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"Der Garten hält den Atem an, gefangen zwischen Vergehen und einem leisen Versprechen von neuem Leben." Du findest eine Anzeige: ein kleines, verwildertes Haus mit Brombeerranken. Alt. Still. Voller Möglichkeiten. Du klickst. Und irgendetwas in dir sagt: Das hier betrifft dich. Bramberi erzählt von einer Frau (Elva, 40), die an einem Wendepunkt steht. Zwischen leerer Leinwand und wildem Grün, alten Spuren und neuen Fragen. Es ist kein Buch über laute Veränderungen, sondern über die, die im Inneren geschehen – unscheinbar, aber tief. Wenn du Bücher liebst, die dich zum Innehalten einladen, die keine Antworten liefern, aber Räume öffnen – dann ist dieses vielleicht deins. Das Print-Exemplar findest du auf www.lenaliteratur.de, versandbereit innerhalb von 24 Stunden. Ebenso wartet dort eine Leseprobe im Blog auf dich.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Lena Dieterle
Bramberi
Lena Dieterle
Impressum
Texte: © 2025 Copyright by Lena Dieterle
Umschlag: © 2025 Copyright by Lena Dieterle
Verantwortlich
für den Inhalt: Lena Dieterle
Boschweg 7
63741 Aschaffenburg
www.lenaliteratur.de
Lektorat: Birgitta Bolte, www.birgittabolte.de
Druck: lena.literatur
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 BerlinKontaktadresse nach EU Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Weil das Leben manchmal leise zu uns spricht –
für alle, die es hören können.
Ich bin müde. So müde, dass es mir vorkommt, als bliebe alles stehen – sogar der Winter in der Stadt kommt nicht richtig an. Elva steht mit einer Tasse am Fenster und beobachtet, wie der Januar die Straßen mit einem dünnen Schleier aus Schnee und Salz bedeckt. Die weiße Pracht verwandelt sich binnen weniger Stunden in Matsch, als wüsste sie, dass sie gegen die Ausdünstungen der Stadt keine Chance hat.
Die Stadt wirkt wie ein fremder Organismus – pulsierend und doch abgestumpft. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde Elva etwas einatmen, das nicht für sie gemacht war. Ob nun sie die Stadt erträgt oder umgekehrt, kann sie nicht sagen.
Während sie ihren dunkelblonden Pferdeschwanz öffnet und spürt, wie ihre Kopfhaut sich entspannt, streift ihr Blick den Kalender – das neue Jahr ist erst drei Tage alt und doch liegt schon Resignation in der Luft. Die Flocken fallen, leise und schwer, als seien auch sie müde. Früher waren die Schneeflocken anders.Dicker. Weicher. Heiliger. Sie lauschte ihnen, denn damals war es still genug, um ihren feinen Klang zu hören. Heute gibt es nur noch Lärm. Selbst im Wald vergeht kaum eine Minute, in der kein Flugzeug zu hören ist.
Elva löst den Verschluss ihrer Kette und legt die Ohrringe ab. Die Gedanken wandern zurück zu ihrer Arbeit. Sie hat sich heute sehr darüber geärgert, dass ihr Nein nie ein Ende war, sondern immer nur der Anfang eines neuen Kampfes. Egal, wie sie es sagte – ruhig, verzweifelt, bestimmt – die Welt hörte nicht zu. Nein war keine Grenze, sondern eine Einladung, lauter zu fordern. Es schmerzt sie wie ein Splitter im Finger, tief genug, um weh zu tun, aber nicht greifbar. Die ständigen Verhandlungen um ihre Zeit ermüden sie, ebenso wie das Erklären ihres Neins.
