Rebel School - Janina Nilges - E-Book

Rebel School E-Book

Janina Nilges

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Beschreibung

"Bereit, Miro?" "Nein, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig." Kaum sind sie wieder vereint, muss sich die kleine Familie Tomic schon wieder trennen. Während Miros Eltern im Internat die Stellung halten, flüchten Jona und Miro vor den Extremen in ein kleines Dorf in Amerika, wo sie sich einer Rebellentruppe zum Schutz der Einheimischen anschließen. Doch können sie den anderen Rebellen wirklich vertrauen? Und sind sie hier wirklich sicher vor den Extremen? Denn wer es sich einmal mit ihnen verscherzt hat, wird für immer gejagt werden... Wieder einmal geraten Miro und Jona durch die Geheimniskrämerei der Schulleiterin in Todesgefahren. Und dann ist da noch die LaserJump-Meisterschaft - überschattet von geheimnisvollen Melodien und Entführungen sind sie die letzte Möglichkeit, die Rebellen ins rechte Licht zu rücken...

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Kapitelverzeichnis

Prolog

Flucht nach Amerika

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Gefangen

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

In Sicherheit, oder?

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Personenverzeichnis

Prolog

Freitag, 04. Januar 2115; später Nachmittag

Ich öffnete die Tür meines Kleiderschrankes und griff nach dem alten, abgegriffenen Buch, das zwischen meinen T-Shirts lag. Im diffusen Licht der untergehenden Sonne, die durch die Rollladenlamellen schimmerte, hockte ich mich neben Miro auf die Bettkante und schlug das Buch auf.

Ein vierzehnjähriges Mädchen und ein fünf Monate älterer Junge blickten in die Kamera eines Handys. Sie saßen breit lächelnd in einem dunklen Wald auf einem steinigen Weg.

„Es ist schön, dich wiederzuhaben“, sagte das Mädchen leise und lächelte und der Junge nickte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich vermisst habe in den letzten fünf Monaten!“

„Kann ich wohle.“ Das Mädchen schob trotzig das Kinn vor. „Was denkst du denn, wie sehr ich dich vermisst habe?“

Das Bild wackelte, drehte sich, stoppte. Die beiden Jugendlichen waren zu sehen: Das Mädchen hielt die Handykamera hoch, der Junge grinste nur breit und hinter ihnen drängelte sich ein riesiger Schatten ins Bild.

„Guck mal, Tacitus will mit auf das Foto!“ Das Mädchen kicherte und der Drache schnaubte, dann wurde das Bild schwarz.

Die beiden Kinder saßen in der Wildnis, um sie herum nur steiniges Gelände und vereinzelt Flechten und kleine Büsche.

„So fühlt es sich also an, auf der Flucht zu sein.“ Der Junge fuhr sich nervös durch die wuscheligen schwarzen Haare.

Das Mädchen nickte stumm und die Kamera schwenkte zu einem riesigen Haufen Gepäck und einem Zelt, das halb unter einer Tarndecke verborgen war.

Wusch!

Das Bild zeigte wieder die Kinder, hinter denen die Wasserfontäne eines Geysirs in die Höhe schoss.

Eine Träne tropfte auf die Seiten. Ich wischte sie schnell weg, schloss das Buch und legte es auf meinen Nachttisch. Die Aufschrift schimmerte silbrig.

Jona & Miro – Erinnerungen.

Miro legte eine Hand an meine Wange und fuhr die Spur der Träne auf meiner Haut sanft mit dem Daumen nach. „Warum weinst du?“

„Vor Glück.“ Ich brachte nur ein zittriges Lächeln zustande. „In den letzten zwei Monaten haben wir so viel mitgemacht, aber wir sind endlich wieder vereint, und das macht das alles wett.“

Flucht nach Amerika

Kapitel 1 „Noch ein Tag“

Samstag, 05. Januar 2115; Nachmittag

Jemand hielt mir von hinten die Augen zu.

„Miro?“

Die Person nahm die Hände weg und setzte mir stattdessen eine Sonnenbrille auf die Nase.

Ich wirbelte herum. „Was-“

„Steht dir gut, und wirst du in den nächsten Tagen auch gut gebrauchen können!“ Miro grinste breit.

Ich schüttelte lachend den Kopf und legte die Sonnenbrille in den Einkaufswagen. Es war der letzte Tag vor unserer Abreise nach Amerika, in ein kleines Wildwestdorf nahe dem Death Valley. In der Gegend war nach über 300 Jahren ein neuer Goldrausch ausgebrochen, der insbesondere die Menschen der EMGER in Scharen in die kleinen Wüstendörfer Amerikas lockte.

Die Rebellenarmeen fürchteten um die Sicherheit und Ruhe der Ureinwohner und der übrigen Menschen, die sich ihnen vor vielen Jahren bei der Neugründung Amerikas angeschlossen hatten.

Daher hatte man kleine Gruppen gebildet, die vor Ort Konflikte zwischen den sogenannten New Natives und Goldsuchern friedlich lösen und somit die erneute Verbannung der Natives in Reservate verhindern wollten.

Miro und ich hatten am Schwarzen Brett des Internats einen Werbeflyer für diese Gruppen gesehen und uns entschieden, uns auf unserer Flucht einer davon anzuschließen.

Ich stoppte den Einkaufswagen bei den Essensregalen. „Sollen wir Essen hier kaufen oder eher in Amerika?“

„Wir sollten zumindest ein bisschen was mitnehmen“, schlug Miro vor und legte ein paar Dosen Ravioli in den Wagen.

