Reflexion - Lena Dieterle - E-Book

Reflexion E-Book

Lena Dieterle

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Beschreibung

Ein altes Landhaus in Klingenberg am Main wurde zum Wendepunkt in Justines 32-jährigem Leben. Als das Türchen ihres eigenen Käfigs aufgesprungen ist, macht sie sich weiter auf die Suche nach dem Eigensinn, lernt "Goethe" kennen, besucht den Zirkus des Lebens und bekommt Herzklopfen. Auch die Fortsetzung von "REDUKTION - Die Essenz des Lebens" verspricht den Lesern ein ebenso kurzweiliges wie feinsinniges Lesevergnügen mit großer Hingabe zu Flora und Fauna und der Liebe zur Wildkräuterküche. Lass Dich von Justine in ihre Welt entführen… Band 1: REDUKTION - Die Essenz des Lebens Es wird empfohlen, mit Band 1 zu beginnen.

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Lena Dieterle

Reflexion

Die Kunst des Lebens

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Winter

Einsamkeit

Keine Angst

Patience

Eigensinn

Wildvögel

Spenden

Geburtstag

Leonardo

Kennenlernen

Frühling

Freundschaft

Arbeit im Weinberg

Bewerbungen

Einzug

Sturm

Überraschung

Osterfeuer

Zweifel

Ausflug

Miltenberg

Generalprobe

Hollerküchli

Vorbereitungen

26. Zirkus

27. Einladung

28. Tête-à-tête

29. Post

30. Erntezeit

31. Handschrift

32. Birkenblüten

Impressum neobooks

Winter

Lena Dieterle

REFLEXION

Die Kunst des Lebens

Band 2

REDUKTION

Die Essenz des Lebens

Band 1

Lena Dieterle

REFLEXION

Die Kunst des Lebens

Roman

Impressum

Texte: © 2022 Copyright by Lena Dieterle

Umschlag: © 2022 Copyright by Lena Dieterle

Verantwortlich

für den Inhalt: lena.literatur

Boschweg 7

63741 Aschaffenburg

[email protected]

www.lenaliteratur.de

Druck: neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Band 1 REDUKTION – Die Essenz des Lebens

Band 2 REFLEXION – Die Kunst des Lebens

*** Es wird empfohlen, mit Band 1 zu beginnen. ***

Kurze Einführung aus Band 1

Die hochsensible Protagonistin ist Vollwaise und lebte einige Jahre lang in einer etwas lieblosen Beziehung mit Tom in der Großstadt Hamburg, die jedoch nie zu ihrem Zuhause wurde. Auf Grund eines überraschenden Briefs ihrer verstorbenen Tante Valerie, die eigentlich gar nicht ihre richtige Tante war, reiste Justine im letzten Jahr nach Unterfranken. Verzaubert von dem alten Landhaus und Tante Vallys schönem Garten entschließt sie sich, Hamburg und ihren Freund Tom zu verlassen und das Erbe anzutreten. Wasser aus dem Brunnen hinterm Haus, keinen elektrischen Strom und geldgierige Investoren machen ihr das Leben schwer, doch Justine trotzt allen Unwägbarkeiten und lernt ihr neues Leben lieben. Hierbei hat sie zeitweise die Unterstützung eines fremden Überraschungsgastes, den sie neben dem Winzer Peter als guten Freund gewinnen kann, bis er weiterziehen muss. Als sie die ehemalige Brieftaube Amie zum Bleiben einlädt, ist Justine nicht mehr so alleine im Landhaus.

Für Evi,

Lisa, Nala und Elsa

An den Fensterscheiben des alten Landhauses sind prächtige Eisblumen gewachsen. Es ist so still, dass man das Glas unter der unbarmherzigen Kälte ächzen hören kann. Justine hofft, dass das betagte Gemäuer gut durch diesen eisigen Winter kommt. Die letzten Rosenblüten sind von einem weißen Mantel aus Frost überzogen und trotzen mit gesenkten Köpfen der Finsternis. Sogar die Spinnennetze sind gefroren.

So müssen sich Forscher in der Antarktis fühlen, wenn es draußen nicht hell wird und die Temperaturen sich dauerhaft weit unter null Grad bewegen. Ist es in diesem Jahr besonders düster oder fällt das Dunkel des Neujahres nur in einer Großstadt nicht so auf?

