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Die Regina Mars Collection 4 enthält diese vier E-Books: AUFGETAUT (Gay Romance) Als Henrik in das malerische Dorf Ebernau kommt, trägt er nicht nur einen Rucksack voll Geld mit sich, sondern auch ein bitteres Geheimnis. Seit einem Jahr empfindet er nichts mehr. Seine Gefühle sind vereist. Bis er Nils trifft. Der rüttelt etwas in ihm wach, das er längst verloren glaubte. Leider hasst Nils Henrik und weigert sich obendrein, sein Skilehrer zu werden. Kann Henrik ihn umstimmen? Kann er sich zurück ins Leben kämpfen und vielleicht sogar ... Nils‹ Liebe gewinnen? HORRORHAMSTER (Gay Romance) Marc Winter kommt mit so ziemlich allem klar. Weder seine nervige Familie noch sein peinlicher Nebenjob können ihm den Tag versauen. Denn Marc hat ein Ziel: Er will Profi-Snowboarder werden, und zwar so schnell wie möglich. Am besten sofort, aber mindestens, sobald er den Ebernau-Cup gewonnen hat! Der Einzige, der ihm den Sieg streitig machen könnte, ist Flo, das reiche Muttersöhnchen, das seit ihrer ersten Begegnung seinen Spott abbekommt. Blöd nur, dass Marc plötzlich unerwartete Gefühle für Flo entwickelt. Noch blöder, dass Flo schon vergeben ist. Und am Allerblödesten, dass Marc beginnt, seine Karriere zu vernachlässigen, weil ihn Flo ablenkt. Selbst Marc Winter weiß bald nicht mehr, was er tun soll. Und wie sieht es überhaupt mit Flos Gefühlen aus? LIST UND LIEBE (Lesbian Romance) Gwen ist das pure Chaos. Aufgedreht, kindisch und begeisterungsfähig - zumindest, bis ihr langweilig wird. Und das geht schnell. Shirley hätte jeden Grund sich von ihr fernzuhalten. Sie ist nicht an die Privatschule gekommen, um sich ablenken zu lassen. Ihr Ziel ist ein perfektes Abi und eine goldene Zukunft ... na ja, goldener als es irgendjemand von einem armen Mädchen wie ihr erwartet. Doch nachdem sie einem Freund hilft, hat sie plötzlich mehr Probleme am Hals als sie zählen kann. Allen voran eine Schein-Beziehung, den Hass der halben Schule und Gwens volle Aufmerksamkeit ... WINTERCHAOT (Gay Romance) Zwei ältere Brüder zu haben, ist hart. Vor allem, wenn man Josh Winter heißt, beide Brüder schwul sind und einem deshalb alle unterstellen, auch schwul zu sein. Dabei ist Josh doch in Anna verliebt! Anna, die sich leider nur für den Neuen in Joshs Klasse interessiert. Lucian ist alles, was Josh nicht ist: wunderschön, cool, aus der Großstadt, in einer Band ... und von einem düsteren Geheimnis umgeben.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Impressum
Regina Mars Collection 4
Text Copyright © Regina Mars
Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.
Regina Mars
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
Alle Rechte vorbehalten
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
AUFGETAUT
Impressum
Aufgetaut: Ebernau 1
Text Copyright © 2016 Regina Mars
Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.
Regina Mars
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
www.reginamars.de
Alle Rechte vorbehalten
Als Henrik in Ebernau ankam, hatte er nichts dabei als seine viel zu dünne Kleidung und einen Rucksack voll Geld. Ordentlich gebündelte 100- und 200-Euro-Scheine, die darauf warteten, sinnlos verschwendet zu werden.
Teilnahmslos schaute er sich auf dem Bahnsteig um. Ebernau sah aus, als wäre es einer Weihnachtspostkarte entsprungen. Malerische Fachwerkhäuser mit wölkchendampfenden Schornsteinen drängten sich aneinander. In der kalten Luft schwebte Lagerfeuergeruch. Tannen stachen aus der dichten Schneedecke und dekorierten die atemberaubende Bergkulisse.
