Schattennovelle - Lena Dieterle - E-Book
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Schattennovelle E-Book

Lena Dieterle

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Beschreibung

"Ich habe es wieder getan." – so beginnt die Geschichte, die vom Licht und Schatten des Lebens erzählt. Zoe ist eine außergewöhnliche Frau, die in ihrem noch gar nicht allzu langen Leben viel Dreck gefressen hat, vor die Hunde ging und nun doch wieder auf der Matte steht. Aus der Kameraperspektive schleicht sich die Leserschaft gemeinsam mit Zoe in ein fremdes Leben und erfährt hautnah sowie schonungslos intime Details und Abgründe, die allen anderen gänzlich verborgen bleiben. Warum tut sie das?

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Seitenzahl: 166

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Lena Dieterle

Schattennovelle

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Impressum neobooks

Kapitel 1

Lena Dieterle

Schattennovelle

Lena Dieterle

SCHATTENNOVELLE

Novelle

Impressum

Texte: © 2023 Copyright by Lena Dieterle

Umschlag: © 2023 Copyright by Lena Dieterle

Verantwortlich

für den Inhalt: Lena Dieterle

Boschweg 7

63741 Aschaffenburg

[email protected]

www.lenaliteratur.de

Druck: neobooks – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Lektorat: Simon Denninger / Agentur sidepunkt.

www.sidepunkt.de

Für

(Tief)Sinnige

(Hinter)Fragende

(Neu)Gierige

(Lebens)Müde

(Un)Abhängige

(Außer)Gewöhnliche

Prolog

Meine Eltern gaben mir den Namen Zoe. Ich hatte alles, was man sich nur wünschen kann. Ein eigenes Zimmer, an den Wänden Einhorn-Tapete, das Poesiealbum voller schöner Sprüche und gute Noten…

Worauf ich jedoch nicht vorbereitet war, das war das Leben. Dieses hinterlistige Leben, das mehr scheint, als es ist. Mit Anfang Zwanzig bin ich dann abgestürzt, bin jeden Tag ein Stück mehr daran zugrunde gegangen. Zu behütet und irgendwie nicht in der Lage, dem Druck da draußen standzuhalten.

Ich trank, bis meine Gefühle so taub wurden, dass ich mich eines Tages gar nicht mehr spürte. Dort, wo Licht ist, wird eben immer auch Schatten sein.

Und dann? Was geschah dann?

Nun, ich habe es wieder getan. Und ich werde es immer wieder tun …

Kapitel 1

Zuletzt habe ich mich für ein aufwendiges Projekt aufs spanische Festland zurückgezogen. Nachdem meine Arbeit dort nun abgeschlossen ist, fliege ich zurück nach Deutschland – in mein Heimatland. Ich kann zum Glück inzwischen völlig frei entscheiden, wohin ich als nächstes reise. So habe ich mir dieses Mal eine mir bisher völlig unbekannte Stadt ausgewählt. Berlin. Ich war noch nie dort, obwohl es sich um unsere Hauptstadt handelt.

***

Ich mache es mir in meinem gepolsterten Sitz im Flugzeug bequem und warte auf die Durchsage, dass wir abflugbereit sind. Es treffen noch verspätete Passagiere ein, aber der Platz neben mir bleibt zunächst leer.

Eine Mutter, ich vermute Anfang Dreißig, trägt ihr Kleinkind in einer Art Stoffkorb durch den Gang und stellt dann die Trage kurz auf dem Boden ab, um ihr Handgepäck zu verstauen. Das Stoffdeckchen ist übersäht mit kleinen Schmetterlingen und ich muss innerlich schmunzeln, denn ich liebe diese hauchzarten „Sommervögel“. Während die Frau hektisch ihre etwas zu große Tasche ins Deckenfach stopft, fällt einem jungen Mann neben ihr ein gebundenes Buch aus dem Seitenfach seines Rucksacks und segelt auf das Gesicht des am Boden geparkten Babys zu. Ich reagiere blitzschnell und fange den Wälzer eine Nanosekunde vor dem Aufschlag ab, meine Hand streift schon den zarten Wimpernkranz des Säuglings. Weder die Mutter noch der junge Mann haben bemerkt, welche Katastrophe ich gerade noch verhindern konnte. Als er sich umdreht, reiche ich ihm das Buch und seine Augen blicken mich fragend an, denn er kann sich nicht erklären, wie ich daran gekommen bin. Sein Mund öffnet sich leicht, doch dann bleiben die Worte ungesagt zwischen seinen Lippen stecken und er dreht sich weg.

