Regenbogenmärchen - Annette Klinke - E-Book

Regenbogenmärchen E-Book

Annette Klinke

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Beschreibung

Es war einmal vor langer Zeit ... Doch was zwischen dem altbekannten Anfang und dem wohlverdienten Happy-End liegt, könnte sich ganz anders zugetragen haben. Hat wirklich eine böse Hexe die schöne Rapunzel eingesperrt? Und warum leben eigentlich sieben Zwerge miteinander in einer WG? Findet es heraus in dieser bunten Märchensammlung :-)

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INHALT
Ein Prinz in Pink
Grumpy and Happy End
Der König und der Erfinder
Spindeltage
Der Fluch des Drachenschwertes
Untier
Snows erste Liebe
Die Tischlertochter
Die sieben Rabenknaben
Aschenbrödel
Dornröschen oder Der falsche Kuss
Wenn sich ein Mensch verirrt im Märchenwald ...
Prinz Rosenherz
Kein*e Thronfolger*in
Herzensworte
Magie in der Luft
Die rote Sonne und der weiße Mond
Doris
Dem Fluch zum Trotz
Die Sterne seiner Heimat
Wandeldich
Die kleine Fee, die kämpfen musste
Autoren

Regenbogenmärchen

Anthologie

Von Regenbogenmärchen, diversen Traumprinzen und Queer-zessinen

ELYSION-BOOKS TASCHENBUCH

1. Auflage: April 2023

VOLLSTÄNDIGE TASCHENBUCHAUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2023 BY ELYSION BOOKS, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

PRINTED IN GERMANY

ISBN 978-3-96000-236-9

www.Elysion-Books.com

INHALT

Eine Prinzessin in Pink - Annette Klinke 5 S.

Grumpy and Happy End - J.M. Summer 15 S.

Der König und der Erfinder – Katrin Holzapfel 23 S.

Spindeltage – Maike Frie 37 S.

Der Fluch des Drachenschwertes - Pamela Murtas 46 S.

Untier – Summer Fields 55 S.

Snows erste Liebe - Yvi Lips 73 S.

Die Tischlertochter – Lisa Stahl 84 S.

Die sieben Rabenknaben – Carolin Engels 89 S.

Aschenbrödel – Elina Sudden 99 S.

Dornröschen oder Der falsche Kuss – Sabrina Maierhofer 114 S.

Prinz Rosenherz – Klaus Enser-Schlag 145 S.

Kein*e Thronfolger*in – Selma Focke 150 S.

Herzensworte – Sam Sallier 162 S.

Magie in der Luft – Jonathan Großmann 179 S.

Die rote Sonne und der weiße Mond – Kim Delilae 191 S.

Doris – Elisabeth Spannring 198 S.

Dem Fluch zum Trotz – Salia Jean 210 S.

Die Sterne seiner Heimat – Louise Hofmann 221 S.

Wandeldich – Dhalia B. Winters und Ludwig Karell 232 S.

Die kleine Fee, die kämpfen musste – Maya Dietzmann 248 S.

Autoren

Ein Prinz in Pink

Annette Klinke

Es war einmal vor langer Zeit ein Königreich im Süden unserer Welt. Der König und die Königin dieses Landes hatten schon lange versucht, ein Kind zu bekommen. Als sich nun endlich Nachwuchs ankündigte, waren beide außer sich vor Freude.

»Hoffentlich wird es ein Junge, dann haben wir einen Thronfolger«, wünschte sich der König.

»Hauptsache gesund, alles andere wird sich finden«, fand die Königin stattdessen.

Wie groß war die Freude, als tatsächlich ein kleiner Sohn geboren wurde. Er schaute neugierig mit großen, blauen Augen in die Welt und staunte über sein neues Leben. Verzückt betrachtete die Königin seine goldenen Locken und die langen Wimpern. Er war ein wunderschönes Kind. Der König nahm ihn in Gedanken bereits mit auf die Jagd und trainierte ihn im Schwertkampf.

»Wir wollen ihn Luca nennen«, schlug die Königin vor und ihr Gatte war einverstanden.

Luca war ein freundliches und zufriedenes Kind, das von allen im Palast geliebt wurde. Er wuchs heran und entdeckte mit großer Freude und Neugier die Welt um sich herum. An Ideen mangelte es ihm nicht, auch wenn seine Beschäftigungen manchmal etwas ungewöhnlich für einen Prinzen waren. So fand er eines Tages im Schlosspark ein Vogelküken, das aus dem Nest gefallen war. Es hatte schon Federn und schaute den kleinen Prinzen mit wachen Augen an. Luca verliebte sich sofort in dieses kleine, hilflose Wesen und nahm es mit zu sich in den Palast. Dort leerte er die Daunen aus einem Kissen in eine Suppenschüssel, die er heimlich aus der Schlossküche entwendet hatte, und baute dem kleinen Vogel ein kuscheliges Nest. Im Schlosshof fing er Insekten und suchte in den Blumenbeeten nach Würmern, um das Küken zu füttern. Das Küken akzeptierte ihn sofort als Ersatzmutter und liebte es, wenn Luca ihm sanft das Köpfchen kraulte oder zärtlich die kleinen Flügel glatt strich. Der kleine Vogel wuchs heran und wurde langsam erwachsen. Eines Tages war es an der Zeit, Abschied zu nehmen und mit einem letzten Zwitschern flog er davon. Luca schaute ihm wehmütig hinterher. Es war schön gewesen, jemanden zum Kuscheln und Liebhaben gehabt zu haben.

Aufmerksam schaute er sich nach einer neuen Beschäftigung um und fand eines Tages heraus, wie viel Spaß es machte, den Palast zu putzen. Zum großen Erstaunen der Bediensteten schrubbte er eifrig die Fußböden des Schlosses und freute sich, wenn hinterher alles sauber war und glänzte. Mit Elan säuberte er auch die Spiegel und Fensterscheiben und betrachtete dann zufrieden sein Spiegelbild, zupfte hier eine Locke an den richtigen Platz und probierte sogar manchmal den Lippenstift der Königin aus. Eines Tages bat er seine Kammerzofe um ein Kleid ihrer Tochter, das sie ihm etwas verwundert aushändigte, und begeistert tänzelte er damit vor dem Spiegel auf und ab. Auch die hochhackigen Schuhe seiner Mutter zogen ihn magisch an und verlockten ihn zu ungelenken und staksigen Spaziergängen durch die langen Korridore des Schlosses. Die Bediensteten liebten den kleinen Jungen und seine Eigenarten. Manchmal erschien es ihnen allerdings, als hätten sie eine kleine Prinzessin im Schloss statt eines Prinzen Da er aber mit so viel Freude bei der Sache war und niemanden störte, hinderte ihn keiner an seinem Tun. Allerdings erzählte es auch niemand dem König, denn der hätte nichts davon geduldet, darin waren sich alle einig. Der König versuchte mehrere Male, seinen Sohn für die Jagd zu begeistern, aber Luca dachte sofort an seinen kleinen Vogel und hatte Mitleid mit den Tieren im Wald. Er konnte sich nicht vorstellen, eines von ihnen zu töten. Nach vielen Versuchen gab der König enttäuscht auf. Auch für den Schwertkampf konnte er seinen Sohn nicht gewinnen. Der Prinz hatte zwar einen starken Schlagarm, bremste aber jedes Mal das Schwert kurz vor dem Ziel ab, weil er das Geräusch der aufeinanderschlagenden Klingen nicht mochte. Der König schüttelte nur verständnislos den Kopf und strich die Übungsstunden aus seinem Kalender. Ein bisschen Sorgen bereitete es ihm aber doch. Wer sollte denn in Zukunft das Königreich verteidigen, wenn der künftige König zu sensibel für einen Kampf war? Tief in Gedanken versunken eilte er zu seinem nächsten Termin.

