Rechts gewinnt, weil Links versagt - Roberto J. De Lapuente - E-Book

Rechts gewinnt, weil Links versagt E-Book

Roberto J. De Lapuente

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Beschreibung

Eine Linke Alternative ist möglich Die gesellschaftliche Linke steckt seit Jahren in der Krise und schafft es nicht, sich als Alternative für Deutschland zu etablieren. Daran hat natürlich auch die neoliberale Kampagne gegen linke Politik einen Anteil, aber Roberto De Lapuente zeigt in seiner kritischen Analyse auch, dass viele Probleme der Linken hausgemacht sind: Ausladende Gender-Debatten und ewige Marx-Exegesen, aber vor allem die Selbstgefälligkeit und Abgehobenheit, mit der sich manche Linke präsentieren, vergraulen selbst diejenigen, die eigentlich zur Stammklientel gehören sollten. Um wieder mehrheitsfähig zu werden, fordert De Lapuente eine Rückbesinnung auf alte Stärken und einen neuen, ergebnisoffenen Diskurs mit allen Beteiligten.

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Seitenzahl: 277

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Ebook Edition

Roberto J. De Lapuente

Rechts gewinnt, weil Links versagt

Schlammschlachten, Selbstzerfleischung und rechte Propaganda

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-692-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
Einleitung: Alerta, alerta Antifa!
Kein Gespenst geht um
Der Jürgen oder Warum er trotzdem Merkel wählte
DSDWWL: Deutschland sucht den wirklich wahrsten Linken
Der Postmaterialismus, das Fressen und die Moral
Der dritte Weg: ABM für die Linke
Weiter so?
Fundis: Besonders linke Linke
Der zeitlose Klassiker für jede Demo: Die Antifas
Deutschland, Deutschland unter alles: Die Antideutschen
Was fürs Herz: Fantifas und Kolleginnen
Die anonymen Aphoristiker: In der K-Gruppentherapie
Geh doch wieder nach drüben!
Mit Narzissmus gegen Nazismus
Die Moralkeule von der Geschicht’
Der wahre Wert: Ein Warenwert
Mal die Luft anhalten: Ein adoleszentes Trotzverhalten
Mikrokosmische Selbstisolation
Keine Meinung haben ist keine Meinung
Linker Generationenvertrag: Altersstarrsinn sucht jugendlichen Leichtsinn
Die Alternativlose: Jutta Ditfurth und ihr avantgardistisches Geschäftsmodell
Gar kein Materialismus ist auch keine Lösung
Das Nichtige wichtig, das Wichtige nichtig
Alles entpolitisiert
Die verlorene Deutungshoheit oder Geriatrischer Radikalismus
Die Linke schafft (sich) ab
Kapitalismus abschaffen?
Hartz IV abschaffen?
NATO und EU abschaffen?
Den schlechten Menschen abschaffen?
Eine Brandtrede: Über naiven Humanismus
Und schon wieder Marx
Zeiten ändern dich: Alter Hut Neue Linke
… ging im Evoluzzerschritt mit den Revoluzzern mit …
Realos light oder Hunde, wollt ihr ewig opponieren?
Kreativer Sozialismus: Der Rheinische Kapitalismus wäre doch ein guter Ansatz
Frugaler, unaufgeregter, entspannter: Attraktiv für Jürgen werden
Weil links und rechts eben doch keine überkommenen Kategorien sind
Nachwort
Anmerkungen

Vorwort

Es ist ja nicht nur so, dass ich persönlich von den Affekten, Neigungen und Übertriebenheiten linker Fundis genervt bin. Um meine persönliche Befindlichkeit geht es mir in diesem Buch eher sekundär. Ich glaube eigentlich vielmehr, dass die fundamentalistische linke Haltung uns gesamtgesellschaftlich lähmt, uns ihm Status neoliberaler Gesellschaftstransformation und neuer rechter Umtriebe konserviert. Und dieser Umstand ist es, der mich nervt.

Ihr Fett hat die Linke ja in den letzten Jahren in trister Regelmäßigkeit wegbekommen. Das bürgerliche Feuilleton, drittklassige Kolumnisten und Hinterbänkler der Historikerzunft, tobten sich mit vertrauter konservativer Affektiertheit an einem Linksruck ab, den es so, wie sie ihn beschrieben, gar nicht gab. Es dennoch zu behaupten: Das war trendy. Und so haben sich im letzten Jahrzehnt einige Linkenhasser redlich darum bemüht, den Menschen ihr ganz eigentümliches Bild von den Linken im Lande zu vermitteln. Alles nur aus einem Grund: damit die Wählerinnen und Wähler nur bloß keine Experimente wagen.

Freilich war nicht alles, was diese Mahner da so an Instruktionen an ein Massenpublikum herantrugen, gänzlich verkehrt. Natürlich spinnen einige Linke im Lande. Manche sogar gewaltig. Was diese Publizisten allerdings verkehrt dargestellt haben: Sie haben »analytisch« so getan, als ob die Fundis, die sie beschrieben, eins zu eins mit der seinerzeit noch recht jungen Partei der Linken in Deckungsgleichheit zu bringen wären. Auf diese Kolumnisten werden wir gleich noch zu sprechen kommen. Nicht zu ausgiebig – versprochen. Wir haben anderes vor, als Fake-Publizisten zu ernst zu nehmen.

