Reaper's Valentine - M. M. Carlsson - E-Book

Reaper's Valentine E-Book

M. M. Carlsson

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als gefragter Schauspieler und Frontmann einer international erfolgreichen Alternative-Rockband ist Jordan Valentine auf dem besten Weg, in den Hollywood-Olymp aufzusteigen. Für ihn ist es die Erfüllung all dessen, wofür er viele Jahre hart gekämpft hat. Bis ein Zwischenfall auf einem Konzert ein verdrängtes Kindheitstrauma zutage fördert, das sein Leben aus den Fugen reißt und die Band zu zerstören droht. Connie Wagner, Ehefrau und Mutter aus Wien, findet nach dem Tod ihrer jüngsten Tochter Kraft in der Musik der Band Reaper's Valentine. Ihren Verlust glaubt sie überwunden zu haben. Doch dann stellt eine bevorstehende Reise ihre Einstellung zum Leben auf den Prüfstand. ›Reaper's Valentine - Was der Tod uns schenkte‹ ist eine tragisch-schöne Geschichte über den Umgang mit Verlust. Sie spielt in zwei getrennten Welten, die sich auf magische Weise berühren. Was sie verbindet, ist menschlich: das Streben nach Glück.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 367

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



M. M. Carlsson

REAPER’S VALENTINE

Was der Tod uns schenkte

3. Auflage, Vorgängerausgabe 2020: M. M. Carlsson

Die deutsche Originalausgabe erschien 2013 als E-Book und

Taschenbuch unter dem Titel »Reaper’s Valentine« von Mimi May

Carlsson

Copyright © 2013, 2020, 2023 by M. M. Carlsson / Heike Schreiber

Covergestaltung: Heike Schreiber / Text-In-Line

Lektorat: Heike Schreiber / Text-In-Line

Bildmotiv: »Rosengitarre« Heike Schreiber/Midjourney AI

www.text-in-line.de / [email protected]

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN Paperback: 978-3-347-97732-7

ISBN E-Book: 978-3-347-97733-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Tausende Herzen, eine Seele:

Für all die Musiker,

die mit ihren Songs unser Innerstes berühren.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

INTRO

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

SONGTEXTE

Autorin

Reaper's Valentine

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

INTRO

Autorin

Reaper's Valentine

Cover

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

190

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

274

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

331

332

333

334

335

336

337

338

339

340

341

342

343

344

345

346

347

348

349

350

351

352

353

354

355

356

357

358

359

360

361

362

363

364

365

366

367

INTRO

Wenn der Tod dich anlächelt,

halte ihm einen Spiegel vor.

»Was hast du dir gewünscht?«, fragte der Junge, als die Sternschnuppe am Firmament verglühte, eine von vielen, die sie in dieser klaren Nacht am Himmel über Maine gezählt hatten. So viele Wünsche.

»Ich möchte ein Sieger sein«, sagte der Ältere. »Endlich frei sein. Und du?«

»Ich möchte so sein wie die Sterne«, sagte der Jüngere. Er lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Waldboden und starrte auf das funkelnde Meer über sich. »Von dort oben muss unsere Erde klein und unbedeutend aussehen, denkst du nicht? Von dort oben kann ich herabgreifen und die Welt bewegen.«

»Du bist ein Träumer!«

»Und du bist ein Sieger. Gemeinsam können wir alles erreichen.«

Der Ältere lachte. »Was immer du dir wünschst, kleiner Bruder. Ich bin an deiner Seite.«

Fünfundzwanzig Jahre später …

PROLOG

Ventura County Fairgrounds, Kalifornien – 26. Juli

Unter kontrollierten Bedingungen lag sein Maximalpuls bei hundertneunzig lag, aber heute spürte Jordan Valentine das Pochen seines Herzens in direkter Konkurrenz zur treibenden Kraft des Schlagzeugs. Aufregung, Adrenalin und das Jubeln der erwartungsvollen Menge spornten es zur Höchstleistung an. Das Brummen der Verstärker drang wie ein wohliges Kribbeln bis unter seine Schädeldecke. Sein gesamter Körper vibrierte im Zusammenspiel der Instrumente und der gewaltigen Spannung, die in der Luft knisterte.

Selten zuvor hatte er einen Auftritt wie diesen erlebt. Ein wogendes Meer aus Menschen hatte sich auf dem Festivalgelände versammelt, um ein unvergessliches Wochenende zu erleben. Und um sie zu sehen, Reaper’s Valentine, eine der erfolgreichsten Alternative-Rockbands der letzten Jahre. Seine Schöpfung.

Allein der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend.

Palmen ragten wie Stützpfeiler in den Himmel auf, eingerahmt von einem Panorama aus Zelten, Trucks, bewaldeten Hügeln und der Pazifikküste im Westen. Zehntausend Fäuste reckten sich ihm inmitten dieser malerischen Kulisse entgegen, ein kämpferisches und zugleich friedvolles Symbol der Einheit vor dem purpurgefärbten Horizont. Von der Bühne aus hatte er das Gefühl, in das Auge eines in sich selbst ruhenden Wirbelsturms zu starren.

Jordan kostete die Energie, die ihn umgab, mit allen Sinnen aus. Pausenlos jagte er von einer Bühnenseite zur anderen, über den Mittelsteg und wieder zurück. Er forderte nicht nur von sich selbst, sondern auch von den Konzertbesuchern das Äußerste, ließ sie springen, mitsingen, die Hände ausstrecken und auf den Boden stampfen. Sie lagen ihm zu Füßen, die Begeisterung schwappte von der Bühne zum Publikum über und wieder zurück, er spürte, dass nun der rechte Moment gekommen war, ihren Song zu spielen, den Hit, bei dem er sich vorbehaltlos der Menge auslieferte.

Die Fans ahnten das Ereignis voraus, als die Band das Intro zu Stardust Glory anschlug. Das Kribbeln in Jordans Fingerspitzen nahm zu. Er sang die erste Strophe vom Mittelsteg aus, gab seinem Bruder an den Drums ein Zeichen und tanzte mehrmals um die eigene Achse, bevor er ohne Vorwarnung mit einem Satz von der Bühne über den zwei Meter breiten Graben nach unten sprang. Er landete auf dem schmalen Tritt der Absperrung. Zahllose Hände packten zu, um ihn zu stützen. Die Mitarbeiter der Security reagierten erst, als er bereits auf die obere Kante der Wellenbrecher geklettert war und sich anschickte, in die tobende Menge einzutauchen. Zwei Männer griffen zu, um ihn zurückzuhalten, aber er riss sich von ihnen los. Dies war sein Auftritt, bei dem das Erleben die Vernunft überwog.

