Rebellion. Schattensturm (Revenge 2) - Jennifer L. Armentrout - E-Book
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Rebellion. Schattensturm (Revenge 2) E-Book

Jennifer L. Armentrout

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Beschreibung

Evies erste Begegnung mit Luc hat ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Endlich kennt sie die Wahrheit über ihre eigene Identität. Ihre Erinnerungen sind dadurch allerdings nicht zurückgekommen; ihr fehlen ganze Monate. Evie muss herausfinden, wer sie wirklich ist – und wer sie war. Doch jeder neue Hinweis wirft nur weitere Fragen auf. Während ihrer Suche kommen sie und Luc sich immer näher. Aber fühlt er sich wirklich zu Evie hingezogen – oder nur zur Erinnerung an ein Mädchen, das nicht mehr existiert? Es knistert, bis die Funken sprühen! Dies ist Band 2 der »Revenge«-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer L. Armentrout. Alle bisherigen Bände der Romantasy-Serie, die in derselben Welt spielt wie »Obsidian«: Revenge. Sternensturm Rebellion. Schattensturm Redemption. Nachtsturm

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Jennifer L. Armentrout: Rebellion. Schattensturm

 

Aus dem Englischen von Anja Malich

Evies erste Begegnung mit Luc hat ihr Leben komplett auf den Kopf gestellt. Endlich kennt sie die Wahrheit über ihre eigene Identität. Ihre Erinnerungen sind dadurch allerdings nicht zurückgekommen; ihr fehlen ganze Monate. Evie muss herausfinden, wer sie wirklich ist – und wer sie war. Doch jeder neue Hinweis wirft nur weitere Fragen auf. Während ihrer Suche kommen sie und Luc sich immer näher. Aber fühlt er sich wirklich zu Evie hingezogen – oder nur zur Erinnerung an ein Mädchen, das nicht mehr existiert?

Es knistert, bis die Funken sprühen! Dies ist Band 2 der »Revenge«-Trilogie von SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer L. Armentrout.

Alle Bände der Romantasy-Serie, die in derselben Welt spielt wie »Obsidian«:

Revenge. Sternensturm

Rebellion. Schattensturm

Redemption. Nachtsturm

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Für euch Leserinnen und Leser

Kapitel 1

»Jetzt schieb ihn dir schon rein.«

Blinzelnd blickte ich von meinem dampfenden Teller Tomatensuppe auf und zu meiner Mutter.

Solche Worte wollte ich nie mehr aus ihrem Mund hören.

Ihr blondes Haar war zu einem kurzen, strengen Pferdeschwanz gebunden und ihre weiße Bluse beeindruckend knitterfrei. Ihre Augen funkelten förmlich, während sie über die Kücheninsel hinweg herüberstarrte.

»Oh«, äußerte sich die tiefe Stimme neben mir. »Jetzt fühle ich mich echt unwohl.«

Die Frau, die ich bis vor einigen Tagen für meine biologische Mutter gehalten hatte, wirkte erstaunlich gefasst angesichts des Chaos, das der Kampf auf Leben und Tod, der vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden zu Ende gegangen war, hinterlassen hatte. Normalerweise ertrug sie Unordnung überhaupt nicht. Doch wenn ihre zuckenden Mundwinkel verrieten, dass sie kurz davor war, wieder zu Colonel Sylvia Dasher zu werden, hatte es nichts mit dem zerstörten Esstisch oder dem zerschmetterten Fenster in der oberen Etage zu tun.

»Du wolltest Käsetoast und Tomatensuppe«, sagte sie und spuckte die Worte so angewidert aus, als wären sie neu entdeckte Krankheiten. »Ich habe das extra für dich gemacht und jetzt sitzt du da und starrst das Essen nur an.«

Wo sie recht hatte, hatte sie recht.

»Ich habe darüber nachgedacht«, begann er und beendete den Satz erst nach einer längeren Pause: »Dass es eindeutig zu leicht war, dich dazu zu bringen, mir überbackenen Käsetoast und Tomatensuppe zu machen.«

Sie lächelte gequält, was sich jedoch nicht in ihren Augen widerspiegelte – Augen, die nur braun waren, weil sie spezielle Kontaktlinsen trug, die Schutz vor den Alien-Iriserkennungs-Drohnen, kurz AIE-Drohnen, boten. Eigentlich waren sie leuchtend blau, was ich jedoch nur ein einziges Mal gesehen hatte. »Befürchtest du etwa, die Suppe könnte vergiftet sein?«

Meine Augen weiteten sich und der auf den Punkt überbackene gebutterte Käsetoast in meiner Hand senkte sich auf den Teller.

»Jetzt, da du es sagst, habe ich tatsächlich Angst, sie könnte mit Arsen versetzt sein oder enthält den Rest von irgendeinem übrig gebliebenen Daedalus-Serum. Ganz sicher kann man da wohl nicht sein.«

Langsam schaute ich zu dem jungen Mann auf dem hohen Hocker neben mir. Die Bezeichnung junger Mann war allerdings mindestens irreführend, war er doch nicht einmal ein Mensch. Er war ein Origin, weder Lux noch Mensch, sondern etwas Drittes.

Luc.

Drei Buchstaben, kein Nachname und ausgesprochen wie der englische Name »Luke« war er mir ein totales Rätsel, und ja, er war etwas Besonderes und sich dessen nur allzu bewusst.

»Dein Essen ist nicht vergiftet«, fuhr ich ihn an, in dem Bestreben, dieses schnell abgleitende Gespräch wieder in normale Bahnen zu lenken. Dann holte ich tief Luft. Die Kerze, die vor uns stand, roch so stark nach Kürbisgewürz, dass es Lucs unvergleichlichen frischen Duft nach Kiefernnadeln und Natur überlagerte.

»Darauf würde ich nicht bauen, Peaches.« Sein wohlgeformter Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. Ein Mund, mit dem ich vor Kurzem nähere Bekanntschaft hatte machen dürfen. Ein Mund, der stark ablenken konnte, wie auch der Rest von ihm. »Ich glaube, Sylvia würde mich schon sehr gern loswerden.«

»Ist das so offensichtlich?«, fragte sie und ihr falsches Lächeln wurde noch schmallippiger. »Ich dachte immer, mein Pokerface wäre ziemlich überzeugend.«

»Ich bezweifle, dass du deinen maßlosen Hass auf mich je erfolgreich verbergen können wirst.« Luc lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. »Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal hier war, hast du eine Pistole auf mich gerichtet, und beim letzten Mal wurde ich von dir ebenfalls mit einer Waffe bedroht. Das ist eigentlich mehr als eindeutig.«

»Ich würde es auch noch ein drittes Mal tun«, erwiderte sie schnippisch und spreizte die Finger auf dem kühlen Granit der Arbeitsplatte. »Aller guten Dinge sind drei, sagt man doch.«

Luc senkte den Kopf und dichte Wimpern schoben sich vor die faszinierenden Augen, die an Edelsteine – Amethyste – erinnerten. Nicht nur die Farbe verriet, dass seine DNA nicht ganz der eines Homo sapiens entsprach. Auch die ungleichmäßige Linie, die die Iris umgab, wies darauf hin, dass nur wenig Mensch in ihm steckte. »Ein drittes Mal wird es nicht geben, Sylvia.«

Oje.

Das Verhältnis zwischen Luc und ihr war … ja, es war schwierig.

Grund war eine unschöne Geschichte im Zusammenhang mit dem Mädchen, das ich früher einmal gewesen war. Allerdings hatte ich geglaubt, die Sache mit dem überbackenen Käsetoast und der Tomatensuppe sollte eine Art Friedensangebot sein – eine eigenwillige Form, die weiße Flagge zu hissen, aber immerhin. Doch offensichtlich hatte ich mich geirrt. Seit Luc und ich die Küche betreten hatten, war es zwischen ihnen schnell den Bach runtergegangen.

»Da wär ich nicht ganz so optimistisch«, warnte sie und griff nach einem Geschirrhandtuch. »Du weißt ja, was man über überhebliche Männer sagt.«

»Nein, weiß ich nicht.« Luc stützte erst den Ellbogen auf dem Tresen ab und dann das Kinn auf der Faust. »Aber bitte klär mich auf.«

»Ein überheblicher Mann wird sich immer unantastbar fühlen.« Sie hob den Blick und sah ihn eindringlich an. »Selbst auf dem Sterbebett.«

»Okay!«, ging ich dazwischen, als Luc den Kopf schief legte. »Könnt ihr bitte aufhören, euch gegenseitig mit fiesen Bemerkungen zu übertrumpfen, damit wir endlich wie normale Menschen in Ruhe unseren Toast und unsere Suppe essen können? Das wäre wunderbar.«

»Wir sind aber keine normalen Menschen.« Luc betrachtete mich eingehend von der Seite. »Und mich kann man nicht übertrumpfen, Peaches.«

Ich verdrehte die Augen. »Du weißt, was ich meine.«

»Aber er hat recht.« Meine Mom rieb über einen Fleck auf der Arbeitsplatte, den anscheinend nur sie sehen konnte. »Nichts von alldem hier ist normal. Und wird es auch nie sein.«

Verärgert sah ich sie an, musste aber zugeben, dass an ihrer Behauptung etwas dran war. Alles war anders geworden, seit Luc in mein Leben getreten war, besser gesagt wieder in mein Leben getreten war. Alles hatte sich verändert. Meine Welt war zusammengebrochen, als mir bewusst geworden war, dass alles an mir erstunken und erlogen war. »Aber ich brauche gerade jetzt ein normales Umfeld. Ich lechze förmlich nach Normalität.«

Luc presste die Lippen aufeinander und starrte mit unnatürlich hochgezogenen Schultern abermals auf seinen Toast.