Es ist ein sonderbares Paradox, dass die linken Fundis zwar politisch isoliert sind, keinen Platz mehr an den Schalthebeln politischer Entscheidungsgremien einnehmen, aber gleichzeitig nichtsdestoweniger irgendwie noch einen Wirkungseinfluss auf die allgemeine Befindlichkeit dieser politischen Richtungsangabe zeitigen. Wie eine Kaste von hochmütigen Hohepriestern predigen sie »ihrer« linken Community – ob sie es will oder nicht –, wie man ein richtiges und sittsames Leben im falschen leben sollte. Mit Profanitäten gibt man sich da gar nicht erst ab, mit irritierenden Tatsachen auch nicht. Und sie sind dabei mindestens so faktenresistent wie jene Postfaktischen, als deren politische Kombattanten sie sich wähnen. Wer braucht schon Fakten, wenn er eine Meinung hat? Unfehlbarkeit scheint nicht nur ein katholisches Faible zu sein.

Dieser Einfluss als spirituelle Lordsiegelbewahrer eines Lebensgefühls bringt ein klitzekleines Problem mit sich: Er modelliert aus politischer Weltanschauung eine bizarre, fast esoterisch angehauchte Religion. In Zeiten der Säkularisierung ist das eine ganz miserable Verkaufsstrategie. Und weil die Menschen ja auch noch von manchem Kolumnisten und Historiker gesagt bekamen, dass alle Linken fundamentalistischen Gemüts, ja regelrechte Zeloten seien, lassen sie sich auf eine linke Perspektive gar nicht erst ein. Wer hat schon gesteigerte Lust darauf, dass moralische Wanderprediger in politischen Ämtern aufgehen?

Dieses Buch möchte eine triviale Tatsache nochmals klarstellen: Die Linken – die gibt es gar nicht. Es gibt wie überall solche und solche. Und dann sind da noch diejenigen, die ein bisschen solchener sind als die anderen. Und die schrecken mit ihrer Haltung, ihrem Hang zur Dramatisierung und Diabolisierung politischer Kontrahenten ganz gewaltig die politischen Normalverbraucher ab. Auch – und darum geht es mir vor allem in diesem Buch – auf Kosten anständiger Leute aus dem linken Lager.

Das ist fürwahr kein Nischenproblem, keine Randgruppensorge. Denn es wird langsam, aber sicher Zeit für eine Alternative zur Altersnaiven im Kanzleramt. Eine Alternative übrigens, die diesen Namen verspricht und nicht nur im Namen trägt. Traurig genug, dass man diesen Satz heute nachschieben muss, damit er nicht in den falschen Hals gerät.

Damit alternativ etwas geht, muss sich auch die Linke von ihren fundamentalen Lebenslügen und fundamentalistischen Kollegen ein bisschen distanzieren. Es ist an der Zeit, dass sich das linke Projekt entspannt und von gewissen falschen Freunden deutlich distanziert. Am besten so schnell wie möglich – es eilt, die Neoliberalen machen Koalition, die Rechten knobelbechern im Reichstag durch die Reihen. Links muss was passieren.

Verwechselt die linken Fundis nicht mit der Linken – sie sind es nicht. Sie pflegen einen – nett ausgedrückt – reaktionären Stil und sind eines wahrscheinlich schon lange nicht mehr: links. Ich gebe es ja zu, diese Schlussfolgerung war ein bisschen billig, denn diese besonders linken Linken behaupten ja dasselbe auch von denen, die nicht so radikal sind wie sie.

Daran sieht man: Es geht um die Deutungshoheit innerhalb der Linken. Und es geht darum, endlich eine vernünftige Alternative darzustellen, die die Menschen nicht mit utopischen Aussichten und Umerziehungsratschlägen verprellt.

Lasst euch von diesen speziellen Linken nicht treiben, liebe Linke – auch so hätte dieses Buch letztlich heißen können.

Einleitung: Alerta, alerta Antifa!

»Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.«

– Theodor W. Adorno –

Als ich mich an einem späten Vormittag im Herbst 2016 in die Demonstration gegen das Freihandelsabkommen Ceta einreihte, staunte ich nicht schlecht über das breite Spektrum der anwesenden Gruppen und Personen, die sich in dieser Frage engagierten. Uns alle mochten zwar politisch nicht dieselben Vorstellungen in allen gesellschaftlichen Fragen einen. Zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber als Opposition zu einem Abkommen, das drohte, die Geschicke der öffentlichen Hand in die Obhut einer Konzernjurisprudenz zu überführen, zogen wir in dieser einen Angelegenheit alle an einem Strang. So fanden Landwirte und Stadtmenschen zusammen, trafen junge Hipster auf reifere Herren im Sonntagsstaat und eher konservative Kritiker liefen neben progressiven Gewerkschaftern durch die Frankfurter Innenstadt. Und dann gab es da auch noch dieses chaotische Geschwader, die Antifa, bestehend aus einem schwarzen Block vieler junger Männer und Frauen, die kaum ihrem Kinderzimmer entschlüpft schienen. Unter ihnen tummelten sich allerdings auch eine ganze Menge älterer Zeitgenossen. Zusammen liefen sie in einem rechteckigen Karree, das sie seitlich mit ziemlich lieblos besprühten Stoffspruchbändern zu den anderen Teilnehmern abgrenzten. In dieser Blockexklusivität leisteten sie ihren seltsamen Beitrag gegen Ceta.

Dabei fielen sie im Vergleich zu den anderen Teilnehmern hörbar aus dem Rahmen; sie wirkten fast so, als hätten sie den Bus zur falschen Veranstaltung genommen, skandierten simplifizierende, ja teils auch vollkommen sinnlose Parolen und jubelten jedem Außenstehenden im fraternisierenden Brustton zu, der es ihnen in derselben Undifferenziertheit gleichtat. Durch die Straßen hallten beständig ihre obligatorischen Schlachtenrufe. Obwohl es an diesem Tag nicht gegen Neonazis ging, sondern gegen die Absichten global agierender Konzerne und ihrer politischen Steigbügelhalter, pressten sie ihr Standardrepertoire, das übliche Repetitio aus »Alerta, Alerta Antifascista!«, »Nazis raus!« und »Rassismus raus aus den Köpfen!« aus ihren Kehlen.