Ein spürbarer Ruck ging durch das Publikum. Wie ein Tornado, der überraschend seine Richtung ändert, drängten sie dorthin, wo er über die Schultern der jungen Männer und Frauen kletterte, die ihm willig ihre Hände entgegenstreckten. Sie berührten ihn, rissen an seiner Kleidung, versuchten ein Stück freie Haut unter ihren Fingern zu spüren, während er ihnen in die Gesichter sang, nein schrie, und sie aufforderte, es ihm gleichzutun. Die Menge kochte. Er wurde auf ihren Köpfen fortgetragen, immer tiefer in den Strudel aus sich drängenden Leibern. Es war ein Spiel mit dem Feuer, aber er konnte nicht anders. Dies war sein Moment der Erkenntnis, der einzige Moment, in dem er sich nicht nur lebendig, sondern unbesiegbar fühlte.

Doch das Hochgefühl verflog jäh, als ihn zwei Hände um die Hüften packten und mit einem Ruck von den Schultern der Fans hinab in die Menge rissen. Jordan war zu überrascht, um reagieren zu können. Für die Dauer eines Herzschlags glaubte er zu schweben. Er starrte in ein Paar dunkle Augen, eine Mischung aus Tabak- und Lakritzgeruch schlug ihm entgegen, eine heisere Stimme schrie ihm etwas ins Ohr, das im Gekreisch und dem Dröhnen der Musik unterging.

Fünf Herzschläge lang hatte er Angst. Angst, die Energie im Publikum falsch eingeschätzt zu haben, Angst zu ersticken, in dieser Masse zerquetscht zu werden wie eine Ameise. Fünf Herzschläge, in denen ihn die Panik zu übermannen drohte. Doch beim sechsten war er wieder frei, abgeschirmt von einem Dutzend geistesgegenwärtiger Helfer, die ihre Körper als Barriere gegen den Ansturm von hinten einsetzten. Die wenigen Zentimeter waren alles, was Jordan brauchte, um seine Fassung zurückzugewinnen.

Dankbar sog er die Luft ein, bevor er ohne weiteres Zögern wieder auf die Schultern seiner Fans kletterte. Er hob seinen Arm in die Höhe, um der Security und seinen Bandmitgliedern zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Und sang weiter. Seine Stimme zitterte vor Anstrengung, aber der kreischenden Menge war es egal. Er bahnte sich einen Weg zurück, teils kletternd, teils rollend, bis er die vorderen Reihen erreichte, wo ihn die Männer der Security in den sicheren Graben vor der Bühne zurückzogen. Die letzte Zeile des Songs schrie er der Menge entgegen, dann hechtete er zurück auf die Bühne, noch immer außer Atem. Sein Herz pochte längst nicht mehr im Gleichklang mit der Musik.

Jordan wischte sich über das verschwitzte Gesicht. Nach seinem Körper begann auch sein Verstand langsam zu realisieren, dass er sich in ernster Gefahr befunden hatte. Sein Bruder Connor hatte die Lippen zu einem Strich zusammengepresst und starrte ihn an. Tino spielte Akkorde auf seiner Gitarre, die zu keinem ihrer Lieder gehörten. Seine Augen waren aufgerissen, aber nicht vor Begeisterung, sondern vor Schrecken. Phil schüttelte den Kopf, was für einen Außenstehenden aussehen mochte, als würde er damit lediglich sein Fingerspiel am Bass begleiten.

Jordan war klar, was sie alle dachten: Er hatte verdammt viel Glück gehabt. Oder einen Schutzengel.

Noch immer hing der Geruch von Anis in seiner Nase, ekelhaft und erdrückend. Mit einem tiefen Atemzug inhalierte er die Luft, die nach einer salzigen Brise aus Schweiß und Meerwasser roch, und schob die Erinnerung an den Zwischenfall beiseite. Sein Shirt war eingerissen, die Haut darunter zerkratzt und er würde morgen um einige blaue Flecken reicher sein, doch das war es ihm wert. Ihm war nichts passiert und das Publikum war begeistert. Nur das zählte. Es waren Auftritte wie dieser, die Reaper’s Valentine beinahe schon legendär gemacht hatten. Die Interaktion mit den Fans, das gegenseitige Geben und Nehmen. Auf der Bühne war er Sänger, Entertainer, Idol und Sex-Symbol zugleich.

Jordan bedeutete den anderen mit einem Fingerzeig, den letzten Song anzuspielen, und musterte die erwartungsvollen Gesichter der Menge.

»Seid ihr noch da?«, schrie er ins Mikro und ein geballtes Echo aus Yeah-Rufen hallte zu ihm zurück.

Er lachte. Das war er, Jordan Valentine, ein wenig verrückt, ein wenig exzentrisch, aber nicht lebensmüde. Im Gegenteil. Nie hatte er sich lebendiger gefühlt.

KAPITEL 1

Wien, Österreich – 26. August

»Wenn der Tod dich anlächelt, halte ihm einen Spiegel vor!«, hatte Jordan Valentine einmal auf die Frage eines Journalisten, ob er Angst vor dem Ende habe, geantwortet. So lautete das Motto seiner Band, angelehnt an ein bekanntes Zitat des römischen Kaisers und Philosophen Marcus Aurelius. Es war eine Hommage an das Leben. Aber nur wenige verstanden das.

Ich bin ein großer Fan von Reaper’s Valentine und von Jordan Valentine im Besonderen. Manchmal komme ich mir ein wenig komisch dabei vor, ich meine, ich bin fünfundvierzig, eine glücklich verheiratete Frau und zweifache Mutter, eigentlich sollten mich andere Dinge beschäftigen als Rockmusik oder die Aussicht auf einen neuen Kinofilm mit meinem Lieblingskünstler. Aber seine Musik hat mir in Zeiten der Krise geholfen, ich selbst zu bleiben, und ich frage mich oft, wie es ist, das Leben durch seine Augen zu sehen. Augen, die stets voller Neugierde in die Welt blicken. Wüsste ich die Antwort, wäre ich vielleicht in der Lage, ihm etwas von der Freude zurückzugeben, die er mir und vielen anderen schenkt. Aber das sind alberne Fantasien. Er lebt das Leben eines Stars irgendwo in Hollywood, beziehungsweise dort auf dem Erdball, wo ihn seine bevorstehende Tournee hinführt, und hat keine Ahnung, dass es mich gibt. Connie Wagner, eine von Millionen Fans, die ihm irgendwann auf einem seiner Konzerte zujubeln oder darauf hoffen, bei Twitter einen Smiley zurückgeschickt zu bekommen. (Tatsächlich schicke ich ihm keine Nachrichten auf Twitter, aber ich verfolge den Austausch der Tweets sehr interessiert und freue mich für die Glücklichen, die eine Antwort erhalten.) Und ich stelle mir vor, dass es auch meine unsichtbare Stimme ist, die ihn anspornt weiterzumachen, uns – den »durchgeknallten Haufen«, wie die Band uns Fans liebevoll nennt – glücklich zu machen.