Justine hat in einem der Bücher von Tante Valerie über das Leben der Inuit in Grönland gelesen… auch darüber, dass die Winternacht an den Polen bis zu einem halben Jahr dauert und dafür die Sonne im Sommer gar nicht untergeht. Jetzt im Januar bleibt es rund um das Landhaus düster und kalt. Es kommen keine Wanderer mehr vorbei und Justine fährt auch nicht mit dem Rad in die Stadt. Das Handy ist mangels Sonne seit Tagen ohne Strom, nur für das Radio hat sie noch ein paar Batterien.

In Justine keimt langsam, still und leise eine Ambivalenz auf, die sich aus ihren Gedanken nicht mehr so einfach fortstreichen lässt. Sie kann sich in den vielen Stunden im inneren Monolog nicht recht entscheiden, ob die Kälte in ihrer brachialen Klarheit, in diesem klammen Gefühl eine Besänftigung oder doch viel mehr eine Beklemmung ist? Auf der einen Seite sperrt die Kälte Justine in vielen Teilen des Tages ein. Auf der anderen Seite liefert sie den Komfort der völligen Abgeschiedenheit, die sie selbst gewählt hat. Es kostet jedes Mal mehr Überwindung, sich wieder unter die Menschen zu mischen, ist man erstmal in dieser Abgeschiedenheit sesshaft geworden.

Und dann schneit es drei Tage lang fast ohne jegliche Unterbrechung. Der Schnee bleibt auf dem gefrorenen Boden liegen und türmt sich vor der Haustür auf. Justine rutscht auf einer vereisten Stufe aus und prellt sich gehörig den Steiß. Schon nach wenigen Stunden prangt dort ein farbenprächtiges grün-rot-blau schimmerndes Hämatom. Heilfroh darüber, sich nichts gebrochen zu haben, humpelt sie wie eine Greisin durch die Gegend.

Wenn sie draußen Holz umschichtet oder Schnee schippt und ihr neben dem Steiß auch die tauben Finger schmerzen, dann flucht sie darüber, aber andererseits tut es gut, den Körper so bewusst zu spüren. Jeden einzelnen Muskel, ihre von der Kälte spannende Haut im Gesicht, die Knochen, die Sehnen, die Gelenke und kleinsten Poren und den eigenen Herzschlag. Am beheizten Kamin fließt nach dem Schmerz der Kälte minütlich die erlösende Wärme in den Körper zurück. Und auch die Prellung heilt langsam ab. Wer immer nur im Warmen sitzt, der verliert eines Tages die Wertschätzung für das Feuer.

Einmal die Woche macht sie eine Bestandsaufnahme ihrer Vorräte und teilt sich ein, was sie an Lebensmitteln zubereiten kann. Zum Frühstück isst sie geschrotetes Getreide und Buchweizenflocken mit Wasser und Rosinen oder ein Marmeladenbrot. Jeden Tag nimmt sie sich einen Apfel aus dem Sandsteinkeller und schneidet ihn auf, dazu knackt sie Walnüsse und trinkt Tee aus dem selbst getrockneten Kräuter- und Beerenfundus. Die Äpfel halten sich erstaunlich lange, lediglich die Schale ist ein wenig runzelig geworden. Für die anderen Mahlzeiten wechselt Justine dann wahlweise zwischen Linsen, Bohnen oder Kartoffeln. Dazu gibt es Zwiebeln, Knoblauch, getrocknete Kräuter und Eingewecktes aus den Gläsern von ihrer verstorbenen Tante. Im Garten steht noch jede Menge Kohl, von dem sie immer wieder einzelne Blätter oder Röschen erntet. In Tante Vallys Küchenbüchern hat sie viel über die gesundheitsfördernde Wirkung von Kohl gelesen, seither ist sie ein noch größerer Fan von diesem Nährstoff-Wunder.

Alle paar Tage schürt sie draußen in der Kälte den Brotofen an und backt mit geschroteten Körnern und Samen große Laibe, die sie dann dünn aufschneidet und hart werden lässt, um länger davon essen zu können.

Ihr Freund Peter hatte ihr vor zwei Wochen nochmal drei Kilo Kartoffeln, selbst gepresstes Rapsöl, Honig und Eier gebracht, bevor er sich für knapp sechs Wochen in den Süden verabschiedet hat. Seine alten Knochen leiden sehr unter der bitteren Kälte. Zum Glück ist einer seiner Brüder Winzer in Spanien und heißt ihn bei sich immer herzlich Willkommen. Justine freut sich für Peter, vermisst ihn jedoch schmerzlich, denn er ist seit dem Einzug in das alte Landhaus ihr engster und seither einziger Vertrauter in Klingenberg geworden.