Ich musste sofort an Katla und Einstein aus Island denken. Wir hatten keinen Kontakt mehr mit ihnen gehabt, seit wir wieder am Internat angekommen waren – aus Sicherheitsgründen. Man konnte schließlich nicht wissen, wer wo Nachrichten abfangen konnte…

„Noch ein Tag“, murmelte Miro auf dem Rückweg.

Ich nickte nachdenklich. „Es wird wohl Zeit. Je länger wir am Internat bleiben, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Extremen hierher zurückkommen!“

„Es ist so oder so echt komisch, dass sie einfach so verschwunden sind – nach allem, was passiert ist. Ich fürchte, wir werden sie früher wiedersehen, als uns allen lieb ist!“ Miro schob das Messingtor auf und wir betraten das Schulgelände.

„Dazu müssen sie uns erstmal finden. Ich glaube kaum, dass sie uns in Amerika vermuten werden!“ Ich musste unwillkürlich bei dem Gedanken lächeln. „Amerika! Es ist nicht nur eine Flucht, es ist ein Abenteuer! Amerika ist eine ganz andere Gegend! Andere Landschaften, andere Sitten, andere Menschen!“

Miro lachte, hielt mir die Haupttür des Gebäudes auf und wir liefen durch die Flure. „Sie haben dort keine Seelenlieder, stell dir das mal vor! Keine gesellschaftliche Ordnung! Sie sind komplett durcheinandergewürfelt!“

„Sie haben ja angeblich einen naturverbundenen Lebensstil dort“, fügte ich hinzu und ein angenehmer Schauer der Vorfreude lief über meinen Rücken.

Ich öffnete die Tür zu meinem Zimmer – und erstarrte. Meine beste Freundin und Zimmerkameradin Tara saß breit grinsend auf ihrem Bett, in den Armen ihres festen Freundes Paulie, dessen Spitzname Professor war. Tanisha saß verkehrt herum auf Taras Schreibtischstuhl und flocht sich, den Kopf auf die Rückenlehne gestützt, ihre langen Haare zu einem Zopf. Auf dem flauschigen Teppich auf dem Boden lag Leyhana, die wie immer in unterschiedlichen Socken steckenden Füße auf meinem Bett abgelegt ein Glas Cola mit einem Strohhalm neben ihrem Kopf. Und aus den Boxen in der Zimmerecke kam irgendein Rocksong.

Unsere Clique war komplett, und chaotisch wie immer.

„Habt ihr auf uns gewartet?“, fragte ich überrascht und Miro und ich stellten unsere Rucksäcke mit den Einkäufen neben der Tür ab.

„Ihr wusstet doch, dass wir noch ein paar Kleinigkeiten besorgen mussten!“, fügte Miro hinzu und wir ließen uns auf mein Bett fallen.

„Morgen ist unser letzter gemeinsamer Tag, bevor ihr weg seid“, entgegnete Tara, und Paulie ergänzte: „Wir werden morgen den ganzen Tag zusammen verbringen.“

„Wer weiß, wie lange wir uns danach nicht mehr sehen?“, führte Tanisha weiter. „Heute Nacht übernachten wir alle bei euch im Zimmer und gucken Filme, klassisch mit Popcorn und Chips, und morgen gehen wir nach dem Mittagessen im Dorf Eis essen und liefern uns in der Sporthalle noch ein paar LaserJump-Matches! Was sagt ihr?“

Ich konnte mir ein überraschtes Grinsen nicht verkneifen. „Ihr seid echt wahnsinnig!“

„Wahnsinnig gut“, ergänzte Miro und grinste. „Klar sind wir dabei!“

Die anderen waren schon längst in ihre Decken gewickelt eingeschlafen, aber ich lag noch wach und starrte an die Decke. Einerseits hielt mich die Vorfreude auf Amerika wach, aber andererseits auch die Angst. Langsam wurde mir klar, dass wir auf unbestimmte Zeit weg sein würden. Vielleicht Tage, vielleicht Wochen, vielleicht Monate, und vielleicht würden wir nie wieder zurückkehren. Vielleich würden wir auch Tara, Paulie, Tanisha, Leyhana und all die anderen nie wiedersehen, weil sie oder wir von den Extremen ermordet würden.

Mal davon abgesehen, war ich noch nie mit einem Flugzeug geflogen. Und noch nie alleine in einem fremden Land gewesen.

Es würde nicht leicht werden, so viel stand fest.

Kapitel 2 „Russisch Roulette“

Sonntag, 06. Januar 2115; später Abend

Miro spürte schon jetzt, dass etwas Großes auf sie alle zukam. Noch war zwar alles in Ordnung, doch die Ruhe war beunruhigend. Die berühmte Ruhe vor dem Sturm.

Der Tag mit den Freunden war so schnell vergangen und jetzt war Miro mit Jona auf dem Weg zu Miss Campbell, um den Schlüssel zur Turnhalle zurückzugeben.

Auf dem Weg zu Sophy Campbell, die ja eigentlich Sophy Tomić hieß und Miros Mutter war. Manchmal war der Gedanke für ihn noch ungewohnt, aber meistens war er einfach nur froh, endlich Gewissheit zu haben.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Jona sanft und schlenkerte mit rechts den Schlüssel durch die Luft, während sie die Finger ihrer linken Hand mit seinen verschränkte.