»Es gibt nur eine Art, wieder Normalität in dein Leben zu kriegen, Schatz«, sagte sie und die Verwendung des Kosenamens ließ mich zusammenzucken. So hatte sie mich genannt, solange ich denken konnte. Schatz. Doch seit ich wusste, dass sie erst seit vier Jahren in meinem Leben war, klang die liebevolle Anrede auf einmal … falsch. Oder sogar unwirklich. »Wenn du Normalität willst, dann streich ihn aus deinem Leben.«

Entgeistert ließ ich den Toast fallen – nicht nur, dass sie so etwas vor Luc sagte, nein, dass sie es überhaupt sagte, empörte mich.

»Du hast sie mir schon einmal genommen«, mischte sich Luc nun auch in das Gespräch ein. »Das wird nicht noch einmal passieren.«

»Ich habe sie dir nicht genommen«, gab sie zurück. »Ich habe sie gerettet.«

»Und weshalb, Colonel Dasher?« Luc lächelte zynisch. »Damit sie dir die Tochter ersetzt, die du verloren hast? Damit du etwas gegen mich in der Hand hast?«

Mein Herz zog sich zusammen. »Luc –«

Meine Mom knüllte das Geschirrhandtuch in der Hand. »Du glaubst, du weißt alles –«

»Ich weiß genug.« Seine Stimme war unnatürlich ruhig und freundlich. »Und das solltest du dir besser merken.«

Ich sah, wie ein Muskel an ihrer Schläfe bedrohlich pulsierte, und fragte mich kurz, ob Lux Schlaganfälle bekommen konnten. »Du kennst sie doch gar nicht. Du kanntest Nadia. Aber das hier ist Evie.«

Ich verschluckte mich beim Luftholen. Sie hatte recht und unrecht zugleich. Ich war nicht Nadia. Aber ich war auch nicht Evie. Ich hatte keine Ahnung, wer ich wirklich war.

»Sie sind nicht ein und dieselbe Person«, fuhr sie fort. »Und wenn sie dir wirklich wichtig ist – Evie, meine ich –, dann lässt du sie ziehen und verschwindest aus ihrem Leben.«

Ich fuhr zusammen. »Das ist nicht –«

»Du glaubst, du kennst sie besser als ich?« Lucs Lachen hätte Alaska zum Gefrieren bringen können. »Wenn du glaubst, sie ist Evie, lebst du in einer Fantasiewelt. Und wenn du glaubst, dass es das Beste ist, wenn ich von hier verschwinde, dann kapierst du gar nichts.«

Fassungslos blickte ich von einem zum anderen. »Nur zu eurer Information: Ich sitze hier und kriege jedes Wort dieser Auseinandersetzung über meine Person mit.«

Keiner von ihnen beachtete mich.

»Und nur damit es klar ist, auch wenns wehtut«, redete Luc unbeirrt weiter. »Wenn du wirklich glaubst, dass ich noch einmal gehe, hast du ganz offensichtlich vergessen, wer ich bin.«

Sah ich dort Rauch aus dem Geschirrhandtuch aufsteigen? »Ich habe nicht vergessen, was du bist.«

»Und? Was bin ich?«, hakte er herausfordernd nach.

»Ein Killer, nichts weiter.«

Ach du Scheiße.

Luc grinste verschlagen. »Dann müssten du und ich ja eigentlich wunderbar miteinander zurechtkommen.«

Das durfte echt nicht wahr sein!

»Denk lieber daran, dass du im Moment nur Teil ihres Lebens bist, weil ich es zulasse«, konterte sie.

Luc beugte sich vor, hielt die Arme jedoch weiter verschränkt. »Ich würde wirklich gern erleben, wie du versuchst, mich von ihr fernzuhalten.«

»Provozier mich nicht, Luc.«

»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich provoziere dich schon die ganze Zeit.«

Als ich es bläulich weiß über ihren Fingerknöcheln zucken sah, war es vorbei mit mir. Peitschend und heiß brandeten die Emotionen durch meinen Körper wie ein gewaltiger Zyklon. Es war zu viel – einfach zu viel.

»Schluss jetzt! Alle beide!« Als ich aufsprang, kippte der Hocker um und knallte auf den Boden. Sowohl Luc als auch meine Mom erschraken. »Glaubt ihr wirklich, dass das jetzt irgendwie hilfreich ist?«

Mit großen Augen fuhr Luc auf seinem Hocker herum. Meine Mom wich unterdessen zurück und ließ das Küchenhandtuch fallen.

»Habt ihr schon vergessen, dass ich letzte Nacht fast draufgegangen wäre, weil ein kranker und leicht lebensmüder Origin ein fettes Huhn mit dir zu rupfen hatte?« Ich zeigte auf Luc und bemerkte, wie sich seine Züge anspannten. »Und hast du vergessen, dass du die letzten vier Jahre einfach so getan hast, als wärst du meine Mom? Biologisch ist das unmöglich, weil du eine Lux bist, was du übrigens auch nicht für nötig erachtet hast mir mitzuteilen.«

Die Farbe wich ihr aus dem Gesicht. »Ich bin noch immer deine Mutter –«

»Du hast mir eingeredet, ich wäre ein totes Mädchen!«, rief ich und fuchtelte mit den Armen in der Luft. »Du hast mich nicht einmal adoptiert. Ist das überhaupt legal?«

»Das ist eine verdammt gute Frage«, pflichtete Luc mir bei.

Ich wirbelte herum. »Sei du ganz still!«, polterte ich. Mein Herz raste und meine Schläfen begannen zu pulsieren. »Du hast mich auch die ganze Zeit angelogen. Du hast sogar arrangiert, dass sich meine beste Freundin mit mir anfreundet!«

»Na ja, dass sie deine beste Freundin geworden ist, dafür kann ich nichts«, erwiderte er und löste langsam die Arme aus der Verschränkung. »Das hat sich von selbst so entwickelt, hoffe ich zumindest.«

»Hör auf, das irgendwie logisch begründen zu wollen«, fauchte ich und ballte die Hände zu Fäusten, worauf sich seine Mundwinkel langsam, aber sicher senkten. »Ihr bringt mich beide noch um den Verstand, von dem ich eh kaum noch welchen habe. Muss ich euch wirklich daran erinnern, was in den letzten achtundvierzig Stunden passiert ist, verdammt noch mal? Ich habe erfahren, dass alles, was ich über mich wusste, eine einzige Lüge war, dass ich mit Alien-DNA vollgepumpt wurde, die sich in irgendeinem obskuren Serum befand, dessen Namen ich nicht einmal aussprechen kann, geschweige denn buchstabieren. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, lag auf einmal auch noch ein Mitschüler verkohlt vor mir. Andys Augen waren ihm aus dem Gesicht gebrannt, und dann hat man mich regelrecht durch den Wald gezerrt und ich musste mir das wirre Gefasel eines Origins mit Verlustängsten anhören!«

Beide starrten mich entgeistert an.

Schwer atmend trat ich einen Schritt zurück. »Ich wollte einfach nur mit euch diesen blöden überbackenen Käsetoast und diese beschissene Suppe essen und mal fünf Sekunden normal sein, aber das habt ihr beide mir gründlich verdorben und –« Aus dem Nichts wurde mir schwindelig, und meine Brust fühlte sich seltsam hohl an. »Moment …«

Meine Knie gaben nach und das Gesicht meiner Mutter verschwamm vor meinen Augen. »Evie!«, rief sie.

Luc war so schnell bei mir, dass ich selbst ohne meine kurzzeitige Sehschwäche kaum mitbekommen hätte, wie er sich bewegt hatte. In Sekundenschnelle hielt er mich mit starkem Arm an der Taille. »Evie«, sagte er und legte die freie Hand an meine Wange, um meinen Kopf zu heben. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich ihn gesenkt hatte. »Alles in Ordnung?«

Mein Herz hämmerte wie verrückt und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Ich spürte einen Druck auf der Brust und meine Beine zitterten. Aber ich stand und war am Leben, was wohl hieß, dass ich so weit in Ordnung war. Anders konnte es nicht sein. Ich war nur gerade nicht in der Lage, die Worte herauszubringen.

»Was ist los?« Die Sorge in Moms sich nähernder Stimme war nicht zu überhören.

»Mir ist schwindelig«, japste ich und kniff die Augen zusammen. Ich hatte nichts gegessen seit … seit gestern irgendwann, und bis sie angefangen hatten zu streiten, hatte ich gerade mal einen Bissen zu mir genommen, von daher war es nicht wirklich verwunderlich, dass ich mich schlecht fühlte. Ganz davon zu schweigen, dass in der letzten Woche … oder im letzten Monat alles ein bisschen viel gewesen war.

