Versunkene Gräber - Elisabeth Herrmann - E-Book

Versunkene Gräber E-Book

Elisabeth Herrmann

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Beschreibung

Verschollene Briefe, eine alte Familiengruft und ein grausamer Mord –
Anwalt Vernau kommt einem düsteren Geheimnis auf die Spur


Einige Jahre sind vergangen, seit Anwalt Joachim Vernau den Drahtziehern eines Mordkomplotts das Handwerk gelegt hat. Auch die gemeinsame Kanzlei mit seiner Ex-Partnerin Marie-Luise ist längst Geschichte. Bis ihn ein Hilferuf aus Polen erreicht: Jazek, der gemeinsame Freund aus längst vergangenen Tagen und durchzechten Nächten, sitzt mit einer Mordanklage im Gefängnis und beteuert seine Unschuld. Vernau ist entschlossen, Jazek zu helfen, und reist nach Polen. Versunkene Gräber auf einem alten Friedhof sind die erste Spur. Verlorene Briefe und vergessenes Leid ziehen Vernau immer weiter hinein in den Strudel der Ereignisse des Jahres 1945. Flucht und Vertreibung, Ende und Neuanfang – damals kreuzten sich die Schicksale von Tätern und Opfern, und Entsetzliches geschah. Doch erst Generationen später steigt das Grauen noch einmal aus dem Grab, und wer sich ihm entgegenstellt, muss sterben.

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Buch

Einige Jahre sind vergangen, seit Anwalt Joachim Vernau den Drahtziehern eines Mordkomplotts das Handwerk gelegt hat. Auch die gemeinsame Kanzlei mit seiner Expartnerin Marie-Luise ist längst Geschichte. Bis ihn ein Hilferuf aus Polen erreicht: Jacek, der gemeinsame Freund aus längst vergangenen Tagen und durchzechten Nächten, sitzt mit einer Mordanklage im Gefängnis und beteuert seine Unschuld. Vernau ist entschlossen, Jacek zu helfen, und reist nach Polen. Versunkene Gräber auf einem alten Friedhof sind die erste Spur. Verlorene Briefe und vergessenes Leid ziehen Vernau immer weiter hinein in den Strudel der Ereignisse des Jahres 1945. Flucht und Vertreibung, Ende und Neuanfang – damals kreuzten sich die Schicksale von Tätern und Opfern, und Entsetzliches geschah. Doch erst Generationen später steigt das Grauen noch einmal aus dem Grab, und wer sich ihm entgegenstellt, muss sterben.

Weitere Informationen zu Elisabeth Herrmann

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Elisabeth

Herrmann

Versunkene

Gräber

Roman

Originalausgabe

1. Auflage

Taschenbuchausgabe Januar 2014

Copyright © der Originalausgabe 2014

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Paul Knight/Trevillion Images; FinePic®, München

Redaktion: Angela Troni

CN · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-11896-9

www.goldmann-verlag.de

Für Shirin

Mondnacht

Es war, als hätt’ der Himmel

Die Erde still geküsst,

Dass sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müsst’.

Die Luft ging durch die Felder,

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis die Wälder,

So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus.

Joseph Freiherr von Eichendorff

Johannishagen im März 1945

Rosa, lieb Röschen mein,

ich lebe. Ich lebe! Du sollst es wissen, gleich im ersten Wort, ich lebe. Und der Tag wird kommen, an dem wir wieder vereint sind. Du, lieb Röschen lieb, die Kinder und ich. Ich bete beim Herrgott, dass er bald kommen wird, Tag und Nacht, zu jeder Stunde, doch unsere Herzen müssen geduldig sein. Dann kann ich die Tränen von deinen süßen Lippen küssen und dich im Arm wiegen. Nie mehr soll das Schicksal uns so grausam trennen. Nie mehr will ich euch verlassen, euch, mein Leben, mein Lieb, meine Ehr.

Hatte ich doch schon die Hoffnung verloren, jemals wieder Heimaterde unter den Stiefeln zu spüren. Wochen war ich unterwegs, aneinandergereiht zu Ewigkeiten. Bin verwundet, mein Lieb, dennoch kann ich nicht ins Lazarett. Es gibt keins mehr, das mich nähme … Ich kann dir nicht schreiben, was geschehen ist, denn mein Geist sträubt sich, es zu fassen, meine Feder, es zu beschreiben.

Rosa, lieb Rosa, ich war schon tot. Ertränkt im eigenen Blut und dem der Kameraden. Sie kamen wie eine rote Flut, bei Nacht, als die Kälte am schlimmsten war, erbittertste Gegenwehr, tapferstes Aufbäumen – vergebens. Mein Tolbrukstand war eine Falle. Die russischen Panzer preschten voran. Kaum, dass ich mich erheben konnte, waren sie über mich hinweg. Zwei Tage lag ich mehr tot als lebend im Stand. Erst als ich die rauchenden Trümmer verließ, die einmal unsere stolze Stellung gewesen waren, offenbarte sich mir das ganze Ausmaß des Gemetzels. Rauchende Krater, grotesk verbogenes Eisen, die Kameraden weiter flussab – alle tot. Fraß der Krähen, wenn nicht Eis und Schnee sich gnädiger zeigten als das Schicksal. Selbst ich nur ein bleicher, wankender Schatten. Mit zerfetzter Uniform schlich ich ins nächste Dorf. Geisterleer empfing es mich, zerstört, verbrannt. Was mit den Bewohnern geschehen war, erspare ich dir. Die Lichtung am Waldrand war ihre Richtstatt. Einem zog ich die Kleider aus. Ich schäme mich zu sagen, dass ich meine Uniform vergrub. Ich schäme mich der Feigheit, kein deutscher Soldat sein zu wollen, der neben seinen Kameraden nun im Winde schaukelt, von den Russen aufgeknüpft. Oder erschossen. Von Panzern zermalmt, von Splittern durchsiebt. Dann wäre ich doch ein Held, nicht wahr?