Die hübsche Taube Amie mit ihrem weiß-gefleckten Federkleid schläft inzwischen des Nachts in der Küche. Sie hatte kurz nach Heiligabend angefangen, mit dem Schnabel an die Scheibe zu klopfen. Justine dachte, sie hat sicher Hunger, doch die Taube war satt. Nachdem sie ein paar Runden auf der Anrichte gelaufen war, ist sie direkt zum Küchenregal geflogen und hat sich dort auf einem Stapel Geschirrhandtücher niedergelassen.

Seither wiederholt sich das Prozedere jeden Abend aufs Neue. Justine verbringt inzwischen die Nächte ebenfalls in der Küche und hat das Schlaflager vom Schlafzimmer aus dem ersten Stock dorthin verlegt, da der Raum auf Grund des Kamins die meiste Wärme bietet. Oben hatte sie jede Nacht eiskalte Füße und erwachte mit rot gefrorener Nase. Zu groß ist die Sorge, sich zu erkälten. Begleitet von dem Aufplustern und Gefiederputzen der Taube fällt Justine oft früh in einen tiefen Schlaf. Nicht ganz alleine zu sein ist ihr so viel wert. Jeden Morgen, nachdem Amie ihre Samen gepickt und vom Wasser getrunken hat, öffnet Justine die Fenster und das schöne Geschöpf fliegt ins Freie.

Im Wohnzimmer ist Justine in einem Schrank neben der Erwachsenenbibliothek noch auf zahlreiche Kinderbücher gestoßen. Es ist bestimmt 25 Jahre her, dass sie Astrid Lindgren gelesen hat. Jus kennt die Bücher wie „Die Kinder von Bullerbü“ und „Ronja Räubertochter“ natürlich alle. Letztere Geschichte hatte ihr ihre Mutter früher immer vorgelesen und dabei die Sprache der Rumpelwichte nachgeahmt, als Ronja versehentlich mit dem Fuß in die Erdhöhle der verhutzelten Wichte tritt: „Wiesu tut sie su? Macht putt unser Dach, wiesu denn bluß?“ Sie kann ihre Mama noch heute hören, als sei die Zeit stehen geblieben. Anfangs hat sie Sorge, dass sie beim Lesen eine tiefe Traurigkeit überkommen würde, doch dann fühlt sie sich in den Geschichten sehr geborgen und geliebt. Sie liest alles, was da ist… von Astrid Lindgren, Erich Kästner über Enid Blyton und Selma Lagerlöf. Justine reist beim Lesen wie Nils Holgersson mit den Wildgänsen und besucht mit Jack und seinen Freunden die Insel der Abenteuer.

Und träumt davon, mit ihren Romanen einmal selbst die Astrid Lindgren der Erwachsenenliteratur zu werden, denn auch die „großen Kinder“ lieben solch schöne Geschichten. Ihr ganz persönliches Bullerbü jedenfalls hat sie hier auf ihrem Anwesen gefunden.

Einsamkeit

Justine wacht auf und liegt noch einen Moment auf ihrer Matratze auf dem Boden. Sie starrt an die Decke, die Uhrzeit ist ihr unbekannt. Und es interessiert sie auch gar nicht mehr. Die Tage haben alle den gleichen Ablauf, sie vergehen ohne Höhepunkte oder Tiefschläge. Justine funktioniert fast mechanisch. Sie zieht sich morgens warm an, legt Holz im Ofen nach und bringt die Asche vom Vortag nach draußen. Dann schiebt sie die alte Karre zum Holzlager und stapelt so viele Scheite auf, wie sie gerade noch bewegen kann. Ein Leben im Niemandsland, völlig ohne Raum und Zeit. Selbst die sonst so flinken und laut schimpfenden Eichhörnchen lassen sich nicht mehr im Garten blicken. Ab und zu ruft eine Krähe.