„Es liegt an dir“, flüsterten die Stimmen oft. „Du bist immer so unglaublich freundlich und dann wunderst du dich noch?! Wärst du härter, würde dir das nicht passieren.“
Elva spürt einen tiefen Widerwillen bei dem Gedanken, diesen Wesenszug abzulegen – als würde sie sich dadurch erst recht verbiegen. Offenheit und Neugier gehören zu ihr, doch genau diese Eigenschaften stehen im ständigen Widerspruch zu ihrem Bedürfnis nach Rückzug. Diese innere Kluft macht ihr Leben zu einem täglichen Balanceakt zwischen Entdeckung und Rückzug. Sich zurückzuziehen, wenn die Spannung zu groß wird, ist der einzige Weg, den sie kennt – doch selbst der fühlt sich oft nur wie ein halber Sieg oder eine stille Niederlage an.
Mit geschlossenen Augen lehnt sie die Stirn an die kalte Fensterscheibe. Der Frost beißt sanft in ihre Haut, ihr Atem benetzt die Scheibe. Dann trifft sie eine Erkenntnis, längst vertraut und doch nie so klar wie jetzt: Irgendetwas muss sich ändern.
Elva sinkt auf das Sofa, stellt die Tasse ab und öffnet ihren Laptop. Das Geräusch des Fernsehers, der im Hintergrund leise läuft, nimmt sie kaum noch wahr.
Seit gut einem Jahr hat sie ein Ritual. Sie tippt jeden Abend dieselbe Suchanfrage in eines der regionalen Immobilienportale ein: „Kleines Haus, großes Grundstück, ländliche Lage“. Ihre Finger gleiten über die Tastatur, ohne Erwartung. Zu teuer. Zu weit weg. Zu groß. Sie scrollt durch die Anzeigen: Villen, Reihenendhäuser, Bungalows und denkmalgeschützte Fachwerkhäuser.
Freiheit ist eben nicht käuflich, seufzt sie. Heute fällt ihr eine Annonce ins Auge. Es ist die kleinste und unscheinbarste von allen. Kaum Bilder, nur ein paar Zeilen.
Elva lehnt sich nach vorne, ihre Finger umklammern den Rand des Laptops. Sonnenfeld Immobilien. Rubrik: Schnäppchen. Künstlerhaus in ruhiger Wochenendsiedlung, 42m² Wohnfläche, ca. 1.600m² Grundstück. Ihr Herz schlägt schneller.
Künstlerhaus. Das Wort verzaubert sie. Auf den zweiten Blick allerdings zeigt sich ein altes Haus mit wenig Platz und einem verwilderten Garten.
Elva träumt eigentlich von etwas anderem, einem Zuhause mit Charme – einer hellen Fassade oder blühenden Beeten vielleicht. Aber dieses Haus wirkt verlassen, wie aus der Zeit gefallen mit seiner dunklen Holzfassade. Und doch spürt sie, dass es auf sie zu warten scheint. Blödsinn. Elva schüttelt den Kopf, fühlt sich von diesem unsichtbaren Band überrumpelt, weil weder ihr Verstand noch ihre Träume es richtig erklären können.
Bestimmt gibt es einen fetten Haken.Feuchter Keller. Unmögliche Nachbarn. Oder schlimmer. Ihre Gedanken beginnen, jede theoretische Möglichkeit schon im Keim zu ersticken. Aber das Bild des Hauses bleibt. Wann hat das eigentlich angefangen, dass ich meine Träume zerstöre, noch bevor sie an Form gewinnen? Die Fragen kommen leise, aber bohrend. Es braucht gar keine äußere Instanz – sie ist sich selbst Spielverderberin genug.
Vielleicht ist es einfacher, sich selbst die Flügel zu stutzen, bevor jemand anderes es tut, denkt sie. Doch dieser Gedanke – so wenig er sie überrascht – macht sie plötzlich wütend.
Ihre Hündin Fuchs hebt den Kopf aus ihrem Korb und wedelt leicht mit dem Schwanz – eine leise, angenehme Präsenz, die sie erdet.