„Über vieles“, gab Miro zu. „Weißt du, … früher war alles so viel einfacher für uns. Freundschaft ist unkomplizierter als Liebe. Und Gesellschaftszugehörigkeiten bedeuteten nicht viel für uns, damals. Aber trotzdem wünsche ich mir diese Zeit nicht zurück. Mein Leben ist nicht perfekt momentan, aber es ist gut, wie es ist, obwohl wir in Gefahr sind. Damals hatten wir immer die Gewissheit, uns an meinem vierzehnten Geburtstag trennen zu müssen und womöglich nie wiederzusehen. Und das ist jetzt Geschichte. Wir sind zusammen. Wir haben meine Eltern gefunden.“

„Es war nie wirklich einfach für uns“, korrigierte Jona und strich mit ihrem Daumen sanft über seine Hand. „Es wirkt so, als wäre es früher einfacher gewesen, weil wir in den letzten Monaten viele krasse Sachen durchgemacht haben. Aber erinnerst du dich noch an dieses Gefühl von Freiheit und Rebellion, wenn wir uns abends heimlich rausgeschlichen haben? Freundschaft trotz Verboten? Für die kleinen Kinder, die wir damals waren, war das das größte Abenteuer der Welt, aber auch das schwierigste. Diese Zeit ist jetzt vorbei, Miro. Wir sind hier als Rebellen, so, wie es sein soll. Die alten Zeiten sind vorbei, und irgendwie vermisse ich sie ein bisschen, aber trotzdem sollten wir im Jetzt leben. Die Zeit hier im Internat wird schneller vergehen, als wir denken. Oder vielleicht ist sie auch schon morgen für immer vorbei. Vielleicht werden wir die nächsten Jahre in Amerika verbringen und nie wieder hierher zurückkehren, verstehst du?“

Miro nickte nachdenklich und vergaß sogar, zu klopfen, als er das Büro seiner Mutter betrat.

Die Schulleiterin hob erschrocken den Kopf und ließ einen Zettel sinken, den sie gerade gelesen hatte.

„Oh, sorry.“ Miro betrat den Raum. „Stören wir?“

„Ach, quatsch. Kommt ruhig rein, setzt euch.“

„Ähm, wir wollten eigentlich nur den Schlüssel zurückbringen“, entgegnete Jona unsicher und hielt ihn ihr hin.

Miss Campbell nickte knapp, nahm den Schlüssel entgegen und seufzte. „Ich mache mir Sorgen um euch…“

„Um uns? Weil wir so weit weg sind?“, hakte Jona nach.

„Ja. Man wird euch überall finden, fürchte ich.“ Sophy seufzte erneut. „Hat man euch eigentlich gesehen, als ihr Maddie damals befreit habt? Ich meine, irgendwelche Wachen oder so?“

„Ja, natürlich“, entgegnete Miro. „Dachtest du bei deiner Planung, wir würden ungesehen ins Schloss marschieren, die Listen lesen und wieder abhauen können? Na ja, und dann haben wir auch noch eine Gefangene befreit – klar hat man uns gesehen.“

„Und sonst, außer den Wachen?“

Miro tauschte einen langen Blick mit Jona, bei dem sie wohl beide dasselbe dachten: Ja, die Königin.

Aus ihrem Schweigen schien Sophy alles zu lesen. „Also ja. Und wer?“

Jona zögerte einen Moment. „Meine Mutter. Wieso?“

„Ah, nur so.“ Sophy schüttelte schnell den Kopf – zu schnell – und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.

„Irgendwas stimmt nicht mit dir!“ Miro stützte die Handflächen auf den Tisch und beugte sich prüfend zu seiner Mutter rüber. „Du musst uns sagen, was los ist!“

„Es ist alles in Ordnung, Miro“, entgegnete sie mit fester Stimme, wich aber seinem Blick aus.

Miro seufzte tief und trat einen Schritt zurück, seine Augen wanderten durch den Raum. „Was hast du mit dem Königshaus zu tun?“

„Wie meinst du das?“

„Der Brief, den du eben in der Hand hattest. Im Briefkopf ist das königliche Wappen.“

„Geschäftliche Angelegenheit.“ Sie raffte den Brief hastig zusammen und schob ihn in einen Umschlag, dann ließ sie beides in einer Schublade verschwinden.

„Was für eine geschäftliche Angelegenheit soll das sein, dass du so abweisend reagierst?“ Miro holte tief Luft. „Merkst du nicht, dass du schon wieder Geheimnisse vor mir hast?“

„Es ist nur zu deinem Besten. Und es ist nichts Wichtiges diesmal, wirklich nicht.“ Sophy lehnte sich zurück.

„Ganz genau. Ganz genau so unwichtig wie beim letzten Mal, ja? Deine Lügen bringen uns in eine Spirale, in der wir uns gegenseitig mehr und mehr verletzen. Reicht es nicht, dass wir uns physisch trennen müssen? Deine Lügen spielen Russisch Roulette mit unserem Familienfrieden. Eine geht noch, und noch eine, und irgendwann ist es vorbei.“

„Miro, ich-“

„Komm, Jona, lass uns gehen. Wir verschwenden unsere kostbare Zeit, die wir mit unseren Freunden verbringen wollten.“ Miro nahm Jonas Hand und verließ das Büro. So selbstbewusst er auch geklungen haben mochte, er wusste doch genau, er war mal wieder zu weit gegangen.

„Miro, ich weiß doch nicht, wie ich dir das alles erklären soll“, wisperte Sophy Tomić verzweifelt und eine Träne rann über ihre Wange, als sie die Schublade öffnete und den Brief herauszog. Diesen verfluchten Brief.

Hätte sie all das doch nie begonnen.

Hätte sie doch diesen Auftrag nicht gegeben.

Hätte sie doch Evander einfach angesprochen.

Hätte sie doch Maddie selbst befreit.

Hätte, hätte, Musikkassette. Sie konnte sagen, was sie wollte, konnte sich selbst hassen, so viel sie wollte, aber es war längst zu spät. Sie musste mit ihren Fehlern leben – und dafür bezahlen.

Vielleicht würde man sie einfach vergessen, übersehen. Aber wahrscheinlich war das nicht.