Das Bahnhofsgebäude vor ihm hatte man aus roten Ziegelsteinen erbaut. Es war mit kleinen Erkern und dem Wappen der Kleinstadt verziert worden: einem toten Eber. Henrik betrachtete das auf dem Rücken liegende Tier, dem drei Speere aus dem Bauch ragten, mit trüben Augen. Er sah sich auf dem Bahnsteig um, auf dem jeder außer ihm ein Ziel zu haben schien.
Laute Schritte trampelten über die rauen Pflastersteine. Touristen, eindeutig. Wohlhabende Touristen in teuren Skiausrüstungen.
Mehr Sonnenbrillen als am Strand, dachte er.
Er konnte sich nicht erinnern, ob es damals schon so gewesen war. Als Kind hatte er sich für andere Dinge interessiert.
Zwei Stunden später war er im Besitz mehrerer hochwertiger Winter-Outfits und eines silbernen Prepaid-Handys. Und eines schwarzen. Und eines weißen. Er hatte sich nicht entscheiden können. Er nahm ein Taxi zu dem kleinen Chalet, das er gemietet hatte. Erklärte der Besitzerin, dass seine Eltern nachkommen würden und er solange die Stellung hielt. Er zahlte die Kaution in bar.
Henrik hoffte, dass etwas passieren würde, wenn er in demselben Haus übernachtete, in dem sie damals gewohnt hatten. Irgendetwas. Er wusste nicht, was.
Leider geschah nichts. Er schlief in der rotweiß karierten Bettwäsche so schlecht, wie er zuhause geschlafen hatte. Die Flammen aus dem riesigen Kamin konnten ihn nicht wärmen. Die Luft schien so schwer, dass er fast erstickte. Die dunkle Wohnung rief ein paar Erinnerungen wach. Aber keine Gefühle.
Seine Brust war immer noch vereist.
Also ging er am nächsten Tag in eine der Après-Ski-Hütten, gab eine Runde aus und war sofort enorm beliebt. Vor allem bei der einheimischen Jugend und bei den Touristen in seinem Alter. Die, die mit ihren Eltern hier waren. Sie nannten ihn »Henry«, ein Spitzname, den er immer bekam. Er behauptete, sein Nachname wäre Berger, der erste Name, der ihm eingefallen war. Lag vermutlich an der Bergkette hinter dem Fenster der Hütte.
Am nächsten Abend gab er eine Party, um nicht länger dem traurigen Knarren der Bodendielen lauschen zu müssen. Das machte ihn noch viel beliebter.
Er wünschte sich wirklich, er könnte sich darüber freuen.
»Henry!«
Dieser rothaarige Kerl … genau, Moritz, drängte sich durch den Trubel zu Henrik. Er ließ sich auf das Sofa plumpsen, neben Henrik und das Mädchen, das gerade schlanke Finger mit hellblauen Nägeln unter Henriks Shirt schob. Er war nicht sicher, wie sie hieß. Hatte sie sich vorgestellt?
Gleichgültig betrachtete er das Treiben. Das Lachen, Gläserklirren und die wummernde Musik. Irgendwer hatte Lautsprecher mitgebracht.
»Henry, du bist in Ordnung!«, grölte Moritz. Henrik war nicht in Ordnung, aber das schien niemand zu merken. Na ja, sie kannten ihn ja auch nicht.
»Danke, mein Freund.« Henrik prostete Moritz zu und hob gespielt vornehm eine Augenbraue.
Moritz lachte laut auf. Jemand stolperte über seine langen Beine, fing sich aber wieder. Ein Mädel, das nur eine Skihose und einen rot-schwarzen Sport-BH trug. Und sie war nicht die einzige leicht Bekleidete. Da hinten stand ein Typ, der nur ein Handtuch umhatte. Ah, sie hatten wohl die Sauna entdeckt. Henrik nahm einen Schluck von seinem Bier und fragte sich, ob es das vierte oder das fünfte war. Oder gar das achte?