Luca verbrachte unterdessen viel Zeit mit der Köchin in der gemütlichen Schlossküche. Zusammen zauberten sie leckere Nachspeisen und Luca dachte sich immer wieder neue Kreationen aus, die er freigiebig an die Bediensteten verteilte. Die Königin beobachtete alles mit Irritation und leiser Sorge, sagte aber nichts dazu, weil sie merkte, dass es ihren Sohn glücklich machte. Der König bemerkte argwöhnisch die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten seines Sohnes und äußerte sein Missfallen. »Der Junge hält sich ständig in der Küche auf und vertut seine Zeit zwischen Rührbesen und Schüsseln, statt mit seinem Schwert zu trainieren. Es ist doch eines Prinzen nicht würdig, in einem Pudding zu rühren und Kompott mit Sahneklecksen zu verzieren«, beklagte er sich ärgerlich bei seiner Frau.

Die Königin beschwichtigte ihn: »Vielleicht ist er einfach noch nicht so weit, so lass ihn halt. Du wirst noch genug Zeit haben, um ihn im Kampf zu unterweisen«. So redete sie ihrem Mann gut zu, obwohl auch sie Lucas Verhaltensweisen merkwürdig fand und längst daran zweifelte, ob er je zu einem Kampf mit dem Schwert bereit sein würde. Aber diese Zweifel sprach sie vor dem König nicht aus. Sie hoffte immer noch, dass Luca sich schon irgendwann wie ein ganz normaler Junge entwickeln und verhalten würde; vielleicht brauchte er einfach nur mehr Zeit als die anderen Jungen.

Jahre gingen in das Land und Luca wuchs zu einem hübschen und ungewöhnlichen Jüngling heran. Seine blonden Locken hatte er behalten und hütete sie wie einen Schatz. Niemand durfte ihm die Haare schneiden und er erfand jeden Tag eine andere Frisur, um die goldene Haarpracht zu bändigen. Außerdem hatte er eine neue Leidenschaft entdeckt: schöne Stoffe.

Eines Tages war die Schneiderin ins Schloss gekommen, um der Königin ein neues Kleid zu nähen. Luca hatte staunend vor den Stoffballen gestanden, vorsichtig mit den Fingern über die feine Seide gestrichen und ein paar der schönsten Stoffe andächtig um seinen Körper drapiert. Da gab es Stoffe mit bunten Blumen und Schmetterlingen, die mochte er besonders gerne, außerdem ein Ballen aus fester, pinker Wolle, der aus allen Stoffen herausstach.

»Soll ich Euch auch einen Anzug nähen, Prinz Luca?«, fragte die Schneiderin den Prinzen, als sie seinen verträumten Blick bemerkte.

»Ich weiß nicht, darf ich?«, fragte Luca bittend und schaute zu seiner Mutter hinüber.

»Natürlich, such dir gerne einen Stoff aus. Du wirst ja nun bald auf die großen Tanzbälle gehen und viele Prinzessinnen treffen. Da wäre es sicherlich gut, einen schicken Anzug im Schrank zu haben. Aus welchem Stoff soll er denn sein?«, fragte die Königin.

Luca schluckte. Der pinke Stoff war wunderschön! Aber er hatte noch nie einen Prinzen in Pink gesehen. Was würde sein Vater dazu sagen? Schnell schob er jedoch seine Bedenken beiseite. »Ich möchte den da«, sagte er mutig und zeigte mit dem Finger auf den pinken Stoff.

»Ach, Schatz, meinst du nicht, dieser hier wäre passender?«, fragte die Königin erschrocken und deutete schnell auf ein dezentes Grau.

»Nein, ich möchte den«, Luca ließ sich nicht beirren, »der gefällt mir am besten«.

Die beiden Frauen tauschten einen Blick. »Wenn Ihr das wirklich möchtet, könnte ich Euch einen Anzug daraus schneidern. Der Stoff ist schön fest, der ist auch draußen angenehm zu tragen«, befand die Schneiderin.

Lucas Augen leuchteten auf, die Königin bemerkte es und willigte nachdenklich ein. Natürlich war Pink keine typische Männerfarbe, aber es passte hervorragend zu Lucas blonden Locken und den blauen Augen. Er würde unter all den anderen Prinzen auffallen. Vielleicht wäre das sogar ganz vorteilhaft, um die hübscheste Prinzessin für sich zu gewinnen, überlegte die Königin. Außerdem wollte sie, dass er sich wohlfühlte und glücklich war. Und so bekam Luca seinen pinken Anzug. Der König traute seinen Augen kaum, als sich sein Sohn abends in Pink vor ihm präsentierte. »So läuft doch kein Prinz herum!«, polterte er entsetzt. »Warum hast du nicht dafür gesorgt, dass er eine ordentliche Farbe wählt?«, fragte er seine Frau vorwurfsvoll.

»Der Junge wollte aber genau diese Farbe. So wird er auf den Bällen auffallen und uns die beste Schwiegertochter ins Schloss bringen«, verteidigte sich die Königin.

»Na, wenn du meinst ...«, brummelte der König und strich nachdenklich durch seinen Bart.

In der Tat wurde Luca in der nächsten Zeit auf viele Bälle eingeladen und mehrere Male neugierig von heiratslustigen Prinzessinnen gemustert. Da er aber so wortkarg war und auf keines der Mädchen reagierte, ließ das Interesse jedes Mal schnell nach. Hoffnungsfroh fragten der König und die Königin ihn nach jedem Ball, welche Prinzessinnen er kennengelernt hatte. Luca zuckte allerdings jedes Mal nur gleichgültig mit den Schultern. »Ich habe keine einzige Prinzessin kennengelernt, die waren alle langweilig. Stattdessen war ich in der Schlossküche und habe geholfen, die Desserts zu verzieren. Das hat viel mehr Spaß gemacht!« Diese Antwort bekam das Königspaar nach jedem Ball. Dass Luca statt der Prinzessinnen die Prinzen genauer anschaute, erzählte er niemandem. Da gab es schon den einen oder anderen Prinz, der ihm gefallen hätte, aber die jungen Männer hatten immer nur Augen für all die Mädchen und beachteten ihn gar nicht. Für Luca war das mehr als frustrierend. Die Prinzessinnen langweilten ihn und die Prinzen schauten ihn nicht einmal an. Luca sah keine Lösung für sein Dilemma. Sehnsüchtig dachte er daran, wie er den kleinen Vogel aufgezogen hatte und wie schön es gewesen war, jemanden zum Liebhaben und Streicheln zu haben. Resigniert stellten sich auch der König und die Königin nach einer Weile darauf ein, vielleicht nie eine Schwiegertochter zu bekommen. Der Prinz biss einfach bei keiner Prinzessin an. Dass er statt der Prinzessin lieber einen Prinzen gehabt hätte, auf diese Idee kamen sie nicht.

Eines Tages kehrte er jedoch wie elektrisiert von einem Ball zurück. »Ich habe von Rapunzel gehört«, rief er schon auf der Treppe. »Sie sitzt in einem Turm und lässt ihr Haar herunter, damit ein Prinz daran herauf klettern kann. Ach, bitte, lasst mich zu ihr fahren.« Der König und die Königin tauschten einen ungläubigen Blick aus. Ausgerechnet an Rapunzel zeigte Luca Interesse? Soweit sie wussten, war die junge Frau schon an einen Prinzen vergeben, der immer heimlich zu ihr in den Turm kletterte. Aber vielleicht waren sie nicht auf dem neuesten Stand, was Rapunzels Liebesleben betraf, manchmal ändern sich die Dinge ja bekanntlich. Also warum eigentlich nicht? Wenn Rapunzel die einzige Chance war, eine Schwiegertochter zu bekommen, dann sollte man die Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Blaublütig war sie zwar nicht, aber manchmal musste man einfach Kompromisse im Leben schließen. Und so durfte der Prinz schon am nächsten Tag mit der Kutsche zu Rapunzels Turm fahren.

»Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!«, rief er genau so, wie er es auf dem Ball gehört hatte, und sofort fiel ein langer goldener Zopf neben ihm auf die Erde. Der Prinz kletterte behände an diesem Zopf empor. Er war neugierig, was ihn dort oben erwarten würde. Vielleicht könnte er Rapunzel überreden, mal mit ihm zu tauschen. Zu gerne würde er selber einmal sein Haar herunter lassen, um sich einen schönen Prinzen von unten zu angeln. Luca fing an zu träumen, während seine Hände sich an dem Zopf nach oben hangelten.

Aber wie staunte er, als er feststellte, dass oben in der Turmkammer gar kein Mädchen auf ihn wartete. Vor ihm saß der schönste Jüngling, dem er je begegnet war, und er hatte langes blondes Haar, genau wie Luca. »Du bist ja gar nicht Rapunzel!«, rief der Prinz aus.

»Nein, Rapunzel ist leider von der Zauberin in die Wüste verbannt worden. Der Turm steht seitdem leer und ich dachte, das sei eine Möglichkeit für mich, es wie Rapunzel zu machen und mein Haar herunter zu lassen, um einen schönen Prinzen kennen zu lernen«, erzählte der Jüngling. »Das war auch mein Wunsch«, bemerkte Luca überrascht und wurde rot. Es war das erste Mal, dass er seine geheimsten Gedanken aussprach.

»Das hat ja gut geklappt«, stellte der Jüngling lächelnd fest. Staunend tauschten sie einen langen Blick, bis auf einmal beide blinzeln mussten. Der andere Jüngling hatte braune Augen, die warm schimmerten, wie Luca feststellte.

»Bist du auch ein Prinz?«, fragte Luca.

»Ja, ich bin Prinz Jona aus dem Ostreich«, sagte der Jüngling. Beide schauten sich wieder intensiv an, es lag ein gewisses Flimmern in der Luft und der Zauber eines Anfangs. Luca stellte fest, dass Jona Grübchen in den Wangen hatte, wenn er lächelte und er lächelte sehr oft.

»Du hast einen schönen Anzug an«, sagte Jona schließlich. »So eine Farbe wollte ich auch immer haben, aber mein Vater hat es mir verboten.«

»Na ja...«, sagte Luca gedehnt. »Meiner war auch nicht begeistert, aber am Ende hat er es doch erlaubt«.

Wieder breitete sich Stille aus, aber es war eine sehr intensive Stille, die übervoll war mit unerfüllten Sehnsüchten, vielen Möglichkeiten und einer großen Faszination. Luca schaute tief in Jonas braune Augen und hatte das Gefühl, dort zu versinken. Sein Bauch fühlte sich an, als sei er mit bunter Prickelbrause gefüllt. Es kribbelte und vibrierte, als ob tausend kleine Blubberbläschen alle auf einmal platzten. Prinz Jona war wunderschön und besaß eine Präsenz, die Luca verzauberte. Wohlige Schauer rannen über seinen Rücken.

»Hast du Lust zu tanzen?«, fragte Jona schließlich schüchtern, nachdem sie eine ganze Zeitlang nur Blicke ausgetauscht hatten. Als Luca bedächtig nickte, nahm ihn Jona sanft an die Hand und schwebte mit ihm leicht wie eine Feder durch die Turmkammer. Luca drehte sich mit ihm im Kreis und kostete es aus, von starken Armen festgehalten zu werden. Körper schmiegte sich an Körper und Luca genoss diese Nähe aus tiefster Seele. Jona fühlte sich einfach so gut an, ganz warm und verlässlich, als sei er immer schon da gewesen, und besser als alles, was er je zuvor angefasst hatte. Er roch gut und schien so fröhlich zu sein. Es kam Luca so vor, als hätte er sein ganzes Leben lang nur auf diesen Moment gewartet. Keine von den Prinzessinnen hatte ihm gefallen, aber Jona berührte ihn tief. Ob das Liebe war? Ihm war ganz schwindelig vor Glück und er konnte nicht mehr richtig denken.

»Darf ich dich küssen?«, fragte Jona plötzlich mit belegter Stimme.

»G-g-gerne...«, stotterte Luca überrascht und wurde wieder rot. Hui, das ging aber schnell. Außer seine Mutter hatte er noch niemanden geküsst und das zählte ja wohl nicht so richtig, weil das jedes kleine Kind tat. Ob er das überhaupt konnte? Was machte man nochmal mit der Zunge? Und ob Jona merkte, dass es das erste Mal für ihn war? Funken stoben durch die Luft, als ihre Lippen aufeinandertrafen. Beide fühlten sich, als sei der Blitz eingeschlagen.

Himmel, dachte Luca hingerissen und fühlte sich wie in rosa Zuckerwatte gepackt, das ist ja tausendmal besser, als ich es mir vorgestellt habe. Auch Jona fühlte sich bis in sein Inneres erschüttert von diesem Kuss und spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Sie schauten sich noch einmal tief in die Augen und staunten. Was für ein Wunder widerfuhr ihnen da gerade! Beide waren auf so vielen Bällen zu Gast gewesen und hier in der Turmkammer fanden sie einander endlich. Diese neuen Erfahrungen waren für beide Prinzen so überwältigend, dass sie Zeit und Raum vergaßen.

Sie richteten sich im Turm ein, plünderten die Speisekammer, schauten nachts in die Sterne und erzählten einander aus ihren Leben, küssten sich immer wieder, kuschelten miteinander und waren glücklich. Unten am Turm hatten sie ein Schild angebracht, »Achtung, Liebesnest! Bitte weiterreiten!«

So vergingen Tage, Wochen und ganze Monate und immer noch waren die beiden Prinzen glücklich zusammen in der Turmkammer.

»Wollen wir heiraten?«, platzte es eines Tages aus Luca heraus.

»Sehr gerne!«, gab Jona begeistert zurück. »Meine Eltern haben so lange auf eine Schwiegertochter gewartet und hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. Vielleicht freuen sie sich nun stattdessen über einen Schwiegersohn.«

»Was werden meine Eltern dazu sagen?«, überlegte Luca laut. Er klang besorgt. »Zwei Prinzen, die miteinander verheiratet sind, hat es in unserem Königreich noch nie gegeben.«

Jona lachte. »Dann wird es höchste Zeit, dass sich alle daran gewöhnen. Dich gebe ich jedenfalls nicht wieder her«.

»In welchem Schloss wollen wir denn wohnen?«, fragte Luca.

»Das kannst du entscheiden«, antwortete Jona. »Natürlich kannst du gerne zu mir ziehen, wenn du das möchtest. Falls nicht, kann meine ältere Schwester mit ihrem Mann in meinem Heimatschloss leben und das Reich später einmal regieren und ich ziehe zu dir. Ich finde beides schön«.

Luca dachte einen Augenblick nach. Ja, er würde gerne bei seinen Eltern im Schloss wohnen bleiben. Dann könnte er weiterhin in der Küche helfen und das Schloss putzen.