Und sie wusste genau, sie hätte Miro die Wahrheit sagen müssen, denn er hatte Recht. Sie spielte Russisch Roulette, und irgendeine ihrer Lügen würde die Kugel sein, die die Familie zerstörte. Falls es nicht jemand anderes vorher tat. Das Königshaus, oder die Extremen. Letztendlich war es egal, wer es tat.

Sie wusste auch, dass Miro sie immer als Vorbild gesehen hatte. Als stark und unbesiegbar. Aber in Wirklichkeit, hinter dieser strengen Maske, war sie schwach. Hatte nicht einmal den Mut, ihrem eigenen Sohn die Wahrheit zu sagen. Es wäre endgültig. Und sie konnte der Wahrheit kaum ins Auge sehen, wie konnte sie da ein Vorbild sein? Für ihn – und für die anderen Schüler?

Sie stützte den Kopf in die Hände und begann zu weinen.

Kapitel 3 „Rebellentruppführer“

Montag, 07. Januar 2115; sehr früh morgens

Der Treffpunkt der Rebellengruppe war am Frankfurter Flughafen.

Trotz des Streits war Miss Campbell mitgekommen, um sich von Miro zu verabschieden – und auch von mir, vermutlich. Auch Maddie, Evander, Miss Irvin, Tara, Paulie, Tanisha und Leyhana waren dabei, und für ein paar Minuten standen wir einfach im Kreis auf dem Parkplatz. Schweigend. Es gab nichts mehr zu sagen – oder zu viel für den Moment.

Schließlich räusperte Miss Campbell sich. „Sollen wir noch bleiben oder kommt ihr alleine klar?“

Miro schwieg lange und ich erkannte, wie viel schwerer der Abschied für ihn sein musste, im Gegensatz zu mir. Er musste seine wahre Familie zurücklassen. Seit er wusste, wer Miss Campbell, Evander, Miss Irvin und Maddie wirklich waren, hatte er sie gerade mal sieben oder acht Tage lang gesehen, und jetzt waren wir schon wieder auf der Flucht – unklar, wie lange. Dazu kam noch der Streit um Miss Campbells neustes Geheimnis…

Ich allerdings hatte keine wahre Familie hier. Niemand kannte mich so gut wie eine wahre Familie. Die meisten weniger, Miro und vielleicht Maddie sogar besser als meine Eltern und meine Schwester. Das Verhältnis mit meinen Eltern war immer in Ordnung gewesen, das mit meiner Schwester unterdurchschnittlich. Und sie hatten sich scheinbar auch nicht um mein Verschwinden gekümmert. Keine Fahndungsplakate, keine Aufrufe in sozialen Netzwerken. Und der Besuch der royalen Armee letzten Herbst war auch nicht das Wahre gewesen.

Es war ein Fakt. Miro und Maddie waren die einzige wahre Familie, die ich je gehabt hatte.

„Lass uns gehen, Jona“, murmelte Miro und umarmte seine Familie.

Ich überlegte kurz, meine Sonnenbrille aufzusetzen, um potenzielle Tränen zu verbergen, dann fielen mir die Regenwolken am Himmel auf. Die Sonnenbrille wäre wohl auffälliger als alles andere – und außerdem war es nicht schlimm, zu weinen.

Tanisha, Leyhana und Tara umarmten mich und Paulie gab mir ein High Five, dann griff ich nach Miros Hand und wir liefen mit unseren Rollkoffern und Rucksäcken durch das Flughafentor. Ohne einen Blick zurück.

Auf zwei Stühlen im Wartebereich saßen ein Mann und eine Frau mit einem großen Schild mit der Aufschrift Amerika. Und kleiner stand darunter: Rebels For Peace.

„Das sind sie.“ Ich griff nach Miros Hand und dann standen wir auch schon vor den beiden.

Ich räusperte mich. „Hi. Wir, äh, wollen bei Rebels For Peace mitmachen.“

Die junge Frau, sie war höchstens zwanzig, musterte uns überrascht. „Ihr wollt mitmachen? Wie alt seid ihr denn? Und warum seid ihr nicht angemeldet?“

Ich zögerte. „Wir sind vierzehn. Und wir haben es einfach vergessen, sorry.“ Die Wahrheit war, dass wir nicht wollten, dass unsere Namen in irgendwelchen Listen auftauchten, aber das wollte ich erstmal nicht sagen. „Ist das ein Problem? Oder ist unser Alter ein Problem?“

Sie musterte uns nachdenklich, sah kurz zu dem jungen Mann neben ihr, der seinen Blick nur kurz von seinem Smartphone hob, und sah dann wieder zu uns. „Ihr seid schulpflichtig. Und wir werden definitiv nicht vor Ende der Ferien zurückkommen.“

„Wir haben eine Schulbefreiung für den Beginn des neuen Schuljahrs“, erklärte ich. „Beliebig verlängerbar. Und außerdem haben unsere Lehrer uns ein paar Unterrichtsmaterialien mitgegeben.“ Ich reichte ihr die Schulbefreiung, die Miss Campbell uns geschrieben hatte.

Sie las den Text, gab mir den Zettel zurück und lächelte. „Dann sage ich mal, herzlich willkommen im Team! Ich bin Kayleen Marlow, neunzehn Jahre alt, und er ist Ted Scriven, einundzwanzig. Ihr könnt uns selbstverständlich duzen.“

Der junge Mann neben ihr hob den Blick vom Handydisplay und tippte zum Gruß an die Krempe seines Cowboyhuts. „Setzt euch. Ihr seid übrigens die ersten.“

Miro und ich setzten uns auf die Stühle ihnen gegenüber.

„Ich bin Jona Farc“, stellte ich mich vor.

„Ich bin Miro Tomić“, fügte Miro hinzu.