»Und?« Moritz warf dem Mädel neben Henrik einen vielsagenden Blick zu. »Amüsiert ihr euch?«
»Tun wir.« Sie lächelte Moritz süßlich zu und rückte noch näher an Henrik heran. »Verzieh dich, Mo.«
»Whoah!« Moritz hob abwehrend die Hände. »Keine Panik, ich will deinen Kerl nicht klauen!« Er zwinkerte Henrik zu. »Soll ich dein Schlafzimmer räumen lassen? Sieht aus, als würdest du das gleich brauchen.«
»Wer ist denn in meinem Schlafzimmer?«, fragte Henrik und ignorierte das Nicken des Mädchens. Sie hieß Eva, erinnerte er sich. Das hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, bevor sie ihm um den Hals gefallen war.
»Alter, mindestens … fünf Leute? Hab drei Mädels gezählt und, keine Ahnung, Kerle interessieren mich nicht«, sagte er mit einem Blick auf Eva, die ihn immer noch warnend anschaute. »Echt.«
»Wer's glaubt« Sie gähnte elegant.
Der scharfe Duft ihres Parfüms kitzelte Henriks Nase. Ihre Finger krabbelten über seine Brust. Vorsichtig packte er ihre Hand und schob sie von sich weg. Sex konnte das Eis nicht schmelzen, das wusste er. Er hatte es oft genug versucht.
»Und, kommst du morgen mit auf die Piste?«, fragte Moritz und stieß Henrik einen Ellenbogen in die Rippen. »Grigori meint, er schafft die Abfahrt am Gneislerhang, aber ich wette um hundert Euro, dass er kneift. Hältst du dagegen?«
Er streckte die Hand aus und Henrik schlug ein. Moritz jubelte. Begeisterungsfähig war der Kerl … Für einen Moment wünschte Henrik sich, wie Moritz zu sein. Auch wenn Eva ihn dann keines Blickes gewürdigt hätte.
»Falls Grigori es schafft, werd ich mich auf dein Wort verlassen müssen«, sagte Henrik leichthin. »Ich kann nicht mitkommen.«
»Waaas?« Moritz' Augen wurden kugelrund. »Warum nicht? Sind wir dir nicht gut genug, Monsieur Hochwohlgeboren?«
»Nein, ich kann nicht Ski fahren.«
Moritz schaute ihn an, als hätte Henrik ihm soeben verkündet, dass er an einer tödlichen Krankheit litt.
»Du kannst nicht … was?«
Zwei Jungs in teuren Pullovern stürzten auf das Sofa zu, stießen mit Henrik an, brüllten »Henry!!!« als wäre das der Name eines Fußballvereins und verschwanden wieder in der Menge. Henrik tat so, als wüsste er, wer sie waren.
»Du kannst nicht Ski fahren, Alter?« Moritz beugte sich zu ihm vor. Seine spitze Nase berührte Henriks fast. »Aber was machst du dann in Ebernau? Wir sind ein gottverdammter Skiort, wo man … halt Ski fährt. Deshalb kommt ihr Geldsäcke doch her.«
Henrik zuckte mit den Achseln. »Hab's nie gelernt. Ist das so schlimm?«
»Ja!« Moritz war ehrlich entsetzt. »Du musst … Du musst das unbedingt lernen. Sofort. Oder, Eva?«
»Verpiss dich endlich, Mo«, brummte sie und versuchte, ihre Fingernägel über Henriks Designer-Jeans tanzen zu lassen. Er stoppte sie auf der Mitte des Oberschenkels.
»Natürlich muss er Ski fahren lernen. Henry!«
Wieder kam seine Nasenspitze näher. Henrik fragte sich, was Mo tun würde, wenn er sich ebenfalls vorbeugen und ihn einfach küssen würde. Das hatte er einmal getan, auf der Halloweenparty von … irgendwem. Nur aus Interesse. Er hatte erwartet, sich eine Ohrfeige einzufangen, aber stattdessen hatte der andere Kerl ihn zurückgeküsst. Und ihm danach nie wieder in die Augen geschaut. Es hatte ihm gefallen, damals. Aber das war früher gewesen, bevor …
»Henry! Konzentrier dich!« Moritz schnipste mit den Fingern vor Henriks Gesicht herum. »Du brauchst einen Skilehrer, Junge!«
»Brauch ich den?«, fragte Henrik kühl. Moritz schien kurz verunsichert.