Es geht mir häufig so, dass ich Situationen erkenne und nicht selten „rette“, ohne dabei bemerkt zu werden. Mir macht das nichts aus, ich brauche keine Bühne. Ich lebe längst mit meinem „unsichtbaren“ Dasein. Menschen rennen an mir vorbei oder schauen durch mich hindurch, als sei ich gar nicht existent.

Das dürften jetzt die letzten fehlenden Passagiere gewesen sein. Dann werden wir bald starten.

Doch weitere Zeit verstreicht und nichts tut sich. Mit ruhiger Musik aus dem Senderprogramm der Airline im Ohr lehne ich meine Wange an die Rückenlehne und schließe die Augen, um noch ein wenig zu entspannen, wenn wir schon nicht pünktlich abheben.

„… unmöglich… beschweren!“

Nanu, was ist denn jetzt los? Ich öffne die Lider und sehe den breiten Rücken eines Mannes, der direkt vor mir im Gang steht, aufgebracht gestikuliert und dazu lautstark wettert. Ich nehme die Kopfhörer aus den Ohren und richte mich in meinem Sitz auf. Die Stewardess ist sehr bemüht, den Herrn zu besänftigen, doch es gelingt ihr nicht.

„Nochmal zum Mitschreiben: Ich habe erste Klasse gebucht und bezahlt! Also, warum sitze ich dann nicht in der ersten Klasse? Das war das letzte Mal, dass ich mit dieser Provinz-Airline fliege!“

Aus meiner Sitzperspektive wirkt der Mann auf mich beinahe monströs. Seine Stimme ist grollend und rät den Zuhörern tunlichst, nicht mit ihm zu spaßen.

„Es tut uns aufrichtig leid, dass wir Ihrem Wunsch nicht entsprechen können. In der ersten Klasse sind alle Plätze ausgebucht.“

„Wollen oder können Sie nicht verstehen? Erste Klasse und nicht drittklassig! Es kann nicht mein Problem sein, wenn Sie Ihre Plätze doppelt vergeben. Abzocke nennt man sowas! Das wird ein Nachspiel haben. Und jetzt bringen Sie mir mein Handgepäck.“

„Das geht leider nicht“, stammelt die Stewardess kleinlaut und schiebt direkt hinterher: „Also, das geht erst, wenn wir in der Luft sind und sie die Gurte wieder lösen dürfen. Die Fächer sind bereits verschlossen.“

Er schnaubt. „Sie werden mir jetzt augenblicklich mein Handgepäck holen!“

Gefühlt kann man die Luft spätestens jetzt in Scheiben schneiden. Ich kann von der Seite beobachten, wie sich in seinen Mundwinkeln weiße Blasen vom Speichel bilden. Dieser Mann ist es nicht gewohnt, dass nicht getan wird, was er befiehlt.

Die Chefstewardess kommt herbeigeeilt. „Lassen Sie uns bitte erst abheben, wir müssen die Startbahn frei machen. Sie erhalten natürlich den vollen Bordservice kostenfrei. Alles Weitere klären wir dann während des Fluges. Mit dem Sitz zum Gang haben Sie ähnliche Beinfreiheit wie in der 1. Klasse.“

Zum Abschluss der Diskussion, die die gesamte Kabine unangenehm unterhält, zwängt sich der große Mann in den ihm zugewiesenen Sitz. Wir befinden uns auf einer Höhe, nur der Gang trennt uns. Würde ich den Arm nur ein klein wenig ausstrecken, könnte ich ihn berühren. Wie das wohl wäre? Und ich kann ihn aus dieser Position beobachten, ohne dabei bemerkt zu werden.

Jetzt laufen zwei Flugbegleiterinnen durch den Gang und weisen die Passagiere in englischer Sprache an: „Please take your seat and fasten your seat belt. And also make sure your seat back and folding trays are in their full upright position.“

Er schnallt sich nicht an, doch die Stewardess sieht absichtlich darüber hinweg, um ihn nicht nochmals ansprechen zu müssen. Ihre hellblaue Bluse hat sich unter den Achseln längst dunkel gefärbt.