Weißt du noch, wie du weintest und stammeltest: Ich will keinen Helden! Da riefen sie die Kinder und die Alten zum Sturm – ein Husten ist daraus geworden, mein Lieb, ein Husten, das im Donner der Geschütze nicht mehr zu hören war. Ich schäme mich, nicht tot sein zu wollen, es ist ein großes Verbrechen in diesen Tagen, am Leben zu hängen – aber ich will dich wiedersehen. Dich und die Kinder. So streifte ich die Kleider eines Toten über und lief los, wie all die anderen Verbrecher, die auch nicht tot sein wollten. Die nächste Kreuzung Richtung Ostbahn war belebter. Ein Greis schob den Karren durch den Schlamm, sein Weib und seine Kinder zogen ihn. Ochs und Kuh erschossen, die Schweine trieben tot im Fluss … nicht nur die Schweine, mein Lieb. Immer mehr Leute kamen dazu. Verlöschende, dem Wahnsinn nahe Gestalten waren darunter, Alte, Kranke, Kinder, Frauen …

Ich packte mit an, er stellte keine Fragen. So kam ich, die Netze entlang, unserer schönen Heimat näher. Doch was ist von ihr geblieben?

Später, mein Lieb, später. Nicht allen Wahn auf einmal. Ich bleibe bei dem, was wahr und richtig ist: Vor drei Tagen bin ich angekommen in unserem Haus.

Ach, unser Haus, lieb Rosa! Wenn du es sehen könntest, das Herz würde dir brechen. Keine Scheibe mehr in den Fenstern, die Räume leer, verwüstet, geplündert. Die Tür zum Weinberg aufgebrochen und zersplittert, die Fässer leer, von den Flaschen nur noch Scherben. Ich weiß, der Schreck fährt dir in alle Glieder, wenn du dies liest. Doch warte ab, mein Lieb, warte ab.

Die Straßen und Gräben sind gesäumt von fliegenden Händlern, flinken jungen Burschen, die im Tumult des Durcheinanders feilbieten, was nach dem großen Sturm noch heil geblieben ist. Federbetten, Töpfe, Gläser mit blassen Sommerpfirsichen – eins zerbrach beim wütenden Feilschen. Ich hab einen gestohlen, gestohlen, Rosa!, rennen musste ich, mit letzten Kräften erreichte ich ein dunkles Kellerloch, das ich mit Ratten teilte. Den Pfirsich verschlang ich noch im Laufen. Bis jetzt glaube ich, seine Süße auf meinen Lippen zu schmecken. Süß wie ein Kuss von dir, süß wie Friedels Lächeln, wenn er an seinem Daumen lutscht im Schlaf, süß wie Ellis »Gute Nacht, Herzenspapa!« … Erinnerungen. Vorbei. Nachts verstecke ich mich vor der Miliz. Nur kurzer, wilder Schlaf mit düsteren Träumen. Dann glimmt das Feuer im Kamin. Dunkler roter Wein funkelt im Glas wie flüssiger Rubin. Du sitzt im Stuhl neben dem Feuer. Dein liebes Gesicht über die Nadeln gesenkt, nie ruhten deine Hände. Immer warst du fleißig, hast Haus und Hof geführt mit strengem und doch liebevollem Blick. Ich sehe zum Fenster hinaus auf unser Land, so weit das Auge schauen kann …

Der Himmel ist schwarz, der Atem rasselt in den Lungen. Das Land, es brennt. Schwarzer Rauch beißt in den Augen. Schüsse und Schreie, und wieder haben sie ein paar arme Seelen gefunden und aus den Kellern getrieben, gleich an die Wand gestellt oder zur Miliz gebracht für die Transporte …

Was weißt du, mein Lieb, von der Front? Sie ist weitergezogen, und was danach kam, ist grausiger und kälter als alle Vorstellung. Russen und Polen – sie konnten die Toten nicht alle bestatten, lieb Rosa. Bei manch guten Menschen bekam ich Unterschlupf, und wenn es nur ein Bett im Stroh und eine Decke waren, um nicht zu erfrieren. So kam ich nach Johannishagen, als der schlimmste Frost vorüber war. Ich will es nicht schreiben, doch du musst wissen, dass du zur rechten Zeit gegangen bist. Wilhelm fand ich im Brunnen, aufgedunsen und fliegenumschwirrt. Ich erkannte ihn an seinen Schuhen, die hat man ihm gelassen, warum, weiß der Himmel oder der Teufel. Seine Hedwig, die Wasserpolnische, Jaga hat er sie doch immer neckend genannt, wenn er ihr in die roten Wangen gekniffen hat? Jaga hat sich erhängt im Torhaus. Ich hatte noch nicht die Kraft, sie abzuschneiden. Die Kinder … beten wir, dass die Kinder einen guten Herrn, ein tapferes Herz, einen kräftigen Karren gefunden haben. Ich habe nicht nach ihnen gesucht. Sie hatten einen Säugling, nicht wahr? Er wird eine Brust gefunden haben, mein Lieb. Es ist nichts verloren. Wir sind ein starkes Volk, das den Sieg verdient. Zumindest nicht eine solche entsetzliche Niederlage. Du fragst, mein Lieb, was aus deinem Soldaten geworden ist? Deinem späten Helden, den sie, im zweiundfünfzigsten Jahr, noch gezogen haben? Er ist dem Ruf des Vaterlandes gefolgt bis hin zur Schleife, wo sie die alten Bunker wieder ausgehoben haben. Dort sollten wir den Russen aufhalten. Gott möge mir verzeihen: Es war, wie auf die Feuersbrunst zu spucken … Sie werden mich hängen, wenn dieser Brief in falsche Hände kommt.