»Ja … natürlich nur, wenn du willst.«
Henrik dachte nach. Er hatte damals versucht, Ski fahren zu lernen, hatte sich aber als absolute Vollkatastrophe erwiesen. Seine Mutter hatte gesagt, das hätte er von ihr. Sie war ganz und gar unsportlich …
»Klar, warum nicht?« Er zuckte mit den Achseln. »Kennst du ’nen guten Skilehrer?«
»Für … Privatstunden?«, fragte Moritz.
»Natürlich nimmt er Privatstunden.« Eva verdrehte die Augen. »Er ist nicht so ein armer Schlucker wie du, Mo. Oder wie der Rest von Ebernau.«
Zum ersten Mal huschte etwas wie Ärger über Moritz' Gesicht. Seine Augen blitzten Eva an. Eine Sekunde später strahlte er schon wieder. Henrik wusste, dass er mal wie Mo gewesen war. Aber jetzt brachte er nicht mal die Energie auf, sich vom Sofa zu erheben. Gut, das konnte auch am Bier liegen.
»Henry, ich kenn genau den richtigen Mann für dich. Meinen besten Freund.« Moritz nickte zufrieden. »Der bringt dir in Nullkommamix alles bei und du saust die Hänge runter wie ein junges Kaninchen.« Moritz hatte eindeutig auch einen im Tee.
»Du meinst doch nicht etwa Nils?« Evas Augen wurden schmal. »Bist du bescheuert?«
»Wieso, der ist doch super. Seine Mutter ist auch Skilehrerin. Und Nils hat seinen ganzen Geschwistern Skifahren beigebracht und was ist sein Bruder jetzt? Vize-Champion der Snowboard-Junioren oder wie das heißt.«
»Ja, aber Nils.« Eva schüttelte den Kopf. »Als Lehrer. Für … ihn.«
Ihr hellblauer Fingernagel deutete auf Henrik.
»Was ist mit mir?«, fragte Henrik. »Bin ich nicht hübsch genug?«
»Klar bist du hübsch genug«, schnurrte sie und schon lag ihre Hand wieder auf seiner Brust. »Hübsch genug für … alles.«
»Du trägst ganz schön dick auf, Eva«, sagte Mo.
Ihre Augen wurden noch schmaler. Henrik rechnete halb damit, dass Gammastrahlen herausschießen und Mo vaporisieren würden.
»Ne«, sagte Moritz. »Nils ist manchmal ein bisschen speziell, wenn … na, wenn er mit Leuten von oben zu tun hat, aber …«
»Von oben? Was meinst du damit?«
»Na, hier oben am Hang stehen die besten Hütten. Die für die Superreichen. Weiter unten sind die normalen Ferienhäuser. Und unten im Tal … Ebernau.«
»Ich bin nicht superreich«, log Henrik, aber die beiden glaubten ihm eh kein Wort. Irgendwie waren alle schwer beeindruckt von diesem Mini-Chalet mit den rustikalen Möbeln. Gut, die Einrichtung kam eindeutig von Sepp-Gerard Grachtlberger, einem der größten Möbeldesigner im Landhaus/Berghaus-Stil. Aber es gab nur drei Zimmer. Große Zimmer, okay. Das Wohnzimmer nahm fast die gesamte untere Etage ein. Trotzdem …
»Jedenfalls ist Nils ein guter Skilehrer«, sagte Moritz mit fester Stimme. »Ein sehr guter. Vielleicht sogar der beste.«
»Jetzt trägst du aber dick auf«, murmelte Eva.
»Und wenn du willst, ruf ich ihn an. Ich weiß, dass er gerade einen Job sucht. Weißt du, seine Mom …«
»Henry interessiert sich nicht für die gesamte Lebensgeschichte von Nils.« Eva stöhnte genervt auf. »Und das wird eh nichts.«
»Wird es wohl.«
»Wird es nicht.«
»Wird es …« Moritz sah Henrik an wie ein Welpe, der zu absolut allem bereit war. »Soll ich ihn anrufen?«
Henrik verspürte einen Hauch von Interesse. Was mehr war, als er seit einer ganzen Weile verspürt hatte.
»Ruf ihn an«, sagte er gnädig. Moritz sprang auf und zückte in der gleichen Bewegung sein Handy.