»Versuch einfach nur zu atmen.« Langsam und ruhig strich mir Luc mit dem Daumen über Kinn und Wange. »Lass dir einen Moment Zeit und atme tief durch.« Und nach einer kurzen Pause: »Es ist alles in Ordnung mit ihr. Aber sie ist letzte Nacht … sie ist ziemlich schwer verletzt worden und es wird ein bisschen dauern, bis sie wieder ganz fit ist.«

Das fand ich seltsam, denn am Morgen hatte ich mich noch gefühlt, als könnte ich einen Marathon laufen, während mir Laufen normalerweise nicht in den Sinn kam, wenn ich nicht gerade von einer Horde Zombies verfolgt wurde.

Doch nach und nach verzog sich der Nebel aus meinem Kopf und auch der Druck auf der Brust und der Schwindel verschwanden. Als ich die Augen öffnete, hätte ich mich fast verschluckt. Mir war nicht bewusst gewesen, wie nahe er mir war, dass er sich vorgebeugt hatte und sich unsere Augen auf einer Höhe befanden, seine Nasenspitze nur wenige Zentimeter von meiner entfernt war.

Verwirrend unterschiedliche Gefühle regten sich in mir und versuchten einander zu verdrängen, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen und verstanden zu werden.

Luc fiel eine bronzefarbene Haarsträhne ins Gesicht, die eins seiner umwerfend unnatürlichen violetten Augen verbarg, während er meinen Blick suchte. Ich betrachtete seine Züge, die so makellos waren, dass sich jeder Normalsterbliche dafür in die Hände eines außergewöhnlich talentierten Chirurgen hätte begeben müssen.

Luc war schön wie ein Panther auf freier Wildbahn, und an einen solchen erinnerte er mich oft. Ein faszinierendes, geschmeidiges Raubtier, das mit seiner Eleganz zu verwirren vermochte und seine Beute genau damit lockte.

Frech hoben sich seine Mundwinkel und das warme Licht der Oktobersonne, die durchs Küchenfenster schien, hob die markanten Wangenknochen noch stärker hervor als sonst, was charmante Schatten auf seinem Gesicht bildete.

Einmal mehr blieb mein Blick an seinen Lippen hängen.

Sobald ich ihn ansah, wollte ich … wollte ich ihn berühren, und während ich ihn noch anstarrte und darüber nachdachte, wurde sein Grinsen ein wenig breiter.

Warnend runzelte ich die Stirn.

Nur wenige Origins konnten Gedanken lesen wie ich ein Buch. Luc war einer von ihnen, wie sollte es anders sein. Zwar hatte er versprochen, sich aus meinem Kopf fernzuhalten, und die meiste Zeit hielt er sich wohl auch daran, aber ausgerechnet, wenn ich etwas besonders Peinliches dachte, lauschte er offensichtlich doch.

So wie jetzt.

Dann wurde sein Grinsen zu einem Lächeln und prompt regte sich ein Flattern in meiner Brust. Wenn er lächelte, war es für mich ebenso gefährlich wie die Quelle. »Ich glaube, es geht ihr schon wieder besser.«

Während ich knallrot wurde, befreite ich mich entschlossen aus seinem Griff. Ich konnte sie einfach nicht anschauen. Sylvia. Mom. Wie auch immer. Luc wollte ich allerdings genauso wenig sehen. »Ja, geht schon.«

»Du solltest endlich etwas essen«, sagte sie. »Ich kann die Suppe noch mal aufwärmen –«

»Ich möchte nichts essen«, schnitt ich ihr das Wort ab, da mir der Appetit komplett vergangen war. »Aber vor allem möchte ich nicht, dass ihr streitet.«

Mit vorgestrecktem Kinn und vor der Brust verschränkten Armen wandte sich meine Mom ab.

»Das will ich auch nicht«, sagte Luc so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob es bei meiner Mom überhaupt ankam.

Als ich ihn ansah, zog sich unwillkürlich meine Brust zusammen. »Wirklich? Ich hatte eher den Eindruck, du wärst richtig scharf auf Streit.«

»Das siehst du richtig«, antwortete er, was mich wiederum überraschte. »Ich habe sie bewusst provoziert, das hätte ich nicht tun sollen.«

Einen Moment lang konnte ich ihn nur fassungslos anstarren, dann nickte ich. »Ich muss euch etwas sagen und ihr müsst mir jetzt beide gut zuhören.« Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Sie kann mich nicht von dir fernhalten.«

Seine Augen leuchteten noch eine Spur violetter und seine Stimme klang rau, als er sagte: »Schön zu hören.«

»Und zwar weil ich mir nicht vorschreiben oder mich zwingen lasse, etwas zu tun, was ich nicht tun will«, ergänzte ich. »Das gilt auch für dich.«

»Das hätte ich auch nicht anders erwartet.« Unauffällig wie ein Geist näherte er sich mir wieder.

Kurz holte ich Luft und wandte mich anschließend meiner Mom zu. Sie war blass, abgesehen davon war ihr Gesicht ausdruckslos. »Und ich weiß, dass du nicht versuchen willst, Luc und mich nach allem, was passiert ist, gewaltsam zu trennen. Du warst sauer. Eure gemeinsame Vergangenheit ist verkorkst. Das habe ich kapiert und mir ist bewusst, dass ihr euch wahrscheinlich niemals mögen werdet, aber mir wäre wirklich sehr geholfen, wenn ihr wenigstens so tun würdet. Ein bisschen zumindest.«

»Es tut mir leid«, sagte meine Mom und räusperte sich. »Er mag empfänglich dafür gewesen sein, mit mir zu streiten, aber das hier nehme ich auf meine Kappe. Ich habe ihn zum Essen eingeladen und dann war ich … ich war unnötig schroff. Natürlich hat er seine Gründe, mir nicht zu vertrauen und nicht gutgläubig gegenüber dem zu sein, was ich tue. Andersherum ginge es mir genauso.« Sie holte tief Luft. »Es tut mir leid, Luc.«

Verblüfft sah ich sie an und ich war nicht die Einzige, die sie anstarrte, als wären ihre Worte schwer zu verstehen gewesen.

»Ich weiß, dass du und ich uns nie mögen werden«, begann meine Mom erneut. »Aber wir müssen versuchen miteinander auszukommen. Für Evie.«

Luc stand da wie eine Statue in einem der wenigen Museen, die die Alien-Invasion überstanden hatten. Dann nickte er. »Für sie.«

Später saß ich in meinem Zimmer auf der Bettkante und betrachtete die Pinnwand mit den Fotos von meinen Freunden und mir. Ich wusste nicht einmal, wie lange ich schon darauf starrte, aber ich konnte den Blick einfach nicht abwenden.

Luc war kurz nach der #kaesetoastpleite gegangen, was gut gewesen war. Selbst wenn sich die Wogen etwas geglättet hatten, war es besser, ein wenig Abstand zwischen den beiden zu schaffen. Am besten so viel, dass sie sich an Orten mit unterschiedlichen Postleitzahlen aufhielten. Ich wollte hoffen, dass sie sich zusammenreißen würden, wusste aber auch, dass ich womöglich zu viel von den beiden erwartete.

Seufzend ließ ich den Blick über die Fotos wandern. Auf einigen chillten wir einfach oder alberten herum. Auf anderen trugen wir Halloween-Kostüme oder waren schick zurechtgemacht samt Haar und Make-up. Ich. Heidi. James. Zoe.

Zoe.

Sie war die Erste gewesen, mit der ich mich vier Jahre zuvor auf der Centennial-Highschool angefreundet hatte. Wir hatten uns von Anfang an gut verstanden, nicht zuletzt, weil wir beide während der Invasion schreckliche Verluste erlitten hatten – das hatte ich zumindest immer geglaubt. Unser Zweierteam war schnell durch Heidi zum Trio erweitert worden und bald hatte sich auch noch James zu uns gesellt. Wir vier waren gemeinsam durch dick und dünn gegangen, doch auch Zoe hatte mich belogen. Genau wie Luc. Und meine Mom. Zoe war beauftragt worden, meine Freundin zu werden und auf mich aufzupassen, weil Luc es nicht tun konnte. Vielleicht stimmte sogar, was er vorhin gesagt hatte. Dass sie sich zwar mit mir anfreunden sollte, wir aber von selbst beste Freundinnen geworden waren. Wer wusste das schon? Ich nicht. Und wir würden es auch nie erfahren.

Einmal mehr knurrte mein Magen. Wenn ich mich nicht langsam in Richtung Küche bewegte, würde er sich noch selbst verdauen. Insgeheim hoffte ich, meine Mutter hätte sich in ihr Zimmer zurückgezogen, auch wenn ich mich dabei schlecht fühlte, aber nach einem Streit war die Stimmung immer sehr angespannt und damit würde ich im Moment echt nicht klarkommen. Als ich auf dem Weg nach unten den Fernseher hörte, war mir allerdings schnell klar, dass mir so viel Glück nicht vergönnt war.

Ich drückte die Schultern durch und holte tief Luft. Im Fernsehen lief eine Messie-Sendung, und ich schüttelte den Kopf, während ich weiter in den Küchenbereich ging.