So schwöre ich, vor dir, den Kindern, vor Gott dem Herrn: Sobald ich weiß, wem ich mich anschließen kann, ich würd es tun! Da ist nichts mehr als Auflösung und wilde Flucht. Dem Volksschutz vielleicht? Es gibt ihn nicht! Und niemand, der ihn anführt! Alle sind fort. Geflohen, verschleppt, erschossen, erhängt. Tumulte in den Straßen, polnische Miliz und Rote Armee überall! Die Sowjetflagge und der weiße Adler, gehisst am Rathaus von Grünberg, die Männer, Alte und Kinder in Lager gebracht, keiner weiß, wohin, verloren ist es … Herr, vergib mir, ich bin die Kugel nicht wert, doch ich muss es sagen … verloren ist alles … Ich würde mich jedem Haufen anschließen, der in der Flagge noch Ehre und Vaterland führt, vielleicht über die Oder gen Berlin, wo sich der Führer dem Feind so tapfer entgegenstellt.

Meine Hände zittern, lieb Rosa. Sie zittern wie Espenlaub. Siehst du die Tuscheflecken? Die verstrichenen Worte? Zwei Tage habe ich für diesen Brief gebraucht. Und selbst das ist eine Lüge. Nur in den Nächten wage ich mich aus meinem Versteck. In den Nächten schleiche ich mich hinüber ins Haus, durch die leeren, verwüsteten Räume. Keiner darf mich sehen, keiner hören, denn fremde Leute sind nun in Johannishagen und kommen immer wieder in die Siedlung, um zu holen, was zu holen ist, aber kurz vor Morgengrauen ist es still, und das ist meine Stunde. Die Kerzen aus dem Vorrat unter den Dielen, den du noch angelegt hast in deiner weisen Vorsicht. Wie hab ich dich geschimpft! Fast geschlagen hätte ich dich! Nun möchte ich dir die Hände küssen, jene Hände, die so viele Kerzen bündelten, die Schmalztöpfe vergruben, den Schinken ins Tuch wickelten. Ich mein es doch nicht so, hast du geflüstert. Es ist doch nur … wir wissen doch nicht – und ich fühlte mich verraten von dir. Das war die letzte Weihnacht, Weihnacht 1944. Da kam schon böse Kunde aus Lublin, und ein Flüstern machte die Runde … Ich wollte es nicht glauben, durfte es nicht glauben, hab dir verboten, darüber zu reden, dich fast geschlagen, mein Lieb, mein Lieb …

Friedels kleines Holzpferd hab ich gefunden, halb verbrannt, auch der Russe will sich wärmen. Magda sagt, die Russen sind nicht so schlimm, sie halten die Polen im Zaum.

Magda?, höre ich dich staunend fragen. Magda ist da? In all den tantalischen Qualen hält ausgerechnet die jüngste und kleinste der Dienstboten die Stellung? Mein Lieb, es ist so. Sie ist geblieben, als die anderen gingen. Vielleicht, um einmal durch das Haus zu wandern, hocherhobenen Hauptes, in Seide und Pelz gekleidet – ich gönne es ihr aus übervollem Herz. Wohl glaubte sie, es würde nicht so schlimm … und wahrhaftig scheint der Sturm an ihr als Einziger kein Haar zerzaust zu haben.

Sie ist anders geworden. Das liebe Mädchen, das immer scheu und fleißig seine Arbeit tat, es sagt, die Zeit der Herrenmenschen sei vorüber. Wohlan, so pflichtete ich ihr bei, das wird auch wahrlich Zeit, denn mein Lebtag war ich ein Weinbauer und hab den Rücken gekrümmt, dass alle, Herr und Knecht, die fleißig arbeiten, auch fleißig essen können. Und fleißig trinken, wollte ich scherzen. Da wurde sie rot und bat mich um Verzeihung für die harschen Worte. Doch wär ich Deutscher und hätte Land besessen, wär ich ein Herr gewesen, und die Herren hingen jetzt an den Bäumen … Sie weinte, das arme Ding. Da begriff ich, dass ich sie nie wiedersehen würde, schlimmer noch, dass ich meines Versteckes nicht sicher sein könnte. Ich gab ihr deine Nadel, die mit dem funkelnden Rubin. Ich sagte ihr, es gebe noch viel mehr davon, wenn sie auch weiterhin treu sein möge, und sie versprach es. Sie gab mir ihr Wort. Ich werde diesen Brief versiegeln, und das Siegel wird sie nicht erbrechen. Also kann sie nicht erfahren, dass das alles nicht von Dauer sein wird. Möge sie sich erfreuen an ihrem neuen Stand, er wird nicht lange währen. Man hört, die Ersten, die flohen, kehren schon wieder zurück. So wird es auch mit den anderen sein, und eines Tages, mein Lieb, auch mit dir und den Kindern.