***

Wenig später schwebt der Vogel aus Stahl durch die Luft und durchbricht die Wolkendecke. Der Druck auf meinen Ohren löst sich. Eine Bordangestellte bringt meinem Sitznachbar das Handgepäck, im Personalbereich ist schon das Klirren von Glasflaschen zu hören.

„Bordservice, guten Tag. Was darf‘s denn für Sie sein?“ säuselt eine bisher noch nicht gesehene Stewardess dem Mann zu, als sie an seiner Sitzreihe ankommt.

„Rotwein.“

„Gerne, einen Rotwein für den Herrn. Bitteschön.“

Er nimmt den Becher und leert ihn mit drei Schlucken, dann hält er ihn der Stewardess erneut hin. Sie schaut erstaunt, erhebt aber keinen Einwand und füllt nach. Als sie fertig ist und gerade nach dem Becher greifen will, ruckelt es gewaltig. Ein Luftloch. Bevor sich der Wein über der Schulter des grantigen Mannes ergießt, greife ich reflexartig nach vorne. Das Plastik knackt unter meinem festen Griff. Die Bedienung hat den Atem angehalten und schnauft nun hörbar aus. Dann lächelt sie mir dankbar zu und reicht ihm den Wein.

Er, ganz mit sich selbst beschäftigt, hat von alledem nichts mitbekommen. Diesmal stellt er den Becher auf das Tischchen vor sich und wartet ab, dass die Servicekraft der Airline eine Reihe weitergeht, bis er erneut den Inhalt des Bechers gierig hinunterschluckt.

Auch dieses Viertel Wein wird nur ein Tropfen auf einen heißen Stein bleiben, denke ich. Ich kann es förmlich zischen hören, wie die alkoholische Flüssigkeit auf sein erhitztes Gemüt trifft und sofort verdunstet. Mein Blick hängt an ihm fest, denn seine Abscheulichkeit fasziniert mich. Er ist der unmöglichste Mensch, den ich seit Langem getroffen habe. Und zugleich bin ich erfahren genug, hinter dieser harten, ungnädigen Schale einen Hilferuf zu erkennen. In meinen Fingerspitzen kribbelt es längst und ich habe große Lust, mehr über ihn zu erfahren.

Menschen, die seelisch noch nicht so verwahrlost sind, die erreicht man relativ einfach. Doch solch schwierige Fälle wie dieser hier, die fordern mich heraus. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich war schließlich selbst mal so – und das in deutlich jüngeren Jahren. Unausstehlichkeit war so etwas wie mein zweiter Vorname.

Jeder erfahrene Therapeut würde mir wahrscheinlich davon abraten, mich näher mit dem Mann zu beschäftigen, denn wie sagt man: Menschen verändert man nicht mehr, sie sind, wie sie sind. Doch ich muss es einfach versuchen, kann gar nicht anders.

Kapitel 2

Wer sind Sie und wann sind Sie so geworden? Wer hat Sie so verletzt, wer hat Sie nicht gesehen?

Ich scanne ihn von der Seite, sehe seine Altersflecken auf der Wange. Er könnte etwa Mitte, vielleicht Ende Sechzig sein, trägt einen grau melierten Vollbart und buschige Brauen. Der Ansatz einer Glatze schimmert durch das lichte Haupthaar. Er ist Rechtshänder, trägt eine ,Tissot‘-Uhr am Handgelenk. Ich rieche ein maskulines, moschuslastiges Eau de Toilette. Vielleicht ist es auch Testosteron? Dann der goldene Ehering … wie passt der nun wieder zu ihm? Dieses Zeichen von Zugehörigkeit und Verbundenheit, bis dass der Tod sie scheidet?

Die Stewardess vom Anfang nähert sich und spricht ihn vorsichtig an: „Wir haben extra mit der Bodenstation Kontakt aufgenommen. Es tut mir leid Ihnen sagen zu müssen, dass Sie genau diesen Platz hier reserviert hatten und keinen in der ersten Klasse.“

Schweigen. Oh je, jetzt bin ich aber gespannt, wie er reagiert.