Sie stand an der Kochinsel, auf der ich eine Tüte Chips erblickte – Sour Cream und Cheddar, meine Lieblingssorte. Außerdem lagen Senf, Brotscheiben und eine Packung Aufschnitt vor ihr: Roastbeef. Meine Mom war dabei Roastbeef-Sandwiches zuzubereiten, hatte allerdings gerade erst damit angefangen, denn bislang befand sich lediglich Senf auf den Brotscheiben. Sie griff nach dem Roastbeef. »Ich hoffe, du bist hungrig.«

Ich verlangsamte den Schritt. »Woher wusstest du, dass ich runterkommen würde? Hast du an meiner Zimmertür gelauscht, in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen?«

»Vielleicht.« Kurz wirkte sie ein wenig verlegen. »Wenn du nicht freiwillig gekommen wärst, hätte ich versucht, dich hiermit rauszulocken.«

Ich blieb hinter dem Barhocker stehen, der mir zuvor umgefallen war und den sie offensichtlich wieder aufgestellt hatte. »Ja, ich bin hungrig.«

»Sehr gut.« Sie deutete auf den Hocker. »Die Sandwiches sind gleich fertig.«

»Danke.« Ich setzte mich und beobachtete sie mit den Händen im Schoß dabei, wie sie erst eine und dann noch eine Scheibe Roastbeef auf das Brot legte. Währenddessen herrschte betretenes Schweigen; ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

Sie hingegen wusste zum Glück – oder auch nicht – genau, was sie sagen wollte. »Wenn du noch sauer auf mich bist, verstehe ich das nur zu gut«, sagte sie und kam in Colonel-Dasher-Manier direkt zum Punkt, ehe eine weitere Scheibe Roastbeef auf dem Sandwich landete. »Ich habe mich entschuldigt, aber ich weiß, dass ich heute Dinge zu Luc gesagt habe, die ich besser nicht gesagt hätte, und du hast recht: Nach allem, was du durchgemacht hast, war so etwas das Letzte, was du noch brauchtest.«

Locker verschränkte ich die Arme im Schoß und sah mich in der Küche um. »Eigentlich … hat Luc ja damit angefangen. Das mit den Waffen, die du auf ihn gerichtet hast, hätte er wirklich nicht noch mal anbringen müssen, und ich weiß, dass ihr beide euch wahrscheinlich nie mögen werdet, aber –«

»Du brauchst ihn«, beendete sie den Satz für mich und bedeckte die dicke Roastbeef-Schicht mit einer zweiten Scheibe Brot.

Ich spürte, wie meine Wangen zu glühen anfingen. »So würde ich es nicht formulieren.«

Verhalten lächelnd blickte sie auf und sah mich an. »Du bist genauso sehr ein Teil von ihm, wie er ein Teil von dir ist.« Dann schwand ihr Lächeln und sie schüttelte den Kopf. »Luc glaubt, er weiß alles. Aber so ist es nicht.«

Ich war froh, dass Luc diesen Satz nicht gehört hatte.

»Vor allem meint er zu wissen, warum ich so gehandelt habe, als ich beschloss … dabei zu helfen, dass du zu Evie wurdest, aber auch das stimmt nicht. Er weiß doch nicht, was in meinem Kopf vorgeht«, fuhr sie fort, und ich fragte mich, ob ihr bewusst war, dass Luc Gedanken lesen konnte. Eigentlich müsste sie es wissen. »Und vertrauen tut er mir schon gar nicht. Das kann ich ihm nicht verdenken.«

»Aber du hast meinen Vat–, du hast Jason daran gehindert, ihn zu erschießen«, erinnerte ich sie. »Und du warst nicht die Einzige, die Geheimnisse hatte. Er auch. Es ist ja nicht so, dass nur du ihm Gründe geliefert hast, dir nicht zu vertrauen. Das gilt umgekehrt genauso.«

Sie nickte und griff nach der Chipstüte. »Du hast recht. Vielleicht versuchen wir es einfach noch mal und nächstes Mal klappt es besser.«

»Vielleicht«, murmelte ich.

»Du klingst nicht überzeugt.«

»Bin ich auch nicht«, gab ich lachend zu.

Während sie einige Chips auf den Teller neben das Sandwich schüttete, verzog sich ihr Gesicht zu einem sarkastischen Grinsen. »Was jedenfalls feststeht, ist, dass ich deine Mutter bin, wenn auch nicht biologisch oder urkundlich belegbar, und ich mag auch erst vier Jahre in deinem Leben sein, aber du bist meine Tochter und ich habe dich lieb. Ich würde alles tun, um sicherzustellen, dass es dir gut geht, so wie es jede andere Mutter auf der Welt tun würde.«

Meine Unterlippe zitterte und meine Kehle brannte. Tochter. Mutter. Einfache und doch so kraftvolle Wörter. Wörter, die ich gern mein Eigen nennen wollte.

»Ich weiß, dass du sauer bist, weil ich es dir nicht gesagt habe, und das verstehe ich. Ich fürchte, es wird lange dauern, bis du darüber hinweg bist. Das ist nur natürlich. Ich wünschte, ich wäre von Anfang an offener damit umgegangen, was Luc und deinen Hintergrund angeht. Spätestens, als er zum ersten Mal hier aufgekreuzt ist, hätte ich dir die Wahrheit sagen sollen.«

»Ja, das hättest du. Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern, stimmts? Es ist, wie es ist.«

Meine Mutter wandte den Blick ab und strich sich mit der Hand übers T-Shirt. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt statt einer Bluse ein hellblaues Baumwoll-T-Shirt. »Ich wünschte nur, ich hätte mich anders verhalten, dann hättest auch du anders handeln können.«

Ich hob den Blick und als ich sie betrachtete, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, sie richtig zu sehen. Irgendetwas an ihr … stimmte nicht. Sie wirkte mindestens zehn Jahre jünger, als sie es eigentlich war, war aber blasser als sonst. Ihre Züge waren angespannt, und um ihre Augen hatten sich zarte Fältchen gebildet. Über ihre Stirn zogen sich tiefere Linien, die vierzehn Tage zuvor noch nicht dort gewesen waren, wie ich hätte schwören können.

Trotz der Lügen und der Millionen Dinge, die ich nach wie vor nicht verstand, war ich plötzlich besorgt um sie. »Alles in Ordnung mit dir? Du siehst müde aus.«

»Ich bin ein bisschen müde.« Sie berührte ihre Schulter. »Es war eine Weile her, seit ich … seit ich das letzte Mal die Quelle aufgerufen hatte.«

Ein Schauder durchfuhr meinen Körper. Sie hatte die Quelle aufgerufen, als sie gegen Micah gekämpft hatte. »Ist das normal?«

»Ja, schon, wenn man länger nicht davon Gebrauch gemacht hat, es wird sich schon wieder geben«, antwortete sie und lächelte, verhalten, aber ehrlich. »Und jetzt iss endlich.«

Ich fühlte mich ein wenig besser, fast normal sogar, und verschlang Sandwich und Chips so schnell, dass ich mich eigentlich hätte verschlucken müssen. Da ich anschließend noch immer hungrig war, ging ich zum Kühlschrank und überlegte, ob ich mir wirklich die Mühe machen sollte, die Erdbeeren, die ich darin erblickte, in Stücke zu schneiden und zu zuckern, oder ob ich mich besser für etwas Unkomplizierteres entschied.

»Wenn du damit fertig bist, dich vor dem Kühlschrank abzukühlen, möchte ich dir etwas zeigen«, verkündete meine Mom hinter mir.

Belustigt schnaubend griff ich nach einer Packung String Cheese. Damit ging ich abermals zum Mülleimer und beförderte die Verpackung in den Müll. »Was denn?«

»Komm mit.« Sie drehte sich um, und ich folgte ihr in den vorderen Bereich des Hauses zu der Flügeltür, von der ihr Arbeitszimmer abging. Als meine Mom sie öffnete, wurde ich instinktiv langsamer.

Innerlich widerstrebte es mir, den Raum zu betreten, in dem ich Bilder von ihr, der echten Evie, in einem versteckten Fotoalbum gefunden hatte. Mir war immer gesagt worden, es gäbe keine Alben von früher mehr. Während der Invasion war angeblich keine Zeit gewesen, um sie mitzunehmen. Ich hatte es blind geglaubt, doch inzwischen kannte ich die Wahrheit.

Der Grund dafür war, dass nicht ich, sondern die echte Evie auf den alten Fotos zu sehen war.

»Erinnerst du dich noch daran, wie du mich spät am Abend bei der Arbeit angerufen hast, weil du das Gefühl hattest, es wäre jemand im Haus?«, fragte sie.

Mit der Frage überrumpelte sie mich. Sie meinte die Nacht, in der ich unten jemanden gehört hatte. »Ja, das werde ich wahrscheinlich nicht vergessen, bis ich achtzig bin. Du meintest, ich würde es mir einbilden.«

»Hast du aber nicht.« Sie wandte sich ihrem Schreibtisch zu. »Jemand war hier drinnen und hat etwas gestohlen.«

Ich öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus, was wahrscheinlich gut war, denn was sich auf meiner Zunge zusammenbraute, waren fast ausnahmslos Flüche. Schließlich fand ich jedoch meine Stimme wieder. »Du hast gesagt, es würde nichts fehlen.«

»Ich habe mich geirrt und dieses Mal habe ich dir wirklich nichts vorgegaukelt. Mir ist es erst heute Nachmittag aufgefallen. Ich habe es beim Aufräumen bemerkt«, erklärte sie.