Nachdem alle Bücher aus der Bibliothek von Valerie ausgelesen sind, schreibt Justine am Laptop so lange an ihren eigenen Texten weiter, wie ihr der Strom aus den Solarmodulen reicht. Da die Sonne kaum scheint, sind das nur wenige Stunden. Und irgendwann sind neben dem Strom aus den Paneelen auch ihre Ideen erschöpft, weil es keinen neuen Input mehr gibt. Selbst über die Einsamkeit ist schon alles geschrieben. So bleiben ihr nur noch die Tätigkeiten, die sie erledigen muss, um den Winter zu überstehen. Sie spaltet mit der Axt einige von den großen Holzscheiten in dünne Spreißel und fängt an, sie mit dem Messer rundherum halb anzuschneiden. Die Hobelspäne kräuseln sich in der Optik eines kleinen Tannenbaums rund um das Holz und fangen auf diese Art schneller Feuer, wenn Justine mit dem Feuerstahl Funken schlägt.

Zu allem Überfluss ist nun auch die letzte, isolierte Wasserleitung eingefroren. Wahrscheinlich muss sie im Frühjahr diese Leitung erneuern lassen. Justine weiß nicht, wie frostsicher das alles tatsächlich ist. Und sie ärgert sich, dass sie hier nicht noch sorgfältiger isoliert hat. Um überhaupt noch Wasser für das Kochen von Tee und Suppen und für die Körperpflege zu haben, bricht sie große Eiszapfen von der Dachkante und fängt das Tauwasser in einem Kübel auf. Ihre Kleidung wäscht sie nur noch alle zwei Wochen. Hierzu erhitzt sie das Tauwasser im großen Topf auf dem Herd und gibt dann alles in die Duschwanne. Zum Trocknen hängt sie die Handschuhe und Wäsche dann zwei Tage rund um den Kaminofen auf. Sie spült die leeren Einmachgläser aus und verstaut sie unsortiert in Kisten im hinteren Zimmer des oberen Stockwerks, um sie für die kommende Erntesaison wieder verwenden zu können. Justine verfällt in eine gewisse Form der Lethargie.

Als die Kartoffeln und Linsen aufgebraucht sind, bleiben ihr nur mehr die Bohnen, Zutaten für Brot und einige Einmachgläser als Nahrungsmittel, da sie den Weg in die Stadt scheut. Nudeln hat sie schon Wochen keine mehr gegessen. Tag ein Tag aus kocht Justine die Hülsenfrüchte und versucht, immer wieder neue Kombinationen zu erfinden. Mal gibt es Bohnen geschwenkt mit Rosmarin und Knoblauch, abgelöscht mit einem intensiven Weißwein. Dann probiert sie ein cremiges Bohnen-Topinambur-Mus mit ordentlich Chili, Kreuzkümmel und Salz und kocht Bohnensuppe mit Minze, die im Garten immer noch frisch geerntet werden kann. Irgendwann isst sie die Bohnen einfach direkt aus der Pfanne oder dem Topf mit dem einzigen Ziel, danach wieder für eine Weile lang satt zu sein. Einen größeren Anspruch an die Tage hat sie gerade nicht. Nach der Ankunft im Landhaus hatte sie ganz bewusst der Zeit des meditativen Nichtstuns Raum gegeben. Doch heute nimmt sich das Nichtstun den Raum und die Zeit und beinahe ihre Identität. Wann der Gemütszustand kippte, kann sie heute nicht mehr sagen.

In ihrem früheren Leben war Justine ständig unter Menschen und doch emotional so oft einsam. Diese Menschen verstanden sie nicht und sie verstand die Menschen nicht. Jus hat sich selten zugehörig gefühlt und nach einigen kräftezehrenden Versuchen, sich um der Menschen Willen zu verändern, wieder damit aufgehört. Heute lebt sie physisch alleine und sucht psychisch nach innerer Stabilität. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Es vergehen Stunden, die sie wach im Sitzen oder Liegen verbringt, ohne dabei anwesend zu sein. Würde sie gefragt werden, was ihr dabei alles durch den Kopf gegangen ist, sie könnte es nicht beantworten.

Sie beschleicht das Gefühl, dass ihr in diesem Moment die sonst manchmal so lauten Stimmen in ihrem Kopf fehlen. Jus hatte diese Stimmen so oft verflucht, wenn sie neben dem Alltagslärm alle wild durcheinander auf sie eingeredet haben, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten. Die so mannigfaltigen Sinneseindrücke sorgten regelrecht für Aufstände in ihrem Kopf. Was dann folgte, war nicht selten eine tiefe Erschöpfung. Jemand, der lange überlastet von einem Aktionismus zum nächsten gerannt ist, der erlebt die tiefe Stille zunächst wie einen freien Fall. Genauso geht es Justine. Zu ritualisiert in der Gewohnheit und Akzeptanz dieser dauernden Überspannung, die sich einem ziemlich fremdbestimmten Leistungsbewusstsein unterworfen hat.