Ted Scriven nickte nur knapp, er war wieder in sein Smartphone vertieft, aber Kayleen musterte uns neugierig. Sie war groß und schlank, hatte haselnussbraune Zöpfe, sonnengebräunte Haut und Sommersprossen, und in ihrem weiten Cowboyhemd sah sie ein bisschen so aus, als wäre sie in der amerikanischen Wildnis aufgewachsen. Einen ähnlichen Eindruck hatte ich von Ted. Er trug ein schlichtes Shirt mit dem Logo der Rebels For Peace-Aktion und kurze Hosen, dazu einen Cowboyhut, und auch er war sonnengebräunt und muskulös.

„Aus welchem Teil der EMGER kommt ihr?“, fragte Kayleen neugierig.

„Mitte. Ehemals Deutschland, glaube ich.“

„Wir gehen aufs Teach ‘em all-Internat“, fügte Miro hinzu. „Habt ihr vielleicht schon von gehört, es ist ja relativ bekannt.“

Kayleen zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ist das nicht das Internat, um das es im Zusammenhang mit Extremen-Kreisen so viel Wirbel gab in der letzten Zeit? Weil dort-“

„Ja, Kay“, unterbrach Ted sie nachdrücklich und hielt ihr sein Smartphone unter die Nase. Kayleen starrte kurz aufs Display, dann zu uns und dann wieder aufs Display. Schließlich grinste sie. „Ihr zwei seid wohl auf der Flucht, was?“

Ich starrte sie erschrocken an. „Woher…“

Sie reichte uns das Handy. Ein Foto auf Instagram war zu sehen. An einer Straßenlampe hing ein Suchplakat, auf dem zwei mir sehr bekannte Gesichter zu sehen waren. Miros und meins. Und darunter stand: Wanted Dead Or Alive.

Es folgte eine Telefonnummer und ein unglaublich hoher Geldbetrag in Dollar.

Miro warf mir einen schockierten Blick zu, und dann drehten wir uns beide zu Kayleen und Ted. „Wo hängt das?“

Kayleen tippte auf den über dem Bild markierten Standort. „In einer Großstadt in Amerika. Aber ich habe auch schon ähnliche innerhalb der EMGER gesehen, wenn ich mich richtig erinnere…“

„In Amerika? Sind wir jetzt nicht mal mehr da sicher?“, warf Miro ein. „Dann können wir ja auch gleich wieder heimgehen!“

„Keine Sorge“, entgegnete Ted. „Für den Rest der Truppe würde ich meine Hand ins Seelenliederfeuer legen. Das sind alles Schulkameraden und Freunde von uns. Definitiv keine Extremen, ich schwöre es.“

„Und du bist sicher, dass sie für das Geld nicht doch…?“, hakte Miro nach, aber Ted nickte fest. „Ganz sicher.“

„Und welches Lied seid ihr?“, fragte Kayleen neugierig weiter und fügte hinzu: „Stimmen die Gerüchte, die man von den Extremen hört?“

„Welche Gerüchte?“, hakte ich misstrauisch nach. „Und vor allem, wieso habt ihr Kontakt zu den Extremen?“

„Wir haben keinen Kontakt“, widersprach Kayleen. „Aber von den Rebellenarmeen aus haben wir uns in die Server der Extremen gehackt. Damit können wir relativ viele Informationen bekommen, sowohl über ihre Pläne als auch über Dinge, die sie herausgefunden haben. In einer Datenbank steht, ihr wärt Know Me und Without You.“

„Woher wissen sie das?“, fragte ich. „Ich meine, dass unsere Freunde und Klassenkameraden das wissen, okay, aber die Extremen? Hat Sally damals in die Schülerakten geguckt?“

„Alodia war ein paar Wochen in unserer Klasse. Selbst, wenn wir nicht mit ihr gesprochen haben – sie hätte nur einen von unseren Mitschülern fragen müssen“, entgegnete Miro.

„Stimmt auch wieder.“ Ich seufzte und sah zu Kayleen. „Ja, die Gerüchte sind wahr. Und ihr, welche Lieder seid ihr?“

„Ted ist Hills Of Fear von den Poisonous Weapons“, erklärte sie und knuffte ihn sanft in die Seite. „Er hat sich schon immer für amerikanische Geschichte, Ureinwohner und den Wilden Westen interessiert.“

„Und Kay ist Songs Of Fights And Freedom von Symphony Starlight“, fügte Ted hinzu und senkte die Stimme. „Sie kann super gut singen. Wäre die Produktion und Verbreitung von neuer Musik nicht weltweit von allen EMGER-Regierungen auf Todesstrafe verboten worden, hätten wir längst mit ein paar Freunden eine Band gegründet und unsere eigenen Alben veröffentlicht. Aber covern ist uns zu langweilig und niemand möchte für die Musik sterben, so ist das Leben eben.“

„Woher kommt das Gesetz eigentlich?“, fragte Miro mich.

Ich zögerte. „Ich denke, man will vermeiden, dass sich neue Musikrichtungen bilden. Neue Musikrichtungen bedeuten neue Gesellschaftsgruppen und das wäre eine Katastrophe für die EMGER. Deshalb auch die Todesstrafe – stellt euch vor: Eine einzige Person könnte die ganze EMGER ins Chaos stürzen.“

Kayleen nickte mir zu. „Genauso ist es. Coverversionen sind ja erlaubt, aber sie müssen genau den Stil des Originals beibehalten oder einem der anderen bereits existierende Stile klar zuzuordnen sein.“

In diesem Moment trat jemand zu uns, ein junger Mann etwa im Alter der Gruppenleiter. „Hi, Leute.“

„Hi, Lewis. Alles Gute nachträglich zum Fünfundzwanzigsten.“ Ted gab ihm ein High Five und der Mann setzte sich zu uns. Er war dunkelhäutig und hatte schwarze Locken, und auf seinen Lippen lag ein freundliches Lächeln. Ted und er begannen sofort ein Gespräch über Politik, aber Kayleen, Miro und ich hörten nicht zu.