Drum sei vorbereitet. Denn vom Haus wollte ich dir schreiben. Und davon, wie es kam, dass ich, als einer der Letzten gezogen, auch einer der Letzten bin, die geschlagen und am Ende ihrer Kräfte ausharren und auf ein anderes Ende hoffen als dieses. Vielleicht bin ich der Einzige, der noch hofft. Dies kann nicht das Ende sein. Es darf nicht alles verloren gehen. Die Heimat, die Familie, der Weinberg, das Haus … Mir ist, als hätte ich es erst gestern verlassen, dann wieder erscheint es mir, als wären Jahrtausende über die Erde gezogen und ich wäre viel tausendfach gestorben.

Vom Haus erzählen – das gelingt mir nicht. Vor der Türschwelle bleibe ich stehen. Ich wage es nicht einzutreten, lieb Rosa lieb. Ein Scheiterhaufen im Hof, darauf verglimmt der Rest unserer Habe. Magda zerrte mich weg, Magda, die Gute, die Einzige, die noch bei mir ist … An diesem Tag noch fiel sie auf die Knie vor mir, stammelte freudige Worte, bis sie mir sagte: Flieht, flieht, solange noch Zeit ist. Sie wusste nicht, dass ich ein Fahnenflüchtiger war und der nächste Baum der meine gewesen wäre, hätte man mich aufgegriffen. Sie warnte mich auch, mich den Russen zu stellen. Den Polen schon gar nicht. Egal, was ich beschlösse, der Tod wartete auf mich, und wenn nicht der Tod, dann die Arbeitslager in Sibirien, und denen wäre der Tod vorzuziehen.

Ich muss verzeihen lernen, die Zeiten verlangen danach. Verzeihen, dass sie dein Sommerkleid trägt, das mit den gelben Margeriten, in dem ich dich noch über die Sommerwiesen laufen sehe, lachend, scherzend, im Spiel mit den Kindern, ein Bild aus anderen, versunkenen Tagen. Es steht ihr gut, unserer Magda. Sie hat Zygfryd aus Odereck schon immer sehr gemocht und will ihm damit gefallen. Sie sagt, vielleicht kann Zygfryd ein gutes Wort einlegen, dass er den Weinberg weiter führt. Sie will auch das Haus. Es reicht, mein Lieb, auf eins zu deuten, und die Leute müssen ihre Sachen packen … Ich wollte es nicht glauben, und doch, es ist die Wahrheit.

Wir haben alles verloren, mein Lieb. Alles. Nur uns nicht, wir sind uns treu. Und so will ich dir sagen, lieb Rosa: Als Soldaten vorbeifuhren und Magda mich schnell fortschickte, mich zu verstecken – ein Rest von Zuneigung ist ihr geblieben, sie verrät mich nicht (wohl weiß sie, dass du noch einige hübsche Spangen und Armbänder hattest, und wohl habe ich die Hast bemerkt, mit der sie die Rubinnadel an sich nahm). Als sie abgelenkt war und ich mich umsehen konnte, fand ich Johannes’ Hochzeitskiste unversehrt. Unser Weinkeller ist ein Scherbenhaufen, diese eine Kiste dagegen ist geblieben. Eine romantische Erinnerung, doch unser Herz hing daran, sie gemahnt mich an andere, an glückliche Zeiten. Und sie werden wiederkommen! Dafür bewahre ich sie, für uns und unsere Kinder, wie Johannes sie einst für den Vater meines Vaters bewahrte. Aber nur du und ich wissen, über welche Türschwelle man treten muss.

Ich wache, ein einsamer Soldat über einer einsamen, kostbaren Fracht. Unserer letzten Habe. Wir werden uns wiedersehen, lieb Rosa. Ich werde dich finden bei deinen lieben Leuten, die euch aufgenommen haben. Grüß und küss mir die Kinder. Sag ihnen in ihre süßen Träume, dass der Vater wacht. Er wacht, lieb Rosa lieb. Er wacht über unser Geheimnis, wie die Väter und Vorväter wachen, denen ich mich so tief verbunden fühle wie noch nie. Einst werden die Nächte der Tränen vorüber sein. Dann werden unsere Tage kommen.

Innigst Geliebtes

Dein Walther

1

Poulardenbrust an Safranreis, dazu ein exzellent gekühlter Pouilly-Fumé. Das Leben konnte so schön sein, wenn Marquardt bezahlte. Nichts wies darauf hin, nichts warnte, keine innere Stimme flüsterte: Pass auf, die zarte junge Frau, die gerade das hochfrequentierte Nobelrestaurant in der Schlüterstraße betritt, könnte dir mit einem einzigen Satz weitaus mehr verderben als dein exquisites Mittagsmenü, das du gerade im Begriff bist, zu dir zu nehmen.