Aber an diesem Morgen, noch unbeeindruckt von den Pressemeldungen, die bald unsere kleine große Fangemeinde aufwirbeln sollten, lauschte ich einfach nur seinem neuen Song im Radio, stellte mir den Rand des Paradieses vor, den er besang, und räumte den Teller und die Tasse vom Frühstückstisch, die Martin in seiner Eile hatte stehen lassen. In der Nacht hatte uns ein heftiges Gewitter wachgehalten und im Halbschlaf hatte ich den Wecker ausgeschaltet, der um kurz vor sechs zu läuten begann. In der Folge waren wir eine halbe Stunde zu spät aufgestanden und Martin hatte hastig seinen Kaffee hinuntergestürzt, bevor er ins Büro fuhr. Draußen wurde es nur langsam hell, ein typischer Spätsommermorgen im beschaulichen Wiener Gemeindebezirk Florisdorf.

»Ist Papa schon weg?«, fragte Nina und pfefferte ihren gepackten Schulrucksack in die Ecke. Offensichtlich ausgeruht setzte sie sich an den Tisch, mit den Fingern eine nur für sie hörbare Melodie schnipsend. Ringo, unser in die Jahre gekommener Jack-Russel-Mix, wackelte hinter ihr in die Küche und sah mich aus seinen Knopfaugen verständnisvoll an.

»Er war spät dran«, antwortete ich und stellte ihr eine dampfende Tasse Kakao und Ringo seinen gefüllten Napf mit Trockenfutter vor die Nase.

»Danke!« Nina inhalierte den süßlichen Duft, ein seliges Lächeln auf dem Gesicht. Ich seufzte. Es konnte nur einen Grund geben, warum meine fünfzehnjährige Tochter an einem regnerischen Montagmorgen gute Laune verbreitete.

»Kenne ich ihn?«

»Wen meinst du?«

Nina stellte ihre Tasse zurück auf den Untersetzer. Der unschuldige Ausdruck in ihrem Gesicht hätte mich beinahe zweifeln lassen.

»Den Jungen, der deine Tagträume in Anspruch nimmt«, antwortete ich und setzte mich ihr gegenüber.

»Ach, Mama!« Sie verdrehte die Augen.

»Was denn? Ist Fragen verboten?«

Ich schob ihr den Brotkorb hin und sah zu, wie sie umständlich zwei Scheiben Toast in den Toaster steckte. Die Schwärmerei für Thomas aus der Parallelklasse hatte damit geendet, dass sie sich ein Wochenende lang in ihrem Zimmer verkrochen und sämtliche Zeichnungen und Entwürfe gelöscht hatte, die sie so sorgfältig mit ihrem neuen Grafiktablett kreiert hatte. Dann, vor etwa einer Woche, hatte sie ein neues Hobby entdeckt: Fußball. Seither lag sie uns damit in den Ohren, einem Team beitreten zu dürfen. An sich hatte ich nichts dagegen, wenn meine Tochter ihren Hobbys nachging, ich wünschte nur, sie würde bei einem bleiben, anstatt sich aus einer Laune heraus ständig neue zu suchen. Vor allem, wenn ich mir den Grund für besagte Laune ausmalen konnte.

»Lass mich raten«, sagte ich. »Er spielt Fußball.«

Nina schmierte das halbe Glas Kirschmarmelade auf ihren Toast und biss herzhaft hinein. »Wenigstens stehe ich auf echte Kerle«, nuschelte sie und krümelte ihren Teller und die Tischdecke voll.

»Ach ja? Was ist denn ein echter Kerl?«

»Lutz Behring. Er geht in die Elfte und spielt schon in der Regionalliga. Er ist ein echtes Talent. Bestimmt kommt er mal in die Nationalmannschaft.«

»Soso.« Amüsiert rührte ich in meinem Rest kalten Kaffees herum. »Und ich dachte immer, du bevorzugst die intelligenten Typen.«

Nina zog einen Schmollmund. »Er hat einen Notendurchschnitt von 2,0 und Melli sagt, dass er im letzten Jahr eine Auszeichnung für ein Chemieprojekt bekommen hat.«

»Hm, Melli weiß also mal wieder Bescheid. Findet sie ihn auch so toll?« Ninas beste Freundin Melanie war so etwas wie die »Coole der Schule«, ein wenig überdreht, aber zum Glück nicht so oberflächlich, wie sie manchmal tat.

»Ach, du kennst doch Melli, sie interessiert sich jede Woche für jemand anderen.«

»Du bist konsequent, ich weiß.«

»Mach dich nur lustig über mich. Thomas war ein Ausrutscher, aber ich lerne ja noch. Und ich brauche Übung. Lutz wird mein neuestes Studienobjekt.«

Ich unterdrückte mein Lachen. »Dann mal viel Glück. Aber du warnst mich, bevor dein Studienobjekt dir zu nahe rückt …?«

»Mama, das hatten wir doch schon zur Genüge.«

Natürlich hatten wir das Thema oft genug besprochen. Das hieß aber nicht, dass ich mir deswegen keine Sorgen mehr machte. Nina schlug ganz nach Martin, zumindest äußerlich. Sie hatte ein rundliches Gesicht, eine Stupsnase und ein bezaubernd unschuldiges Lächeln, das es schwer machte, sie zu übersehen. Und sie war nicht auf den Mund gefallen.