»Nils, Alter!«, brüllte er durch den Partylärm in das Gerät. »Ich hab einen Job für dich!«
Dann war er im Trubel verschwunden.
»Ach, du wolltest ihn nur loswerden?«, schnurrte Eva. »Das war echt clever von dir.«
»Nein.« Henrik nahm einen Schluck von seinem Bier. »Ich will Skifahren lernen.«
»Warum denn so plötzlich?« Eva machte einen Schmollmund, der bestimmt sehr sexy war.
»Ich weiß nicht. Klingt lustig, oder?« Henrik betrachtete die schwankende Meute vor seinen Augen. Oder schwankte er? Egal.
»Na ja.« Eva schien hin- und hergerissen zwischen ihrer Verachtung für Moritz und dem Wunsch, Henrik in allem zuzustimmen. »Wenn Mo 'ne Idee hat, ist sie immer schlecht.«
»Was hast du gegen Mo?«, fragte Henrik.
»Er ist nicht du.« Sie lächelte. Als er nicht reagierte, blinzelte sie verunsichert. »Na, er ist … ein Dorftrampel. Ich weiß, ich weiß, Ebernau ist angeblich eine Kleinstadt. Da sind wir super-stolz drauf.« Sie schnaubte verächtlich. »Aber die Jungs hier kannst du vergessen. Die interessieren sich nur fürs Saufen und so.«
Henrik betrachtete die fast leere Bierflasche in seiner Hand.
»Wenn du trinkst, ist das was anderes«, beeilte sie sich, zu sagen. »Du bist so … kultiviert. Man sieht dir das irgendwie an. Dass du … du weißt schon.«
»Dass ich Geld habe?« Seine Stimme war ausdruckslos. Was tat er hier überhaupt?
»Nein! Dass du … Kultur hast.« Sie schmiegte sich an ihn und er rückte ein Stück ab. Versuchte es zumindest. Plötzlich saß ein weiteres Mädchen neben ihm. Ihre Haare waren so hellbraun und glatt wie Evas. Einen Moment lang hielt er sie für Zwillinge, bis er die Unterschiede in ihren Gesichtern erkannte. Das neue Mädel reichte ihm eine grüne Flasche, an der Feuchtigkeit abperlte.
»Für dich.« Sie grinste frech. »Prost, Henry!«
Er nickte und stieß mit ihr an. Neben sich spürte er eine Wolke aus purem Hass. Eva lehnte sich über ihn, so weit, dass er die Tätowierung auf ihrem Rücken erkannte. Die spitzen Blüten einer Christrose schauten unter ihrem Shirt hervor.
»Was willst du hier?«, zischte sie. Wie eine Raubkatze, die sich mit einer anderen um ein fettes Stück Fleisch stritt.
»Sitzen.« Das neue Mädel grinste noch breiter. Ihre weißen, leicht unregelmäßigen Zähne blitzten. Noch eine von »unten« vermutlich. Ob jemand Geld hatte, konnte man meist an der Qualität ihrer Kieferorthopäden erkennen.
»Setz dich woanders hin«, blaffte Eva. Die Andere beachtete sie nicht.
»Hi, ich bin Amelie.« Ihre Schulter stieß gegen Henriks. »Wie in dem Film, weißt du?«
»Aha.« Er nahm einen Schluck aus der neuen Flasche. Eiskalte Flüssigkeit rann seine Kehle hinunter.
»Super, Trampelie«, zischte Eva. »Du hast dich vorgestellt. Und jetzt verpiss dich.«
»Oder was?« Amelie verschränkte die Arme und sah Eva herausfordernd an.
»Oder ich zerr dich an den Haaren raus.«
»Ha!« Amelie lachte rau. »Das will ich sehen.«
»Wirst du gleich, wenn du nicht aufpasst. Ich kann dich hier genauso schnell rauswerfen, wie ich heute Mittag an dir vorbeigezogen bin.«
»Einen Scheiß bist du.« Amelies pink glänzende Lippen verzogen sich spöttisch. »Dir hab ich doch die Fresse gepudert. Du hast ausgesehen wie ein Schneemann. Na, oder wie eine Schnee-Kuh.«
Sie stritten sich hin und her und ignorierten Henrik, was ihm ganz recht war. Er konnte eh nicht folgen. Es ging um irgendeine Ski-Rivalität, aber all die Fachausdrücke waren ihm fremd. Gab es eine Art Ski-Slang? Vermutlich.