Irgendwo dann am Sachsenhäuser Ufer hissten unbekannte Meinungsfreudige ein Banner ans oberste Stockwerk eines höherstöckigen Gebäudes, auf dem zu lesen war »Wahren Handel gibt es nur im Kommunismus«. Die in Schwarztönen gehüllte Gemeinde honorierte das mit anerkennenden Freudenrufen. Plötzlich war da ein Juchzen. Ganz wie Schlachtenbummler, die auf dem Weg in den Fanblock sind. Man spürte deutlich, die waren ganz in ihrem Element. Zwei männliche Gewerkschafter, die wie ich in der Nähe des Blocks ihren Platz im Lindwurm des Protests gefunden hatten, wechselten daraufhin kopfschüttelnd und verlegen grinsend die Position. Das sei nicht ganz ihre Klientel, entschuldigten sie sich hilflos lächelnd, als sie zwecks Neuorientierung scharf ausscherten und mir beinahe auf den Fuß stiegen.

Wie den beiden Männern ergeht es wohl vielen Bürgern draußen in der Republik. Dummerweise setzen viele der Irritierten die politische Linke mit diesen ganz besonderen Zeitgenossen des linken Spektrums gleich. Was nicht verwunderlich ist, denn obgleich diese recht speziellen Linken ganz sicher nicht die Mehrheit ausmachen, schreien doch ausgerechnet sie so laut wie niemand sonst links des Mainstreams. Ihnen geht es dabei freilich primär um die Erlangung der Deutungshoheit innerhalb des linken Diskurses. Sie bewegen sich intellektuell allerdings mehr oder minder wechselweise zwischen Vergangenheit und idealistischen Topoi – ihr Duktus und ihre soziologischen Betrachtungsweisen belegen jedenfalls, dass dem so ist.

Es ist fast schon stringent, dass der angeblich so viel gerechtere Kommunismus, den sie auf Spruchbändern an Häuserfassaden zu ihrer Freude erspähen, immer noch Thema ihrer hanebüchenen Sozialsowjetromantik ist. Dergleichen macht den unbedarften Bürger jedoch für linke Ideen unzugänglich. Das ist besonders bedauerlich, weil die letzten beiden Jahrzehnte eigentlich das Terrain für einen Linksrutsch gewesen wären: Sozialabbau bei wachsendem Reichtum, Kürzungen der Etats und Privatisierungen waren für eine solchen Schwenk auf alle Fälle Gründe genug. Tatsächlich hat sich dann auch relativ bald schon eine Partei der linken Sozialdemokratie gegründet. Und sie zog auch flugs in den Bundestag ein. Dabei blieb es bislang. Prozentual nennenswert zulegen konnte sie in all den Jahren eigentlich nicht.

Dieser Stillstand hat selbstverständlich verschiedene Ursachen. Nicht zu unterschätzen ist hierbei vor allem die über viele Jahre praktizierte Kampagne der Medien gegen diese damals noch junge Linkspartei. Das Repertoire hierzu war mannigfaltig. Von der Diskreditierung des Parteivorsitzenden als »wie Hitler«1 und als jemand, der Nazi-Sprache2 bediene, bis hin zum eher subtilen Vorgehen, indem man Politiker von »Die Linke« einfach nicht in politische Diskussionsrunden einlud: Es war wirklich für jeden schlechten Geschmack etwas dabei. Das verabreichte Schmuddelimage ließ die Partei, deren faktische Stunde geschlagen hätte, weiterhin ein Nischendasein fristen.

Mit der Finanzkrise relativierte sich diese mediale Schieflage etwas. Linke Politiker waren jetzt nicht mehr grundsätzlich Parias. Nun durften sie als Experten ran, denn sie waren es schließlich, die immer ein dumpfes Bauchgefühl dafür gehabt hätten, dass innerhalb des Systems etwas Grundlegendes vermodert sei. Plötzlich konnte man ja selbst im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen, dass ein Mitherausgeber3 dieses konservativen Blattes zu glauben begann, dass die Linke recht habe. Fielen die konservativen Meinungsmacher etwa vom Glauben und ihrer Leitlinie ab? Ganz zu schweigen von den Umfragen, die belegten, dass die Deutschen dem Kapitalismus mittlerweile nicht mehr trauten. Bei Urnengängen gab es allerdings kaum Veränderung, die neoliberale Politik Angela Merkels gab sich alternativloser denn je.

Wahrscheinlich haben auch die vielen Jahrzehnte antisozialistischer Propaganda nachhaltig Wirkung gezeigt. Man wurde ja auch nicht müde, unablässig zu betonen, dass diese Linkspartei die legitime Nachfolgepartei der SED sei, jener gräulichen Einheitspartei aus Ostdeutschland, die per Schießbefehl Mauertote als Kollateralschäden in Kauf nahm. Überdies haben ganz sicher obendrauf auch noch die linksterroristischen Ereignisse der Siebziger- und Achtzigerjahre mitsamt ihrer links-technokratischen Bekennerstatements und Kassiber die bürgerliche Mitte nachhaltig so verschreckt, dass jede linke Systemkritik gleich schreckliche Erinnerungen wecken muss.