»Hast recht, meine Süße«, sagte ich. »Ich vertraue dir. Zufrieden?«

Nina leckte sich die Finger sauber. »Wenigstens färbt sich mein Traumtyp nicht die Haare, lackiert seine Fingernägel oder verarbeitet seine Gitarre zu Kleinholz.« Sie wackelte mit dem abgelutschten Zeigefinger vor meiner Nase. »Ehrlich, ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit Papa reden. So kann das mit dir nicht weitergehen.«

»Raus jetzt! Es ist Viertel nach sieben. Ich schreibe dir keine Entschuldigung, wenn du wieder zu spät zu Mathe kommst.«

Nina warf mir eine Kusshand zu und verschwand mit ihrem Rucksack durch die Tür. Ringo blickte ihr schwanzwedelnd, ich kopfschüttelnd hinterher.

*

Nachdem ich den Tisch abgeräumt und die Geschirrmaschine angestellt hatte, ging ich nach oben in das Zimmer meiner jüngsten Tochter und schaltete mein Notebook ein. Ringo folgte mir die Treppe hinauf. Er schaffte es nur noch mühsam, die Stufen zu steigen, aber die schmerzenden Gelenke taten seiner Begeisterung keinen Abbruch.

Begeisterung hieß in Ringos Fall, faul neben Frauchen in der Ecke zu liegen. So ließ er sich auch gleich vor Leonies sauber zurechtgemachtem Bett auf den Teppich fallen, wie er es all die Jahre zuvor getan hatte. In Leonies Zimmer konnte ich gut arbeiten, oder, wenn mir danach war, einfach meine Ruhe haben. Mir blieben noch zwei Stunden Zeit, bevor ich in die Praxis musste.

Es war ein morgendliches Ritual. Erst checkte ich meine E-Mails, dann stöberte ich kurz durch die Nachrichten, und schließlich las ich die neuesten Einträge im Gästebuch auf meiner Lieblings-Fanseite zu Reaper’s Valentine. Es war mir lieber als ein Forum, wo nahezu jeder seinen Senf verbreiten konnte, denn die Einträge wurden vor Freischaltung kontrolliert. Natürlich wusste ich nicht, wer alles mitlas, aber im Prinzip waren wir hier einfach ein paar Reaper-Verrückte unter uns. Einige kannte ich persönlich, die meisten allerdings nur virtuell, aber das machte nichts. Was uns verband, war eine gemeinsame Liebe für eine Rockband und deren Musik – das hieß nicht kreischende Gitarren, sondern stimmige Sounds, Songs mit sinnhaften Texten und ein ganz bestimmtes Lebensgefühl. Hier kam ich an alle Informationen, die aktuellsten Bilder, Gerüchte oder Videos, ohne mir selbst die Finger wund surfen zu müssen. Ich hatte keine Ahnung, ob es an meinem Alter lag oder ob ich mich in Zeiten von Facebook, Twitter, Tumblr, Instagram und was es noch alles gab, einfach zu dumm anstellte, mich in dem Gewirr zurechtzufinden.

Das Erste, was mir damals an Jordan Valentine aufgefallen war, waren seine Augen gewesen. Es war nicht nur das Grün mit dem bernsteinfarbenen Ring um die Pupille, das mich fasziniert hatte, sondern der Ausdruck von Offenheit darin. Ich wusste, es gab genug Stimmen, die ihn für einen arroganten Mistkerl hielten, dem der Erfolg zu Kopf gestiegen war. Natürlich konnte ich nicht von mir behaupten, diesen Mann zu kennen, aber ich war überzeugt, dass weit mehr hinter seiner attraktiven Fassade steckte, als ihm seine Kritiker zugestehen wollten. Ich erinnerte mich noch gut daran, was ich einmal in einem Magazin über ihn gelesen hatte: »Man sagt, unsere Augen seien die Fenster zur Seele. Wenn das stimmt, dann macht uns Jordan Valentine seine Seele zum Geschenk.« Der unbekannte Verfasser dieser Zeilen hätte es treffender kaum beschreiben können. Wer es verstand, darin zu lesen, dem erzählten sie von Glück und von Schmerz, von Lebenshunger, von Freude und von den Wundern, die sie tagtäglich erblickten. Wunder, für die die meisten Menschen auf dieser Welt blind geworden waren. Das Spiel eines Herbstblattes im Wind. Das Lächeln einer Frau, die auf einem lehmverschmierten Fußboden saß und Körbe für Touristen flocht. Jordan Valentines große Gabe war es, diese Wunder sichtbar zu machen. Er beschrieb sie in seinen Liedern, zeigte mit dem Finger darauf und forderte andere auf, nein, er forderte sie heraus hinzusehen. Jene, die sich darauf einließen, so wie ich, erhielten ein Geschenk, das ich in Worten kaum zu beschreiben vermag. Es war eine tiefe Empfindung, eine Einsicht in die schlichte, unkomplizierte Wahrheit des Lebens. Eine Einsicht, die aus der Überwindung der Angst entstand. Der Angst hinzusehen.

Ich verstand das nur zu gut. Denn ich hatte lange gebraucht, um meine Angst zu überwinden. Angst, in dieses Zimmer zu gehen. Angst, die vielen Barbiepuppen anzusehen, die auf dem Regal saßen und heiter in die Welt lächelten. Die bunten Vorhänge, auf denen Marienkäfer krabbelten. Das weiße Bett, das Ringo treu bewachte. Das Bett, in dem Leonie gestorben war, jeden Tag ein wenig mehr, bis endlich ein gnädiger Gott oder das Universum sie von ihren Schmerzen erlöst hatte.

Leonie hatte nie Angst vor dem Sterben gehabt. Es waren wir Erwachsenen, die den Tod fürchteten. Wegen der Grausamkeit, mit der er uns auseinanderriss. Wegen der Ausweglosigkeit, mit der wir ihm ausgeliefert waren. Wegen des Unbekannten, in das er uns führte. Es waren Jordan Valentines Lieder gewesen, die mir damals geholfen hatten, meine Angst zu überwinden. Weil er, wie Leonie, nicht das Unausweichliche, sondern das Unvergängliche sah. Als Leonie gestorben war, war sie mit einem Lächeln gegangen. Ich würde das niemals vergessen. Es war mein Versprechen an sie gewesen. Dass ich leben würde, wie sie gelebt hatte, tapfer und ohne Bitterkeit über unsere Trennung. Ich hielt mein Versprechen, auch wenn es nicht einfach war.

KAPITEL 2

Los Angeles, Kalifornien – 27. August

Schweißgebadet schreckte Jordan aus seinem Schlaf. Er hatte wieder geträumt. Wie die Nächte zuvor.