Nachdem diese wichtige Frage geklärt war, machten sie sich gut gelaunt auf den Heimweg. Luca machte sich noch immer Sorgen über die Reaktion seiner Eltern, doch Jonas Optimismus war ansteckend und dem jungen Prinzen wurde leichter ums Herz, je näher sie seiner Heimat kamen. Der König und die Königin hatten in all der Zeit ungeduldig auf Lucas Rückkehr gewartet und waren immer euphorischer geworden, je länger ihr Sohn fortblieb. Endlich einmal hatte er Interesse an einem Mädchen gezeigt! Und dann blieb er so lange bei ihm – wenn das kein gutes Zeichen war! Die Königin träumte schon von vielen kleinen Enkelkindern, die sie auf den Armen wiegen und auf ihren Knien reiten lassen würde.

Als endlich die Kutsche mit den beiden Prinzen vorfuhr, staunten sie nicht schlecht, als statt Rapunzel ein stattlicher Jüngling mit langen blonden Haaren ausstieg. »Das ist Jona«, stellte Luca ihn vor. »Wir haben uns gerade verlobt und ich wünsche mir, dass ihr ihn als meinen Lebenspartner in unsere Familie aufnehmt .«

Der König riss entsetzt die Augen auf. Wie bitte? Hatte er das gerade richtig verstanden? Es würde gar keine Schwiegertochter geben – er würde einen Schwiegersohn bekommen? Was für eine Schande und welch Schmach! Beschämt und verstört schnappte er nach Luft. Ihm wurde übel und er spürte, wie heftige Kopfschmerzen an seinen Schläfen aufzogen. Noch nie hatte er von einem Königreich gehört, das von einem verheirateten Prinzenpaar regiert wurde. Was würden die Könige aus den Nachbarreichen bloß dazu sagen? Was für eine Blamage! Der Prinz hatte ihn nicht einmal um Erlaubnis gebeten. Zählten sein Wort und seine Autorität denn gar nichts mehr? Er fühlte sich so zerschmettert, dass ihm die Worte fehlten und er aufgelöst davonstürzte.

Luca schaute betroffen seinem Vater hinterher. Vor dieser Reaktion hatte er sich gefürchtet, aber auf sein Glück zu verzichten, kam nicht in Frage. Auch wenn er sonst nicht der geborene Kämpfer war, seine Beziehung zu Jona würde er auf keinen Fall aufgeben, mochte sein Vater noch so sehr außer sich sein. Sein Blick fiel auf seine Mutter. Wie dachte sie über Jona und ihn? Auch die Königin rang um ihre Fassung und wusste nicht recht, wie sie auf die Situation reagieren sollte. Schließlich fiel nicht alle Tage ein Schwiegersohn vom Himmel, wenn man mit einer Schwiegertochter gerechnet hatte. Als sie aber sah, wie zärtlich die beiden miteinander umgingen und wie Lucas Augen strahlten, wurde ihr ganz warm ums Herz. Hauptsache, der Junge ist glücklich, dachte sie, der Rest ist Nebensache.

»Wie schön, dich kennen zu lernen!«, sagte sie dann laut und reichte Jona herzlich die Hand. »Willkommen in unserem Schloss! Bitte fühle dich ganz wie zu Hause.«

Jona schaute sich um und nickte. Es gefiel ihm schon jetzt und er freute sich über den herzlichen Empfang durch die Königin. Aber auch er war bestürzt über die heftige Reaktion des Königs.

»Dein Vater ist einfach überrascht über deine Entscheidung. Gib ihm etwas Zeit«, sagte die Königin beschwichtigend zu ihrem Sohn.

Tatsächlich brauchte der König ein paar Tage, bis er den Gedanken an einen Schwiegersohn zulassen konnte. Heimlich beobachtete er, wie sein Sohn mit Prinz Jona den Tag verbrachte. Sie zauberten leckere Desserts, neckten sich gegenseitig und lachten viel miteinander. Zwischen ihnen war eine Wärme und eine Zärtlichkeit, die der König selten vorher gesehen hatte und er fühlte, wie seine Bedenken langsam schwanden. Am siebten Tag kam Jona auf ihn zu. »Verehrter Schwiegerpapa, darf ich Euch um einen Gefallen bitten? Mein Vater beherrscht die Kunst des Schwertkampfes nicht sehr gut und einen anderen Lehrmeister besaß ich nie. Dabei würde ich das richtige Kämpfen mit einem Schwert zu gerne lernen. Luca hat mir erzählt, dass Ihr sehr geschickt in dieser Disziplin seid. Bitte, könntet Ihr es mir beibringen?«

Der König schluckte. Er schluckte ein zweites und ein drittes Mal und schluckte schließlich all seinen Stolz und seine Vorurteile herunter. »Ja, mein Junge, das kann ich wohl.« Lange kaute er auf diesen Worten herum, bis sie auf einmal ganz selbstverständlich aus seinem Mund purzelten. Als sein Blick auf Jonas blitzende Augen traf und er die Freude darin sah, wurde ihm mit einem Mal ganz leicht ums Herz. Es machte ihn sogar ein wenig stolz, dass Jona ihn um Hilfe gebeten hatte. Vielleicht ist doch alles richtig so, wie es ist-, dachte der König. Vielleicht ist Jona genau der richtige Lebenspartner für Luca. Fröhlich ist er jedenfalls und Mut hat er auch – mich so etwas zu fragen, obwohl er genau wusste, dass ich gegen diese Verbindung war.

Direkt am nächsten Tag startete das Training und der König staunte nicht schlecht über Jonas Geschicklichkeit. Der junge Prinz entpuppte sich als ein Naturtalent. Er lernte schnell und der König erkannte, dass er das Königreich im Ernstfall würdig verteidigen könnte. Aufgrund dieser unerwartet angenehmen Erfahrung lud der König ihn in den nächsten Tagen auf die Jagd ein und war sehr gespannt, wie Jona sich hier verhalten würde. Dieser zeigte sich souverän und furchtlos und überzeugte mit seiner Zielsicherheit. Am Abend lagen zwei Rehe, vier Fasane und drei Kaninchen in der Schlossküche. Die Köchin schlug die Hände über dem Kopf zusammen und machte sich schnell an die Zubereitung der üppigen Speisen.

»Ich glaube, mit diesem Jona haben wir einen ganz guten Fang gemacht, auch wenn er keine Frau ist«, sagte der König abends nachdenklich zu seiner Gattin.

»Hauptsache, der Junge ist glücklich«, wiederholte die Königin und schmiegte sich in seine Arme. Enkel würde es ja nun leider wohl nicht geben, was sie etwas schade fand, aber man konnte eben nicht alles im Leben haben. Vielleicht gab es ja einen Waisenjungen im Königreich, den die beiden Prinzen adoptieren und zum zukünftigen Thronfolger ausbilden könnten. Da nun auch der König von seinem künftigen Schwiegersohn überzeugt war, dauerte es nicht mehr lange und es wurde Hochzeit gefeiert. Auch Jonas Eltern aus dem Ost-Reich hatten der Heirat zugestimmt. Sie hatten immer schon gemerkt, dass Jona anders war als andere junge Männer und waren nun froh, dass er in Luca einen passenden Partner gefunden hatte. An ihrem Ehrentag waren beide Prinzen in pinke Seide gehüllt und strahlten wie die Sonne, als sie sich das Jawort gaben. Pinke Luftballons stiegen hoch in den Himmel und weiße Brieftauben trugen die frohe Botschaft mit goldenen Transportröllchen in alle Nachbarreiche: »Mit großer Freude geben wir unsere Vermählung bekannt: Prinz Luca aus dem Südreich und Prinz Jona aus dem Ostreich«.