Elva lässt ihrer Sehnsucht freien Lauf. Sie erinnert sich an Nachmittage am Waldrand, wo Asphalt endet und Wildnis beginnt. Das kühle Wasser umspült ihre Füße, während sie barfuß über glatte, moosbewachsene Steine balanciert.
Kräuter pflücken, Mirabellen sammeln – Momente, die wachsen lassen. Ohne Eile, ohne Druck. In der Natur fühlt sie sich richtig, anders als in Büroräumen und Besprechungszimmern. Vollzeit. Das Wort sagt alles.
Im Hier und Jetzt fällt ihr Blick wieder auf den Laptop. Loslassen. Einfach gehen. Tiny-House-Träume? Naiv. Künstlerhaus? Romantisch. Dann lange nichts. Stille. Sehnsucht.
Im Hintergrund flimmert der Fernseher weiter, am Laptop bleibt die Seite mit dem Exposé geöffnet. Das Bild des Hauses leuchtet ihr entgegen.
Mit einem Ruck klappt sie das Notebook zu. Das Geräusch verhallt im Raum. Ihre Schultern sinken, der Kopf lehnt an der Sofakante, die Augen fallen zu.
Doch die Stille bleibt nicht still. Straßenbahnrauschen mischt sich mit Stimmen von draußen. Fuchs streckt sich und Elva greift nach ihrem Smartphone. Ein Wisch und sie ist in der Welt der Kurzvideos. Rezeptideen, True Crime, süße Katzen – alles flackert, nichts bleibt hängen. Sie scrollt weiter. Und weiter. Manchmal tippt sie auf „Gefällt mir“, ohne richtig hinzusehen.
Der Morgen ist kalt und klar, als Elva auf den großen Platz tritt. Es ist noch früh, nur wenige Menschen sind unterwegs. Der Markt hat um diese Zeit eine besondere Atmosphäre: Stimmen klingen gedämpft durch die kalte Luft, das Scharren von Kästen und Klappern von Töpfen mischt sich mit dem Duft von frischem Brot und nassen Holzkisten. Lebendigkeit ohne Hektik.
Fuchs trottet neben ihr her, die Leine locker um Elvas Handgelenk geschlungen. Elva bleibt vor einem Stand mit Kräutern stehen, ihre Finger streifen über die grünen Blätter von Petersilie und Dill.
„Guten Morgen!“ Der Verkäufer nickt ihr zu – ein älterer Mann mit wettergegerbtem Gesicht und leuchtenden Augen. Sie lächelt, lässt sich etwas Thymian einpacken und geht weiter.
Sie kauft nicht viel – ein paar Kartoffeln, etwas Schwarzkohl, den es im Supermarkt nicht gibt. Es ist weniger der Einkauf, der sie hierherzieht, als das Gefühl, dass die Welt sich hier langsamer dreht. Die Menschen nehmen sich Zeit, sprechen miteinander, als wäre keine Eile nötig.
Außerdem muss sie einen Friseurtermin vereinbaren – eine Aufgabe, die sie immer so lange wie möglich aufschiebt. Anders als viele andere Frauen geht Elva nicht gerne zum Friseur. Selten bekommt sie das, was sie sich vorgestellt hat. Stattdessen verliert sie jedes Mal mindestens zwei Stunden Lebenszeit und zahlt einen beträchtlichen Betrag.
Nicht, dass die Arbeit ihrer Friseurin das Geld nicht wert wäre – das ist sie, ohne Frage. Es liegt vielmehr an ihr selbst. Sie hat ihre eigenen Vorstellungen. Und die wollte man ihr schon das ein oder andere Mal ausreden.
Zurück in ihrer Wohnung stellt Elva die Einkäufe ab. Während Fuchs sich auf ihr Hundebett rollt und seufzt, schneidet Elva sich einen Apfel fürs Frühstück, legt die Spalten mit ein paar Nüssen in eine Tupperdose.