Sie ging Richtung Tresen, vorbei an vollbesetzten Tischen mit Designern, Anwälten, Filmproduzenten, Agenten, ein bisschen Schauvolk und dem ausgefransten Wanderzirkus all jener, deren erste Sätze mehr oder weniger mit »Ich mach was mit Film/Büchern/Kunst« begannen. Dort wandte sie sich an den Barista und fragte etwas. Bis eben eine unter vielen – eine hübsche junge Frau auf der Suche nach einem freien Tisch oder einer Verabredung. Man nahm sie kurz wahr und vergaß sie wieder. Doch das änderte sich, als der Angesprochene auf mich deutete und sie behutsam durch die enge Gasse, vorbei an Weinkühlern und ausladenden, in den Weg gestellten Einkaufstüten und Pilotenkoffern, zu uns geleitete. Sebastian Marquardt, der gerade zur Weinflasche greifen wollte, sah erstaunt hoch. Sein gebräuntes Gesicht mit den zurückgegelten, kurzen Haaren leuchtete auf. Junge, hilflose Frauen weckten den Retter in ihm. Manchmal auch mehr.

»Die Dame wollte zu Ihnen.« Der Barista nickte mir kurz zu.

Ich legte die Serviette zur Seite, wechselte mit meinem Gegenüber einen schnellen, ratlosen Blick und erhob mich. »Joachim Vernau.«

Ich reichte ihr die Hand, sie erwiderte den Druck kurz und zog ihre dann schnell zurück.

»Mein Name ist Zuzanna Makowska. Wenn ich Sie nicht störe, würde ich Sie gerne kurz sprechen.«

Ihr Deutsch war exzellent, aber die Art, wie sie ihren Namen aussprach, klang osteuropäisch. Braune, wache Augen, herzförmiger Mund, zartes, feingezeichnetes, blasses Gesicht. Sie war einen Kopf kleiner als ich und trug einen langweiligen Hosenanzug mit korrekt geschlossener weißer Baumwollbluse, die glatten hellbraunen Haare in einem kinnlangen Pagenschnitt. Sie wirkte wie eine Jurastudentin vor der mündlichen Prüfung. Ich schätzte sie auf höchstens Mitte zwanzig.

»Mein Büro ist nur ein paar Minuten von hier«, sagte ich und holte eine Visitenkarte aus meiner Anzugtasche. »Am Kurfürstendamm. Wenn Sie dort anrufen und sich einen Termin geben lassen …«

»Ich brauche keinen Termin, nur eine kurze Auskunft. Darf ich?«

Sie wandte sich an zwei straffe Damen mittleren Reichtums am Nebentisch. Unwillig räumten sie ihre Handtaschen von einem leeren Stuhl. Zuzanna zog ihn heran und setzte sich. Mitten in die schmale Gasse, durch die im Minutentakt die Kellner mit den Mittagsmenüs eilten. Sie schlug selbstbewusst die Beine übereinander. Sobald sie ihren Platz gefunden hatte, schien es vorbei zu sein mit Schüchternheit.

Marquardt hob amüsiert die Augenbrauen und schob ihr ein Glas hinüber, das er mit Wasser füllte.

»Danke.«

Ich setzte mich wieder. »Nicht, dass Sie mich für unhöflich halten, aber wir haben gerade eine Besprechung.« Die Poularde wurde kalt.

»Ich störe nicht lange. Aber ich bin nur heute in Berlin und habe bereits viel Zeit verloren. Ich suche Marie-Luise Hoffmann. Man hat mir gesagt, Sie beide …«

»Dann hat man Sie falsch informiert.« Ich steckte meine Karte wieder ein. »Frau Hoffmann und ich gehen beruflich seit einiger Zeit getrennte Wege.«

»Aber Sie wissen, wo ich sie finden kann?«

»Frau Hoffmann hat eine Kanzlei in Prenzlauer Berg in der Dunckerstraße.«

»Hinterhaus, zweiter Stock. Ich weiß. Dort arbeitet jetzt ein Heilpraktiker mit Zusatzausbildung in Reiki und chinesischer Akupunktur.« Sie nippte einen Schluck Wasser.

Marquardt sah mich ratlos an. »Was ist mit Mary-Lou? Macht sie jetzt in fernöstliche Meditation?«

Ich wandte mich wieder an Zuzanna. »Haben Sie ihre Handynummer?«

»Ja. Auch die gibt es nicht mehr.«

Daraufhin nahm ich mein Smartphone und rief Marie-Luise an. Ich hatte sie seit über zwei Jahren nicht mehr kontaktiert. Zuzanna und Marquardt beobachteten mich interessiert. Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben. Ich ließ das Handy sinken.

»Und der chinesische Reiki-Meister weiß auch nicht, wo sie geblieben ist?«, fragte ich. Wahrscheinlich hatte sie den Anbieter gewechselt, mein ehemaliges Büro untervermietet, und Zuzanna hatte es einfach nicht gecheckt.

»Die Wohnung stand vor seinem Einzug vier Monate leer. Man sagte mir, Sie und Frau Hoffmann wären Freunde. Enge Freunde.«

Ich mochte ihre Stimme. Hell und klar, aber nicht grell, im Gegenteil. Sanft, präzise prononciert, mit diesem Hauch von Akzent. Doch ich mochte die Fragen nicht, die sie stellte. Vor allem, wenn ein leiser Vorwurf darin mitschwang.

»Sagt wer?«

»Ein gemeinsamer … Freund. Wobei ich nicht weiß, wie dehnbar Sie diesen Begriff auslegen.«

»Etwas klarer, bitte.«

Zuzanna musterte mich lange. Marquardt hob das Glas und roch an dem leichten Tischwein, als hätte er einen 1987er Meursault unter der Nase.