„Das überrascht mich.“ Pause. „Ich werde die Buchung prüfen, wenn ich wieder in meinem Büro bin. Sollte dem so sein, wird sich die Sekretärin nach einem neuen Job umschauen müssen. Wenn nicht …“ Er lässt den Satz offen, doch die Botschaft ist klar.

Die freundliche Stewardess knipst nichtsdestotrotz ihr professionelles Zahnpasta-Lächeln an. „Der Bordservice bleibt für Sie natürlich kostenlos.“

Er ordert gleich noch einen Rotwein, vielleicht um die Verlegenheit über seinen Auftritt hinunterzuspülen? Alkohol betäubt ja für einen Moment so angenehm die eigenen Gefühle. Aber ob er überhaupt so reflektiert ist? Auch dieser Wein ist schneller ausgetrunken, als ich schauen kann.

Der unsympathische Herr nimmt den Laptop aus seinem Handgepäck und öffnet ihn. Als er bemerkt, dass der Hotspot passwortgeschützt ist, lässt er die Stewardess erneut kommen. Sie hilft ihm dabei, den Zugang einzurichten und er bedankt sich.

Sieh einer an… er weiß, wie Höflichkeit prinzipiell funktioniert, denn immerhin kommt das Wort „Danke“ in seinem Wortschatz vor. Abgesehen davon,kein anderer Passagier nimmt so viel Service und Aufmerksamkeit in Anspruch wie er.

Als sie wieder weg ist, kramt er umständlich in seiner Ledertasche und gibt schließlich auf.

Was fehlt ihm jetzt?Ah, die Lesebrille, schlussfolgere ich, denn gerade hat er sich die Schrift größer gestellt. Das kommt mir natürlich entgegen, da ich so in Teilen mitlesen kann, was er schreibt.

„… im Flieger… nicht erste Klasse gebucht …? … Ihrer Schlampigkeit in unmögliche Situationen…“

Ich habe ein wenig Mitleid mit der Sekretärin, die gleich seinen Unmut abbekommt. Um das Logo in der Signatur lesen zu können, beuge ich mich auffällig weit nach vorne und tue so, als würde ich mich in meinem Sitz strecken. Als ich so nah dran bin, dass ich endlich was lesen kann, merke ich ein leichtes Beben in meinem Körper. Hoffentlich merkt er nicht, dass ich mitlese.

DR Invest & Immobilien.

DR … könnte es sich dabei um seine Initialen handeln?

In genau diesem Moment klappt er ganz unerwartet den Laptop zu und steht ruckartig auf. Ich zucke erschrocken zusammen, so schnell dreht er sich plötzlich zu mir um. Mein Herz steht still.

Doch er achtet nicht auf mich, als er an mir vorbei durch den Gang zur Toilette geht. Er blickt durch mich hindurch wie alle anderen auch, doch ich sehe seine sicher einstmals attraktiv strahlenden blauen Augen. Heute sind sie etwas trüb und glasig. Halleluja. Meine Hände zittern nervös. Nachdem mein Herz wieder den richtigen Takt gefunden hat, sehe ich unter seinem Sitz ein ledernes Portemonnaie liegen, das ihm beim Aufstehen aus der Tasche gefallen sein muss.

Mein Entschluss steht längst fest. Ich werde alles daransetzen, ihn zu begleiten. Rasch beuge ich mich vor und blicke mich im Mittelgang um. Niemand zu sehen. Der Passagier mit dem Buch neben mir schläft tief und fest und bekommt nichts mit. Meine flinken Finger angeln sich die Börse. Leicht verdeckt von meiner mitgebrachten Zudecke klappe ich die Geldbörse zwischen meinen Beinen auf und schaue mir die Karten an. Mein Herz rast vor Angst, gleich erwischt zu werden.

Aha.Sein Name ist also Darius Rabe.Sehr angenehm, lieber Darius… wir werden von nun an etwas Zeit miteinander verbringen.Und du ahnst noch von nichts.

Ich zücke mein Handy und mache rasch ein paar Bilder von seinem Ausweis, seiner Visitenkarte, einer Mitglieds-karte, einem zehnstelligen Zahlencode und von seiner goldenen Kreditkarte. Mir fällt auf, dass Darius vom Sternzeichen her ein Skorpion ist. Oha!Kein einfaches Sternzeichen, das mitunter einen schwierigen Ruf hat. Ich habe Menschen mit diesem Sternbild schon als herrisch, manipulativ und rachsüchtig erlebt… mit ihrem giftigen Stachel, unberechenbar.Doch sie gelten auch als treu, haben sie sich einmal entschieden.