Für die Mittagspause braucht sie nichts, denn da geht sie mit ihren Kollegen Pizza essen. Sie blickt auf die Uhr – höchste Zeit, loszugehen. Kaum greift sie nach der Leine, steht Fuchs schon bereit. Elva geht in die Hocke, um den kleinen Kopf des Hundes zu küssen.
Im Büro empfängt sie das Brummen von Rechnern, Gespräche und gleichmäßiges Tippen. Fuchs trottet schnurstracks zu ihrem Platz. Beide verbringen mehr Zeit hier als zu Hause.
Elva hängt ihren Mantel an den Haken neben der vollen Ablage. Auf dem Tisch liegen die üblichen Unterlagen: Einladungen, Programmhefte, der Katalogentwurf für die neue Ausstellung. Sie liebt Kunst, aber selten erzählt sie ihre eigene Geschichte. Immer arbeitet sie für andere. Der Pinsel? Längst abgelegt.
Während ihre Kollegin begeistert die anstehende Vernissage plant, nickt Elva mechanisch. Auf den gedruckten Plakaten steht in großen Lettern das Wort Heimkehr. Ein Thema, das sie schmerzlich ruft. Sie hat Heimweh nach sich selbst, wenn es so etwas denn gibt. Nach einem Leben, von dem sie sich mit aller Kraft fernzuhalten scheint.
Ihr Blick fällt auf die Skizzen der Kreativen: leuchtende Farben, frei fließende Linien, Formen, die sich in Unsichtbares auflösen. Eine Künstlerin hat ihr die Werke stolz gezeigt – voller Enthusiasmus und Energie. Elva hat sie bewundert, genickt, organisiert. Doch das Erschaffen gehört anderen.
Dann ein philosophischer Artikel mit der Headline: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Der Satz sticht wie ein Dorn. Damals gehörte ihre Kreativität ihr. Heute bleibt etwas in ihr stumm.
Für Elva gibt es zwei Arten von Künstlern: Die einen schaffen aus innerem Drang. Die anderen für Ruhm und Geld. Dazwischen? Spielt keine Rolle.
Früher spürte Elva eine Leichtigkeit in ihrem Selbstausdruck. Doch mit jeder Prüfung wuchs die Erwartung, dass etwas Einzigartiges entstehen muss. Es ging so weit, dass ihr der Pinselstrich von Tag zu Tag schwerer von der Hand ging.
Nach dem Meeting am Nachmittag ist das Büro fast leer. Stimmen hallen durch die Gänge, während Elva in ihren Stuhl zurücksinkt. Der Stapel Programmhefte liegt immer noch unangerührt. Heute bringt das nichts mehr.
Im Gehen ein Gedanke: Ist das der Preis für ein geregeltes Leben? Draußen wirkt die Dunkelheit still, trotz des fernen Lärms. Die Straßen sind wie leer gefegt und nur vereinzelt brennen Lichter in den Fenstern.
Auf dem Gehweg knirscht Streusalz unter ihren Schuhen. Fuchs bleibt stehen, hebt eine Pfote und schaut sie klagend an. Elva reagiert sofort und hebt die kleine Hündin hoch. „Na komm, das Zeug ist wirklich nicht auszuhalten.“ Fuchs entspannt sich in ihren Armen und Elva läuft weiter.
Die Worte eines Liedes drängen sich in ihre Gedanken:
„Die Stadt schloft schön langsam ein,
ka laut mehr der sie störtReklamen im Neonschein,
und Türen san versperrt.