Doch maßgeblich, so dachte ich mir, als ich an jenem Herbsttag mit der Herde der Demonstranten quer durch Frankfurt trottete, dürften auch diese Leute in schwarzen Hoodies hier sein, die so fremd und realitätsfern auftreten und aufgrund ihrer lauten Art immer irgendwie wirken, als seien sie die Bewahrer der linken Gesinnung im Lande schlechthin. Solche Leute könnte man fürwahr nicht wählen. Diese Melange aus Geschichtsvergessenheit, Verherrlichung und Simplifizierung ordnet man eigentlich denen zu, gegen die sie oft vorgeben zu sein: Rechtspopulisten, vulgo »Nazi« genannt.

An dieser Stelle, an der man diese Leute symbolisch für alles Linke ansieht, wird gerne etwas durcheinandergebracht: Diese Frauen und Männer aus dem Karree, sie stehen dieser Partei der Linken ja gar nicht sonderlich nahe, halten sogar bewusst skeptische bis ablehnende Distanz zu ihr. Denn diese parteilich organisierten Linken schreien gemeinhin nicht befriedigt auf, wenn jemand behauptet, dass der Kommunismus erst den wahren Handel ausmache. Unter ihnen sieht das Karree nämlich linksliberale Umtriebe und lauter Angepasste am Werk, Frauen und Männer, die politisch häretische Kompromisse eingehen wollen und nicht der Wahrheit dienen, sondern dem Karrierismus. Weichgespülte Leute, die den Kapitalismus nicht mit Stumpf und Stiel ausrotten wollen, sondern selbst zum Rädchen im globalen Verbrecher- oder Schweinesystem, wie sie es gelegentlich nennen, umfunktioniert wurden.

Das aber wissen viele Wählerinnen und Wähler ohne Bezug zum linken Metier oft gar nicht. Sie entnehmen der Presse ja auch weiterhin, dass die Linkspartei unterwandert sei von Linksextremen, von Sektierern, von Maoisten, von K-Gruppen und weiß der Henker was es für Konfessionen da noch so gibt. Normale Linke und Fundamentalisten besetzen ja tatsächlich gar nicht so selten auch dieselben Baustellen, Letztere werden gar gelegentlich von der parteieigenen Stiftung unterstützt4. Und wenn dann mal wieder ein Parteilinker Verständnis für Schwarzblockwarte hegt, die marodierend durch die City stiefeln, könnte man ja wirklich glauben, dass da eine gewisse Nähe auf der Hand liegt. Dabei legen viele fundamentalistische Splittergruppen eher eine ökonomische Grundhaltung an den Tag, die sich ohne Schwierigkeiten in die neoliberale Theorie eingliedern ließe. Wir kommen nachher noch darauf zurück.

Diese an und für sich tolerierte Nähe zwischen realpolitischen Linken auf der einen Seite und Fundamentalisten auf der anderen, die ist, egal wie man es auch wendet, als eine Sackgasse für einen politischen Linksruck einzuordnen. Da kann das ökonomische Klima noch so günstig sein: Solange man die Partei der Linken mit Leuten wie jenen aus dem Karree in Verbindung bringt, verschreckt man die Wähler und treibt sie anderen Alternativen zu. Auch solchen, die keine sind, aber namentlich so heißen.

Die Kritik von konservativer Seite am linken Fundamentalismus ist mittlerweile Legion, man könnte fast sagen, dass es sich zu einem eigenen Genre der politischen Trivialliteratur gemausert hat. Obendrein könnte man behaupten, dass die Kritik an der Linken das nachhaltigste Erbe ist, das uns die 68er hinterlassen haben. Spätestens jedoch, seitdem mit der neuen Partei links der Sozialdemokratie die Gefahr einer Alternative zum feuchten Traumbild des Neoliberalismus drohte, gab es für dieses Metier neues Futter. Fortan warf man die Linken ganz generell und allgemein in einen Topf mit diversen K-Gruppen, der Antifa, links­esoterischen Spinnern und wer weiß was für Fraktionen noch. Ziel dieser neuen Linkenhatz war es, die Linksliberalen, die Gewerkschafter und traditionellen Sozialdemokraten gleich mit den Fundis und Feuerköpfen aus dem Bade zu schütten.

Um die Zeit, da sich die Linkspartei nach und nach als Oppositionskraft etablierte, erblickten einige Bücher das diesige Licht der Kaufregale, die sich belletristisch an der linken Gefahr abhangelten. Der Wirtschaftsjournalist Christian Rickens etwa sprach der Linken zwar ein Lebensgefühl zu, riet ihr aber zu neoliberaler Transformation5. Weniger sachlich gab sich Götz Aly, heute Historiker, früher mal 68er, der die damalige Bewegung mit dem »erwachten Deutschland« von 1933 verglich und darüber hinaus der heutigen Linken bescheinigte, dass sie sich im Grunde überlebt hätte6. Als absolutes Paradebeispiel eines solchen Machwerks kann man allerdings Jan Fleischhauers »Unter Linken: Von einem, der aus Versehen konservativ wurde« anführen7. Darin unterstellt der Spiegel-Journalist den Linken grundsätzlich Larmoyanz und einen verstellten Blick auf die Welt. Bei vielem trifft er sogar – wie auch seine Kollegen aus diesem literarischen Genre – voll ins Schwarze. Man werfe nur einen Blick in all die Karrees bei mancher Demo, in denen sich das jugendliche Ungestüm mit dem in die Jahre gekommenen Dogmatismus verquirlt. Dann ahnt man schon so ein bisschen, dass nicht jeder konservative Kritikpunkt Nonsens ist. Problem bei Fleischhauers »Analyse« war nur, dass er explizit alle Linken meinte, dass er diese Fundis pars pro toto servierte und allen anderen mit vorhandenem Realitätsbezug unterstellte, sie hätten gleichwohl eine Wahrnehmungsstörung – wie eben jeder, der in linken Kategorien politisiert. In seiner Kolumne auf Spiegel Online machte er besonders in jenen Jahren wöchentlich Stimmung gegen auch nur sanft sozialdemokratische Anklänge und kanzelte sie als völlig überzogenen Linksradikalismus ab. Jede soziale Idee gleich als Fundamentalismus zu deklarieren: Fleischhauer hat es darin nachhaltig zu einer simplifizierenden Meisterschaft gebracht.