Nachdem beide Prinzen sich gegenseitig die Ringe aufgesteckt hatten und sich innig küssten, gab es kein Halten mehr. Von allen Seiten wurde stürmisch applaudiert und gejubelt, Kinder schwenkten begeistert Fähnchen und die beiden Prinzenmütter tupften sich mit ihren Taschentüchern gerührt die Augen. Die Prinzenväter schlugen sich mannhaft gegenseitig auf die Schultern und versuchten, ihre Rührung zu verbergen, aber so ganz gelang ihnen das nicht. Auch Rapunzel war eingeladen. Sie hatte inzwischen ihren Prinzen wiedergefunden und freute sich, dass der Turm, in dem sie so lange gefangen gewesen war, nun etwas Gutes bewirkt hatte. Ob sich Untertanen aus den beiden Reichen wunderten, als sie zur Hochzeit zwei hübsche Prinzen vorfanden und keine Prinzessin, ist nicht überliefert. Aber es war letztendlich auch egal, denn es zählte alleine, dass zum Schluss alle glücklich waren.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie noch heute, zaubern weiterhin leckere Desserts und sind glücklich.

Grumpy and Happy End

J. M. Summer

Das Chaos um mich herum verschwand, als ich auf die nach Vanille duftende und mit Streuseln überzogene Köstlichkeit in meiner Hand blickte. Ich hatte es geschafft. Damit würde es mir endlich gelingen. Wochenlang hatte ich Schneewittchen beobachtet, wie sie sich in die Herzen meiner sechs Freunde geschlichen hatte.

Es waren nicht ihre schwarzen, glänzenden Haare, ihr blutroter Mund oder ihre zarte, blasse Haut, und auch nicht ihre märchenhafte Stimme, die sie faszinierten, nein, es war das köstliche Essen, welches sie jeden Tag auf den Tisch gezaubert hatte. Hirschbraten, Hasengulasch, Butterkartoffeln, karamellisiertes Gemüse und zum Nachtisch Kuchen sowie selbstgebackene Kekse. Wer ließ sich davon nicht in den Bann ziehen? Auch ich war nicht immun dagegen gewesen.

Zu meinem Leidwesen allerdings ließ auch Bash sich davon beeindrucken. Wie all die anderen hatte er sich von ihren Kochkünsten um den Finger wickeln lassen. Hilflos hatte ich mit angesehen, wie sich seine Wangen rot färbten, wenn sie auch nur in seiner Nähe war oder wie er bei jeder Gelegenheit die Chance genutzt hatte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. In wenigen Wochen hatte Schneewittchen das geschafft, was ich seit langer Zeit versuchte. Sie hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nicht nur das, auch seine Schüchternheit schien er in ihrer Gegenwart zu vergessen. Er war in den letzten Wochen regelrecht aufgeblüht. Es war sogar seine Idee gewesen, gegen die böse Hexe in den Kampf zu ziehen. Alles nur für Schneewittchen. Weshalb ich mir sicher war: Das lag einzig und allein an ihrem köstlichen Essen.

Wie sonst war diese Wandlung zu erklären? Der Bash, den ich kannte, hätte sich nie mit einer Hexe angelegt oder von sich aus ein Gespräch gesucht. Dafür war er schlichtweg zu schüchtern. Ich war mir also sicher.

Das war der Grund für diesen Leckerbissen in meiner Hand. Da Schneewittchen glücklich mit ihrem Prinzen im Schloss lebte und ich nicht die ganze Zeit über ein Auge auf sie und Bash werfen musste, konnte ich mich wieder entspannen. Deshalb hatte ich in letzten Nächten heimlich in der Küche gestanden und hatte mir das Backen beigebracht. Nach einigen wenigen - na ja okay, ich gebe zu, nach einigen vielen Fehlversuchen - hielt ich nun das Endergebnis in der Hand – einen Vanille-Cupcake mit Streuseln, der einfach himmlisch duftete.

Ein lautes Zwitschern am Ohr lenkte meine Aufmerksamkeit von der süßen Leckerei weg. Auf meiner Schulter saß Pips der Spatz, welchen ich dazu beauftragt hatte, mich bei auffälligen Geräuschen zu warnen. Aufgeregt zwitscherte er, verstummte jedoch wieder, als er merkte, dass ich ihn gehört hatte. Zusammen lauschten wir. Niemand wusste von meinen nächtlichen Backversuchen und sollte mich jemand dabei erwischen, hatte ich keine Erklärung, was ich mitten in der Nacht in der Küche tat. Vor allem hatte ich keine Begründung für dieses Chaos, welches ich fabriziert hatte.

Steif vor Aufregung und mit schnell schlagendem Herzen bewegte ich mich keinen Millimeter, entspannte mich allerdings wieder, als ich mir sicher war, dass mich niemand überraschen würde. Nie zuvor war ich dankbarer für die beschwerliche Arbeit in den Minen und der daraus folgenden Erschöpfung aller gewesen. Dass jemand in der Nacht wach wurde, war eine Seltenheit, was solche Geheimoperationen wie diese hier sehr erleichterte.

»Hör zu, Pips«, begann ich leise und griff vorsichtig nach dem kleinen Vogel, »du darfst dich morgen in der Früh nicht erwischen lassen. Bevor Bash am Tisch sitzt, musst du ihm unauffällig den Cupcake auf den Teller gelegt haben. Davon dürfen die anderen nichts mitbekommen, verstanden?«

Pips antwortete mit einem leisen Zwitschern.

»Aber das Allerwichtigste ist«, fuhr ich fort und hielt den kleinen Vogel noch näher zu mir, »auf keinen Fall darf dich Grumpy dabei erwischen, hörst du? Auf gar keinen Fall darf er etwas davon mitbekommen!«

Nickend und zwitschernd bestätige Pips, dass er mich verstanden hatte. Als ich mir sicher war, dass er auch die Dringlichkeit in meinen Worten mitbekommen hatte, ließ ich ihn wieder los.

Grumpy war ... na ja eben grumpy, und zu mir war er das ganz besonders. Weshalb wusste ich nicht, aber er schien mich nicht allzu gerne zu mögen. Ich vermutete sogar, dass es meine Schuld war, weshalb er überhaupt diesen Spitznamen hatte. Denn in meiner Gegenwart sank seine Laune stets auf den Tiefpunkt, während er mit all den anderen lachen konnte. Sogar Schneewittchen hatte es geschafft, den Brummbären zu zähmen. Nur ich nicht. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, als versuchte er, sich zwischen mich und Bash zu stellen. Denn bei jeder Gelegenheit, die sich bot, verhinderte er meine Bemühungen, diesem näherzukommen.

Grumpy und Happy würden sich, wie es schien, eben nie verstehen.

Ich hatte kein Auge zugetan und trotzdem war ich hellwach. Denn heute war der Tag gekommen, an dem ich Bash mit meiner Backkunst verzaubern würde.

Zu meiner Erleichterung waren drei meiner Freunde schon mit dem Frühstück fertig und hatten bereits den Tisch verlassen. Bash war noch nicht aufgetaucht, jedoch saß Grumpy mit mir am Tisch und schien heute noch schlechter gelaunt zu sein, als ich es von ihm gewohnt war. Doch darum konnte ich mich nicht kümmern, denn in dem Moment sah ich im Augenwinkel, wie Pips mit dem Cupcake durch das Fenster geflogen kam. Auch Bash trat durch die Türe.

Um Dopey, der ebenso am Frühstückstisch saß, machte ich mir keine Sorgen, er könnte etwas davon mitbekommen, denn er war nicht der schlaueste Zwerg im Pilz.