Irgendwann geh i dann ham,
klane Aug`n vor Müdigkeithob a wunderschönen Tram,
suach in der Dunkelheit Geborgenheit“
(Lied „Blumen im Sand“ von Stefanie Werger)
Elva summt die Zeilen leise vor sich hin, bis sie die Buchhandlung erreicht. Die großen Schaufenster leuchten warm in die Kälte und versprechen Geschichten, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Ihr Blick bleibt an einem Buch hängen. Etwas an den Worten der Empfehlung zieht sie an: Einsamkeit, Überleben, die Schönheit der Natur. Sie legt eine Hand an die Scheibe. Das muss ich lesen, denkt sie und macht sich im selben Moment bewusst, wie lange es her ist, dass sie das letzte Mal ein Buch aufgeschlagen hat.
Und jetzt gehört der Abend mir. Elva zieht die Tür ihrer Wohnung hinter sich zu, lehnt für einen Moment den Rücken dagegen und schließt die Augen. Der Druck des Tages fällt von ihr ab, wie ein Rucksack, den sie endlich abstreifen darf. Früher hätte sie sich jetzt ein Glas Wein eingeschenkt. Doch heute weiß sie: Das ist nicht die Lösung.
Fuchs schüttelt sich, trottet auf ihren Platz und lässt sich nieder. Es ist, als würde Elva sich etwas zurückholen, das ihr im Laufe des Tages verloren gegangen ist. Ein Stück von sich selbst.
„Du bist noch nicht fertig, da wartet noch Arbeit auf dich“, drängt eine Stimme in ihr, wie ein Schatten im Hinterkopf.
„Es gibt genug zu tun. Die Post ist noch ungeöffnet, die Wäsche muss noch in den Trockner und die Spülmaschine müsste auch ausgeräumt werden.“
„Nein, es reicht!“, sagt Elva plötzlich. Laut und deutlich. „Der Abend gehört nur mir.“
Kurz nach sechs steht Elva gähnend vor dem Spiegel im Badezimmer, die Müdigkeit sitzt tief im Körper. Sie lässt die Zahnbürste sinken und starrt in den Spiegel.
„Du schon wieder“, sagt sie leise, ihre Stimme schwer. Sie erinnert sich an einen Satz, den sie vor Kurzem gelesen hat: „Wenn dein Spiegelbild lächeln soll, musst du zuerst damit anfangen.“ Sie verzieht die Mundwinkel, doch das Lächeln bleibt leer.
Auf dem Weg ins Büro reflektiert sie: Warum immer wieder dieser Traum? Dieser eine wiederkehrende Fehler? Nachts, wenn die Kontrolle ruht, schleichen sich Gedanken heran, die sie tagsüber im Griff hat. Zweifel, die sich zu Bildern formen, zu einem Echo, das nicht verstummt. Elva kommen die Worte von Henry David Thoreau in den Sinn: „Die öffentliche Meinung ist ein schwacher Tyrann im Vergleich zu unserer eigenen Privat-Meinung.“ Wie oft schon hat sie sich an den Ruf nach Einfachheit und innerer Freiheit erinnert und doch anders gelebt? Dieses Zitat trifft genau den Punkt: Nicht die Erwartungen der Welt, sondern ihre eigenen Ansprüche, lasten schwer. Eine Erkenntnis, die schmerzt, aber auch Raum für Veränderung bietet.
Im Büro angekommen, trottet Fuchs wie gewohnt an ihren Platz. „Ich muss los zu dem Termin bei der von Hohenberg“, ruft Elva durch die Zwischentür zu Ivy. „Fuchs liegt auf ihrer Decke. Kannst du nach ihr schauen?“
„Klar. Ich behalte sie im Auge“, antwortet Ivy, grinsend wie immer.
„Danke dir!“, ruft Elva, während sie die Autoschlüssel aus der Schublade nimmt. Mit einem schnellen Griff nach ihrem Mantel eilt Elva zur Tür, wirft Ivy im Vorbeigehen eine Kusshand zu, die diese lachend erwidert, bevor sie hinaus in die kühle Winterluft tritt.
Der frostige Wind brennt leicht auf ihren Wangen, als sie die Tür des Firmenwagens öffnet und sich hinters Steuer setzt.