Er tat das freilich, wie eigentlich jeder konservative Kritiker an der Linken, nicht nur aus dekadenter Langeweile heraus oder weil die Opfergruppe gerade günstig im Kurs lag. In Mode ist es ja noch immer, die Linke spöttisch auseinanderzunehmen. Aber Leute wie Fleischhauer setzten einst diesen Trend, sie folgten ihm nicht einfach nur. Sie dockten an die ökonomische Lehrmeinung an, die jeden Impuls aus der eher linken Ökonomie pathologisierte und als längst überholte Ansicht lächerlich machte. Wenn man die Linken allesamt wie eine Bande wirrer Antifa-Leute hinstellte, dann diente es diesem Kurs der Diskreditierung ganz ungemein. Und so geschah es.

Man sollte die Kritik bestimmter linker Tendenzen aber auf gar keinen Fall denen überlassen, die politisch motiviert all das ausradieren wollen, was auch nur nach linker Tradition riecht, nach dem Stellen der sozialen Frage etwa oder der Rolle der produktiven kleinen Leute in der Gesellschaft, früher »das Klassenbewusstsein« genannt. Nein, die Betrachtung linker Eskapaden muss aus der Linken selbst kommen. Und das nicht etwa deswegen, weil es im linken Spektrum ja wohl biedere Tradition ist, sich in Detailfragen zu zersplittern und noch weiter ins Kleinere zu dividieren, sondern aus dem völlig gegenteiligen Motiv heraus: endlich als Alternative für ganz normale Wählerinnen und Wähler angesehen zu werden. Mit Leuten, die sich ständig nur im Karree abschotten, die narzisstisch mit der Moralkeule hantieren, politisch Andersdenkende im Wahn der eigenen Überlegenheit verprellen oder die eben voller libertärer Staatsverachtung sind, macht man nun mal keinen Staat. Dabei wäre das nötiger denn je. Ohne ihn kein ökonomischer Kurswechsel.

Allerdings ist es ja leider auch exakt dieses Thema, nämlich die Frage nach den Produktionsverhältnissen, für die sich das Karree so gar nicht interessiert. Da treibt manchen ganz anderes umher. Sich in diesem Milieu einzunisten, das hat vermutlich auch etwas von Avantgarde und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die wider alle Irrtümer der Welt die ganze Wahrheit ins Auge gefasst hat. Unter der Allumsichtigkeit scheint es dort nicht anzulaufen. Damit ist das Scheitern vorprogrammiert. Und leider, muss man letztlich mit etwas Sorge feststellen, hat es in diesen Gefilden auch was von Verschwörungstheorie, die mal lauter, mal leiser zwischen den Zeilen ihre Abdrücke hinterlässt. Der Wahn der Weltrettung gebiert nun mal seine Vorstellungen – und ganz oft auch seine Wahnvorstellungen.

Dass das bei Herrn und Frau Omnes ein eigenartiges Gefühl hinterlässt, obwohl sie selbst in ihrem Alltagsverständnis der Dinge linke Ansichten pflegen, darf nun wirklich nicht verwundern. Denn was die linkskritischen Autoren gerne behaupten, nämlich dass wir in linken Zeiten lebten, ist nicht grundsätzlich falsch. Politisch und wirtschaftlich sind wir nicht links aufgestellt – aber viele Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger im Lande hören sich ganz verdächtig nach Linksruck an.

Die folgenden Seiten sollen den Versuch darstellen, die Gemengelage innerhalb der Linken aufzuklären und wer weiß, vielleicht sagt der eine oder andere letztlich sogar, dass die ganz normalen Linken wesentlich vernünftiger sind, als es die Fleischhauers da draußen in langen Jahren der Propaganda behauptet haben.

Kein Gespenst geht um

»Das Wort suggeriert sachlich unangemessen, dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe.«

– Gesellschaft für deutsche Sprache über das Unwort des Jahres 2010: »alternativlos« –

Im Grunde sind das da draußen blühende Landschaften für Parteien, die programmatisch linke Konzepte feilbieten. Blühende Landschaften deshalb, weil eben nichts aufblüht, sondern ganz im Gegenteil, nach und nach so einiges verdorrt. Der öffentliche Sektor verkümmert zum Beispiel aufgrund der Mangeldiät des schlanken Staates. Das Sozial- und das Gesundheitswesen darben. Normale Arbeitsverhältnisse weichen geringfügigen Beschäftigungen. Und der Niedriglohnsektor ist dementsprechend der ganze Stolz der Eliten. Dieses eiskalte Klima prägt Deutschland schon seit etlichen Jahren und Jahrzehnten. Hätte in dieser Zeit eine Partei mal vom wirtschaftlichen Standpunkt aus die Arbeitnehmerseite vertreten, sogenannte Nachfrageökonomie betrieben, sie hätte eigentlich recht ordentlich punkten müssen und wäre so zu einem parlamentarischen Machtfaktor emporgestiegen.