Mir war ein Rätsel, was man in ihrem Büro noch aufräumen konnte. Es war organisierter als ein Kalender.

Beunruhigt sah ich sie an. »Was fehlt?«

Sie griff in die Schreibtischschublade, zog das verdammte Fotoalbum hervor und öffnete es. Einige Seiten waren leer. »Ich war gerade dabei, hier ein wenig Ordnung zu schaffen, als es mir zufällig in die Hände fiel. Ich hatte es mir eine Weile nicht angeschaut, deshalb tat ich es heute. An dieser Stelle waren Bilder von … von Jasons Tochter. Fotos von Geburtstagen und ein paar weitere Schnappschüsse.«

Sie ließ die Finger auf den leeren Seiten ruhen. »Die hat jemand rausgenommen.«

Wild schwirrten die Gedanken in meinem Kopf umher, während ich den Kopf hob. »Das muss Micah gewesen sein. Er war …«

»Er war was?«

Er war auch vorher schon mal in unserem Haus gewesen und hatte mich im Schlaf gekratzt – und gewürgt. Ich hatte es für einen Albtraum gehalten, bis er es mir gegenüber zugegeben hatte. Wenn ich nur daran dachte, schüttelte es mich. Meine Mutter wusste nichts davon. Ich verschränkte die Arme und blickte auf meine nackten Füße. Von einem meiner großen Zehen begann der violette Nagellack abzublättern.

Die Fotos gestohlen zu haben, hatte Micah nicht zugegeben, und er hatte auch von sich gewiesen, Andy aus meinem Jahrgang und die arme Familie in der Stadt umgebracht zu haben. Nur für Colleens und Amandas Tod hatte er die Verantwortung übernommen, doch Luc und ich waren einfach davon ausgegangen, dass er gelogen hatte.

Wenn aber nicht?

Und warum sollte er ein Interesse an Bildern der echten Evie haben? Er wusste von Anfang an, wer ich war. Er brauchte keinen Bildbeweis. Mein Magen spielte verrückt, während ich abermals zu ihr aufblickte. »Was ist, wenn es nicht Micah war? Warum sollte jemand sie stehlen?«

Meine Mom presste die Lippen aufeinander, bis die untere fast verschwunden war. »Ich … ich weiß es nicht.«

Kapitel 2

»Wir lassen uns nicht mundtot machen! Wir wollen kein Leben in Angst!«, hörte ich April Collins am Montagmorgen vor dem Schulgebäude skandieren. »Schule ohne Lux! Schule ohne Angst!« Ihre Stimme schmerzte wie ein rostiger Nagel an meinen Nervenenden.

Ich wurde langsamer und blinzelte in die Sonne. April hob ein leuchtend pinkfarbenes Plakat hoch und schwenkte es hin und her, während eine kleine Gruppe Schüler hinter ihr weitergrölte: »Schule ohne Lux! Schule ohne Angst!«

Eine junge Lehrerin versuchte April und die anderen dazu zu bewegen, aufzuhören und ins Schulgebäude zu gehen, jedoch ohne Erfolg. Um auch nur irgendetwas auszurichten, hätte sie wahrscheinlich noch mindestens zwei große Tassen Kaffee gebraucht.

So viel Blödsinn ließ sich am frühen Morgen einfach nicht ertragen.

Ich hätte zu Hause bleiben sollen, wie meine Mom es gewollt hatte, schon allein, um nicht mit ansehen zu müssen, wie April die Stimmung in der Schule vergiftete. Allerdings hätte ich mich dann zu Tode gelangweilt und meine Mom wäre zu Hause geblieben. Wenn ich meine Freunde und … Luc sehen wollte, wie ich es später vorhatte, dann musste ich in die Schule gehen.

Und deshalb wohl oder übel mit April zurechtkommen.

Wenigstens war mir nicht noch einmal schwindelig geworden, obwohl ich letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen hatte. Zuerst konnte ich nicht aufhören, über die fehlenden Fotos nachzudenken, auch wenn ich mir eigentlich ziemlich sicher war, dass Micah sie gestohlen hatte, und nachdem ich endlich eingeschlafen war, hatte mich wenige Stunden später ein Albtraum wieder aufgeweckt.

Darin befand ich mich einmal mehr mit Micah und Luc im Wald … er war schwer verletzt und –

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Schnell verdrängte ich den Gedanken und setzte zügig meinen Weg fort. Offensichtlich hatte sich April inzwischen angewöhnt, morgens vor dem Eingang der Schule zu demonstrieren und nach Unterrichtsende auf dem Parkplatz – beides Orte, wo sie von allen registrierten Lux, die unsere Schule besuchten, auf jeden Fall gesehen wurde.

Ich schaute mich um, und als ich weder Connor noch einen anderen Lux erblicken konnte, hoffte ich, dass sie bereits im Schulgebäude gewesen waren, als April angefangen hatte. Die meisten Leute beachteten sie gar nicht. Nur wenige blieben stehen und hörten zu. Ein Mädchen, das ich nicht kannte, weil sie wahrscheinlich noch recht neu hier war, versuchte lautstark zu widersprechen, doch die Sprechchöre von April und ihrer Truppe übertönten sie.

Eilig lief ich die Stufen zum Eingang der Centennial-Highschool hinunter. Als ich mich April näherte und sie sich in meine Richtung drehte, fühlte ich mich angesichts ihres wippenden, langen blonden Pferdeschwanzes unwillkürlich an den Schweif eines Pferdes erinnert. Sie ließ das alberne Plakat sinken, auf dem in großen Blockbuchstaben SCHULE OHNE LUX stand – und zwar ohne Scheiß mit Glitzerstift geschrieben.

Kopfschüttelnd wendete ich mich der AIE-Drohne zu, die über dem Eingang schwebte und die Augen aller Schüler scannte, um sicherzugehen, dass kein nicht registrierter Lux das Gebäude betrat. Was die Erfinder der Drohne nicht wussten, war, dass Lux und Origins mit speziellen Kontaktlinsen längst einen Weg gefunden hatten, unerkannt zu bleiben. Manchmal fragte ich mich, wie lange sie damit noch sicher wären. Irgendwann würde die Regierung dahinterkommen, allerdings war es erstaunlich, wie lange die meisten Lux bereits hier gewesen waren, ohne dass man in zahlreichen Ministerien oder der allgemeinen Bevölkerung überhaupt etwas von ihrer Existenz geahnt hatte. Mehrere Jahrzehnte, wenn nicht noch länger.

»Hi, Evie!«, rief April. »Willst du nicht mitmachen?«

Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, hob ich die rechte Hand und streckte den Mittelfinger aus, während ich weiter auf die Glastür zuging.

»Das ist aber nicht gerade freundlich.« April schloss zu mir auf. »So behandelt man eigentlich keine Freundin, aber ich verzeihe dir. Weil ich so nett bin.«

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr. Unser Verhältnis war angespannter denn je. April und ich hatten uns nie sehr nahegestanden, dennoch hatte ich sie früher als meine Freundin bezeichnet, selbst wenn sie schon immer schroff gewesen war. »Wir sind nicht befreundet. Nicht mehr.«

»Wie? Wir sind nicht mehr befreundet?«, fragte sie mit erhobenen Augenbrauen.

»Meinst du das jetzt ernst?«, reagierte ich mit einer Gegenfrage.

Sie stieß bei jedem Schritt mit dem Oberschenkel gegen das Plakat. »Sehe ich aus, als würde ich es nicht ernst meinen?«

»Du siehst aus wie eine frömmelnde Betschwester, die ihr Haar ein wenig zu fest zusammengebunden hat«, antwortete ich entschlossen, worauf sie rot anlief. Vielleicht lag es daran, dass ich am Wochenende fast gestorben war, denn ich konnte die Worte, die mir durch den Kopf gingen, einfach nicht stoppen. »Ich habe versucht, mit dir darüber zu reden, was du für übles Zeug von dir gibst und machst, aber das war, wie gegen eine Wand zu reden. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, April, oder von wem du als Kind nicht oft genug in den Arm genommen wurdest – was auch immer dein Problem ist, es ist keine Entschuldigung für diesen Mist.«

Sie funkelte mich an. »Und ich weiß nicht, wie du dich hinstellen und die Lux verteidigen kannst –«

»Das Thema hatten wir schon«, fuhr ich ihr über den Mund, bevor sie wieder meinen vermeintlichen Vater ins Spiel bringen konnte. »Darüber diskutiere ich mit dir nicht mehr, April.«

Kurz schüttelte sie den Kopf, ehe sie tief durch die Nase Luft holte und wild entschlossen zum Konter ansetzte: »Sie können uns umbringen, Evie. Wir könnten tot sein, ehe wir den nächsten Atemzug getan haben. Sie sind brandgefährlich.«

»Sie tragen Deaktivatoren«, entgegnete ich, obgleich ich natürlich wusste, dass das lediglich für registrierte Lux galt. »Du hast recht, dass sie gefährlich sein und uns potenziell umbringen können, aber das kann jeder andere auch. Wir sind genauso gefährlich und trotzdem läuft hier niemand rum und demonstriert gegen uns.«

»Das kannst du nicht vergleichen«, argumentierte sie. »Das hier ist unser Planet –«

»Nun hör aber auf, auch wir besitzen die Erde nicht. Es ist ein verdammter Planet, der mehr als genug Platz für alle Aliens der Welt bietet. Die Lux hier haben dir nichts getan –«

»Woher willst du das wissen? Du weißt doch gar nicht, was mir wer getan hat oder auch nicht«, konterte sie, und jetzt war es an mir, die Augenbrauen zu heben, da ich ernsthaft bezweifelte, dass sie kürzlich durchs Unterholz gezerrt worden war. »Hör zu, wir können ja anderer Meinung sein, aber deshalb musst du mir gegenüber nicht gleich so grob sein. Respektier doch einfach, wie ich darüber denke.«

»Ich soll respektieren, wie du darüber denkst?« Ich lachte zynisch.