»Vielleicht«, begann er, schnupperte wieder, schwenkte das Glas und kostete schließlich gedankenverloren, »kann Ihnen ein anderer Anwalt helfen? Soweit ich mich erinnere, hat sich Frau Hoffmann auf Familien- und Mietrecht spezialisiert. Leider nicht unsere Fachgebiete. Aber ich will mich gerne umhören, wer Ihren Fall übernehmen könnte. So einer hübschen jungen Dame muss man doch helfen.«

Danach blickte er kurz auf seine Rolex. Ein deutliches Zeichen, sich jetzt entweder als angehende Geschäftsbeziehung zu erweisen oder das Weite zu suchen.

»Danke«, sagte die hübsche junge Dame eisig. »Das ist nicht nötig.«

»Möchten Sie vielleicht etwas essen? Sie sehen aus, als könnten Sie was Warmes vertragen. Das ist aber auch ein Wetter!« Marquardt schob ihr die Speisekarte hinüber.

Mit einer schnellen Handbewegung lehnte sie ab. »Bemühen Sie sich nicht. Mein Zug fährt in einer Stunde. Wenn Sie nicht wissen, wo sich Frau Hoffmann aufhält, dann verabschiede ich mich hiermit.«

»Es hat aber ziemlich dringend geklungen«, wandte ich ein.

Sie stand auf. Ich wollte sie nicht so gehen lassen, nicht so sauer und auch nicht so hungrig.

»Essen Sie wenigstens eine Kleinigkeit mit uns. Und dann erzählen Sie einfach, was Sie hierherführt. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.«

»Nein«, sagte sie schnell. »Entschuldigen Sie die Störung. Es war ein Fehler, überhaupt nach Berlin zu kommen.«

Ich übernahm es, ihren Stuhl wieder an den Tisch der beiden Damen zu rücken. Dann wandte ich mich mit einem hoffentlich charmanten Abschiedslächeln an Zuzanna. Wer weiß, aus welchem Provinznest sie sich auf den Weg gemacht hatte, nur um in der Dunckerstraße einem Reiki-Meister und in Charlottenburg zwei Anwälten beim Lunch zu begegnen. Dafür keine Marie-Luise. In den letzten Monaten hatte ich öfter an sie gedacht und mich gefragt, ob ich mich mal wieder melden sollte. Zuzannas erfolglose Suche beunruhigte mich.

»Ich werde versuchen, Frau Hoffmann ausfindig zu machen. Wo kann ich Sie erreichen?«

»In meiner Kanzlei in Poznań.« Sie sah in mein irritiertes Gesicht. »In Posen«, setzte sie mit einem unterdrückten Seufzer der Ungeduld hinzu.

»Sie sind Anwältin?« Marquardt verschluckte sich.

Sie schenkte ihm ein schnelles, ironisches Lächeln und reichte mir eine Karte. Zuzanna Makowska, Adwokat, Karnista. Darunter eine Telefonnummer mit 0048er Vorwahl und eine unaussprechliche Adresse in Poznań.

»Karnista?«, fragte ich.

»Strafrecht.«

»Strafrecht? Hören Sie, ich will wissen, um was es geht. Wenn Marie-Luise in Schwierigkeiten ist, betrifft mich das auch.«

»Weil Sie so eng befreundet sind?« Sie hob ihre Aktentasche hoch, die sie auf dem Boden abgestellt hatte. »Ich werde Frau Hoffmann von Ihnen grüßen, sollte ich sie finden.«

»Warum suchen Sie nach ihr?«

Die polnische Anwältin zuckte mit den Schultern und schlängelte sich geschickt durch die engen Tischreihen Richtung Ausgang. Wenn der eine oder andere Blick an ihr hängenblieb, dann bemerkte sie es nicht. Ich folgte ihr. Draußen auf der Schlüterstraße holte ich sie ein. Kurz war ich versucht, sie an der Schulter zu packen und zu mir umzudrehen. Die Sorge um Marie-Luise und das schlechte Gewissen, das ich zwei Jahre lang mit »Sie könnte sich ja ruhig auch mal melden« betäubt hatte, machten mich wütend.

»Jetzt warten Sie doch! Zuzanna!«

Abrupt blieb sie stehen.

»Das geht so nicht. Sie können hier nicht einfach auftauchen und mich ohne ein Wort im Unklaren lassen.«

Sie strich sich die Haare auf der linken Seite hinters Ohr. Mir fiel auf, wie schmal ihr Gesicht war. Zart geschnitten, mager beinahe, mit leicht nach innen gewölbten Wangen.

»Mein Mandant hat sich getäuscht. Sie sind nicht befreundet.«

»Wer zum Teufel ist Ihr Mandant?«

»Dazu möchte ich Ihnen nichts sagen.«

Sie hatte keinen Mantel dabei. Es war kalt. Wir hatten wieder einmal einen als Sommer getarnten Herbst in Berlin. Schwere graue Wolken bedeckten den Himmel, der frische Wind wehte uns einen unangenehmen, hauchfeinen Nieselregen frontal ins Gesicht.