Das Zimmer drehte sich um ihn. Er hatte Mühe, normal zu atmen, so als wäre in seinen Lungen nicht genügend Platz für den Sauerstoff, den er krampfhaft in sich hineinsog. Eine schwache Brise wehte durch das halb geöffnete Fenster zu ihm hinein, aber sie verschaffte ihm keine Linderung. Der Schwindel ließ zwar nach, doch das Gefühl der Enge in seiner Brust blieb. Jordan zog die Knie an und fixierte die leuchtend rote Anzeige seiner Uhr. Von 4:53 Uhr an zählte er jede Minute mit, bis sich nach einer Viertelstunde sein Atem so weit beruhigte, dass er nicht mehr das Gefühl hatte zu ersticken.

Jordan wusste nicht, wie viele Nächte das schon so ging. Der Traum war immer ähnlich. Er wurde verfolgt, von wem oder was, blieb ihm verborgen. »Die Bestie« hatte er den Verfolger getauft, denn er konnte deutlich ihren feuchten Atem in seinem Nacken spüren. Er rannte und rannte, bis ihn ein Licht blendete. Es ließ ihn erstarren. In dem Moment riss ihn die Bestie zu Boden, krallte sich in seinen Hals – und er schreckte hoch.

Die Panik nach dem Aufwachen verflog, was blieb, war das regelmäßige Ringen um Luft, so als reagiere sein Körper verzögert auf die im Traum durchlebte Angst. Sein Arzt hatte ihm konstatiert, er sei physisch in bester Verfassung. Jordan wünschte sich, er könne dies auch von seinem Verstand behaupten. Die ruhelosen Nächte forderten ihren Tribut, er war müde und unkonzentriert, etwas, das er sich so kurz vor Veröffentlichung ihres neuen Albums und der anstehenden Tournee nicht erlauben konnte.

Er goss sich den frisch gebrühten Kaffee in eine Tasse, während er darauf wartete, dass sich sein Notebook hochfuhr. Da die Nacht vorbei war, konnte er genauso gut anfangen zu arbeiten. Zunächst die erfreulichen Dinge. Ein paar Bilder auf seine Homepage hochladen, ein paar belanglose Zeilen bei Twitter schreiben und einige der unzähligen Nachrichten lesen, die rund um die Uhr von überall auf der Welt auf seinem Account einliefen. Wenn sein eng gestrickter Terminplan es erlaubte, machte er sich die Mühe, auf einige davon zu antworten. Es entspannte ihn, machte Spaß und zudem hatte er wieder jemanden glücklich gemacht. Bei seinen Fans war er ohnehin als Nachtmensch und Workaholic bekannt.

Es war kurz vor sieben, als das Telefon klingelte. Überrascht blickte er auf das Display.

Renées Nummer.

Er nahm den Anruf entgegen und fragte ohne Begrüßung: »Was will ABL diesmal?«

Am anderen Ende der Leitung war ein entnervtes Seufzen zu vernehmen. »Die Videopremiere von Edge of Eden wird zur Pressekonferenz umfunktioniert. Ich hatte die E-Mail von Siggi heute Morgen in meinem Postfach.«

»Bitte was?« Jordan glaubte sich verhört zu haben. Der Release ihres neuen Albums hatte sich verzögert und die Verantwortlichen in der Plattenfirma waren darüber höchst ungehalten. »Wie stellt er sich das vor? Sollen wir die zweihundert Fans wieder ausladen?«

»Nein, aber anstatt des Meetings mit Fragen der Fans an euch und gemeinsamen Fotos wird es nach der Veranstaltung nur eine kurze Signierrunde geben. Die Zeit vor der Aufführung wird für die Presse reserviert. Ich habe bereits die Liste mit den Namen, die wir einladen sollen. Kannst du dir vorstellen, was für ein Aufwand das wird?«

Sie klang müde, und immer wenn sie müde war, wurde sie hektisch. Er konnte beinahe sehen, wie sie sich durch ihr blondiertes Haar fuhr, das sie immer zu einem Zopf gebunden trug, und einige Strähnen herausriss. Seit sie von seiner Persönlichen Assistentin zur Band-Managerin aufgestiegen war, klebte ihr Smartphone wie ein drittes Ohr an ihrem Kopf.

»Das Theater ist bereits gebucht und die Fans müssen informiert werden, dass das Fotoshooting gecancelt wird. Wollen wir hoffen, dass die Hälfte nicht aus Enttäuschung absagt. Das ist doch die beste Presse, die wir haben können, nicht wahr?«

Hier ging es allein ums Geld, das war Jordan klar. Was er als besonderes Event für eine Auswahl der alteingesessenen Fangemeinde geplant hatte, wurde nun von der PR-Abteilung zu einem Medienereignis hochgeputscht. Er hatte ABL Global Records eine horrende Summe für seine Idee abgerungen, das Video in den Ruinen der antiken MayaStätte Chichén Itzá zu drehen. Fakt war, sie hatten ihn in der Hand. Die Kosten für die Produktion des Clips mussten wieder eingespielt werden. Wenn sie keinen Erfolg mit dem neuen Album hatten, war er geliefert. Und die Band mit ihm.

»Ich brauche von dir ein schriftliches O.K. für die Verantwortlichen«, drang Renées Stimme in seine düsteren Gedanken. »Offenbar sind wir schon so weit, dass sie sich jeden Furz von dir abzeichnen lassen, damit du sie nicht ›versehentlich‹ ins falsche Licht rückst. Und da wir gerade beim Absegnen sind, wollte ich wissen, ob ich die Erklärung auf der Band-Website in deinem Namen veröffentlichen kann. Vielleicht haben die Fans dann eher Verständnis.«

Jordan spürte, wie sich eine Kopfschmerzattacke hinter seiner Stirn zusammenbraute. Seit er mit schlaflosen Nächten zu kämpfen hatte, war das zu oft der Fall. Er wünschte, er hätte den geldgierigen Haien in den oberen Etagen der Plattenfirma die Schuld dafür in die Schuhe schieben können.

»Gut, Renée, so machen wir es«, antwortete er. »Ich muss heute sowieso zu ABL fahren und werde bei der Gelegenheit ein ernstes Wort mit der PR-Abteilung und Siggi sprechen.«

»Viel Glück!«, erwiderte Renée und legte auf.

Jordan kochte sich seinen dritten Kaffee an diesem Morgen. Eigentlich mochte er Kaffee nicht besonders. Wenn das so weiterging, hätte er bald nicht nur Kopfschmerzen, sondern auch Magenbeschwerden und einen Herzanfall.