In einem anderen Fach stecken große Geldscheine, zusammengefaltet in einer Klammer. Das war alles. Ich streiche noch einmal über die glatte Oberfläche und lege den Geldbeutel klammheimlich wieder zurück, diesmal auf seinen Sitz und nicht darunter. Ich will sichergehen, dass er die Börse entdeckt, wenn er zurückkommt.

Und da bebt auch schon der Gang, als dieser massige Mann mit großen Schritten angetrampelt kommt. Ich drehe mich um und blicke ihm von vorne ins Gesicht, da ich ihn bisher bis auf den einen Moment nur von der Seite sehen konnte. Ich sehe markante Züge und eine große Nase, die vom übermäßigen Alkoholkonsum gezeichnet ist. Unter seinen Augen prangen dicke Tränensäcke. Hat er mich jetzt wahrgenommen? Nur, weil er mich angeschaut hat, heißt es noch lange nicht, dass er mich auch gesehen hat. Nein,ich denke, er hat mich wieder nicht gesehen.

***

Mein Koffer ist das erste aller Gepäckstücke auf dem Förderband, doch ich möchte Zeit schinden. Also lasse ich ihn liegen, als hätte ich ihn nicht bemerkt. Weiß ja niemand, dass es meiner ist.

Darius steht auf der anderen Seite des Bandes, mir gegenüber. Gerne hätte ich mich neben ihn gestellt und seinen Geruch inhaliert, doch ich habe mich ganz bewusst so positioniert, um seine Mimik besser beobachten zu können. Er tippt auf seinem Smartphone herum und es scheint, als achtete er gar nicht auf die Koffer. Bei jedem Gepäckstück, das vorüber läuft, überlege ich, ob dies wohl seines sein könnte und staune nicht schlecht, als er sich schließlich ein sehr abgegriffenes Exemplar vom Band nimmt. Hier hätte ich wie bei Mantel, Schuhen, Uhr und Tasche etwas mehr Stil erwartet. Wobei dieser Stil wohl mehr Fassade ist, denn Darius an sich hat wenig davon. Er wirkt eher wie einer, den man nur schick angezogen hat.

Der Koffer ist von einer guten Marke, doch inzwischen zerschunden und abgenutzt, vom Leben gezeichnet. Ja, genau dieser alte Koffer spiegelt sein Leben wider.

Als eine ältere Dame neben ihm ihren Koffer nicht vom Band gehoben bekommt und ihn deshalb weiterlaufen lassen muss, ärgere ich mich. Wie kann man so borniert und stumpf sein, ihr nicht zu helfen? Als das Gepäckstück der Frau bei mir ankommt, hebe ich es runter und fahre es auf Rollen zu der alten Dame, die sich herzlich bedankt. So kann ich immerhin unauffällig die Seiten wechseln und mich jetzt direkt neben ihn stellen. Eigentlich ist dort kein Platz für mich, aber ich mogle mich dazwischen, die Nase in die Luft gereckt wie ein umherstreunender Fuchs, der eine Fährte aufnimmt. Leider sind zu viele Gerüche um mich herum, um Darius Geruch ausmachen zu können.Sostehen wir weiter am Band, nebeneinander, als gehörten wir bereits zusammen.

Da spricht mich von hinten ein Mann an, ob ich denn nun endlich wisse, welcher Koffer der meine wäre, denn dann könnte ich Platz machen und ihn vorlassen. Ich werde rot, stammle eine Entschuldigung und greife wenige Minuten später nach meinem Gepäckstück, das sicher bereits die dritte Runde auf dem Band absolviert hatte.

Als ich mich umdrehe, ist Darius verschwunden. Just in diesem Moment der Unaufmerksamkeit, einfach spurlos untergetaucht im Labyrinth des Hauptstadt-Flughafens. So ein Anfängerfehler!

Kapitel 3

Ich checke die Adresse seines Ausweises auf meinem Handyfoto, folge den Schildern in der Ankunftshalle und steige am Flughafen in die Straßenbahn, die in der Nähe seines Wohnortes halten soll. Es rattert und rüttelt, als die Bahn aus einer Unterführung hinaus ins Tageslicht fährt.