Mit den Ereignissen, die nun folgten, hatte ich jedoch nicht gerechnet ...

Pips, für den das Gewicht des Cupcakes offenbar zu viel war, klatschte unkoordiniert gegen die Stirn von Dopey, der daraufhin erschrocken um sich schlug. Der kleine Spatz wich erfolgreich aus, doch den Cupcake konnte er nicht länger halten. Mit Entsetzen beobachtete ich, wie die Köstlichkeit in hohem Bogen auf dem Tisch landete. Zum Glück auf einem Teller. Allerdings nicht auf dem von Bash.

Er landete direkt vor Grumpy.

Die Augen des Zwerges wurden riesig und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Von den Ereignissen schien er nichts mitbekommen zu haben, denn er wirkte zu überrascht, als die Süßspeise vor ihm landete. Verwirrt sah er sich um, bis er meinen Blick fand. Was daraufhin geschah, ließ sich kaum in Worte fassen. Die Augen des mürrischsten Zwerges, den ich kannte, fingen an zu leuchten, die Gesichtszüge wurden weich und die Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln nach oben. Sogar seine Wangen färbten sich leicht rot.

Fassungslos konnte ich nicht meine Augen von ihm nehmen. Noch nie in all den Jahren hatte ich solch einen Ausdruck in Grumpys Gesicht gesehen. Und noch nie hatte er mir zuvor ein Lächeln geschenkt. Ein Lächeln, welches mich gleichermaßen faszinierte und mir eine Gänsehaut bescherte.

Und es war allein für mich bestimmt.

Ob das Herzklopfen noch von den ungeplanten Ereignissen von eben stammte oder ob Grumpys Lächeln daran schuld war, wusste ich nicht mehr. Aber es schien nicht mehr stoppen zu wollen. Es stolperte unkontrolliert in meiner Brust.

Wie gebannt beobachtete ich ihn, wie er den ersten Bissen von dem Cupcake nahm. Ich hielt die Luft an, doch als ich einen genüsslichen Laut von ihm hörte, atmete ich zufrieden aus. Auch bei den nächsten und dem letzten Bissen hing ich an seinen Lippen. Immer noch strahlten seine Augen, die Wangen waren weiterhin rosa gefärbt und die nach oben gezogenen Mundwinkel verrieten mir, dass er glücklich zu sein schien. Und das bescherte mir überraschenderweise ein wohliges Gefühl in der Magengegend.

»Vielen Dank für das Frühstück«, hörte ich ihn in einem sanften Ton sagen, während er sich aus seinem Stuhl erhob. Beinahe beschwingt verließ er hastig den Raum.

Ein leises Zwitschern auf meiner Schulter riss mich aus meiner Starre. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich noch eine ganze Weile mit geöffnetem Mund auf die Stelle gestarrt hatte, an der Grumpy aus dem Raum verschwunden war.

Was war soeben geschehen? War das wirklich Grumpy gewesen? Hatte ich tatsächlich seinetwegen Herzrasen bekommen?

»Jemand muss Schneewittchen Bescheid geben«, hörte ich Dopey sagen und ich drehte meinen Kopf in seine Richtung. Angeekelt rümpfte er die Nase.

Jetzt bemerkte ich auch Bash, der bereits seinen Teller leer gegessen hatte. Die ganze Zeit über hatte ich nicht mitbekommen, dass er am Tisch gesessen hatte. Zu abgelenkt war ich von Grumpys Reaktion auf meinen Cupcake gewesen.

»Was meinst du?«, kam von Bash und auch ich war verwirrt von seinen Worten und seinem Benehmen.

»Diese Cupcakes«, sagte er. Wieder verzog er das Gesicht und schauderte angeekelt, während er dabei auf Grumpys Platz zeigte. »Habe sie weggeworfen«, fügte er hinzu und mir rutschte das Herz in die Hose.

»W-was? D-du hast ... wieso?«

Ich hatte mehrere gebacken, für den Fall, dass ich noch weitere brauchte. Da ich aber bereits mit dem Ersten erfolgreich gewesen war, hatte ich die Restlichen erstmal ganz hinten im Kühlschrank versteckt. Doch wie es schien, nicht weit genug hinten.

Dopey zuckte mit den Achseln. »Sie waren schlecht«, antwortete er knapp.

Mir klappte der Mund auf. »Sch-schlecht?«

Meine Cupcakes waren schlecht? Doch Grumpy hatte ihn aufgegessen und dabei keine Mine verzogen. Ganz im Gegenteil, es schien ihm sogar sehr gut geschmeckt zu haben. Sollte ich mir trotzdem Sorgen machen?

»Ahh jaa, die Cupcakes ...«, warf Bash in einem wissenden Ton, der mich beunruhigte, ein. »Du hast recht, wir sollten Schneewittchen Bescheid geben. Sie weiß, was zu tun ist. Wir wollen doch keine Wiederholung der Geschichte, oder?«, fuhr er fort.

Ich zuckte zusammen und wurde nervös. Nein, ich wollte ganz sicher keine Wiederholung. Ich wollte doch niemanden mit meinen Backküsten vergiften.

»Jemand sollte nach Grumpy sehen«, fügte er noch hinzu.

In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. War das ein Grinsen? Auch Dopeys Gesichtsausdruck gefiel mir nicht, denn auch er schien sich ein Lachen zu verkneifen.

Die aufsteigende Besorgnis sorgte dafür, dass ich mich, ohne weitere Fragen, nervös aus meinem Stuhl erhob.

»Ich ... ich bin fertig«, presste ich heraus und verließ den Raum.

Vor Grumpys Zimmertür blieb ich stehen und sah mich um. Als ich sicher war, dass mir niemand gefolgt war, lauschte ich mit einem Ohr an der Tür, doch es war mucksmäuschenstill. Vorsichtig drehte ich den Knauf und wartete einige Sekunden, bevor ich das Zimmer betrat. Grumpy lag ausgestreckt und mit einem Arm auf der Stirn auf seinem Bett. Sofort ging ich auf ihn zu und bemerkte seine eigenartig grünliche Gesichtsfarbe. Seine Augen waren geschlossen, doch sein Gesicht verzerrt.

»Grumpy?«, flüsterte ich besorgt.

»Was?«, kam die mürrische Antwort, allerdings mit einem leicht weinerlichen Unterton.

Schuldbewusst verzog ich das Gesicht.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja, lass mich in Ruhe.«

Ich verkniff mir ein Schnaufen. Seine brummigen Antworten waren nichts Neues für mich, doch dieses Mal war vielleicht, ganz eventuell, ich Schuld an seinem Verhalten.

»Bist du dir sicher?«

Nur ein Brummen war seine Antwort, doch davon ließ ich mich nicht abwimmeln.

»Es tut mir leid, ich ...«, begann ich, doch stoppte wieder.

Was sollte ich sagen?

»Wir lernen es wohl nie, was? Kein Essen von anderen anzunehmen, meine ich«, versuchte ich mit einem gekünstelten Lachen zu scherzen, aber versagte kläglich.

Eine Antwort bekam ich keine. Unbeholfen trat ich von einem Fuß auf den anderen. Im Zimmer war es still. Nur die ungleichmäßige Atmung von Grumpy war zu hören.

»Okaaay, also, ich gehe dann mal wieder«, sagte ich und wartete auf eine Erwiderung, aber immer noch schwieg er.

Dieses Mal entwich mir ein Schnaufen, bevor ich mich umdrehte und zur Tür ging.

»Der Cupcake war nicht für mich, habe ich recht? Er war für Bash.«

Grumpy flüsterte, doch seine Worte waren so laut, als hätte er sie mir ins Ohr geschrien.