Hätte gepunktet? Wäre emporgestiegen? Der Konjunktiv ist natürlich an dieser Stelle nur ein rhetorischer Kniff. Denn selbstverständlich gab es eine solche Partei. Es gibt sie sogar noch immer. Deutungshoheit außerhalb oppositioneller Diskurse hat sie jedoch nie erlangt. Obgleich sich in dieser Republik das frostige Milieu ausprägte, das für einen politischen und letztlich wirtschaftlichen Linksschwenk notwendig wäre, stecken wir noch immer tief und fest in der Angebotsökonomie. Konservativ zu sein ist weiterhin voll im Trend. Selbst die Studenten bekennen sich dazu1 und reihen sich ein in jenen Stillstand, der vorgibt, der Zeitgeist sein zu müssen. Wegen der Alternativlosigkeit halt. Und sie sind konservativ, wiewohl das Leben als Student mitnichten einfacher oder gar billiger geworden ist. Man denke nur an die jahrelange Irrfahrt der vom neoliberalen Bildungsideal entgeisterten Politik und ihrer Studiengebühren. In Deutschland vererbt sich Arbeitslosigkeit ebenso wie ein Studium. Die pos­tulierte Leistungsgesellschaft ist oft das glatte Gegenteil ihrer selbst.

Schade, es geht einfach kein Gespenst um in Deutschland. Obwohl es uns ganz gut täte. Es gab wohl kurzzeitig eine elitäre Furcht, dass da ein Spuk beginnen könnte. Bestätigt hat sich diese Angst allerdings keinesfalls. Die Linken fristen seit einer Dekade und länger ihr Dasein als Randphänomen im Bundestag. Als Marx einst sein Manifest mit eben diesem berühmten Satz vom umgehenden Gespenst einleitete, da kochte und rumorte es tatsächlich merklich in den europäischen Gesellschaften. Die brutalen Resultate der neuen ökonomischen Verhältnisse ließen ihn glauben, dass das Gespenst schon wabere und flackere. Teilweise hatte er insofern recht, als sich da eine Massenbewegung aufschwang. Überall entstanden sozialistische Parteien, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte das Gesellschaftsbild prägten. Die Verhältnisse waren ein fruchtbarer Boden für progressive Tendenzen. Der ganz große Wurf nach der Lesart Marxens, der Umsturz nämlich, die Auflösung des Kapitalismus im Kommunismus, das hingegen blieb aus. Bei jeder neuerlichen Krise in Europa schrie er trotzdem nochmal kurz auf, dass es nun eintreten würde, ja eintreten müsse. Aber da irrte der Marx, solange er strebte. Er war eben auch nur ein Mensch.

Letztlich ist die aktuelle Szenerie auch gespenstisch ohne dieses so oft zitierte Gespenst. Nur aus dem gegenteiligen Grund. Es braut sich ja eben nichts zusammen. Und das ist fürwahr richtig unheimlich. Trotz Finanzkrise und dem in jenen krisengeschüttelten Tagen schüchtern vorgetragenen Eingeständnis, dass die herrschende Weltwirtschaft enorme Ungleichheit und Ungerechtigkeit fabriziere und darüber hinaus wie ein gigantisches Glücksspiel funktioniere, erlebte der Neoliberalismus ein »befremdliches Überleben«, um es mal mit einem bekannten Buchtitel aus der Feder Colin Crouchs zu sagen2. Toxische Papiere sind mittlerweile wieder in Kreditderivaten gebündelt. Die Party geht weiter, der Schampus läuft über, die Boni fließen. Und das politische Primat schwindet und schwindet und überträgt Entscheidungskompetenzen immer ungenierter gesetzlich nicht legitimierten Gremien aus der Wirtschaft. Diverse Freihandelsabkommen sind ja zum Beispiel tatsächlich nichts weiter als der Abschied der Politik aus der Entscheidungsberechtigung – im Hinterzimmer klärt sich dann der ganze Rest.

Alles sprach jedenfalls dafür, dass es sukzessive ein Umdenken geben könnte. Ja müsste. Eine linke Partei mit stark ausgeprägtem sozialdemokratischem Profil und gewerkschaftlicher Erdung betrat die Szenerie folglich ja auch. Noch fuhren die Medien zwar eine Kampagne gegen diese Linkspartei. Aber früher oder später würde sie sich schon ausreichend etabliert haben, um angehört und ernst genommen zu werden. Als dann die Krise kam, schien es so weit zu sein. Nicht wenige glaubten gar, der Kapitalismus sei nun drauf und dran, sich selbst zu erledigen. Dass die Kapitalisten noch jenen Strick verkaufen, mit dem man sie in der Folge aufknüpft, das stellte schon Lenin fest. Diese Krise, so glaubten viele, sei nun ein solcher Strick. Lange genug hat man am eigenen Niedergang ja gestrickt. Wie Marx hatten sich die Hoffenden getäuscht. Das ist übrigens ohnehin eine sehr abgeschmackte Vorstellung von den globalen Prozessen, die die systematische Dynamik unter den Teppich kehrt. Denn Systeme sind gewissermaßen sozialevolutionäre Konstruktionen. Man schafft sie nicht einfach ab. Aber zu diesem Thema weiter hinten mehr.

Wahr ist hingegen, dass der Kapitalismus nicht nur weiterhin entfesselt wütet, es hat sich in ihm nicht mal eine linke Alternative etabliert, sich kein neues progressives Bewusstsein über die ökonomischen Zusammenhänge durchgesetzt und politisch manifestiert. Wir machen einfach weiter, wie wir es seit Jahren tun. Immer weiter. Und vor allem: Immer weiter so.