Er wusste nicht, wie lange die beiden links und rechts von ihm saßen und sich über seinen Kopf hinweg mit Worten duellierten. Recht hässlichen Worten zum Teil. Irgendwann hörte er nicht mehr zu. Gab sich ganz dem Rausch hin, den dröhnenden Bässen, dem sanften Murmeln aus fünfzig Kehlen, dem lieblichen Klirren der Gläser …
Plötzlich stand Moritz vor ihm und brüllte ihm ins Gesicht.
»Henry!« Er strahlte. »Wach auf, ich hab deinen Skilehrer mitgebracht. Das ist Nils.«
»Hmwas?« Henrik blinzelte.
Ein Gigant schälte sich aus der Menge. Ein dunkelblonder Gigant. Breitschultrig und mächtig, dessen abgetragene, schwere Stiefel über den Holzboden polterten, als würde er über ein Schlachtfeld schreiten. Ungefähr so missmutig, als würde er in den Krieg ziehen, sah er auch aus.
Der verächtliche Blick des Kerls wanderte über die Feiernden, als wollte er ihnen allesamt den Hals umdrehen. Er hatte helle Augen. Hellgrüne. Lindgrüne, die Farbe von jungen Blättern … Henriks Kopf rutschte zur Seite und der Wikinger … ja, er sah aus wie ein Wikinger, dem man versehentlich einen Haarschnitt verpasst hatte … ging plötzlich waagerecht.
Henrik blinzelte. Der Typ war vor ihm stehengeblieben. Ha. Von nahem sah er jünger aus. Kaum jünger als Henrik selbst. Konnte das sein? Dann wäre er … achtzehn. Ne, das konnte nicht …
Henrik richtete sich auf. Starrte diesen Nils müde an. Moritz deutete auf ihn, als würde er eine Kirmesattraktion präsentieren.
»Nils ist der beste Skilehrer von ganz Ebernau. Mindestens.«
»Hallo«, sagte Henrik kraftlos. Irgendetwas war anders an dem Kerl. Irgendetwas … Moritz stemmte die Hände in die Hüften.
»Na, was sagt ihr? Nils?«
Der durchbohrte Henrik mit seinem stechend grünen Blick. Seine Lippe verzog sich, als wollte er die Zähne fletschen.
»Was ist denn das für ein Arschloch?«, knurrte er.
Mit einem Mal wurde es ruhiger. Die Mädels, die sich anscheinend weiter gestritten hatten, verstummten. Moritz starrte seinen Kumpel an.
»Mann, Nils«, zischte er. »Ich hab dir gesagt, dass er in Ordnung ist.«
»Er ist ein Arschloch.«
Bitte? Doch, Nils deutete ganz klar auf ihn. Henrik.
Der richtete sich auf.
»Nils …« Moritz schien die Situation sehr unangenehm zu sein. »Er ist wirklich okay. Und er sucht einen Skilehrer.«
»Kein Interesse.«
Und dann drehte dieser Nils sich einfach um und stapfte davon. Die wogende Menge verschluckte seinen Körper und sie sahen nur noch seinen Schädel, der sich auf die Tür zubewegte.
»Ich hab's dir gesagt«, flötete Eva.
»Ach, Scheiße!«, rief Moritz. »Henry, ich …«
Henrik erhob sich schwankend. Was erlaubte dieser … Depp sich? Er war überhaupt kein Arschloch! Und selbst wenn … Wie sollte man das mit einem Blick erkennen?
»Henry!«, rief Moritz, als er an ihm vorbeistürmte. »Wo willst du hin?«
»Diesen Wichser zurückholen«, knurrte Henrik. Oder lallte er? »Wenn der glaubt, er kann mich einfach beleidigen, dann hat er sich geschnitten.«
Er zögerte.
»Und wenn er denkt, er kann einfach so … nicht mein Skilehrer werden, auch.«
»Nils, Alter!«, brüllte Moritz in sein Ohr. »Ich hab einen Job für dich!«
Lautes Gelächter und Gläserklirren begleiteten ihn.