Entsetzt drehte ich mich wieder zu ihm um.

»Woher ...?«

Ein eigenartiges Lachen lag auf seinen Lippen.

»Wusste ich es doch«, hörte ich ihn dann murmeln.

Sprachlos starrte ich ihn an. Seine Worte lösten eine Gedankenexplosion in meinem Kopf aus. Ich wusste nicht, worüber ich am meisten geschockt sein sollte. War es, dass er wusste, für wen ich gebacken hatte, was bedeutete, er wusste auch von meinen Gefühlen für Bash. Oder war es, dass er eigenartig enttäuscht klang, dass der Cupcake nicht für ihn gewesen war.

»D-du weißt Bescheid? Wie?«

Erst schwieg Grumpy und ich dachte, er würde wieder nicht antworten, bis er tief einatmete. »Weil ich weiß, wie es ist, wenn man nicht gesehen wird.«

Die Brummigkeit in seiner Stimme war komplett verschwunden, stattdessen hörte ich eine Art Resignation.

Nur, was meinte er damit? Sollte das heißen, er war verliebt? In wen denn?

»Ist es Schneewittchen?«, fragte ich vorsichtig und erschrak, als ein lautes Stöhnen von ihm kam.

»Und dann heißt es, Dopey hat nicht alle Pilze in der Suppe«, murmelte er genervt und mir klappte die Kinnlade nach unten.

»Heeey«, hörte ich jemanden vor der Türe empört rufen.

»Psst!«, hörte ich eine zweite Stimme flüstern und schüttelte ungläubig den Kopf.

Bash und Dopey lauschten vor der Tür.

»Was denn? Wenn Happy immer noch nicht kapiert hat, dass Grumpy in ihn verliebt ist, dann hat das doch nichts mit mir zu tun.«

Nicht nur mein Körper versteifte sich augenblicklich. Auch Grumpy glich von einer Sekunde auf die andere einem Brett.

»Du bist viel zu laut, hohler Pilzkopf«, schimpfte Bash. Ich hörte ein Klopfen und dann wurde es still.

Grumpy war in mich verliebt? Wie konnte das sein? All die Zeit dachte ich, er könne mich nicht ausstehen.

»Ist das wahr?«

Grumpy verzog bei meiner Frage sein blasses Gesicht.

»Weißt du, dass deine Cupcakes wirklich ungenießbar sind?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.

Erst noch verwirrt über seine Worte, kam mir dann aber ein Lachen über die Lippen. Ich wusste, was er damit sagen wollte. Nur jemand, der Gefühle für mich hegte, würde freiwillig davon essen, und das, ohne dabei eine Miene zu verziehen.

»Aber ich dachte, du magst mich nicht besonders.«

»Ich wäre auch frustriert, wenn ein leckerer Cupcake vor mir stehen würde, und ich könnte davon nicht abbeißen. Allerdings hat Grumpy davon gegessen und wir sehen, wohin das geführt hat, aaalso ...«, hörte ich es wieder von der anderen Seite der Tür.

»Psst, die hören dich doch.« Es war Bash.

»Verschwindet endlich!«, schrie Grumpy, allerdings nur halb so forsch, denn ein Stöhnen kam ihm über die Lippen. Mit schlechtem Gewissen, weil ich der Grund für seinen Zustand war, ging ich auf ihn zu und setzte mich neben ihn auf das Bett.

»Soll ich dir etwas bringen? Ich könnte dir etwas Suppe ...«

»Nein!«, brach es sofort aus Grumpy heraus und das Lachen, das mir entwich, konnte ich mir nicht verkneifen.

»Ich denke, es ist besser für mich, wenn du dich von der Küche fernhältst«, grummelte er, doch dieses Mal mit einem Lächeln.

»Ich denke, es ist für uns alle besser!«, schrie Dopey vor der Tür und ich rollte mit den Augen, doch stoppte, als ich in Grumpys Gesicht blickte.

Der lachende, wenn auch sehr blasse Zwerg, faszinierte mich und bescherte mir ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend. Noch nie zuvor hatte ich nur bei dem bloßen Anblick von jemanden Herzrasen bekommen. Wie es von nun an weitergehen sollte, wusste ich nicht. Doch eines wurde mir klar, als Grumpy vorsichtig meine Hand in seine nahm.

»Vielleicht gibt es doch ein Grumpy und Happy End«, flüsterte ich, als mir warm ums Herz wurde.

Der König und der Erfinder

Katrin Holzapfel

Es war einmal vor langer Zeit, auf einer kleinen Insel mitten im Meer, ein Königssohn. Er war der jüngste von drei Brüdern, und es begab sich, dass sein Vater einen Nachfolger auswählen wollte.

Zwischen den drei Brüdern entbrannte ein heftiger Streit, bis schließlich der König beschloss, dass er denjenigen zum nächsten König machen würde, der ihm das beste Geschenk darbringen konnte. So zogen die drei Brüder los, um auf der Insel nach Gaben für ihren Vater zu suchen. Der jüngste Sohn, Minos, ahnte jedoch, dass er nicht gewinnen konnte. Seine beiden Brüder waren stärker und größer als er und sie würden sicher prächtige Jagdtrophäen finden. Er selbst wirkte neben ihnen schmächtig, obgleich Minos ein kräftiger Jüngling war mit Armen wie junge Bäume und langen, schnellen Beinen.

Schließlich wandte sich Minos in seiner Verzweiflung an den Gott des Meeres. Er setzte sich am Abend einer Vollmondnacht auf den glitzernden Sand am Strand, sodass seine langen Haare schimmerten wie Silberfäden. Gischt leckte an seinen bloßen Sohlen und färbte sein weißes Gewand an den Spitzen grau. Geduldig wartete Minos, denn der Gott des Meeres belohnte die, die wie der Ozean beständig waren und keine Hast zeigten.

Schließlich wisperte der Schaum zu seinen Füßen, er gurgelte und sang ein Lied, in das Minos mit zitternder Stimme einfiel. »Gott des Meeres, Gott des Meeres«, sang er, »schick mir eine Gabe.« Und die Gischt schwappte höher um seine Füße und kleine Wellen leckten an seinen Waden. »Gott des Meeres, Gott des Meeres, nimm dafür, was ich habe.« Mit diesen Worten ließ er einen silbernen Talisman, den er von seiner Mutter bekommen hatte, ins Wasser gleiten.

Aus dem Meer erhob sich nun ein Brausen und Tosen. In wenigen Augenblicken wurde aus dem stillen Ozean ein wütendes Monster, dessen Wellen wie Kriegsschiffe gegen die Küste schmetterten. Minos sprang erschrocken auf und wich zurück, als sich über das Brüllen des Wassers eine Stimme erhob: »Minos von Kreta«, sagte der Gott des Meeres, »ich sende dir eine Gabe für deinen Vater, auf dass du König werden magst. Dafür jedoch sollst du mir zu meinem Fest das erste Lebewesen opfern, dass aus dem Meer auf diese Insel kommt.« Minos stimmte zu und so schnell, wie sich der Sturm erhoben hatte, legte dieser sich wieder und das silberne Licht der Selene strahlte friedlich über die kleine Insel.

Als Minos am nächsten Tag in den Thronsaal zu seinem Vater trat, führte er mit sich den prächtigsten Stier, den man auf Kreta je gesehen hatte. Das Tier war weiß wie der Schein des Monds und seine kräftigen Hörner bogen sich gefällig. Seine Augen waren vom tiefen Schwarz der Nacht. Seine Muskeln spielten bei jedem Schritt in animalischer Eleganz unter dem edlen Pelz. Als der König ihn erblickte, war er so beeindruckt, dass er Minos auf der Stelle zum Sieger erklärte. Ebenso gab er Minos die Tochter des Gottes der Sonne zur Frau. So wurden Minos und die Zauberin Pasiphaë König und Königin von Kreta.