Die Kiesauffahrt zum Anwesen knirscht unter den Reifen. Magdalena von Hohenberg erwartet Elva an der Tür – elegant, schlicht und mit einem Blick, der ruhig und prüfend zugleich ist. „Kommen Sie herein“, sagt sie, „gehen wir gleich ins Atelier.“
Der Raum atmet Klarheit. Große Fenster lassen das winterliche Licht hereinfallen, daneben Staffeleien und Pinsel. Für eine Weile herrscht absolute Stille – so still, dass Elva ihren eigenen Atem bewusst wahrnimmt. Wie es wohl sein mag, an einem solchen Ort zu arbeiten?
Magdalena unterbricht die Stille mit einer ruhigen Bewegung. „Mein Herzstück“, sagt sie und deutet mit einer einladenden, fast beiläufigen Geste in den Raum. „Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen?“
Elva zögert, sichtlich überrascht, dann nickt sie. „Natürlich.“Magdalena schenkt Tee ein, während Elva auf einem Hocker Platz nimmt. „Die Vernissage beginnt mit einem kleinen Konzert, um die Atmosphäre deiner Werke zu unterstreichen“, beginnt Elva schließlich. Magdalenas Blick ruht auf ihr – aufmerksam, aber ohne Eile.
„Dazu möchten wir Aufnahmen in deinem Atelier machen, am liebsten, während du arbeitest.“
Magdalena stellt die Teekanne zur Seite und lehnt sich zurück.
„Die Ausstellung ist das eine“, beginnt sie langsam, ihre Stimme ruhig und bedacht. „Aber eine Inszenierung meines Zuhauses … da bin ich immer etwas vorsichtig. Die Leute suchen oft Sensationen, wo es eigentlich um Einsichten gehen sollte.“
Die Worte hängen für einen Moment in der Luft, als würde die Stille selbst sie tragen. Elva macht sich Notizen, doch immer wieder schweifen ihre Gedanken ab. Diese Ruhe, diese Gelassenheit – wie Magdalena mit Menschen spricht, dabei Grenzen setzt, ohne darum kämpfen oder sich beweisen zu müssen. Es scheint so mühelos, so anders, als sie es gewohnt ist.
Elva nimmt einen Schluck Tee, ihre Finger spielen mit dem Henkel der Tasse. „Deine Werke haben etwas … ich weiß nicht, Unausweichliches“, sagt sie nachdenklich. „Es ist, als würde jede Linie, jede Farbe genau dort sein müssen, wo sie ist.“ Magdalena hebt den Blick, ihre Augen ruhen auf Elva. „Interessant, dass du das so empfindest.“ Sie stellt die Tasse ab. „Vielleicht kommt es daher, dass die Leinwand mich zwingt, Entscheidungen zu treffen – weitermachen oder aufhören. Nichts dazwischen.“
„Entscheidungen“, wiederholt Elva. „Das klingt einfacher, als es ist.“
Magdalena schmunzelt, während sie den Blick auf Elva gerichtet hält. „Das ist es auch nicht. Manchmal ist es quälend und das ist wichtig. Genau deshalb brauche ich diese Stille. Sie hilft mir, die Dinge klarer zu sehen.“
„Die Stille einladen“, sagt Elva mehr zu sich selbst.
„Das ist es“, antwortet Magdalena. „Die Stille will eingeladen werden. Sie braucht Raum, nicht Kontrolle.“
Die Worte treffen Elva: beruhigend und beunruhigend zugleich. Kann sie diesen Raum in sich zulassen?
„Und was passiert, wenn sie nicht kommt?“, fragt Elva schließlich.
„Dann arbeitest du trotzdem weiter“, erwidert Magdalena. „Nicht jede Entscheidung ist sofort richtig, nicht jeder Moment produktiv. Aber mit der Zeit lernst du, darauf zu vertrauen, dass die Stille irgendwann kommt – und mit ihr die Klarheit.“
Elva nickt, doch ihr Kopf ist voller Gedanken, die sich noch nicht sortieren lassen. „Ich wünschte, ich könnte das“, sagt sie schließlich.