»Ja, genau das habe ich gesagt, und ich weiß nicht, was daran so komisch ist.«

»Daran ist komisch, dass du unrecht hast, April. Hier geht es nicht nur darum, anderer Meinung zu sein beziehungsweise die anderer Leute zu respektieren. Ich mag keine Pizza. Du findest Pizza großartig. In dem Fall können wir uns darauf einigen, uneins zu sein, aber hier geht es um richtig und falsch, und was du tust, ist falsch.« Ich trat einen Schritt zur Seite, um Abstand zwischen uns zu schaffen. Mir war schleierhaft, wie sie mich nicht verstehen konnte. April war schon immer schwierig gewesen. Sie hatte oft eine Meinung, bei der es mir in den Fingern juckte, sie zu erwürgen, aber das hier? »Ich kann nur hoffen, dass du es eines Tages einsehen wirst.«

April holte tief Luft und ihre Brust hob sich sichtbar. »Du glaubst, ich habe mich auf die falsche Seite geschlagen, oder? Aber da liegst du falsch, Evie.«

»Ist es wahr?«, fragte Zoe und blieb an meinem Schließfach stehen. Ihre honigfarbenen Locken hatte sie in einem hübschen Knoten gebändigt, wozu ich nie in der Lage gewesen wäre.

Ich öffnete die Schließfachtür und sah sie an. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Was soll wahr sein?«

»Wie jetzt?« Ungläubig erwiderte sie meinen Blick und schlug mir mit Schmackes auf den Arm. »Meinst du das ernst?«

»Autsch.« Ich rieb über die Stelle, an der sie mich erwischt hatte. Sie tat ziemlich weh, dennoch war ich dankbar dafür, denn als wir uns am Morgen gesehen hatten, war die Atmosphäre zwischen Zoe und mir ein wenig verkrampft gewesen. Nicht unbedingt schlecht, aber wir waren miteinander umgegangen wie mit einem rohen Ei. Was auch nicht wirklich überraschend war. Erstens setzte mir immer noch zu, dass wir nicht auf natürliche Art und Weise Freundinnen geworden waren, zweitens musste ich mich noch daran gewöhnen, dass sie wie Luc ein Origin war, vor allem aber haderte ich damit, dass sie mich schon als Nadia gekannt hatte.

Zoe war ganz offensichtlich besorgt, dass ich deswegen sauer auf sie sein könnte, was aber nicht stimmte. Unser Verhältnis war auf die Probe gestellt worden, was aber nichts daran änderte, dass sie nach wie vor meine Freundin war – eine meiner besten Freundinnen, und daran würde sich auch wegen des zweifelhaften Anfangs unserer Freundschaft nichts ändern, zumal wir seitdem viel daraus gemacht hatten.

Der Tatsache, fast einem durchgeknallten Origin zum Opfer gefallen zu sein, der eigentlich ein fettes Huhn mit Luc zu rupfen hatte, war es außerdem zu verdanken, dass ich erkannt hatte, wie sinnlos es war, sauer auf jemanden zu sein, da man ja nie wusste, ob es noch ein Morgen geben würde. Es sei denn, es handelte sich um April. In dem Fall sollte man noch extra Zitronensaft draufspritzen.

Zoe legte den Kopf schief. »Bist du heute Morgen mit April aneinandergeraten?«

»Ach so, ja, bin ich.« Ich schüttelte den Arm aus, ehe ich mein Englischbuch aus dem Rucksack holte, um es zurück ins Schließfach zu legen.

Zoe sah aus, als würde sie gleich noch einmal zuschlagen, weshalb ich vorsichtshalber auswich. »Du hättest den ganzen Morgen Zeit gehabt, mir davon zu erzählen. Stattdessen höre ich zufällig ein Mädchen auf dem Klo darüber reden, von dem ich nicht einmal genau weiß, ob sie überhaupt auf diese Schule geht.«

Ich grinste. »Es war keine große Sache. Sie wollte mit mir reden, aber ich habe nicht mit mir reden lassen.«

Zoe fing die Tür des Schließfachs ab, ehe sie zugefallen wäre. Die goldfarbenen Armreifen an ihrem Handgelenk klimperten. »Keine große Sache? Du erzählst mir jetzt bitte haarklein, was du genau zu ihr gesagt hast, denn offenbar hat es dazu geführt, dass sie Brandon ihr Plakat ins Gesicht geschleudert hat.«

»Das hat sie getan?«, fragte ich erstaunt.

Zoe nickte. »Jep.«

Ein zufriedenes Kichern bahnte sich einen Weg meine Kehle hinauf, während ich nach meinem Geschichtsbuch griff und die Schließfachtür schloss. »Da muss ich bei ihr wohl einen wunden Punkt erwischt haben.«

»Klingt so. Sie ist echt schlecht drauf.«

Ich nickte, während wir einen jüngeren Schüler überholten, der im Schneckentempo durch die Schule trottete. »Und? Was hast du gestern gemacht?«

»Nicht viel, nur eine supertraurige Doku über Koma-Patienten geguckt.«

Zoe schaute sich immer die seltsamsten Dinge im Fernsehen an.

»Und du?«, erkundigte sie sich dann.

»Luc ist vorbeigekommen«, antwortete ich leise, »und Mom hat ihm überbackenen Käsetoast und Tomatensuppe gemacht.«

»Wow.« Sie versetzte mir mit dem Ellbogen einen leichten Seitenhieb. »Das ist doch toll.«

»Na ja …«

»Nicht?«

»Am Anfang ja. Eine Weile waren wir in meinem Zimmer und haben geredet.« Ich merkte, wie ich errötete. »Aber als wir dann unten waren, haben die beiden ziemlich schnell angefangen, sich anzugiften. Sie haben sich immer weiter reingesteigert, bis es echt unschön wurde. Am Ende haben sich aber beide entschuldigt.«

»Luc auch?« Das schien sie zu überraschen.

»Ja, auch Luc. Jetzt gehts wieder, aber Freunde werden die wohl nie werden.«

»Das kann man ihnen nicht verdenken«, erwiderte Zoe. »Ihre gemeinsame …«

»Ja, ich weiß, ihre gemeinsame Vergangenheit ist verkorkst.« Wir betraten die Kantine, wo es nach verbrannter Pizza roch. »Aber ich finde, es ist ein gutes Zeichen, dass sich beide entschuldigt haben. Ich glaube, sie werden sich wenigstens bemühen.«

»Ich hätte zu gern Mäuschen gespielt, als du ihnen die Leviten gelesen hast«, sagte Zoe, während wir in der Essensschlange warteten. »Du kannst echt Angst einflößend sein, wenn du wütend bist.«

Ich lachte, denn wenn ich wütend war, konnte ich nichts anderes tun als brüllen. Zoe oder Luc hingegen konnten dann schnell ein paar Häuser abbrennen. Es war lächerlich, dass Zoe mich als Angst einflößend bezeichnete.

Ich lud mir etwas auf den Teller, das angeblich Braten war, aber wie Gulasch aussah, während Zoe nach einem Stück Pizza griff. Ich musste mich beherrschen, nicht augenblicklich darüberzukotzen.

James saß bereits an unserem Tisch und mümmelte genüsslich seine Chips. Viele ließen sich von seiner Größe einschüchtern, dabei war er in Wahrheit ein riesiger Teddybär, der Auseinandersetzungen scheute … genau wie den Vorboten, was ich ihm nicht wirklich übel nehmen konnte, denn das einzige Mal, dass er dort gewesen war, hatte er den fiesesten Lux überhaupt getroffen.

Grayson.

Argh.

Er hatte zu James gesagt, er würde ihn an eins der Opfer aus dem alten Film Hostel erinnern. Unheimlicher gings ja wohl nicht.

Wir saßen kaum, als James fragte: »Und? Welcher Taken-Film ist der beste? Eins, zwei oder drei?«

Ratlos sah ich ihn an.

»Es gibt drei davon?«, erkundigte sich Zoe.

Ihm fielen die Chips aus dem Mund, weil er ihn vor Erstaunen nicht mehr zubekam, was so komisch aussah, dass ich kichern musste. »Wie kann man nicht wissen, dass es drei davon gibt?«

»Ich habe keinen einzigen gesehen«, gestand ich.