»Was für einen Job?«, fragte Nils misstrauisch.
»Einen Superjob!« Moritz war viel zu fröhlich. Klang, als hätte er ein halbes Bierfass geleert. Hinter sich hörte Nils das untrügliche Nicht-Geräusch seiner gesamten Familie, die um den Küchentisch saß und die Ohren spitzte.
»Was für einen Superjob?«
»Skilehrer! Ich hab nicht gefragt, aber ich schätz mal, das ist gut bezahlt.« Moritz lachte stolz.
»Wie gut bezahlt?«, fragte Nils. Das lautlose Ohrenspitzen hinter ihm verstärkte sich.
»Keine Ahnung, aber der Dude hier hat Geld. Henry.« Moritz rülpste laut. »Ein Supertyp. Den haut einfach nichts um. Ist voll egal, was irgendwer sagt, der bleibt immer …«
»Wer ist Henry?«, fragte Nils. »Ist das einer von oben?«
»Ja klar ist das einer von oben. Wer kann sich denn sonst ’nen persönlichen Skilehrer leisten?«
»Keiner.« Nils zögerte einen Moment lang. Sie brauchten Geld. Dringend. »Sag ihm, ich hab keine Lust. Der soll sich ’nen anderen Skilehrer suchen.«
»Was? Keule, du hast gesagt, du brauchst ’nen Job. Gestern erst.«
»Ich hab schon was«, brummte Nils und wollte auflegen. Aber sein zerkratztes Handy wurde ihm aus den Fingern gerissen.
»Sag dem Kerl, dass er einen neuen Skilehrer hat«, befahl seine Mutter Moritz. »Nils ist in einer Viertelstunde oben, um ihn kennenzulernen.«
»Bin ich nicht! Ich …«
Ihre giftgrünen Augen blitzten ihn böse an und Nils verstummte. Mist.
»In einer Viertelstunde.« Sie legte auf und sah ihren Ältesten an. »Schwing dich auf dein Fahrrad, Großer.«
»Aber …« Er knurrte leise. Sah sich nach seinen Geschwistern um, aber von denen war keine Hilfe zu erwarten. Sie schauten ihn vom Küchentisch aus vorwurfsvoll an, die Hände um die dampfenden Teetassen geschlossen. Den tranken sie nicht, weil sie ihn mochten, sondern, weil sie die Heizung nicht anstellen wollten. Und das, obwohl draußen Minusgrade herrschten. Brennholz war auch fast alle …
Nils seufzte. Er war zu egoistisch. Verdammt. Aber einer von diesen reichen Angebern … Er sah ihn schon vor sich. Die schauten alle gleich aus, mit ihren arroganten Fressen und ihrem »Mir kann keiner was«-Gehabe.
»Bin schon unterwegs«, brummte er.
»Schlag ’nen guten Preis raus.« Marc grinste breit. »Ich brauch ein neues Board.«
»Wir brauchen eine neue Heizung, du Egosau!« Josh war sofort auf hundertachtzig. Wütend starrte er Marc über seine Teetasse hinweg an.
»He, meine Karriere geht vor. Die Heizung tut’s doch noch.«
»Überhaupt nicht!«
Mit einem Mal war Nils froh, aus dem Haus zu kommen. Er bedachte die Bande mit einem Winken, das nur seine Mutter erwiderte. Und Shirley, die zu dem Anlass sogar die Nase aus ihrem Buch hob.
Dann war er unterwegs. Durch die kalte Nacht, über festgetrampelte Wege, auf denen seine Fahrradreifen nur nicht abrutschten, weil er hier entlang fuhr, seit er klein gewesen war. Lange her. Der Fahrtwind versuchte, unter seine Daunenjacke zu kriechen, schaffte es aber nur in den linken Ärmel. Den, an dem ein Druckknopf kaputt war. Ansonsten hielt das schäbige alte Ding ihn warm.
Als er aus seinem Viertel herausradelte, wurden die Straßen malerischer. Und viel besser beleuchtet. Er sauste die Hauptstraße hoch und fluchte leise in seinen Schal.