Ob es denn nun an den Kampagnenjournalisten alleine liegt? Oder dann doch an diesem durch RTL und Bild so substanzlos unterhaltenen Wahlvolk? Vielleicht liegt es auch bloß an den Folgen, die das angebliche Ende der Geschichte (nach Fukuyama) der Linken bereitet hat. Verlierer sind eben nie sexy. Wir werden bestimmt einen Schuldigen finden. Die Linke allerdings, sie ist natürlich unschuldig. Oder nicht?

Es ist diese selbstgerechte Larmoyanz, gemischt mit etlichen anderen Spezialitäten, von denen noch die Rede sein wird, die mindestens genauso zum Versagen der Linken beitragen wie die eben genannten Punkte. Denn das ist es, was sich die Linke hier unterstellen lassen muss: Alles war bereitet für sie, für eine Renaissance und für einen Wendepunkt zu mehr Progressivität. Sie aber findet weiterhin als Nischenexistenz statt. Und das ist unser aller Problem. Besonders aber das Problem derer, die dieser Tage glauben, sie könnten mit Rechtsalternativen retten, was der Neoliberalismus verbockt hat.

Der Jürgen oder Warum er trotzdem Merkel wählte

Jürgen stimmte mir und meinen Genossen, wie er sie oft im Spaß nannte, in vielen Punkten zu. Die Linken hätten schon ganz richtige Ansichten. Jedenfalls lägen sie mit ihrer Kritik nicht immer ganz falsch. Wer kann denn auch was gegen den Mindestlohn haben, wenn er selbst jahrelang unter diesem Standard arbeitete? Jürgen schuftete vor einigen Jahren mit mir in der Gastronomie. Auf geringfügiger Basis. Er war damals schon um die sechzig, stockte seine nicht gerade üppige Frührente mit Cateringfahrten auf. Knochenarbeit für ein Zubrot. Vorher hatte er als Schriftsetzer gearbeitet. Bis die Branche quasi von der Bildfläche verschwand. Ein Modernisierungsverlierer, wie man im Ökonomenschwätz sagt.

Der Mann kam ganz ohne Zweifel aus der Arbeiterschicht, was er mir auch damit bestätigte, dass seine Eltern immer die Sozialdemokraten gewählt hätten. Willy Brandt war ihr Star. Klassische linke und gewerkschaftliche Forderungen konnten ihn schon deshalb zwangsläufig nicht kaltlassen. Außerdem wusste er aus der Empirie seines Lebens ja, wo man landen konnte, wenn man dazu verdammt war, im Schweiße seines Angesichts für seinen Lebensunterhalt zu schuften.

Er und im Grunde sein ganzer Bekanntenkreis gehörten ja zu den Säulen der Gesellschaft, auch wenn das in der Öffentlichkeit ganz anders dargestellt wurde. Dort kamen Leistungsträger nicht als Lieferanten wie er vor, sondern als dicke Fische, die als Mitglied der oberen Zehntausend absahnten und Steuerzahlungen für einen staatlichen Beutezug zur Stabilisierung der Diktatur der Unterschicht hielten – und die sich diesen Steuernihilismus auch noch intellektuell verbrämen ließen3. Jürgen war jetzt als älterer Herr im Dienstleistungsgewerbe ein unter schwerem körperlichen Einsatz schuftender Träger des Systems. Er karrte Mittagessen in nicht barrierefreie Schulen und Kindergärten, mit schweren GN-Edelstahlbehältern beladen ging es für ihn treppauf und treppab. Er war gewissermaßen ein Rädchen im Betreuungsangebot, das Staat und Zivilgesellschaft für schulpflichtige Kinder mehr schlecht als recht machten und privaten Versorgern überließen. Würden Leute wie er sich nicht auf solche Arbeitsstellen bewerben, bräche das ohnehin wackelige System zusammen und erwerbstätige Eltern, dieselben übrigens, die Leute wie Jürgen eher verächtlich als gescheiterte Botenexistenzen behandelten, diese Eltern müssten sich nach einer anderen Betreuung für ihr Sonnenscheinchen umsehen.

Insofern sah sich Jürgen, trotz seiner Randexistenz am Arbeitsmarkt, durchaus auch als systemrelevanten Typen an. Als Leistungsträger – immerhin trug er ja Mengen an Essbarem durch die Gegend. Ohne Leute wie ihn ging es nicht. Für ihn waren deswegen auch die Reinigungskräfte des Gastronomiebetriebes, für den er sich verdingte, keine Gescheiterten oder Abgehängten. Sie hatten eine wichtige Aufgabe im Gesamtkomplex. Einer musste ja auch putzen. Sonst ersticken am Ende alle im Dreck. Warum sollte eine solche Arbeit nicht genauso angesehen sein, fragte mich Jürgen oft rhetorisch. Doch wohl nur, damit man sie derart weit unter dem Wert bezahlen kann, dass der Lohn am Ende wie ein Taschengeld aussah. Da hatte Jürgen tatsächlich ein sehr ausgeprägtes Rechts- und Moralverständnis. Früher hätte man das auch Klassenbewusstsein genannt. Er war so vom Typ her ein traditioneller Gewerkschafter des Herzens, tatsächliches Mitglied einer Gewerkschaft war er allerdings nicht.

So gesehen war der Mann also für linke Politik und Anregungen offen. Ihm war auch klar, dass die nachfrageorientierte Ökonomie keine Lobby hatte. Natürlich sagte er es nicht so. So einen überkandidelten Duktus vertrug er gar nicht. Wenn er allerdings behauptete, dass die Situation für die kleinen arbeitenden Leute immer schlechter würde, dann meinte er damit genau das, was Experten zuweilen kritisieren: Die Angebotsökonomik dominiere den Exkurs.