In vielen ärztlichen Untersuchungen zum Beispiel werden lediglich die Symptome für die hervorgebrachten Leiden erkannt und therapiert. Dass es sich hierbei jedoch meist um ganz andere Ursachen handelt und das häufig nur daraus Autoimmunerkrankungen resultieren, die dann sichtbar werden, das wird zu wenig beleuchtet. Und wenn man sich hilfesuchend bei den anderen umsieht, bemerkt man, dass es allen doch irgendwie ähnlich geht… man schlussfolgert, dass dieses Leben vielleicht so sein müsse.

Man verdrängt wesenseigene Impulse oder nimmt sie schlicht nicht mehr wahr, weil sie möglicherweise auch gar nicht mehr stattfinden.

Wir Menschen kennen Stille nicht mehr. Als ich noch in Hamburg lebte, gab es nicht eine einzige Sekunde der Stille. Draußen in den Straßen sowieso nicht, doch auch nicht in der Wohnung. Trotz gutem Fensterglas hörte man Autos fahren, nur ganz entfernt und auch nur, wenn man sich darauf konzentrierte. Das Unterbewusstsein hörte alles. Man nahm das Gemurmel von Stimmen wahr, hier einen Ruf, dort ein Hupen. Und selbst wenn es nachts war und vermeintlich die Ruhe Einzug hielt, dann hörte ich das Surren des Kühlschranks, das kaum hörbare Klicken des Weckers oder Toms lautes Atmen. Hier im Landhaus, da klappert mal ein Fensterladen, das Holz im Kamin knackst. Doch wenn das Feuer herab gebrannt ist, dann schweigt selbst die Glut. Hier herrscht sie noch, diese totale Stille, in der der eigene Herzschlag das Lauteste ist, was man noch hören kann.

Nun, wo auch die inneren Stimmen ihr kaum noch etwas mitzuteilen haben, da quält sie diese Stille in ihrer Gnadenlosigkeit. Die Welt hat vergessen, dass es mich gibt.

Und wären da nicht Amie und der Kaminofen, sie würde vielleicht einfach gar nicht mehr aufstehen.

Justine liest in dem Buch von Hildegard von Bingen:

„Ohne die Frau könnte der Mann nicht Mann heißen, ohne Mann könnte die Frau nicht Frau genannt werden“, und philosophiert weiter. Ohne die Geräusche keine Stille… ohne Tag, keine Nacht. Ohne Heute kein Morgen. Und dann richtet sie ihren Blick aus dem Fenster, Richtung Himmel. Draußen pfeift der eisige Wind und rüttelt an den Klappläden.

Leopold, ich habe Angst. Kannst du bitte nochmal kommen… ich brauche deine Hilfe. Diesmal habe ich keine Furcht im Außen, sondern wohl die Angst davor, mir selbst zu begegnen.

Und während diese eine letzte innere Stimme weiter einen Monolog hält, fällt Justine in ihrem Nachtlager am Ofen in einen tiefen Schlaf.

Keine Angst

Als sie die Augen öffnet, sieht sie Valerie mit einem langen Strickkleid am Küchentisch sitzen. Justine richtet sich auf ihrem Nachtlager auf und schaut ungläubig, bis ihre Augen die verschwommene Silhouette ganz langsam scharf zeichnen.

„Bonjour, mon cher.“ Ihre Stimme klingt sanft und gütig. „Ich habe dir doch versprochen, dass ich dich hier nicht alleine lasse.“

„Tante Valerie…?“

„Ja, ganz recht. Was für eine schöne Frau du doch geworden bist, Jus.“

„Oh mein Gott, du bist wirklich nochmal zu mir zurück-gekommen?“, fragt Justine ungläubig und reibt sich die noch vom Schlaf trägen Augen.

„Psssst… ich war doch immer da“, spricht die alte Dame ruhig. „Komm, schür den Ofen an und dann setz dich zu mir.“

Justine heizt ein, setzt Wasser für einen Tee auf und nimmt eingewickelt in eine Decke neben ihrer Tante Platz. Sie beobachtet Valeries Gesicht, die fein geschwungenen Lippen und die Lachfältchen um die Augen… bisher hat sie diese nur auf dem Ölgemälde im Entrée

gesehen.