Sig Weiszman war Vorstandsmitglied und seit acht Jahren das allmächtige Auge und Ohr ihres Plattenlabels. Jordan hatte sich bei ihm wegen der geplanten Promotion-Kampagne schon mehrfach beschwert. Im Geiste sah er wieder Siggis gerötetes Gesicht vor sich, das immer einen starken Kontrast zu seinem fast weißen Haar bildete, die Verträge in der Luft schwenkend und mit einem dicken Finger auf ihn zeigend: »Reiß dich zusammen, Junge, oder ich reiß dir den Arsch auf! Wir schreiben bereits rote Zahlen euretwegen. Deinetwegen!« In Gedanken stülpte er ihm eine Suppenschüssel über den Kopf.

Verdammt, es wurde Zeit, dass das Album herauskam und sie endlich auf Tour gingen, damit er diesen verfahrenen Bürokratenmüll hinter sich lassen konnte. Bei ihrer letzten Tournee war alles reibungslos über die Bühne gegangen. Kein Hahn hätte damals nach einer Pressekonferenz gekräht oder ihm vorgeschrieben, wie die Band aufzutreten hatte.

Jordan dachte an ihren letzten Auftritt in Ventura zurück.

Es war eine der besten Shows ihrer bisherigen Bühnenkarriere gewesen und das Gefühl, das er dabei empfunden hatte, erinnerte ihn daran, wofür er all das hier auf sich nahm. Und wenn es nach ihm ging, dann sollten verdammt noch mal einige mehr davon folgen.

KAPITEL 3

Los Angeles, Kalifornien – 3. September

»… daneben.«

Von irgendwo schwebten die Worte an sein Ohr und hindurch. Er murmelte eine vage Bestätigung, mit seiner Aufmerksamkeit voll und ganz bei einem amputierten Hasen. Die Geräusche der Aufräumarbeiten im Saal drangen gedämpft in den Backstage-Raum und die Kopfschmerzen, die ihn geplagt hatten, waren einem dumpfen Pochen gewichen. Er sank tiefer in seinen Sessel – roter Plüsch, an einigen Stellen vom Alter und den Vorbenutzern abgewetzt – und bettete seinen Kopf in eine bequemere Position. Die Muster an der Decke fesselten ihn. Erstaunlich, wie lebendig ein weißgetünchter Verputz sein konnte. Deutlich erkannte er einen bärtigen Hasen. Mit drei Beinen.

Connors Schuhspitze stieß gegen seine ausgestreckten Beine. »Erde an Rockstar!«

»Was?« Jordan hob den Kopf von der Rückenlehne und blinzelte seinen Bruder an.

»Was war vorhin mit dir los, Brüderchen?« Connor hatte sich neben seinem Sessel gegen die Wand gelehnt und kaute auf einem Kaugummi. Der kleine Edelstahlring in seinem Ohr funkelte. Ein antiker Wandspiegel mit einem breiten Silberrahmen reflektierte das Licht der Deckenleuchten.

Durch die angelehnte Tür konnten sie Renées Stimme hören. Sie sprach aufgeregt in ihr Smartphone. Nur einmal unterbrach sie ihren Redefluss, als etwas Schweres zu Boden polterte und ihr eine Schimpftirade entlockte. Jemand murmelte eine Entschuldigung.

Connor stieß ihn erneut mit der Schuhspitze an.

»Erklärung?«

»Bad Hair Day«, antwortete Jordan einsilbig und nahm eine Strähne dunklen Haares zwischen seine Finger, das lang genug war, dass er die Spitzen vor seine Augen halten konnte. So trug er es am liebsten. Eine Haarsträhne auf der rechten Seite hatte er unten in Rot und in der Länge in Silber färben lassen. Rot stand für Blut, Liebe und Lebensfreude, Silber für die unsichtbare Energie in allem Lebendigen. Er war kein besonders spiritueller Mensch, aber er liebte es, mit Symbolen und Deutungsmöglichkeiten zu spielen. Auf Facebook existierte bereits eine Seite, die allein seiner sich wandelnden Haarpracht gewidmet war.

»Bad Hair Day?«, wiederholte Connor und schnaubte abfällig. »Das bringt nicht einmal Renée als Ausrede.«

»Was willst du? Wir hatten schon schlimmere Interviews.«

»Nur hat es damals niemanden interessiert. Verdammt, Jordan, was du dir vorhin geleistet hast, war unter aller Sau!«

Jordan antwortete nicht. Sein Blick suchte wieder nach dem bärtigen Hasen. Aber aus dem Hasen war inzwischen ein Schlumpf mit Hörnern geworden.

Die Pressekonferenz war eine einzige Katastrophe gewesen. Keine Spur von der Schlagfertigkeit, mit der er sonst die Seitenhiebe der Klatschpresse parierte.

Ihr Erzfeind Griffton Glover, ein Promi-Blogger, der mit bürgerlichem Namen Roger Michael Dunne hieß, hatte sich unter die geladenen Journalisten gemischt und mit seinen Fragen die Stimmung aufgeheizt. In der Pressewelt war er bekannt wie ein bunter Hund. Jordan hatte sich zu einem hitzigen Streitgespräch mit ihm hinreißen lassen, ein Fehler, der ihm noch nie unterlaufen war, nicht einmal zu Beginn seiner Karriere. Und Glover war noch das geringste seiner Probleme gewesen.

»Verbuchen wir es als Erfahrung«, warf Tino ein.

Jordan hatte seine Anwesenheit beinahe vergessen. Der Gitarrist verstand es wie kein Zweiter, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Wie ein Chamäleon. Manchmal beneidete er ihn um diese Fähigkeit. Tino saß ihm schräg gegenüber und ließ seinen Blick unverwandt auf ihm ruhen, stets der stille Beobachter. Sein langes Haar hatte er zusammengebunden und unter einer Baskenmütze verborgen. Jordan mochte die Mütze. Sie machte jedenfalls keinen Schlumpf aus ihm.

»An dem Video gibt es außer den Kosten nichts auszusetzen«, fuhr Tino fort, als niemand ihm antwortete. »Die Fans waren begeistert.«

»Die Fans sind immer begeistert. Selbst wenn wir zwischen Mülltonnen gefilmt hätten.« Connor stapfte zum Fenster hinüber und spähte hinaus. »Da unten wartet wieder eine ganze Traube. Davonschleichen ist nicht.«

Jordan rieb sich über die Augen. Tino wanderte zu ihm hinüber und hielt ihm eine Schmerztablette unter die Nase. Der Gitarrist war wie Mutter Teresa. Immer ruhig. Immer aufmerksam.