Magdalena sieht sie an und in ihrem Blick liegt etwas Unerwartetes: Mitgefühl. „Vielleicht kannst du es ja schon“, sagt sie. „Manchmal ist es nicht die Stille selbst, sondern der Wunsch nach ihr, der den Anfang macht.“
Für einen Moment schweigen sie. Die Ruhe zwischen ihnen ist nicht unangenehm.
Es ist eine kleine Ewigkeit vergangen, bis Magdalena die schwere Tür des Anwesens mit einem leisen Knarren wieder hinter ihr schließt. Elva bleibt einen Moment stehen. Die Schneeflocken wirbeln scheinbar ziellos durch die Luft und setzen sich auf ihrem Mantel ab. Sie zieht den Kragen etwas höher und geht mit langsamen Schritten. Das Licht aus den Fenstern der Villa wirft ein warmes Rechteck in die winterliche Düsternis, ein schöner Kontrast. Die Stille zulassen. Raum schaffen.
Auf der Fahrt durch die verschneiten Straßen denkt Elva an die Annonce: „Künstlerhaus“ – ein Begriff, dem sie seltsam erlegen ist.
Mit dem Smartphone in der Hand sitzt Elva auf ihrer Couch und tippt auf die Nummer ihrer Mutter. Diese abendlichen Gespräche mehrfach in der Woche sind für sie wie ein sicherer Hafen. Elise versteht sie oft, noch bevor Elva selbst weiß, wie sie sich fühlt.
„Na, mein Schatz“, meldet sich Elise, die Stimme warm. „Wie war dein Tag?“
„Ganz gut, Mama“, antwortet Elva, doch ihre Stimme verrät sie. Ihre Finger spielen gedankenverloren mit der Quaste eines Sofakissens, während Fuchs am Fenster steht, den Blick auf den Balkon gerichtet, wo am Tag die Kohlmeisen in der Futterschale picken.
„Ich habe vorgestern eine Annonce gesehen. Es ist ein winziges Haus mit einem völlig verwilderten Garten. Es ist alt, klein und die Fotos zeigen fast nichts. Aber irgendetwas daran … ich weiß nicht, es lässt mich nicht los.“
„Elva, manchmal glaube ich, das, wonach du suchst, gibt es nur in deiner Fantasie.“
„Vielleicht hast du recht. Dieses Haus … es ist vermutlich ein völliger Reinfall. Ich weiß selbst nicht, warum ich daran hängen bleibe.“
„Und was ist mit deiner Wohnung in der Stadt?“
„Die müsste ich dann verkaufen.“
Elise bläst Luft durch die Lippen. „In dieser tollen Lage? So eine kriegst du so schnell nicht wieder.“
„Ich weiß. Was soll ich denn jetzt machen?“
„Fahr hin, Elva. Selbst wenn es nicht passt – dann hast du es wenigstens gesehen. Vielleicht merkst du dann auch, was du wirklich suchst.“
„Aber glaubst du, dass es das Richtige ist?“
„Ich weiß es nicht. Aber du wirst es auch nicht wissen, wenn du nicht hinfährst.“
Entspannung schleicht sich in Elvas Gesicht. „Du bist immer so pragmatisch.“
„Und du bist immer so verkopft“, kontert Elise lachend. „Das ergänzt sich ganz gut.“
Elise öffnet den Link zum Exposé, den Elva ihr geschickt hat, und schaut sich das kleine Haus an. Es vergeht ein Moment, bis Elise sich einen Überblick verschafft hat und fragt: „Und der Kaufpreis? Klingt auf den ersten Blick machbar, oder nicht?“
„Hm, das solltest du mal mit deinem Bruder bereden. Er kennt sich mit sowas besser aus. Weiß er schon von dem Haus?“
„Nein, noch nicht.“
„Ich bin gespannt, was er dazu sagt“, erwidert Elise.