„Weißt du, mein Kind… mir ging es mal ganz ähnlich wie dir. Auch ich liebte die völlige Abgeschiedenheit, bis ich irgendwann drohte, an der Einsamkeit einzugehen. Diese langen, kalten Winter im Landhaus, darauf muss man vorbereitet sein. Ich habe dir bewusst nicht mehr dazu geschrieben, weil ich dich nicht abschrecken wollte und mir deiner Stärke bewusst war.“ Sie macht eine kurze Pause. „Und auch mir fror in den ganz kalten Wintern die Wasserleitung zeitweise ein. Du hast gar nichts falsch gemacht, nichts besser oder schlechter. Sei doch bitte nicht so streng mit dir.“

Justine atmet hörbar aus.

„Ich weiß auch, dass Leopold bei dir zu Besuch war und nun hast du ihn erneut um Hilfe gebeten. Doch Leopold ist, wie du weißt, deine personifizierte Angst. Er wird heute nicht kommen, denn das, was du gerade empfindest… das ist keine Angst. Ich bin so stolz auf dich, dass du ihn damals hereingelassen hast und sei dir sicher, wenn du ihn wieder brauchst, wird er da sein. Und nun erzähle mir, was genau bedrückt dich gerade so?“

„Danke, Tante Vally. Es ist ein großes Geschenk für mich, jetzt mit dir zu sprechen. Warum können wir denn bloß nicht gemeinsam hier leben?“

„Mon dieu. Das Leben und den Tod, das befehlen wir nicht. Lass uns auf das konzentrieren, was wir selbst in der Hand haben.“

„Also gut.“ Justine setzt sich aufrecht hin und beginnt zu schildern: „Ich habe das Gefühl, in der Stille verrückt zu werden. Ich spreche seit einer gefühlten Ewigkeit mit niemandem mehr, außer kurz mit Peter… und nun ist auch er für einige Wochen verreist.“ Tante Valerie lächelt und greift Justines Hände.

Sie schweigt und lauscht interessiert, bis Justine fertig ist. Erst dann atmet sie tief ein, bevor sie anfängt, zu antworten.

„Jetzt kommt eine weitere wichtige Lektion, durch die dich das Leben schickt. Rückblickend war genau diese eine der wertvollsten Erfahrungen in meinem Leben.“

„Wie meinst du das?“

„Es ist nun an dir ganz alleine, deinem Leben einen Sinn zu geben. In uns allen lebt eine Schöpferkraft, doch wir nutzen sie kaum. Was du hier im Moment in einer Reinheit erleben darfst, ist ein großes Geschenk. Denn das bist DU selbst.“

„Hm… verstehe.“

„C‘est bon. Du bist die Essenz deines Lebens. Genieße dich und lasse sie fließen, diese Energie.“

„Ich will ja. Weißt du, was ich beobachtet habe? Da gibt es eine Stimme in mir, die immer noch redet, wenn alle anderen schweigen. Erst dachte ich, sie wird eh wieder nur schlecht reden und alles schwarzmalen, doch dann habe ich gemerkt… es ist diese eine Stimme, die gibt einfach nicht so schnell auf wie die anderen.“

„Jede deiner Stimmen hat eine Daseinsberechtigung. Dazu möchte ich dir später gerne noch etwas zeigen. Doch zurück zu deinen Gefühlen. Was sind die Fähigkeiten, die dich als Justine ausmachen? Was kannst du gut? Worin bist du dir sicher?“

„Puh… da muss ich selbst kurz nachdenken. Spontan würde ich sagen: nichts so richtig und doch vieles ganz gut. Ich bin mir oft unsicher. Und wenn ich dann nochmal nachdenke… meine ich, dass ich kochen kann, dann kann ich lesen und schreiben. Wobei ich mir bei Letzterem wieder gar nicht mal so sicher bin.“ Justine überlegt einige Sekunden, spricht dann weiter: „…und das alles habe ich jetzt viele Tage lang unentwegt gemacht. Ich bin dem überdrüssig, ja… es langweilt mich. Ich habe alles niedergeschrieben, was mir in den Sinn kam und dabei irgendwann das Gefühl gewonnen, dass es von Tag zu Tag an Qualität verliert.“

„Bien“, Tante Valerie nickt verständnisvoll. „Lies es nochmal, wenn du im nächsten Winter wieder an dieser Stelle bist. Es wird dich vielleicht überraschen, wie elementar gerade diese Texte für dich später einmal sein können, denn die Stille und Meditation kristallisieren erst das Wesentliche heraus.“

„Ich will es versuchen und mit etwas Abstand nochmal lesen“, sagt Justine mehr zu sich selbst, während sie den Kopf in die Handfläche stützt und nachdenklich die Stirn runzelt.