Jordan schüttelte den Kopf. »Hab meine eigenen.«

Außer Tino, der direkt neben ihm gesessen hatte, hatte niemand seinen Schwächeanfall während des Interviews bemerkt. Ihm waren die wenigen Sekunden wie eine Ewigkeit vorgekommen. Er hatte hinter seiner dunklen Sonnenbrille die Augen geschlossen und gebetet, dass der Saal aufhörte, sich um ihn zu drehen, und seine Lungen wieder ausreichend Luft bekamen. Tino hatte seine Indisposition mit einem Witz überspielt, die Reporter hatten gelacht und er war kurz darauf wieder in das Gespräch eingestiegen. Doch der Schreck saß ihm noch immer in den Knochen. Nie hätte Jordan damit gerechnet, dass ihm das am helllichten Tag und vor lauter Zeugen passieren könnte.

Er wollte seine Aufmerksamkeit wieder der faszinierenden Deckenillustration zuwenden, als die Tür aufgestoßen wurde und Renée zu ihnen hineinstürmte. Ihre Absätze klapperten. Vor Jordan blieb sie stehen und schwenkte ihr Smartphone.

»Phil hat dir für die Videopremiere schon vor zwei Tagen abgesagt. Warum hast du uns nicht darüber informiert?«

Jordan sah zu Renée hoch und durch sie hindurch. Der Bassist hatte sich ihm gegenüber in letzter Zeit sehr abweisend verhalten und war zu den Proben mürrisch oder zu spät erschienen. »Ich dachte, er ändert seine Meinung vielleicht. Du kennst ihn doch. Er ist sprunghaft.«

»Phil ist nicht sprunghaft. Du bist es. Herrgott, Jordan, ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit dir los ist, aber so kann ich meinen Job nicht erledigen.«

»Dann kündige doch.« Connor ließ sich in einen der Sessel fallen und starrte sie an.

Renée ignorierte ihn. Sie warf die Arme in die Luft und jammerte: »Jordan, sieh es ein! Wir brauchen einen Ersatz. Und zwar schnell. Ein Keyboarder fehlt auch noch. Könntest du dich endlich für einen der Jungs entscheiden? Es sind nur noch sechs Wochen bis zum Tourstart. Ich brauche Namen. Asap. Siggi wartet auf deine Antwort. Und je nachdem, was morgen in der Presse steht, kannst du dich auf eine Standpauke gefasst machen.«

»Hättest du darauf geachtet, wer auf der Gästeliste steht, dann müssten wir uns wegen der Presse keinen Kopf machen.« Connor ließ eine Kaugummiblase platzen.

Renée sank auf die Armlehne von Jordans Sessel.

»Griffton Glover stand nicht auf der Liste. Hältst du mich für so dämlich?«

»Glover ist nur eine Stimme von vielen«, sagte Jordan. »Hört auf, den Typen so wichtig zu nehmen.«

»Der Kerl hasst dich, seit du ihn damals vor laufender Kamera hast sitzen lassen«, fuhr Connor ihn an. »Die Klatschblätter zahlen einen Haufen Geld für seine Berichte. Du solltest ihn verdammt ernst nehmen!« Er wippte mit seinem Fuß. Seine grauen Augen glühten.

Renée stand auf und tippte Jordan mit ihrem Smartphone gegen die Schulter. Das Deckenlicht spiegelte sich in ihren Brillengläsern.

»Ich spreche morgen mit Siggi und sage ihm, dass du dich wegen Phil und der anderen Musiker bei ihm meldest. Aber lange kann ich ihn nicht mehr hinhalten.«

Sie steckte das Gerät in ihre Tasche, ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu ihnen um.

»Die Techniker haben alles abgebaut und aufgeräumt. Keine Schäden, keine Versicherung, die zahlen muss. Soll ich nach einem Hinterausgang fragen?«

Jordan schüttelte den Kopf. »Die Leute da draußen werden uns schon nicht die Haare vom Kopf klauen.«

Er stand auf. Zu rasch, denn schon wieder erfasste ihn ein leichtes Schwindelgefühl. Er griff nach der Lehne des Sessels. Sein verschwommenes Spiegelbild im Silberrahmen gegenüber imitierte seine Bewegungen.

»Alles klar bei dir?«, fragte Connor.

Müde, von dunklen Ringen umgebene Augen starrten ihn aus dem Spiegel heraus an. Jordan wandte den Blick von dem unerfreulichen Anblick ab und setzte seine Sonnenbrille auf.

»Klar doch!« Er lächelte. »Los jetzt, Leute! Ich will hier nicht übernachten.«

Die Albträume würden noch früh genug kommen.

KAPITEL 4

Long Beach, Kalifornien – 4. September

Dr. Mills’ Praxis war weiß. Außerordentlich weiß. Weiße Wände, weißer Parkettboden, weiße Aktenschränke, Tische und Stühle. Die einzigen Farbpunkte in seinem Sprechzimmer waren ein mannshohes Gestrüpp mit einer stacheligen Blüte in der Ecke und ein in Braun- und CremeTönen gehaltenes Gemälde, das wie eine postmoderne Interpretation der Beständigkeit der Erinnerung aus Dalís surrealistischer Periode anmutete. Jordan mochte Dalí, aber mit um des Bizarren willen gestalteten Pseudosurrealismen konnte er nichts anfangen.

Zu seiner Erleichterung eröffnete die Terrasse hinter Mills’ Schreibtisch den Blick auf eine grüne Palmenlandschaft unter wolkenlosem Himmel, die seinen empfindlichen Augen Abwechslung von der Eintönigkeit des Sprechzimmers bot.

»Tritt die Atemnot zu bestimmten Tageszeiten auf?« Frederick Mills war Ende vierzig, groß, sportlich, mit weißblonden Haaren und hellen, fast stechenden Augen. Seinem markanten Kinn und den breiten Lippen musste die eine oder andere Spritze zu ihrer allzu glatten Form verholfen haben. Er trug weiße Jeans und ein weißes Polohemd.