„Wir warten noch auf fünf Leute“, erklärte Kayleen. „Der Flug geht in einer Stunde, und wir fliegen mit einer Rebellenmaschine. Seid ihr schon mal geflogen?“

Wir schüttelten die Köpfe und ein Schauer lief über meinen Rücken. Ich hatte Angst, aber ich wollte es nicht zugeben.

„Die Rebellenflieger sind kleiner und ein bisschen anders aufgebaut als die normalen. Es gibt Abteile mit Tischen für Beratungen, weil hauptsächlich Berufstätige und Armeemitglieder wie wir sie nutzen. Ihr werdet aber auch den einen oder anderen Touristen sehen, denke ich.“

Als wir schließlich zusammen mit den anderen Rebellenarmeemitgliedern über das Rollfeld zu unserem Flugzeug liefen, spürte ich überdeutlich meine Hände zittern und meinen Magen rebellieren.

„Alles in Ordnung? Hast du Flugangst?“, fragte Miro und drückte meine Hand.

„Geht so.“ Ich blieb kurz stehen und atmete ein paar Mal tief durch. „Und ich habe keine Flugangst, sondern Absturzangst, das ist viel logischer.“

Miros Mundwinkel zuckten. „Solange dein Humor noch funktioniert, ist alles gut. Und das wird schon werden, Jona! Fliegen ist so sicher!“

„Du bist doch selbst noch nie geflogen“, entgegnete ich.

„Na und? Ich vertraue der modernen Technik. Eigentlich kann nichts passieren.“

„Eigentlich?!“ Ich seufzte und wir stiegen die Treppe hoch ins Flugzeug. Überrascht blieb ich stehen. Von außen hatte das Flugzeug so klein ausgesehen, aber jetzt wirkte es riesig!

„Kommt, unsere Plätze sind hier drüben!“ Kayleen winkte uns zu einem Abteil.

Die Sitze waren im Halbkreis um einen Tisch angeordnet, sodass alle einen Blick aufs Fenster hatten.

Ich saß direkt am Fenster, neben mir Miro und daneben die anderen Mitglieder der Truppe. Sie waren alle in Kayleens und Teds Alter, Miro und ich waren mit Abstand die jüngsten.

Es waren zwei Frauen – die zwanzigjährige Laurie Flores und ihre ein Jahr ältere Schwester Cyan – und außer Lewis Marten noch drei Männer, namentlich der neunzehnjährige Roger Scriven, der ein Cousin von Ted war, Max Adams und Chester Marino – beide zweiundzwanzig.

Eine Durchsage verkündete auf Englisch, dass der Flug jetzt beginnen würde, und dann fuhr das Flugzeug langsam an. Der Flugplatz zog am Fenster vorbei und wir stiegen in die Luft.

Ich atmete ein paar Mal tief durch. Die Übelkeit wurde schon besser.

„Wie lange geht der Flug?“, fragte Miro.

„Etwa zehn Stunden“, erklärte Kayleen. „Wir werden morgen in Los Angeles landen, dort den Mittwoch verbringen und am Donnerstagmorgen mit einem kleineren Flugzeug nach Valleytown fliegen – ein kleines Wildwestdorf. Habt ihr schon eine Ahnung, wie lange ihr bleiben wollt? Ihr dürft schließlich gehen, wann ihr wollt.“

Miro und ich tauschten einen Blick.

„Wir haben keine Pläne, ehrlich gesagt“, gab Miro zu und ich fügte hinzu: „Vielleich sind wir auch eines Tages ohne Abschied weg, weil Extreme im Dorf auftauchen – wer weiß das schon? Aber bis Mitte Februar werden wir auf jeden Fall bleiben, wenn es möglich ist.“

Kayleen nickte mitfühlend und dachte kurz nach, dann schlug sie vor: „Wollt ihr ein bisschen erzählen? Aus eurem Leben, meine ich? Wir anderen kennen uns schließlich, und ihr seid neu in der Clique.“

Miro und ich tauschten einen weiteren Blick und ich zwang mich zu einem Lächeln. „Gerne.“ Die anderen schienen ja recht vertrauenswürdig zu sein.

Abwechselnd begannen Miro und ich zu erzählen. Über unsere Kindheit, den Abschied, meine Flucht aufs Internat, wie Miro vergiftet worden war, die Suche nach Gegenmittel und Täter, der Einbruch ins Schloss, die Flucht nach Island.

Es klopfte und eine Stewardess betrat das Abteil, vor der Tür stand ein Essenswagen. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Ein paar der anderen bestellten Brötchen oder Süßigkeiten, aber ich war trotz allem noch zu nervös zum Essen.

„Tiere sind hier drinnen verboten, Miss“, bemerkte die Stewardess dann. Ich verstand erst nicht, was sie meinte, dann sah ich die kleine Klapperschlange in Kayleens Händen.

„Das ist nur eine kleine Schlange. Die wird schon nicht auf Ihre Perserteppiche kacken“, erwiderte Kayleen.

„Tier ist Tier. Sie sollten froh sein, dass dies Ihre erste Verwarnung ist, sonst würde es jetzt teuer für Sie werden!“ Die Stewardess verschwand wieder und Kayleen verwandelte sich in einen Wüstenfuchs und fauchte die zugeschlagene Tür an. Ted legte eine Hand in ihr langes Fell. „Pass lieber auf, dass du nicht erwischt wirst. Auch verwandelte Rebellen sind Tiere, zumindest für die Fluggesellschaften.“

Kayleen gähnte demonstrativ und zeigte ihre spitzen Zähne, dann verwandelte sie sich wieder zurück. Teds Hand lag jetzt auf ihrer.