»Sie tauchen hier auf, völlig aus dem Nichts, suchen eine alte Freundin von mir, wollen mir weismachen, ihre Kanzlei hätte sich in Luft aufgelöst, geben sich als Anwältin aus …«

»Ich bin Anwältin.«

»Und wollen mir nichts zum Sachverhalt sagen? Ich weiß noch nicht einmal, ob Sie zum Vor- oder Nachteil von Frau Hoffmann nach ihr suchen.«

»Das geht Sie …«

»Hat sie Mietschulden? Ist sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten?«

»Nein!«

»Um was zum Teufel geht es dann?«

Sie trat einen Schritt auf mich zu. Damit stand sie so nah vor mir, dass ich erkennen konnte, wie sehr ich mich in ihrem Alter und ihrer Unerfahrenheit getäuscht hatte. Irgendetwas machte sie wütend. Wir konnten es nicht sein. Wir hatten ihr Hilfe und eine warme Mahlzeit angeboten.

»Also?«

»Es geht um Mord«, zischte sie. »Sagen Sie das Ihrer Freundin, wenn Sie sie wiedersehen. Je eher sie auftaucht, umso besser.«

»Um was?« Da glaubte ich noch, ich hätte mich verhört.

»Mord. Soll ich es buchstabieren? Do widzenia, bałwan.«

Sie drehte sich um und lief davon.

Marquardt hatte zwischenzeitlich bezahlt und kämpfte gerade auf den Stufen des Restaurants mit seinem Faltschirm. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg ins Büro. Das Wetter unterband jede Konversation.

Die Kanzlei lag nur eine Querstraße entfernt – eine zweihundert Quadratmeter große Altbauwohnung mit Parkett, Stuck und jugendstilverglasten Schiebetüren. Der Marmor im Treppenhaus schimmerte, der rote Teppich auf den Treppenstufen wurde täglich gesaugt, der Fahrstuhl aus den zwanziger Jahren ruckelte gemächlich nach oben. Marquardt versuchte, mit seinem zusammengefalteten, nassen Schirm nicht allzu viel Unheil anzurichten.

»Wusstest du das?«

»Was?«, knurrte ich.

»Dass Mary-Lou untergetaucht ist?«

»Sie ist nicht untergetaucht. Wahrscheinlich sitzt sie in einem alten Reifenlager in Oberschöneweide.«

»Was soll sie denn in Oberschweineöde?«

»Dort sind die Mieten noch bezahlbar.«

Ich hatte mich kundig gemacht. Das musste ich Marquardt nicht unbedingt auf die Nase binden. Ich war sein Untermieter. Wer will schon für den Rest seines Lebens Untermieter bleiben?

»Jetzt habe ich ein wirklich schlechtes Gewissen.«

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Marquardts eingebildete Anwandlungen von Mitgefühl verschwanden meist ebenso schnell, wie sie auftauchten. Aber sie nervten.

»Vielleicht hätte ich mich mal bei ihr melden sollen?«, sinnierte er weiter.

Das hätte ihr gefallen. Marquardt, der Ku’damm-Advokat. Ich erinnerte mich noch gut an die letzten gemeinsamen Wochen, die wir zu dritt verbracht hatten. Zum ersten Mal seit unserer Studienzeit wieder vereint. Das Haus in der Dunckerstraße war uns wegen einer Gasexplosion fast um die Ohren geflogen. Bis wir zurückkonnten, hatte Marquardt uns ein leeres Büro in seiner Kanzlei zur Verfügung gestellt – eine Geste, die er spätestens in dem Moment bereute, als Marie-Luise die Gattin eines schwerreichen Mandaten als ehemalige Klientin wiedererkannte, die sie gegen deren Zuhälter vertreten hatte. Marquardts immer noch vorhandene Sympathie für meine Kanzleipartnerin war daraufhin merklich abgekühlt. Der längst vergessene Spitzname »Rotarmistin« war seitdem wieder öfter in seinem Sprachgebrauch.

Der Fahrstuhl hielt. Die Tür öffnete sich automatisch – Tiffy hatte das Heranrollen ihres Ernährers gehört und strahlte uns an.

»War’s schön?«, piepste sie. Jedes Mal, wenn wir zusammen essen gingen, fragte sie das hinterher, ohne mit einer Antwort zu rechnen. »Zwei Anrufe von Dreywitz wegen der Bewährung für seinen Sohn.«

»Kannste gleich durchstellen.« Marquardt warf einen kurzen Blick in den Posteingangskorb.

Mercedes Tiffany verschwendete ihr Lächeln nun auch an mich. »Für Sie ist nichts gekommen.«

»Danke.« Ich hängte meinen Mantel an der Garderobe auf und wollte in mein Büro.

Tiffy versenkte sich mit gerunzelter Stirn und krausem Näschen in ihre kryptischen Aufzeichnungen. »Das heißt … jemand wollte Sie sprechen. Eine Frau. Irgendwas mit M.«

»Marie-Luise?«, fragten Marquardt und ich wie aus einem Mund.