»Ich bin schockiert, empört, fast traumatisiert«, rief er und sah mich mit den Lidern klappernd affektiert an.

Heidi ließ sich unterdessen auf den Stuhl neben James sinken, und mir fiel sofort auf, dass ihr Gesicht unter dem roten Haarschopf heute deutlich blasser wirkte als sonst. Augenblicklich begannen die Alarmglocken zu schrillen.

Zoe schien es ebenfalls bemerkt zu haben. »Was ist los?«, fragte sie an Heidi gewandt.

»Kennt ihr Ryan Hoar?«, fragte sie, und ich ahnte sofort Böses. Wenn jemand so anfing, waren in letzter Zeit nie gute Nachrichten gefolgt.

James hielt beim Chips-Essen inne. »Ja, er ist mit mir zusammen in Kunst, warum?«

»Ich kenne ihn nicht«, sagte Zoe.

»Er ist groß und dünn und wechselt häufig die Haarfarbe. Zuletzt waren sie grün, wenn ich mich recht erinnere«, erklärte Heidi und die Beschreibung kam mir irgendwie bekannt vor.

»Freitag waren sie blau«, verbesserte James. »Heute habe ich ihn noch nicht gesehen. Kunst ist erst in der letzten Stunde.«

»Du wirst ihn auch nicht mehr sehen«, sagte Heidi und legte die Hände auf den Tisch. »Ich habe gerade von seinem Cousin erfahren, dass er am Wochenende gestorben ist.«

»Was?« James ließ die Chipstüte fallen. »Am Freitag war er doch noch auf Coops Party.«

Sofort kam mir Micah in den Sinn, aber das konnte nicht sein, oder? Micah war tot, theoretisch hätte er es allerdings getan haben können, bevor Luc ihn ausgeschaltet hatte. »Ist er … umgebracht worden?«

»Nein.« Heidi schüttelte den Kopf. »Er hat sich wohl irgendwie eine Grippe eingefangen und ist daran gestorben.«

»An einer Grippe?«, wiederholte James und klang ungläubig. »Husten und Schnupfen und so?«

Heidi nickte. »Ja, anscheinend.«

»Wow«, murmelte ich verwundert, weil ich noch nie von jemandem gehört hatte, der an Grippe gestorben war.

Zoe hatte den Blick auf ihren Teller gesenkt. »Das ist tragisch.«

»Ja«, pflichtete Heidi ihr bei.

James setzte sich nur wortlos zurück und ließ die Hände in den Schoß fallen. Niemand von uns sagte mehr etwas, während uns bewusst wurde … oder wir daran erinnert wurden, dass ein unerwarteter natürlicher Tod genauso schwer zu ertragen war wie ein unnatürlicher.

Und dass der Tod ein ständiger Begleiter war, ob mit oder ohne gefährliche Aliens.

Kapitel 3

»Los, nun berühr ihn schon.«

»Nee.« Ich lag gemütlich auf der Seite und versuchte mich auf das aufgeschlagene Buch vor mir zu konzentrieren. Ich sollte Geschichte lernen, weil ich einen unangekündigten Test befürchtete, doch in der Stunde, die ich jetzt schon bei Luc war, hatte ich vielleicht einen Absatz gelesen.

Wenn überhaupt.

Schuld war nicht nur Luc, der mich dauernd ablenkte, ich musste auch die ganze Zeit an Ryan denken. Obwohl ich ihn überhaupt nicht gekannt hatte, bekam ich ihn nicht aus dem Kopf. So jung an einem Infekt zu sterben? Das war unheimlich – unheimlich und tragisch zugleich, und unwillkürlich fiel mir meine Mutter ein, die nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, wie wichtig Grippeimpfungen seien.

Die Schule hatte schon viel zu viele Opfer zu beklagen.

»Jetzt mach, Evie, berühr ihn schon!«, drängte Luc und ich bemühte mich, das Zucken meines Mundes im Zaum zu halten, das seine tiefe Stimme bei mir auslöste, während ich mit dem Finger unsichtbare Kreise auf die weiche Decke malte.

»Nein, danke.«

»Ich bin um Klassen interessanter als das, was du da liest.«

Das war allerdings nur allzu wahr. Die Lektüre über die »Gettysburg Address« riss mich nicht gerade vom Hocker, zumal ich den Eindruck hatte, Präsident Lincolns berühmte Rede wurde in jedem Schuljahr wieder behandelt.

»Nun berühr ihn endlich.« Er blieb hartnäckig. »Nur kurz. Ich weiß, dass du es willst, Peaches.«

Ich gab es auf, ihn noch länger zu ignorieren, und mein Blick wanderte von meinem Geschichtsbuch zu seinem langen, schlanken, neben mir ausgestreckten Körper. Lucs Grinsen wurde zu einem Lächeln, was auf der Stelle ein Flattern in meiner Brust auslöste. Sein Lächeln war echt brandgefährlich.

»Berühr ihn.« Luc ließ den Kopf auf die Seite fallen.

Ich sollte prinzipiell nichts von ihm berühren, denn alles, was mit ihm zu tun hatte, neigte dazu, außer Kontrolle zu geraten … im positiven wie im negativen Sinn.

»Peaches«, murmelte er.

»Was willst …?« Ich sprach nicht weiter, weil ich in dem Moment sah, was ich berühren sollte.

Eine seiner Fingerspitzen leuchtete weiß, als wäre eine Mini-Glühlampe daran befestigt. Ich schnappte nach Luft und war hin- und hergerissen, ob zurückweichen oder heranrücken besser war. »Bist du E.T.?«

Luc kicherte. »Ich bin viel heißer als E.T.«

»Das heißt nicht besonders viel, falls du es noch nicht bemerkt hast. E.T. sieht aus wie ein unförmiges Knetmännchen«, sagte ich und starrte auf seinen Finger. Was ich sah, war kein Licht. Es war die Quelle, eine Energie, die nicht von dieser Welt war. Die Aliens hatten sie mitgebracht, und nur Lux, Hybride und Origins konnten diese Kraft in unterschiedlichem Maß einsetzen. Einige konnten damit heilen. Andere konnten Objekte bewegen. Töten konnten sie damit alle.

Und Luc hatte die Gabe, die Quelle in jeder Hinsicht gekonnt anzuwenden.

»Warum willst du, dass ich ihn berühre?«, fragte ich.

»Das ist eine Überraschung, Peaches«, antwortete er. »Weil ich weiß, dass du mich vermisst hast, als du in der Schule warst.«

»Ich habe dich in der Schule nicht vermisst.«

»Du sollst nicht lügen, Peaches.«

Ich warf ihm einen bösen Blick zu, auch wenn ich im Laufe des Tages tatsächlich immer wieder an ihn denken musste und sich dann stets ein Flattern in mir regte. Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, ob es gut oder schlecht war – fest stand, dass es seltsam war. Immerhin hatte ich doch relativ viel Zeit mit ihm verbracht, wie konnte es also sein, dass ich ihn trotzdem so schnell wieder vermisste? Meinen Ex Brandon hatte ich manchmal ganze Wochenenden lang nicht gesehen und ihn nicht wirklich vermisst. Wenn ich ehrlich war, überhaupt nicht.

»Okay«, sagte ich nach einer Weile. »Ich habe dich vermisst.«

»Sehr.«

»Ein bisschen«, verbesserte ich ihn und musste ein Grinsen unterdrücken, während ich erst den hellen weißen Schein an seinem Finger betrachtete, ehe ich aufblickte, um ihm in die faszinierenden Augen zu schauen. »Warum willst du unbedingt, dass ich ihn berühre?«

Das Spöttische verschwand aus seinem Gesicht und es dauerte einen Moment, bis er antwortete: »Weil du das früher geliebt hast.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Es war etwas, das Nadia geliebt hatte.

Als ich erfahren hatte, wer ich war, konnte ich es zuerst nicht ertragen, auch nur den Namen – Nadia – zu hören, inzwischen aber lechzte ich danach, zu erfahren, was sie gemocht hatte und was nicht, was ihre Träume gewesen waren, was sie später hatte werden wollen und ob sie genauso ängstlich war wie ich oder vielleicht viel mutiger.

Ich wollte unbedingt wissen, was an ihr so besonders gewesen war, dass jemand wie Luc sein Herz an sie verloren hatte.

Kurz holte ich Luft und näherte mich mit der Hand seinem Finger. Ich vertraute darauf, dass Luc die Quelle im Griff hatte und sie mir keine Schmerzen zufügen würde.

Ich spürte die angenehme Wärme des hellen Scheins, die sich wie Sonnenschein anfühlte. Dann nahm ich ein Prickeln auf meinem Arm wahr und kaum dass mein Finger seinen berührte, erstrahlte der ganze Raum in gleißendem Licht. Erschrocken wich ich zurück.

»Sieh dich um«, forderte er mich zärtlich auf.

Ich löste den Blick von dem Leuchten, in dem unsere Finger verschwunden waren, und traute meinen weit aufgerissenen Augen kaum.

