können. Ich will, dass ich sein Nächster bin. Nicht die Familie. Nicht die Freunde. Ich. Wenn morgen jemand die Waffe auf dich richtet, willst du keinen Partner, der erst mal Loyalitätskonflikte wälzt.«

Ravna schluckte. »Es sind meine Leute.«

»Das macht sie nicht zu besseren Menschen. Wir suchen einen Mörder. Es ist mir scheißegal, ob er Same, Norweger, Russe oder Südchinese ist. Für mich ist er ein Killer, der hinter Gitter gehört.«

Ravna nickte. Sie hatte verstanden. Mitten im Tunnel, meilenweit von der Außenwelt entfernt. Thor hatte ihr die eine Frage gestellt, und sie wusste, dass es darauf nur eine Antwort gab.

Oder laufen.

Mindestens eine halbe Stunde, in beide Richtungen. Sie holte tief Luft.

»Olle Trygg gehören riesige Rentierherden. Vor langer Zeit hat seine Familie auch das Land bekommen, auf dem sie weiden. Wir, der klägliche Rest, sind seine Pächter. Er nimmt von den Ärmsten, presst sie aus. Verdammt! Er ist ein Schwein.«

»Deine Leute.«

»Ja!«

»Er blutet sie aus.«

»Ja.«

»Na also. Da haben wir ja etwas, wo wir ansetzen können.«

Er startete den Wagen. Noch war der Tunnel leer, aber es konnte jeden Augenblick ein Wagen auf der Gegenfahrbahn kommen. Thor gab Gas, aber er blieb bei unter siebzig.

»Danke. Du hättest auch den Mund halten können.«

»Ich will zur Polizei.«

»Warum?«

Interessierte ihn das wirklich?

»Es gibt keine Jobs für uns.« Sie betonte das letzte Wort, weil er es ja so genau nahm mit den Unterscheidungen. »Nur beim Staat. Wenn man Glück hat. Die Ausnahme ist. Die Schule nicht abbricht, einen Abschluss schafft. Für die Uni reicht es nicht. Aber für die Polizeischule.«

Er nickte, gnädig und herablassend. Sie war wütend auf ihn, weiß glühend, brennend wütend.

»Und diese Chance«, fuhr sie fort, ruhig und kühl, um ihm keine weitere Angriffsfläche zu bieten, »diese einzige Chance im Leben, die ich habe, lasse ich mir nicht von dir kaputt machen.«

Er grinste, der Gand. Und streckte ihr die rechte Hand entgegen. »Partner?«

Ihr Herz galoppierte. Sie, die Praktikantin, und er, der Freak aus Kirkenes … Partner?

»Nicht überlegen. Entscheiden, Ravna.«

Sie griff zu. »Partner. – Gegenverkehr.«

Er zog hastig die Hand zurück und riss das Lenkrad herum, damit sie nicht mitten in einem unschuldigen, entgegenkommenden, empört hupenden Volvo landeten.

5.

Vadsø heißt, aus dem Urnordischen übersetzt, Insel mit Trinkwasser. Damit war die Stadt nach Ravnas Meinung auch ausreichend beschrieben. Ein paar bunte Häuser am Ufer, ein vorgelagertes Stück Land, die übliche Kreuzung mit Tankstelle, Hotel und Supermarkt, dahinter schnell hochgezogene Blocks und Wohnsiedlungen. Schmucklos und grau, aber mit einem atemberaubenden Blick auf den Fjord. An guten Tagen konnte man Bugoynes auf der anderen Seite sehen.

An Tagen wie diesem legte sich eine Nebelwand vor die andere. Erst gegen elf würde es für eine knappe Stunde hell werden. Bis dahin klebte eine zähe Dämmerung an der Nacht und wollte sich einfach nicht lösen.

Bei Rune Thors Fahrstil schafften sie die Strecke trotzdem unter einer Stunde. Um zum Krankenhaus zu gelangen, mussten sie rechts abbiegen und etwas bergauf fahren. Das trübe Licht der Straßenlaternen leitete sie zu einem L-förmigen, unspektakulären Gebäude mit je einer Einfahrt für Besucher und einer für die Ambulanzen. Thor nahm natürlich die für die Krankenwagen, hatte aber immerhin noch den Durchblick, sich nicht direkt vor das große Rollgatter zu stellen. Trotzdem blieb der schwarze Mercedes nicht unbemerkt. Ein Sanitäter kam heraus, um ihn davonzujagen, aber da war der politiinspektør schon ausgestiegen, seinen Dienstausweis in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand, und Ravna musste sich mit dem Aussteigen beeilen, um nicht eingeschlossen zu werden.