„Also, wo waren wir stehengeblieben?“, fragte Miro.

„Bei eurer Flucht nach Island“, erwiderte Cyan. „Ihr habt bei diesem Geysir gezeltet und…?“

„… dort unsere Ausrüstung überprüft“, ergänzte ich und Miro fuhr fort: „Nach ein paar Tagen sind wir dann weitergezogen…“

„Und jetzt erzählt ihr doch mal was“, warf ich in die Runde. Als wir unsere Geschichte beendet hatten, waren wir von den anderen sehr ausführlich bedauert worden, was sowohl unangenehm als auch ein bisschen nervig war. Klar, es war alles ziemlich dramatisch und gefährlich gewesen, und trotzdem wollte ich das alles gegen nichts auf der Welt eintauschen.

„Über uns?“ Kayleen lachte. „Dann fangen Ted und ich mal an, okay?“ Sie grinste Ted an und begann: „Wir kommen beide gebürtig aus Valleytown. Unsere Familien kannten sich sehr gut und waren eng befreundet. Irgendwann entschlossen sie sich, in die EMGER zu ziehen, um dem armen Dorfleben in Valleytown zu entfliehen. Wir waren damals vielleicht neun oder zehn…?“ Sie warf einen prüfenden Blick zu Ted, der nickte: „Unsere Seelenlieder haben wir jedenfalls erst später, an unserem vierzehnten Geburtstag, bekommen, und nicht schon beim Umzug zusammen mit unserem Pass.“

„Wir wollten beide Polizisten werden“, übernahm Kayleen, „aber es war unmöglich. Man hat uns schon in der Schule schlechter behandelt – wir waren anfangs auf einer gemischten Schule – und es war klar, dass es in der Ausbildung nicht anders werden würde. Wer will schon Rebellen als Polizisten?“ Sie lachte bitter. „Jedenfalls haben wir uns stattdessen bei den Rebellenarmeen beworben und dort unsere Ausbildung gemacht. Wir dürfen uns jetzt offiziell Rebellentruppführer nennen, und ihr seid unsere Gruppe!“ Sie strahlte in die Runde.

Kapitel 4 „Attention To Rebels“

Dienstag, 08. Januar 2115; unbekannte Zeit

Das Flugzeug landete. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war – mein Smartphone zeigte kurz nach Mitternacht, sprang dann aber auf drei Uhr nachmittags und zeigte „Zeitzone: Los Angeles“ an. Das passte schon eher zum strahlend blauen Himmel…

Ich gähnte ausgiebig. Obwohl der Flug unkompliziert gewesen war, hatte ich kaum geschlafen und zusätzlich hatte ich mit dem Jetlag zu kämpfen. Aber ich wusste, ich durfte jetzt nicht schlafen, sonst würde ich mich nie an die Umstellung gewöhnen…

„Wir gehen jetzt in unser Hotel“, erklärte Ted, als wir mit unseren Koffern vor dem Flughafen standen – mitten in L.A. „Ihr werdet ja morgen noch den ganzen Tag haben, um die Stadt zu entdecken.“

Ich nickte nur. Ich sehnte mich nach einem gemütlichen Bett – und es war inzwischen schon später als erwartet, da es am Flughafen einige Probleme mit unseren Koffern gegeben hatte und wir uns dort lange aufgehalten hatten.

„Wir werden wohl ein bisschen laufen müssen“, fügte Kayleen hinzu. „In allen amerikanischen Städten wurde in den letzten hundert Jahren der Verkehr drastisch reduziert – Autos gibt es kaum mehr, hauptsächlich reist man mit Straßenbahnen. Und selbst die sind schwer zu erreichen.“

Eine halbe Stunde später waren wir endlich an der Rezeption unseres Hotels angekommen. Meine Hände zitterten und mein Nacken tat weh, weil ich mich die ganze Zeit nach Extremen umgesehen hatte. Doch die gab es hier nicht, und so froh ich darum auch war – unsicher war ich trotzdem.

Schließlich hielt ich den Schlüssel zu Miros und meinem Zimmer in der Hand.

Kayleen legte mir kurz die Hand auf die Schulter. „Falls irgendwas sein sollte: Unser Zimmer ist direkt neben eurem. Macht euch keine Sorgen.“

Miro und ich nickten und dann fuhr die ganze Truppe mit dem Aufzug in den zehnten Stock des Wolkenkratzers.

„Coole Aussicht.“

Mit einem Kaffeebonbon im Mund, und den Kopf gegen die Scheibe des Panoramafensters gelehnt, blickte ich auf die Dächer der Stadt unter uns. In diesem Viertel war das Hotel eines der höchsten Gebäude und man hatte eine wundervolle Aussicht auf den Nachthimmel und die beleuchteten Häuser unter uns.

Im Hotelpark scharten sich winzige Punkte um Lagerfeuer – Menschen?

„Ich bin ja mal gespannt, was wir über das Leben der Menschen hier erfahren werden“, gähnte Miro in diesem Moment. Er lag auf dem Bauch auf dem Bett, den Kopf auf die Handflächen gestützt, und schaute ebenfalls nach draußen.

„Du meinst die neue Naturverbundenheit?“, fragte ich nach. „Es fängt ja schon damit an, dass man den Verkehr auf einen Bruchteil des früheren reduziert hat…“

„Viele sollen ja auch angeblich wieder in die Prärie umgezogen sein, um so zu leben, wie die Indianer früher“, fügte Miro hinzu. „Das sind die, denen wir mit den Goldgräbern helfen sollen.“

Ich nickte.