Lucs Apartment bestand aus einem einzigen großen Raum, nur Badezimmer und ein begehbarer Schrank waren abgetrennt. Vom Bett aus konnte ich den gesamten Wohnbereich und die Küche überblicken, die allerdings nur selten benutzt zu werden schien.

Jeder Quadratzentimeter, von der Sofalandschaft, den darum verteilten kleinen Tischen und dem Fernseher bis hin zu der Gitarre, die an der Wand mit den bodentiefen Fenstern hing, schien voller blinkender Lichter zu sein, als befänden wir uns mitten in der Weihnachtszeit.

»Was … was ist das?«, fragte ich und beobachtete, wie ein Licht, nicht größer als der Kopf einer Stecknadel, ganz nah an meinem Gesicht vorbeischwebte.

»Die Moleküle in der Luft leuchten.« Ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. »Die Quelle kann eine Verbindung zu diesen Molekülen aufbauen und mit ihnen und den Atomen, aus denen sie bestehen, interagieren. Normalerweise kannst du sie nicht sehen, weil sie zu klein sind, aber die Quelle vergrößert sie und was wie eins aussieht, sind in Wirklichkeit Tausende.«

Wo ich auch hinschaute, sah ich klitzekleine Lichtbälle tanzen. »Auf die gleiche Weise kannst du mithilfe der Quelle Dinge bewegen?«

»Ja.«

»Es ist wunderschön.« Hingerissen genoss ich den Anblick. Gern hätte ich die Hand ausgestreckt und eins dieser Minilichter berührt, aber ich wollte sie nicht durcheinanderbringen. »Ich glaube … Ich glaube, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe.«

»Das Schönste, was ich je gesehen habe, ist es nicht.« Seine Stimme klang jetzt tiefer und ein wenig belegt. Mein Kopf drehte sich in seine Richtung, ohne dass ich es hätte verhindern können.

Luc suchte meinen Blick und ein wohliger Schauer ergriff jede einzelne Zelle meines Körpers.

Mein Herz schlug schneller. »Und das … das habe ich immer mit dir gemacht?«

Er nickte nicht und rührte sich auch nicht, dennoch schien er mir irgendwie näher gekommen zu sein. Sein unvergleichlicher Duft nach frischen Kiefernnadeln drang mir in die Nase. »Ich musste es mindestens einmal am Tag für dich tun.«

»Jeden Tag? Ist das nicht etwas übertrieben?«

»Am Anfang fand ich das auch«, gab er zu und seine Stimme klang zärtlicher denn je. »Als du … als du noch klein warst – noch echt jung, war ich genervt davon, weil du mir stundenlang hinterhergelaufen bist, bis du endlich deine Glühwürmchen bekommen hast.«

»Glühwürmchen?«

»Ja.« Er senkte die Lider und dichte Wimpern schoben sich vor seine Augen. »So hast du die Lichter immer genannt. Glühwürmchen.«

»Sie sehen wirklich aus wie Glühwürmchen in einem Glas.« Ohne seinem stechenden Blick ausgesetzt zu sein, konnte ich mich besser darauf konzentrieren, was er mir gerade erzählte. »Bist du ungeduldig geworden, wenn ich dich darum gebeten habe?«

»Ich war dauernd genervt von dir, als wir jünger waren.« Grinsend presste er seine flache Hand gegen meine, was mir in den Fingerspitzen kitzelte und die um uns herum schwebenden Lichter zum Pulsieren brachte, von der knisternden Energiewelle, die meinen Körper erfasste, ganz zu schweigen. »Wenn ich mich geweigert habe, bist du zu Paris gegangen, und dann hat er so lange auf mich eingeredet, bis ich es doch getan habe, auch wenn er genauso dazu in der Lage gewesen wäre.«

»Ich wünschte, ich könnte mich an Paris erinnern.« Luc sprach von ihm, als wäre er ein älterer Bruder oder Vater für ihn und mich gewesen.

»Ich kann dir auf die Sprünge helfen.« Er ließ den Daumen an meiner Hand entlanggleiten. »Denn du kommst in vielen meiner Erinnerungen vor.«

Du bist meine guten Erinnerungen.

Ich spürte plötzlich einen unangenehmen Druck auf der Brust und befürchtete, an dem Kloß in meinem Hals zu ersticken. Diesen Satz hatte Luc zu mir gesagt, als ich ihn gefragt hatte, ob ich Teil seiner wenigen guten Erinnerungen sei, und ich hatte ihm geglaubt. Nur für mich waren sie verschollen.

Manchmal fiel es mir einfach schwer, die beiden sehr verschiedenen Welten – und Leben – zusammenzubringen. Nadia, die, wie Luc behauptete, mutig und tapfer, liebenswürdig und stark gewesen war. Und Evie, die Sylvia für ihre Mutter gehalten und die Hälfte der Zeit keine Ahnung hatte, was sie eigentlich gerade tat. Auf der einen Seite das Monster namens Jason Dasher und auf der anderen der überall im Land gefeierte Held, der nie mein Vater gewesen war. Ich konnte mich an den Mann erinnern und hatte um ihn getrauert, obwohl ich ihm nie begegnet war.

Wie krank war das?

Und noch schlimmer: Manchmal war ich mir nicht einmal sicher, ob es mich überhaupt gab.

Fotografierte ich wirklich gern oder war es etwas, das eigentlich Nadia mochte? Und spielte es überhaupt eine Rolle, denn letztlich war ich doch Nadia? Wusste ich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, weil ich keine Ahnung hatte, wer ich wirklich war, was ich mochte oder nicht mochte? Konnte ich meinen Wünschen trauen, wenn ich nicht einmal sicher sein konnte, ob sie meine waren oder die der echten Evie oder auch Nadias?

Hatte Luc Nadia auch Peaches genannt?

»Komm wieder zurück zu mir«, flüsterte Luc so nah an meiner Wange, dass ich unwillkürlich nach Luft schnappte.

Blinzelnd schaute ich auf die schmerzhaft vertrauten Züge, die mir doch immer wieder neu waren. »Ich bin doch da.«

»Du warst gerade ganz woanders.« Mit der freien Hand klemmte er mir eine Haarsträhne hinters Ohr, ehe er die Hand langsam in meinen Nacken gleiten ließ. »Siehst du diese Lichter?«

Fragend zog ich die Augenbrauen zusammen. »Ja.«

»Spürst du meine Hand auf deiner?«

»Ja, das tue ich.«

»Und fühlst du das hier?« Er schob die Hand um meinen Hals und drückte sanft auf die Stelle, an der mein Puls sichtbar war, während er meinen Blick suchte.

»Ja … ich fühle es.« Ich hätte tot sein müssen, um es nicht zu fühlen.

»Du bist real, Evie. Es ist egal, wer du einmal warst oder wer du gewesen zu sein glaubtest. Du bist real und ich sehe dich.«

Mir stockte der Atem, bis meine Lungen fast platzten.

»Und ich habe Nadia nicht ein einziges Mal Peaches genannt.«

Er hatte meine Gedanken gelesen. »Luc –«

»Ich konnte nicht anders. Deine Gedanken waren mal wieder wie live auf Sendung.« Sanft strich er mit dem Daumen unter meinem Ohr entlang.

Weise gewesen wäre, von ihm abzurücken und ein wenig Abstand zwischen uns zu schaffen, doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich konnte nicht. Warm rauschte das Blut durch meine Adern und eine absurde Menge an Emotionen drängte sich in meiner Brust. »Der ist also … nur für mich?«

Auf jeden anderen mochte diese Frage lächerlich wirken, aber ich glaubte, Luc verstand, was ich damit meinte. »Ja.« Seine Stimme klang rau, während er seinen Daumen unter mein Kinn schob. »Der bist ganz allein du.«

Ich atmete hörbar aus. Das Gefühl war unbeschreiblich. Es war nur ein alberner Spitzname, der auf die Bodylotion anspielte, die ich gern verwendete, dennoch war es etwas, das nicht zu der früheren Evie oder Nadia gehörte, sondern zu mir im Hier und Jetzt, und daran hielt ich mich fast verzweifelt fest.

Sanft bewegte Luc meinen Kopf zur Seite. Glühende Hitze schoss mir die Kehle hinab und über meine Haut. Lucs Lippen waren samtweich und stahlhart zugleich. Ich hatte keine Ahnung, wie das möglich war, aber so war es und das wusste ich, weil ich sie bereits berührt und geschmeckt hatte. Und nun waren sie so dicht an meinen, wie sie gewesen waren, als wir uns zum letzten Mal geküsst hatten, was mir eine halbe Ewigkeit her zu sein schien, auch wenn es nur wenige Tage waren.

Ich war die Erste, die er je geküsst hatte – na ja, eigentlich Nadia –, und war mir ziemlich sicher, bislang auch die Letzte gewesen zu sein.

»Evie.« Luc sprach meinen Namen aus wie ein Gebet – oder wie einen Fluch.

Ich holte Luft, aber es brachte nichts. Seine Stirn berührte meine, und ich hätte schwören können, dass mir das Herz stehen blieb.

Luc war so nah, dass ich auf den Lippen spürte, wie er zu lächeln begann, und wenn ich meinen Kopf auch nur das kleinste bisschen bewegte, würden sich unsere Münder berühren.

Würde er das wollen?

Würde ich das wollen?