„Hallo Berlin“, begrüße ich die Stadt, die sich mir in rasanter Geschwindigkeit beim Blick aus dem leicht milchigen Fensterglas präsentiert. Trotz freier Sitzplätze stehe ich lieber, und zwar direkt in der Mitte. Ich genieße die Bewegungsfreiheit. Mit meiner rechten Hand halte ich mich an einer Griffschlaufe fest und schaue mich um. Zwei junge Mädchen mit bunt gefärbten Haaren flüstern und kichern miteinander, die anderen Fahrgäste schauen auf den Boden, auf ihr Smartphone oder aus dem Fenster, doch niemand sieht mich an. Ich denke immer, dass die Menschen nur mich nicht sehen, aber womöglich sehen sie auch alle anderen nicht. Die Musik in den Ohren so laut, um bloß nicht in einen Austausch zu geraten. Jemanden „sehen“ ist eine große Sache, für die Aufmerksamkeit und Bewusstsein nötig wäre. Doch diese Menschen stecken fest. Jeder in seiner eigenen unsichtbaren Blase, die sie zu anderen auf Abstand hält. Doch sie ist so dünnwandig, dass bald alles aufzuplatzen droht. Dann würde passieren, was hier tunlichst vermieden werden möchte. Alles wäre wieder eins, Körper würden als feinstoffliche Flüssigkeit ineinanderlaufen und sich vermengen. Nicht mal mehr nur ein Teil davon, sondern das große Ganze. Ich schüttle den Kopf, um diese diffusen Gedanken abzustreifen, die ich so oft denke und die mich doch keinem Ziel näherbringen.

Ich lächle einen jungen Mann an, als er den Kopf hebt und unter der Kapuze seines Hoodies hervorlugt, doch er lächelt nicht zurück, sondern schaut rasch wieder auf seinen linken Sneaker, als sei ich ihm peinlich.

Früher dachte ich immer, wenn ich erst mal einen Nasenring habe, dann bin ich cool. Als ich ihn dann hatte, schauten mich die Menschen komisch an. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, wer weiß. Und irgendwann wars mir egal, was andere denken. Bei manchen war ich mir nicht sicher, ob sie überhaupt denken konnten. Sowieso sind diese „wenn… dann“-Gedanken der Untergang, weil man so nicht im Hier und Jetzt zu leben beginnt. Meine Erwiderung zu diesem Irrglauben: „…und was, wenn sich dann doch nichts ändert? Was dann… wenn?“.

***

Eine Station früher als auf der App angezeigt steige ich aus und laufe zu Fuß. Ich möchte einen Eindruck von dem Viertel bekommen, in dem Darius lebt. Schnell fälle ich mein Urteil – sehr subjektiv, weil ich Großstädte normalerweise meide.

Für mich herrscht dort eine unpersönliche Atmosphäre. Menschenmassen, Betonwüste. Ich verbinde die Stadt mit Lärm, Graffitis, Drogen, überfüllten Glascontainern und hupenden Fahrzeugen. Doch das Viertel hier wirkt auf mich geradezu clean. Imposante steile Glasfassaden ragen aus dem Erdboden und reichen bis in den Himmel, die Fensterscheiben in Perfektion geputzt. Alle Menschen wirken reserviert, sind in Eile, hasten mit vollen Taschen den Gehweg entlang, nirgendwo ein Platz zur Rast, keine Bänke, keine Brunnen, nichts. Noch nicht mal mehr Müll steht irgendwo herum. So oder so, es wird nicht ganz leicht für mich, hier länger zu verweilen, doch ich will es versuchen.

Und dann stehe ich mit einem Mal in der Zypressenallee 216, einem Straßenzug, der einer Zypressenallee ferner nicht sein könnte. Dafür zwei Bänke und eine Blumeninsel, die üppig gepflanzt aus dem Asphaltmeer herausragt. Sie verleiht der Straße sofort etwas Freundliches.

In mir kribbelt es vor Aufregung, als ich vor dem Haus stehe, in dem Darius lebt. Aufmerksam lese ich die Namen auf den Briefkästen und beginne schon, mich kurz zu sorgen, als ich ganz oben auf einem separaten Schild die Namen „C. + D. Rabe“ lese.