Für ein paar Minuten genossen wir schweigend die Aussicht, dann zückte ich die Sofortbildkamera. „Los, wir machen ein paar Fotos für unser Album!“

Am nächsten Morgen saßen wir mit den anderen aus der Truppe an einem Frühstückstisch in der großen Hotelhalle.

„Soll ich euch einen Tipp geben?“, fragte Kayleen in die Runde und grinste breit. „Besorgt euch heute in L.A. schicke Klamotten. Im Saloon in Valleytown ist ständig eine Fete!“

Zuerst blickten wir uns unsicher an, aber sie schien es ernst zu meinen.

„Und ihr müsst dort echt auf euer Geld aufpassen“, fügte sie noch hinzu. „Im Saloon gibt es so viele Glücksspiele und Poker – wenn die Spieler euch einmal um den Finger gewickelt haben, sitzt ihr schneller mit leeren Taschen an ihrem Tisch, als ihr Seelenliederfeuersagen könnt!“ Sie stand auf. „Jetzt aber erstmal raus hier. Los Angeles erwartet euch!“

„Guck mal, Jona, da ist der Stern der Ferrochromes!“ Miro lachte und deutete auf den Boden.

Wir waren auf dem Walk Of Fame unterwegs, auf der Suche nach Leuten, die vor hundert Jahren hier verewigt wurden und deren Namen noch heute bekannt waren.

Wir machten ein paar Selfies mit dem Stern unserer Seelenliederband, dann liefen wir weiter.

Mein Blick wanderte durch die Straßen, – und ich erstarrte. „Miro? Guck mal da, an der Straßenlaterne!“

„Was… oh.“ Miro schluckte und starrte auf das Wanted Dead Or Alive-Plakat, von dem unsere Gesichter die Straßen überblickten.

Es waren zwar nicht viele Leute auf der Straße unterwegs – zumindest nicht so viele, wie das früher angeblich der Fall gewesen war – aber die Ähnlichkeit zwischen den Personen auf dem Plakat und uns, die wir hier unten standen, war einfach zu offensichtlich. Wurden wir wirklich schon von allen Seiten angestarrt, oder bildete ich mir das nur ein?

„Hey, guck mal!“, rief Miro plötzlich auf Englisch und deutete wie wild auf das Schild. „Die sehen ja aus wie wir! Wie lustig!“

„Sag mal…“, begann ich verwirrt, aber er flüsterte: „Spiel einfach mit!“

„Unglaublich“, entgegnete ich halbherzig, ebenfalls auf Englisch. „So ein komischer Zufall!“

Miro zerrte mich in Position und knipste ein Selfie mit dem Plakat, dann zog er mich in eine Seitengasse und atmete tief durch. „Ich hoffe, das hat funktioniert.“

„Was genau war dein Plan? So zu tun, als ob wir das gar nicht wären?“

„Exakt.“ Miro grinste erleichtert. „Irgendwelche Typen hinter uns haben schon die Nummer gewählt, die die Extremen angegeben haben, aber sie haben wieder aufgelegt, als sie uns gehört haben.“

„Wirklich?“ Ich starrte ihn an. „Lass uns bitte von der Straße gehen. In ein kleines Infobüro oder so.“

„Alles klar.“ Miro nahm wieder meine Hand und wir betraten ein kleines Tourist Office auf der anderen Straßenseite.

„Hallo, können wir kurz stören?“ Ich begrüßte den Mann hinter der Theke auf Englisch. Er war klein, konnte kaum über die Kante sehen, und sein Gesicht war von dutzenden Flyern auf der Theke umrahmt.

„Natürlich. Ihr seid nicht von hier, oder?“ Er wuchs und jetzt erkannte ich, dass er eben nur auf dem Boden gekniet hatte und anscheinend einen großen Ordner gesucht hatte, den er jetzt auf den Tisch wuchtete und zur Seite schob.

„Nein, wir kommen aus der EMGER“, entgegnete ich. „Können Sie uns etwas über die… Traditionen des Lebens hier erzählen?“

„Du meinst die Natives?“ Der Mann lachte und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Klar doch. Also, es gibt zwei Sorten von uns New Natives. Ich gehöre zu denen, deren Vorfahren normale Stadtbewohner waren und im Rahmen der Regierungsreformationen einen Bund mit den Ureinwohnern geschlossen haben, das Stadtleben im Sinne der Natur zu verändern. Ich treffe mich jeden Abend nach der Arbeit mit anderen New Natives und wir kümmern uns beispielsweise um die Renaturierung der Stadt, die nach fast hundert Jahren immer noch nicht abgeschlossen ist. Die andere Sorte der New Natives sind wahre Ureinwohner, viele verschiedene Stämmen, die traditionell in der Prärie, in Wüsten und Wäldern lebt – mit Tipis oder Laubhütten, genau wie früher. Das sind die, die zu den alten Stämmen gehören und sich auch im 21. Jahrhundert noch als Natives bezeichnet haben. Wir anderen, wir… Weißen haben uns ihnen nicht angeschlossen, um ihre Kultur zu ehren und ihnen die Ruhe zu lassen, die unsere Vorfahren ihnen genommen haben.“

„Klingt interessant“, befand Miro. „Ohne Zuhause, einfach rumstreunen… genau wie wir vor ein paar Wochen.“

„Bei unseren Ferien in der Wildnis“, fügte ich hastig hinzu, bedankte mich bei dem Mann und zog Miro mit nach draußen. „Du musst aufpassen, was du sagst! Wenn selbst hier Fahndungsplakate hängen, kann jeder ein Spion sein.“