„Manchmal taugt es wirklich nicht, dann wirf es weg.“ Valerie macht eine Pause, bevor sie fragt: „So… was kannst du noch?“

„Hm. Ich war wohl mal eine ganz gute Werbegrafikerin. Sonst kann ich neben den anderen Arbeiten im Haus nicht mehr besonders viel.“

„Gut. Die Kreativität steckt in jeder deiner Zellen, das ist nicht bloß verbunden mit einem Beruf oder Titel. Nenne dich selbst ein Genie, sieh dich als Virtuose. Denke groß! Ich weiß, dass Unglaubliches in dir steckt. Du hast eine Art siebten Sinn für Dinge, einen Feinsinn oder Spürsinn… und das halte ich für eine sehr besondere Begabung. Du siehst nicht bloß einen Gegenstand, nein, du studierst ihn. Du fasst nichts einfach nur an, sondern du fühlst es. Du isst nicht, sondern du schmeckst heraus.“

„Ach Tante Vally… ich danke dir, das hast du sehr schön beschrieben.“

„Und wer sagt, dass dein Können auf das Hier und Jetzt beschränkt ist oder gar bleiben muss? Dass du nichts Neues dazu lernst? Dinge, die du eben heute noch nicht kannst.“

„Das schon, doch hier alleine im Landhaus? Ich habe keinen Fernseher, keine neuen Bücher mehr, kein Puzzle, Rätsel oder sonst etwas. Was soll ich denn hier den Winter über Neues lernen?“

„Musizieren!“, platzt es ganz spontan aus Valerie heraus. Diesmal lacht Justine laut und schüttelt den Kopf, während Valerie sie erwartungsvoll unter hoch gezogenen Augenbrauen anlächelt.

„Na, da bin ich ganz und gar nicht geeignet. Da kommt nichts Gutes bei raus“, bekräftigt Justine ihr Kopfschütteln nochmal.

„Muss denn immer gleich etwas dabei ,rauskommen‘? Ist es nicht manchmal der Prozess an sich, der uns nährt?“

Und Tante Valerie hat wieder recht. Ich beschwere mich über Langeweile und versinke im Selbstmitleid, dabei habe ich so vieles noch gar nicht ausprobiert.

„Schäme dich bitte nicht für das, was du nicht kannst… vor niemandem, auch wenn etwas nicht gelingt. Es geht da draußen allen Menschen gleich, glaube mir. Und jeder Schritt zu einer inneren Lebendigkeit, egal, ob erfolgreich oder nicht, sollte schon für den neu beschrittenen Weg an sich belohnt werden. Ich wiederhole mich jetzt, doch erlaube dir, dich als einzigartig anzuerkennen. Traue dir zu, du selbst zu sein. Es ist für dich eine so große Chance, dich von den eigenen, einschränkenden Gedanken und Glaubenssätzen zu befreien. Lebe dich aus… in allen Bereichen, die dir nur einfallen. Tanze, spiele, singe, weine, lache so laut du magst.“

Valerie spricht ruhig, doch mit Nachdruck. Es steckt viel Energie in ihrer Rede. Für eine Weile schweigen beide. Justine schenkt in zwei Tassen den durchgezogenen Hagebuttentee ein.

Patience

„Geh doch mal bitte dort zu der alten Anrichte. Unten in der mittleren Schublade, da liegt etwas für dich.“

Justine zieht die Schublade vorsichtig heraus und sieht Blöcke, Stifte und ein altes Adressbuch.

„Was genau meinst du, Tante Vally?!“

„Schau genau hin.“

Justine bückt sich etwas tiefer und sieht weiter hinten in der Schublade eine weitere Einlage, die ihr bisher nie aufgefallen war. Sie zieht sie vorsichtig heraus und findet zwei stoffbezogene Etuis. „Bring sie bitte hier her an den Tisch. Das Buch auch.“

Justine trägt die Gegenstände zum Küchentisch.