»Thor, C.I.N.«

Oha! Criminal Investigation Norway, der Herr sah wohl zu viel Netflix. Sie konnte sich gerade noch ein Grinsen verkneifen.

»Ich will zu Eva Hovland, Pathologie.«

»Und die da?«, fragte der Mann, halb misstrauisch, halb beeindruckt von Thors Auftreten.

»Die da kommt mit.«

Thor drehte sich noch nicht mal nach ihr um. Er musste Sieben-Meilen-Stiefel tragen, denn so sehr Ravna sich auch beeilte, sie konnte kaum Schritt halten mit dem Tempo, in dem er die Tiefgarage durchquerte, dann die Notaufnahme und schließlich den großen, breiten Flur. Die Patologi lag direkt neben der Kapelle, und schon hatte Thor die Stahltür mit einem Drücker geöffnet und segelte mit fliegendem schwarzem Mantel direkt hinein in einen gekachelten Raum. Ein Obduktionshelfer, der gerade das OP-Besteck in eine Schublade pfefferte, sah überrascht hoch.

»Eva Hovland?«, bellte es ihm entgegen.

Ein Blick auf den Ausweis. »Da drinnen, bei der Arbeit. Aber so könnt ihr nicht zu ihr.«

Es ging alles so schnell, dass Ravna nicht hätte sagen können, ob sie eine oder zehn Minuten gebraucht hatte, um in die Schutzkleidung zu schlüpfen. Eher eine, denn sie kam gar nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, was sie hinter der zweiten Tür erwartete.

Zunächst war es Eva, die ihnen mit einem Lächeln öffnete. Sie trug denselben Overall wie ihr Assistent, eine Schürze, Handschuhe, Haarnetz und einen Mundschutz, den sie nach unten gezogen hatte. An allem befand sich ziemlich viel Blut.

»Ravna! Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen. Entschuldige, dass ich dir nicht die Hand gebe. Ich bin noch nicht fertig.«

Sie wandte sich an Thor.

Der sagte: »Thor, Rune Thor. Ich bin der leitende Ermittler.«

Evas Lächeln erstarb. Sie starrte ihn an. Etwas stimmte nicht. Kannten sich die beiden?

»Rune Thor?«, fragte Eva, bevor die plötzliche Stille unangenehm wurde. »Aus … Kirkenes?«

»Ja. Können wir anfangen?«

»Ja. Ja, natürlich. Kommt bitte. Ravna, warst du einmal bei einer Obduktion dabei?«

»Nein.«

»Aber du weißt, was wir hier tun?«

»Ja.«

Olle Trygg lag nackt auf einem stählernen Tisch. Ravna schaute sofort weg. Ihr war flau im Magen. Thor trat zu der Leiche. Eva setzte sich den Mundschutz wieder auf und griff nach einem Gerät, das wie eine handliche Kreissäge aussah. Sie schaltete es ein, und der Ton fräste sich in Ravnas Hirn.

Eva schaltete das Ding wieder aus. »Ravna, hol uns bitte einen Kaffee. Für dich auch?«

Der Inspektorbrummte etwas, das sowohl Ja als auch Nein heißen konnte. Er ging um die Leiche herum, beugte sich mal hier, mal da herab und betrachtete schließlich eingehend das, was von Tryggs Gesicht übrig geblieben war. Ravna versuchte immer noch, nicht hinzusehen.

»Also zwei. Die Kanne steht im Vorraum. Lass dir ruhig Zeit.«

Im Vorraum gab es außer Kaffee auch eine Bank. Ravna schenkte Kaffee in die Becher ein und setzte sich. Ihre Knie zitterten. Das Geräusch der Säge kroch durch die geschlossene Tür, kreischte an den Wänden entlang und schrillte in ihren Ohren. Sie atmete tief durch. Gestern ein Mord, heute eine Obduktion. Was wohl morgen kommen würde?

Als die Säge verklungen und eine gute halbe Stunde vergangen war, kam Eva zu ihr heraus.

»Alles in Ordnung?«

Ravna nickte.

Eva setzte sich neben sie. »Das erste Mal ist immer ein Schock.«

»Und dann?«

Eva nahm einen Becher, in dem der Kaffee mittlerweile kalt geworden war. »Es wird besser. Also, nicht besser, aber anders. So, dass man damit umgehen kann.«

»Er ist noch drinnen?«

»Thor? Ja.«

Sie schwiegen. Schließlich fragte Ravna: »Was ist mit ihm?«

Eva sah sie fragend an.