Widerwillig lenkte Jordan seine Aufmerksamkeit weg von der Kulisse windbewegter Palmen und richtete sie auf den Mann hinter dem Schreibtisch. »Nein. Meist schrecke ich mitten in der Nacht auf und kann kaum atmen. Aber manchmal geschieht es aus heiterem Himmel.«

»Hatten Sie weitere Schwindelattacken?«

»Zwei- oder dreimal in der letzten Woche. Nicht besonders stark und auch nur einige Sekunden oder eine Minute. Es war fast so, als würde ich dabei aus meinem Körper heraustreten.«

»Hm.« Mills lehnte sich in seinem (weißen) Chefsessel zurück. Er faltete seine Hände so, dass seine Daumen und die aneinandergelegten Zeigefinger ein Dreieck bildeten, und stützte das modulierte Kinn auf die Fingerspitzen.

»Einschlafstörungen?«

»Es ist alles wie zuvor«, erwiderte Jordan gereizt. »Die Medikamente, die Sie mir verschrieben haben, helfen nicht.« Er zwang sich zur Ruhe. Die Anspannung steckte ihm bereits in den Knochen. Solange er beschäftigt war, konnte er sie kontrollieren, aber sobald sein Geist zur Ruhe kam, kehrte sie schlagartig zurück. Und mit ihr die Angst, dass sein Körper ihm plötzlich nicht mehr gehorchte.

Bereits vor drei Wochen hatte er Mills seine Symptome in einem Anamnesegespräch ausführlich erläutert und verspürte nicht den Wunsch, dies zu wiederholen. Dazu hatte er einen dreiseitigen Fragebogen ausgefüllt und hinter der Hälfte aller aufgelisteten Symptome ein Häkchen gesetzt. Atemnot, Herzrasen, Schwindel, Kopfschmerzen, Nervosität, Reizbarkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Müdigkeit, Albträume etc. Die Albträume waren am Schlimmsten.

»Mr. Valentine, ich verstehe Ihre Beunruhigung. Aber sowohl EKG, Blutuntersuchungen als auch EEG waren ohne Befund. Herz und Lunge funktionieren einwandfrei. Eine neurologische Erkrankung konnten wir ebenfalls ausschließen. Alle Ihre Werte sind normal bis auf den leicht erhöhten Puls, was aufgrund des Schlafmangels und Ihrer Rastlosigkeit nicht ungewöhnlich ist. Körperlich gesehen sind Sie topfit. Ich vermute bei Ihnen lediglich eine starke nervliche Belastung, die Sie allein mit Medikamenten nicht in den Griff bekommen werden.«

Der Internist und Neurologe Frederick Mills war Jordan von einem befreundeten Musiker empfohlen worden. Er galt als Koryphäe auf seinem Gebiet und behandelte nicht nur Menschen mit organischen Funktionsstörungen. In seiner Praxis in Long Beach, die er mit drei Kollegen führte, stand eine ganze Reihe bekannter Namen Schlange, um unter gewährleisteter Anonymität ihre diversen Suchterkrankungen oder eingebildete und nicht-eingebildete Wehwehchen zu kurieren. Und wenn es nach Doktor Mills ging, war alles in bester Ordnung. Ungeduldig wippte Jordan mit dem Fuß auf und ab.

»Doktor, meine Tournee startet in sechs Wochen. Ich kann mir keine Ausfälle leisten.«

Mills stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und verlagerte sein Kinn von den Zeigefingerspitzen auf seine Daumen. »Wie fühlen Sie sich?«

»Was?«

»Ich möchte wissen, wie Sie sich fühlen, jetzt in diesem Moment. Hören Sie einen Augenblick in sich hinein.«

Jordan war verwirrt. »Nun, ich …«

»Nehmen Sie sich Zeit.«

Jordan holte Luft und sah an Mills vorbei auf die sanft wogenden Palmwipfel. Eine Möwe schwebte nahezu bewegungslos im Wind. Der Physiotherapeut, bei dem er vor einigen Jahren wegen einer Wirbelverletzung, die er sich beim Skateboarden zugezogen hatte, in Behandlung gewesen war, hatte sich auch nach seinen emotionalen Befindlichkeiten erkundigt. Mit zweifelhaftem Erfolg.

»Ich bin gereizt; unruhig. Denke ich. In meinem Kopf stapelt sich eine Liste mit den Dingen, die ich noch erledigen muss.«

»Konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung, wie ich es Ihnen beim letzten Mal gezeigt habe. Sie stehen unter stetiger Spannung und geben weder Ihrem Körper noch Ihrem Geist eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen.«

Jordan bemühte sich, seine Atemzüge zu vertiefen und das leichte Zittern in seinen Händen unter Kontrolle zu bringen. Er legte sie in den Schoß und strich mit dem Daumen über die Tätowierung auf seinem Unterarm. Das Logo der Band hatte er selbst entworfen. Es ähnelte in seiner Grundform einem griechischen Kreuz, das aus vier gleich langen Kreuzarmen gebildet wurde. Sie standen für die vier Himmelsrichtungen, Beständigkeit und Glück. Darüber lag ein schmaleres, unregelmäßiges Kreuz, das die Vergänglichkeit und Wechselhaftigkeit des Seins symbolisierte. Den Mittelpunkt bildete eine Rosenblüte.

Manche Kritiker sagten ihm eine übertriebene Faszination für den Tod nach. Dabei hatte er es als ein Sinnbild für seine Liebe zum Leben gedacht.

Mills lehnte sich wieder zurück, die zu hellen Augen an die Decke gerichtet, als würde er erwarten, dass sein Patient jeden Augenblick selbst die Lösung für all seine Probleme fand. Seine übernatürliche Ruhe machte Jordan nur noch nervöser.

»Wie ist es jetzt?«, fragte Mills nach einer Weile, ohne ihn anzusehen.

»Ich …« Jordan schluckte. »Ich weiß es nicht.« Hilflos zuckte er die Schultern. »Es ist, als würde ich mich selbst nicht mehr erkennen. Normalerweise komme ich sehr gut mit Stress klar und neige sicher nicht zu Übererregbarkeit. Als Kind hatte ich mit Atemwegserkrankungen zu kämpfen. Sind Sie sicher, dass …«

»Mr. Valentine …«, unterbrach ihn Mills eine Spur zu sanft. »Sie konzentrieren sich viel zu stark auf Ihre Symptome und versuchen krampfhaft, eine Erklärung dafür zu finden. Achten Sie einmal nur auf Ihr Gefühl, nicht auf die Gedanken, die Ihnen unablässig durch den Kopf ziehen.«