Bei mir müsse er allerdings aufpassen, erklärte er oft augenzwinkernd. Ich und meine Genossen, die würden uns alle noch zu Kommunisten umdrehen wollen. Natürlich waren das infantile Scherze, die das Arbeitsklima auflockern sollten. Aber so ein bisschen Wahrheit steckte wohl drin, denn die Partei »Die Linke« war für Jürgen gar keine Option. Und das, obgleich sie ja in ihrer ökonomischen Ausrichtung mit den Ansichten Schritt hielt, die auch er als richtig erachtete. Am Donnerstag vor der Bundestagswahl 2013 gestand mir Jürgen dann gar, dass er am Sonntag für die Bundeskanzlerin stimmen würde. Sein Motiv: Uns gehe es trotzdem ja noch relativ gut. Ein Blick ins Ausland, auch gerade zu den europäischen Nachbarn in Spanien oder Griechenland, bestätige dies doch nur. Außerdem sei es für ihn auch eine Sache des Vertrauens, sie zu wählen.

So war er der Jürgen. Ein feiner Kerl, aber manchmal ein bisschen irrational. Das ganze Jahr über erzählt er einem was von Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialwesen, von gesellschaftlichen Verwerfungen und Schweinereien, selbst steckte er auch mit einem Bein in der Misere, aber am Ende kreuzt er die Partei an, deren oberste Repräsentantin wie keine andere für Sozialabbau und Privatisierung steht, die eine moderate Steuerpolitik für Reiche anbot und den Niedriglohnsektor als Werk ihres Vorgängers nicht nur hinnahm, sondern bewusst ausbaute.

Dieses Phänomen kennen sicherlich viele Linke. Sie erleben, wie Werktätige und Arbeitslose ihnen recht geben, erleben, dass die Schwerpunkte, die die Linke, ob als Partei oder als grundsätzliche politische Richtungsangabe, im Wesentlichen von den Menschen als richtig eingestuft werden. Ob nun mehr sozialer Ausgleich oder die Einhaltung demokratischer Prozesse, ob bessere Mitsprachebedingungen im Arbeitsalltag oder striktere staatliche Regularien zur Bändigung eines allzu freien Marktes: All das unterschreibt einem die Mehrheit derer, die man früher noch als Proletariat bezeichnet hätte. Gewählt wird am Ende aber dann trotzdem konservativ. Und was noch schlimmer ist: neoliberal. Man wählt aus irgendeinem sadomasochistischen Drang heraus glatt das Gegenteil dessen, was man eigentlich möchte – und was man auch schon als für sich selbst besser begriffen hat im Vorfeld des Urnenganges.

Jürgen war dabei vielleicht der typische Merkel-Wähler. Kein Konservativer im klassischen Sinne, kein vertrockneter Jammerer, der die Union wählte, weil er sie als letzte Bastion vor dem Untergang wähnte. Er war stets höflich, spaßig und kollegial. Aber im Umgang mit Obrigkeiten leider duckmäuserisch. An reger Phantasie mangelte es ihm zudem, sodass er höchsten Wert auf jene Strukturen legte, die er von jeher kannte. Was nicht in den bekannten Zügen strukturiert ist, würde er sofort als Chaos titulieren. In dieser Beziehung war er freilich spießig. Aber jeder hat ja so seinen Spleen. Zumindest las er in jenen Jahren nie die Bild, dafür guckte er viel Plasberg und Jauch und glaubte sich bei den »öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten« umfassend informiert. RTL sah er stets kritisch. Aber er guckte es dennoch gelegentlich. Was ihn teilweise politisch beschäftigte, das waren die Nebelkerzen, die der Mainstream in seinen vielen Formaten ausbreitete, die aber bei genauer Betrachtung eher Nebensächlichkeiten waren.

Ich erinnere mich, dass ich mit ihm mal darüber debattierte, wo der Markt zu enden und die staatliche Obhut anzufangen habe. Bei der Energiepolitik zum Beispiel. Oder bei der Wohnungspolitik. Im Gesundheitswesen ohnehin. Es gäbe nun mal schlicht Bereiche, in denen sei eine reine Ausrichtung nach armseligen Methoden der Kosten-Nutzen-Analytik nicht haltbar. Jürgen überlegte eine Weile und gab mir dann recht. Mensch, er habe ja auch nichts gegen die Linken, sagte er in solchen Momenten. Wagenknecht sei hochintelligent und auch so als Mann könne er ihr was abgewinnen. Und über Gysi lacht er ja auch gerne, der sei als Typ einfach genial. Lafontaine fand er jetzt zwar nicht so sympathisch, aber trotzdem habe der Mann eine grandiose Begabung, die Dinge auf den Punkt zu bringen.

All das hätte ihn ja eigentlich in ein anderes Lager bei der Bundestagswahl treiben müssen. Aber Pustekuchen! Angela Merkel hatte auch ihm vorgemacht, dass sie den Laden gut im Griff habe und an sich ja eine sozialdemokratisierte Union führe. Manchmal wollte ich seinerzeit den Jürgen würgen, um ihn zur Besinnung zu bringen.

Die Linken in Deutschland, so meinte Jürgen dann und wann, haben eben ein großes Problem: Sie seien schon mal gescheitert. Er meinte damit logischerweise den real existierenden Sozialismus. Der war eine gute Idee an sich, entgegnete er, aber halt auch so weltfremd. Gegenwärtig schreckten ihn all diese Spinner in der Partei der Linken oder jedenfalls in deren Umfeld ab. Und lese man nicht immer noch in der Zeitung, dass die Linkspartei eigentlich nichts weiter als die Nachfolgepartei der SED