»Also … Ich meine, vorhin, als er seinen Namen sagte. Da dachte ich einen Moment …« Ravna brach ab.

»Du dachtest was?«

»Ich dachte, du wüsstest etwas über ihn. Dass du ihn kennst, von irgendwoher.«

Eva schaute hinunter auf ihre Tasse, die sie langsam in den Händen drehte. Schließlich holte sie tief Luft. »Nein. Nur dem Namen nach. Ich wusste nicht, dass er wieder im Einsatz ist. Und dann auch noch in der Fylke Finnmark.«

»Ist etwas passiert?«

Eva warf ihr einen schnellen Blick zu. Einen von der Sorte, bei dem man überlegt, ob man sein Gegenüber ins Vertrauen ziehen konnte. »Sagt dir der Name Utøya etwas?«

»Utøya?«

Ravna vereiste innerlich. Es gab niemanden in ganz Norwegen, der diesen Namen nicht kannte. Eine kleine Insel im Tyrifjord. Neunundsechzig Tote. Fast alle so alt wie Ravna oder jünger, viel jünger. Niedergemetzelt von einem Massenmörder, der hoffentlich in der tiefsten Ecke der Hölle verrotten würde.

»Natürlich«, flüsterte sie und warf einen scheuen Blick auf die Tür, hinter der Rune Thor mit einem Toten allein war.

»Er hat dort seine Frau und seine Tochter verloren.«

»Nein.« Das Wort kam wie ein Hauch von Ravnas Lippen. Die unfassbare Tragödie hatte das ganze Land erschüttert. Und nun tauchte dieser Mann auf, der aussah wie von den Toten auferstanden, und trug eine solche Wunde in sich.

»Ich weiß es, weil das natürlich durch die Presse ging und natürlich, weil ich des Öfteren mit deinen Kollegen zu tun habe. Rune Thor war einer der besten Ermittler, die sie in Oslo hatten. Dann passierte die Katastrophe, und es war lange nicht klar, ob er je wieder in den Dienst zurückkehren würde. Aber er kam, vor einem halben Jahr. Seitdem werden sie fast wahnsinnig in Kirkenes, denn dahin hat man ihn versetzt. Er treibt sie alle zur Weißglut. Aber rausschmeißen können sie ihn natürlich auch nicht. Eigentlich sollte er hier in der Finnmark zur Ruhe kommen.«

»Ravna?«, brüllte es durch die geschlossene Tür. »Eva?«

Sie wurde aufgestoßen. Rune sah sie an, als hätte er sie beim Pokern erwischt. »Wie lange dauert eure Kaffeepause noch?«

Zack, war er wieder weg.

»Zur Ruhe kommen«, wiederholte Ravna vielsagend.

Eva stand auf. »Er hat recht. Jede Minute, die verstreicht, gibt dem Täter mehr Zeit, unterzutauchen.«

Als sie zurückkehrten, widmete sich Thor der Kleidung, die Trygg bei seinem Tod getragen hatte. Sie lag, in Asservatenbeutel verpackt, auf einem Regal an der Wand. Während Eva sich wieder an die Arbeit machte und dabei zumindest keine Kreissäge mehr benutzte, stellte Ravna sich mit dem Rücken zu Trygg und neben ihren Chef. Thor inspizierte gerade den pelzgefütterten Anorak mit den getrockneten Blutflecken. Ravna nahm einen Beutel nach dem anderen in die Hand, bis sie beim kleinsten angekommen war. Birkenrinde.

»Die hatte er im Schuh.«

Er nahm ihr den Beutel ab.

»Bei uns wachsen keine Birken«, sagte sie. »Die kommen erst weiter südlich vor.«

Er schnappte sich eine Wanne. »Arbeit für die Spurensicherung. Die sollen herausfinden, woher die Rinde stammt. Könnte uns einen Aufschluss geben, wo er sich in letzter Zeit aufgehalten hat.«

Ravna wusste, dass sie seit der Ansage im Auto auf ganz dünnem Eis lief. Sollte sie ihm sagen, was sie vermutete?

Da fragte er: »Im Schuh?«

Verdammt. Als ob er über einen sechsten Sinn verfügen würde. Oder einfach nur verflucht gut zuhörte.

»Ja«, sagte sie. »Oben reingesteckt.«