„Das sind meine beiden Kartenspiele. Jeden Winter habe ich mich darauf gefreut, sie wieder hervorzuholen. Ich habe nie im Sommer gespielt, denn da gab es andere Aufgaben. Auch wollte ich mir die Freude am Spiel ganz bewusst für die kalten, einsamen Tage aufbewahren.“

„Was hast du denn damit alleine gespielt?“

„Ich habe immer Patiencen gelegt. Dazu brauchst du niemanden. Du wirst sehen, es werden auch so genug am Tisch sitzen und es hilft, die Gedanken zu sortieren. Patience heißt übersetzt so viel wie Geduld. Und Geduld ist sicher auch etwas, was den meisten Menschen fehlt. Mir früher auch.“

Justine öffnet beinahe andächtig das erste Etui. Der mintfarbene Seidenstoffbezug ist ein wenig abgegriffen, doch unter den Fingerspitzen ganz zart anzufassen. In goldenen Lettern ist das Wort Patience eingeprägt. Die Spielkarten sind ganz klein und mit einem ebenfalls goldenen Kantenschnitt verziert. Obenauf liegt die Pik Dame und das Herz Ass, um das sich handgemalte Maiglöckchen ranken, es finden sich weitere filigrane Zeichnungen auf jeder einzelnen Spielkarte. Die Rückseite ist blau oder rot und zeigt ein Vogelpärchen.

„Ich zeige dir, wie man eine Patience legt, und dann spielen wir eine Zank-Patience gemeinsam.“

„Sehr gerne.“

Tante Valerie macht zwei Stapel, steckt die Karten mit einem Daumenstrich ineinander und hat einen großen gemischten Stapel in der Hand. Den Vorgang wiederholt sie drei Mal in nur wenigen Sekunden.

„Wahnsinn, wie du die Karten mischen kannst“, staunt Justine, als würde sie einem Zauberer beim Spiel zusehen.

„Ich habe sicher sechzig Jahre lang Karten gespielt, da weiß man, wie es geht. Ich zeige es dir später, üben musst du dann alleine.“

„Abgemacht.“

„Ich habe mir bei der Zank-Patience immer vorgestellt, dass jede Karte für eine Stimme in meinem Kopf steht. Natürlich stehen die Symbole im französischen Blatt eigentlich für etwas anderes.

Die Farbe Kreuz stellt als dreiblättriges Kleeblatt den Bauernstand dar. Pik steht als Lanzenspitze für den Adel, Karo für das teilweise aufständische Bürgertum und Herz für Güte und Geistlichkeit. Doch das war mir egal. Ich habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht.

Für mich gibt es die Dame, die für Haltung und innere Größe steht. Es gibt den König, der in seiner hoheitlichen Würde unerschütterlich ist. Und es gibt den neugierigen Buben, der ein wahrer Draufgänger ist und alles einfach mal ausprobiert. Und hier, das Ass.“ Tante Valerie streicht mit den Fingern über die Karte, ohne sie zu berühren. „Es ist immer etwas ganz Besonderes. Mein Trumpf auf der Hand, mein Alleinstellungsmerkmal. Gerne habe ich beim Ass meine hohe Feinfühligkeit und Empathie als eine wunderbare Gabe gesehen, auch wenn sie manchmal belastet. Ähnliches erkenne ich bei dir.“ Sie blättert weiter Karte für Karte um.

„Und es gibt die Zahlen, die in der Wertigkeit ihrer Ziffern die vielen Nebenstimmen ausmachen. Die leisen Debattierer, die Zwischentöne, all diese kleineren Anteile in mir. So habe ich für mich immer gesagt, dass das Zeichen Kreuz die Schwarzmaler in meiner Runde ausmacht. Immer, wenn ich eine neue Idee hatte, wurden sie laut und wollten mir diese so gut es geht vermiesen. Stets in der Hoffnung, ich würde dann gar nicht erst damit beginnen. Alles lieber gleich bleiben zu lassen, ist kein guter Ratgeber. Doch zum Glück gibt es auch das Pik im Spiel. Es war in seiner Form so angelegt, dass es auf mich stets ausgleichend und beruhigend wirkte. Und es hatte viel Macht, ja, es war für mich sogar das mächtigste Zeichen in der Runde, der Streitschlichter und Schiedsrichter. Das Pik sorgte dafür, dass das Kreuz mir meine Vorhaben nicht grundsätzlich madig machte, bat jedoch um ruhigen Bedacht und neigte nicht zur Überstürzung.