Elva schnauft hörbar aus. „Das mach’ ich. Danke, Mama.“
„Gern geschehen, mein Schatz.“
Als sie auflegt, fühlt Elva sich einen Hauch erleichtert. Nicht gelöst, aber so, als hätte jemand das Chaos in ihrem Kopf ein bisschen sortiert.
Sie sucht die Nummer ihres Bruders in den Kontakten ihres Smartphones.
„Hey, Schwesterchen“, meldet er sich, seine Stimme gewohnt klar und direkt. Im Hintergrund hört Elva das leise Klirren von Geschirr. „Moment … so, jetzt. Was verschafft mir die Ehre? Alles okay bei dir?“
Sie telefonieren nicht besonders oft miteinander. „Alles gut“, antwortet Elva. „Ich wollte mit dir über etwas reden.“
„Klingt ernst“, sagt Victor, sein Ton bleibt neugierig. „Schieß los.“
Elva erklärt den Zustand des Hauses und ihre Beweggründe.
„Ein stolzer Preis für 42 Quadratmeter!“ Victor pfeift leise durch die Zähne. „Das ist ganz schön sportlich. Warum so viel?“
„Das Grundstück. Es liegt direkt am Waldrand.“ Elva versucht, überzeugt zu klingen.
„Wo?“
„In der Heimat, Unterfranken. Gar nicht so weit weg von Mama.“
„Oha, also ne ganze Ecke weg von dir. Das würde dann etwas weit mit deiner Arbeit in der Agentur, oder?“
„Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht.“
Victor bleibt sachlich. „Lass es prüfen. Dach, Heizung, Elektrik – und sprich unbedingt mit Michael, der kennt sich aus.“
„Kannst du ihn nicht fragen, ob er mal mitkommt?“
Victor nickt. „Ja, das wird schon klappen. Mach den Termin. Danach sehen wir weiter.“
Elva lächelt leicht. „Ich melde mich.“
Elva sitzt hinter dem Steuer und lässt die städtische Landschaft langsam hinter sich. Die stete Geschäftigkeit der Stadt weicht Feldern und gewundenen Straßen. Fuchs bleibt heute zu Hause. Mit jedem Kilometer wird das Rauschen des Stadtlebens leiser.
Heute wird sie dem Haus zum ersten Mal gegenüberstehen – einem Ort, der bisher nur als Traum in ihrem Kopf existiert hat. „Im Brombeergrund 32a“, hatte der Makler ihr geschrieben. Sie ist früh losgefahren, um diesen ersten Moment allein zu erleben, frei von fremden Worten, die ihre Wahrnehmung trüben könnten.
Als sie die letzte Kurve nimmt, klopft ihr Herz schneller. Sie fährt in die kleine Wochenendsiedlung ein – und schon nach wenigen vereinzelten Häusern taucht das Grundstück vor ihr auf. Sie parkt den Wagen am Straßenrand und bleibt noch einen Moment im Auto sitzen. Ihr Blick wandert über das Grundstück und das halb versteckte Gebäude, das hinter einem großen Magnolienbaum und Brombeersträuchern kauert.
Es sieht beinahe so aus, als ducke sich das kleine Haus schutzsuchend an den Fuß einer hohen Sandsteinwand, die hinter ihm aufragt und teilweise vom Efeu überwuchert ist. Die kahlen Zweige der Brombeeren recken sich wie Klauen in die frostige Luft. Elva steigt aus, bleibt am Zaun stehen und spürt die eisigen Metallstreben unter ihren Fingern. Das Tor ist nicht verschlossen, nur angelehnt, doch sie wagt keinen Schritt auf das Grundstück. Sie kann sich nicht entscheiden: Wirkt es abweisend oder einladend?