Betrübt blickte Tiffy hoch. »Ich kann es nicht mehr lesen.«

Marquardt drehte sich zu mir um und schenkte mir einen Blick, in dem alle Sorge, alle Pein, aller unendlicher Schmerz von Vätern bildhübscher, aber irgendwie verpeilter Töchter lag. In vier Monaten würde Tiffy heiraten und unsere Kanzlei verlassen. Auf dem Schweizer Internat, das Marquardt dem einzigen bis dato bekannten Spross seiner Lenden hatte angedeihen lassen, war es zu jener folgenreichen Begegnung gekommen, auf die die gesamte teure Ausbildung sowie ein unnützes, weil vor dem ersten Staatsexamen abgebrochenes Jurastudium ausgerichtet gewesen waren: Kontaktanbahnung zu schwer- und einflussreichen Familien. Die Freude der harrenden Eltern war groß, als sich tatsächlich ein aussichtsreicher Anwärter aus dem nebulösen Beziehungsgeflecht ihrer Tochter herauskristallisierte. Der junge Mann war ein italienischer barone. Marquardt hatte daraufhin die konspirative Nähe zu einem Heraldiker gesucht – Tiffy sollte zur Hochzeit schließlich auch von ihm einen Siegelring erhalten.

Manchmal regte sich in mir leiser Neid. Nicht auf die Rentenzusatzversorgung durch den italienischen Adel, den es seit 1946 sowieso nur noch auf dem Papier gab. Eher darauf, dass es Menschen gab, die ein Leben planten und deren Pläne auch noch aufgingen. Vor einem Vierteljahrhundert hatten ein Mann und eine Frau an der Wiege ihres neugeborenen Mädchens gestanden und mit geradem Blick und konsequenten Schritten seine Zukunft organisiert. Französische Kinderfrau, Diplomaten-Kita, mehrsprachige Europaschule, Bakkalaureat in Lugano. Und Peng. Volltreffer. Manchmal hatte ich das Gefühl, Leute wie Marquardt kannten keine Fehlschüsse.

Ich konnte noch nicht einmal die nächsten Wochen planen. Das Geschäft lief schleppend. Da Marquardt, anders als Marie-Luise, tatsächlich auf der Begleichung von Miete und Nebenkosten bestand, kam ich, was meinen eigenen Lebensstandard betraf, vergleichsweise langsam voran. Ich hätte mir die Poulardenbrust einpacken lassen sollen.

»War es was Wichtiges?«, fragte die zukünftige italienische baronessa mit zukünftigem Wohnsitz in der Nähe von Mailand, für den sie in den vielen ruhigen Stunden in der Kanzlei dicke Bände von Tapeten- und Stoffbüchern wälzte. »Sie meldet sich ja wohl noch mal, wenn es was Wichtiges war. Oder?«

Ich nahm den Mantel wieder von der Garderobe und streifte ihn mir über. »Bestimmt. Sagen Sie bitte für heute Nachmittag alle meine Termine ab. Ich muss kurz weg.«

Sie versenkte sich wieder in ihren Kalender. »Sie haben heute gar keine Termine, Herr Vernau.«

Aber da war ich schon fast draußen.

2

Wie ich später, viel später erfuhr, saß Zuzanna Makowska zu diesem Zeitpunkt schon im Zug nach Poznań Główny. Sie verließ ihn nach knapp drei Stunden, lief durch die Unterführung, bestieg ihr Auto und fuhr auf dem Weg in die ul. Młyńska noch an einem Carrefour-Markt vorbei, um einige Einkäufe zu erledigen. Wenig später parkte sie unweit des Areszt Śledczy, der Justizvollzugsanstalt.

Das Gebäude war ein elendsgelber, siebenstöckiger Kasten, umgeben von einer stacheldrahtbewehrten Mauer, hinter der rund sechshundert Häftlinge ihre Strafen absaßen. Da für Untersuchungsgefangene andere Besuchszeiten galten und Zuzanna das Honorar unter der Auflage erhalten hatte, so schnell wie möglich Bericht zu erstatten, hatte sie sich für den frühen Abend angemeldet. Es war die Zeit, in der die Häftlinge ihre Arbeitsplätze in der Tischlerei, der Elektrowerkstatt oder der Kantine verließen und noch eine Stunde Freizeit vor dem Einschluss hatten. Für ihren Mandanten galten andere Regeln. Er saß erst knapp sechsunddreißig Stunden hinter Gittern und kämpfte immer noch damit, endlich nüchtern zu werden. Der Zugang zu ihm war jederzeit möglich.

Sie blieb noch einen Moment hinterm Steuer sitzen und dachte darüber nach, wie ihre Reise nach Berlin verlaufen war. Ihr Mandant hatte ihr nicht die Wahrheit gesagt. Er hatte behauptet, Marie-Luise Hoffmann sei eine Freundin. Dabei war sie Anwältin. Was zum Teufel glaubte er damit zu erreichen? Sie fühlte sich bloßgestellt und degradiert. Wenn er nicht mit ihr zufrieden war, sollte er ihr das ins Gesicht sagen.

Ich bin draußen, du bist drinnen. Deine Zeit zu wählen ist abgelaufen.

Sie nahm den Korb mit den Einkäufen von der Rückbank und versuchte, die Demütigung hinter sich zu lassen und rein professionell zu handeln. Aber es fiel ihr schwer. Wie die meisten Untersuchungshäftlinge betrachtete er seine Lage als einen Schicksalsschlag, der ihn entweder zu Unrecht oder unverhältnismäßig schwer getroffen hatte. Sie als seine Pflichtverteidigerin hatte nichts anderes zu tun, als das der Welt, dem Haftrichter und dem Staatsanwalt so schnell wie möglich zu erklären. Er hatte wirklich geglaubt, nach einer Nacht in der Ausnüchterungszelle wieder entlassen zu werden.

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