Sie waren einander recht zugetan, doch Minos war ein zurückhaltender Liebhaber. Pasiphaë konnte in ihm keine Leidenschaft wecken. »Mein König«, fragte Pasiphaë und hielt seine Hand, »willst du mich nicht küssen?«

Doch Minos erwiderte:»Nicht, bevor ich nicht das Opfer für den Gott des Meeres gebracht habe.« Und so war Pasiphaë geduldig, denn das Fest des Gottes des Meeres war in drei Tagen.

Der erste Tag verging ruhig und Minos erwies sich als kluger und gerechter Herrscher: Er schlichtete Streit zwischen seinen Fischern und setzte die Steuern nicht zu hoch, sodass seine Untertanen es sich gern gefallen ließen. Aber kein Lebewesen kam aus dem Meer zu ihnen.

Am Abend fragte Pasiphaë: »Mein König, willst du mich nicht küssen?« Minos jedoch schüttelte den Kopf und drückte nur ihre Hand. »Nicht, bevor ich das Opfer für den Gott des Meeres gebracht habe.« Pasiphaë wusste, dass es eine Ausrede war, aber sie war geduldig. Denn eines Tages würde Minos einen Thronfolger brauchen, und sie war seine Frau.

Am zweiten Tag kam ein Mann mit seinem kleinen Sohn in den Thronsaal. Der Mann war schlank und drahtig, mit langem, schwarzem Haar und freundlichen, braunen Augen. Sein Sohn war braunhaarig, aber er teilte die Augenfarbe seines Vaters und hatte das gleiche schalkhafte Lächeln. Ihre Kleidung war noch nass von der See, und da wusste Minos, dass diese beiden die Opfer waren, die der Gott des Meeres verlangte.

»Wer seid ihr?«, fragte Pasiphaë freundlich.

Der Mann verbeugte sich vor ihr, und sein Gewand klebte an seinem Rücken. Minos konnte sehen, wie sich die Muskeln spannten, bevor die schwarzen Haare ihm ins Gesicht fielen und einen schlanken Nacken entblößten. Minos schluckte trocken.

»Mein Name ist Daidalos«, sagte der Fremde, und wies dann auf das Kind neben sich. »Und dies ist mein Sohn Ikaros. Wir sind von Athen gekommen und bitten, auf Eurer Insel Zuflucht nehmen zu dürfen.«

»Natürlich«, entfuhr es Minos, noch bevor er sich mit seiner Frau absprechen konnte. Er spürte, wie sich seine Wangen erhitzten. Er war doch König, er sollte keine hastigen Entscheidungen treffen. Sein Herz schlug laut in seiner Brust.

Pasiphaë warf ihm einen langen Blick zu. »Das Fest des Gottes des Meeres ist morgen«, sagte sie mit einem Seitenblick zu Minos. »Bis dahin könnt ihr bleiben.«

Daidalos lächelte und der Thronsaal schien plötzlich heller zu strahlen. Minos senkte hastig die Augen und schaute stattdessen auf die Sandalen seiner Frau.

»Vielen Dank, meine Königin«, sagte Daidalos und richtete sich langsam wieder auf. »Ich werde zu Euren Ehren eine Statue errichten, damit das Fest etwas ganz besonderes wird.« Er zögerte einen Augenblick, dann wandte er sich an Minos. »Mit Eurer Erlaubnis, großer König«, fügte er hinzu.

»Ich werde euch eine Kammer zur Verfügung stellen«, sagte Minos und vermied es, seine Frau anzusehen. »Bitte, folgt mir.«

Minos führte Daidalos und dessen Sohn durch den Palast, den Daidalos mit großen Augen bewunderte. Auch den prächtigen Stier zeigte er ihnen Ikaros lachte und spielte fröhlich mit dem sanftmütigen Tier.

Die Sonne schien auf die bronzefarbene Haut des Jungen und sein Gelächter hallte über die Wiese, auf der der Stier lebte. Daidalos‘ Gesicht war sanft und glücklich, während er sein Kind beobachtete. Minos konnte den Blick nicht von ihm wenden, bis sich Daidalos mit einem Meißel an einem großen Marmorblock zur Arbeit setzte.

Am Abend, als er zurück zu den Gemächern seiner Frau kam, nahm Pasiphaë seine Hand. »Mein König, willst du mich nicht küssen?«, fragte sie und etwas Lauerndes lag in ihrem Blick. Minos schüttelte den Kopf und dachte an Daidalos. »Nicht, bevor ich nicht das Opfer für den Gott des Meeres gebracht habe«, sagte er leise. Pasiphaë wusste, dass es eine Ausrede war, denn sie hatte die Blicke bemerkt, die Minos Daidalos zugeworfen hatte. Eifersucht regte sich in ihrem Herzen.

Als sich Dunkelheit über den Palast legte, schlich sich der König an den Strand, an dem er den Gott des Meeres angerufen hatte. Wolken verdeckten den Mond und der Sand war kalt unter seinen bloßen Füßen. Als er sich setzte, biss die Gischt kalt in seine Zehen.

»Gott des Meeres, Gott des Meeres«, hob Minos an und seine Stimme war kräftig und laut. Er musste den Gott des Meeres erreichen, denn unmöglich konnte er Daidalos und seinen Sohn opfern. »Gewähr‘ mir deine Gnade.« Wind heulte laut in seinen Ohren. »Gott des Meeres, Gott des Meeres, lass mir, was ich habe.«

Die Nacht schien schwärzer zu werden, bis sogar das Licht der Sterne nichts war als eine ferne Erinnerung. Minos bebte im eisigen Wind, der durch seine Haare brauste und seine Toga verwirbelte. Eine Stimme erhob sich, lauter als das Wüten jedes Sturms und zischend wie die Gischt. »Minos, König von Kreta. Ich habe dir eine Gabe gesandt und du hast mir dein Wort gegeben. Ich habe dir meine Opfer gezeigt. Tu, wie ich dir geheißen!«

Minos‘ Herz wurde schwer bei diesen Worten. Seine Gedanken glitten zu Daidalos und wie dieser die Gestalt des Gottes des Meeres aus weißem, edlen Stein meißelte. Wie Daidalos sich vor Konzentration auf die Lippe gebissen hatte, wie geschickt seine Finger über den Marmor geglitten waren.

»Gott des Meeres, Gott des Meeres«, flehte Minos, »gewähr‘ mir deine Gnade, Gott des Meeres, Gott des Meeres – «

»Minos, König von Kreta!«, donnerte die Gottheit und eine riesige Welle fegte über Minos hinweg. Sie schleuderte ihn über den Strand und ließ ihn benommen gegen einen Felsen sinken. »Tu, wie ich dir geheißen!«

Das Brausen in der Stimme des Gottes übertönte jeden Gedanken in Minos‘ Kopf, bis er warme Finger an seiner Wange spürte.

»König Minos?«, fragte eine sanfte Stimme. »Was ist mit Euch geschehen?«

Minos blinzelte und fand seinen Kopf auf den Schoß von Daidalos gebettet, der ihn besorgt anblickte. Seine braunen Augen wirkten in der Dunkelheit so geheimnisvoll wie der Sternenhimmel und das silberne Licht des Mondes brach hinter den Wolken hervor, um seine Haare wie feinsten Samt glimmen zu lassen. Minos‘ Herz wurde schwer in seiner Brust.