Skilehrer. Für einen von denen. Der würde bestimmt rumheulen, sobald er ihm ein paar deutliche Worte sagte. Seine Mutter unterrichtete deren Kinder, und die erzählte Dinge …
Sie durfte nicht mal sagen, dass die kleinen Schnösel etwas anders machen sollten. Sie musste es ihnen höflich vorschlagen. Eben noch hatte sie davon geredet.
»Leon-Marcel, wie wäre es, wenn du den Ski richtig herum anschnallst?«, hatte sie geflötet und Nils hatte sich halb totgelacht. Und nun wollte sie, dass er denselben Mist machte. Dabei hatte er einen Job so gut wie sicher. Einen besseren Job. Zwar da oben, aber bei Marie. Spüler und Kellner.
Marie war in Ordnung, egal, was seine Mutter sagte. Morgen würde er zur Probe arbeiten und … na, er würde das schon hinkriegen. Schnell spülen konnte er und Gläser tragen auch. Nur mit der Freundlichkeit haperte es ein wenig. Oder sehr, laut seinen Geschwistern.
Aber warum musste man diese feinen Pinkel auch ständig wie etwas Besonderes behandeln? Was war so toll an denen? Klar, als Skilehrer würde er vielleicht mehr verdienen als als Spüler … und das Geld war knapp. Wie immer. War schwer für seine Mutter und ihn, sie alle durchzubringen, wenn er noch in die Schule musste. Er war darauf angewiesen, in den Ferien zu arbeiten, nur …
Ich mach’s, wenn der Typ wirklich in Ordnung ist, sagte er sich. Wenn Moritz recht hat und man den nicht in Watte packen muss … und wenn er kein arrogantes, verwöhntes Söhnchen von irgendwem ist …
Auf den letzten Metern zu dem blöden Chalet musste er sein Rad schieben. Trotz all der Leute, die auf dem Weg hierher den Schnee zertrampelt hatten, war der Untergrund zu uneben.
Das Chalet. Es gehörte Marie, wie so vieles hier. Der untere Teil war aus grauen, fetten Steinblöcken gemauert. Der zweite Stock aus Holz gebaut und oben draufgesetzt.
Nils sah Leute auf dem breiten Balkon, als er näher kam. Und er hörte noch viel mehr. Ihre Stimmen drangen aus allen Fenstern. Musik schepperte. Irgendwer prostete sich geräuschvoll zu. Er erkannte Julia und Daniel da oben. In einer bunten Masse reicher Jugendlicher. Die beiden mischten sich gern unter die Schnösel. So wie fast alle aus seiner Klasse.
Die gaben immer damit an, wen sie getroffen hatten, mit wem sie geredet hatten, mit wem gevögelt … Sie kapierten nicht, was Nils fast seit seiner Geburt wusste: dass sich die Klassen nie wirklich vermischten. Wenn die reichen Gören ausgetrunken und zu Ende gevögelt hatten, verschwanden sie. Ohne sich je wieder zu melden.
Er schüttelte den Kopf. Karrte sein Bike die letzten paar Meter hoch und schloss es unter dem Balkon an. Atmete tief ein.
Schau ich mir den Kerl halt mal an, dachte er. Vielleicht, nur vielleicht …
»Nilsi!«, brüllte Moritz und wankte durch den plattgetrampelten Schnee auf ihn zu. Ja, der war ziemlich besoffen. »Niiilsi!«
So nannte er Nils nur, wenn er kurz vorm Kollaps stand.
»Mo.« Er stoppte Moritz, der fast gegen ihn getorkelt wäre, mit einer Hand. »Gut, ich bin hier. Wo ist der Kerl?«
»Henry? Du wirst ihn lieben, der ist so …« Moritz überlegte. »Cool. Wie … tiefgefroren.«
»Klingt … sympathisch.«
»Totaaal!«
Vielleicht war er in Ordnung. Nils konnte ja auch mal Glück haben, oder?
Sie drängten sich durch die feiernde Menge. Nils erkannte noch mehr Leute aus seiner Klasse. Die meisten schauten verwundert, als sie ihn sahen. Er war nur selten auf Partys und nie auf denen von den reichen Skitouristen. Er roch Alkohol, Schweiß und Zigarettenqualm. Gelächter gellte in seinen Ohren. Er stieg über ein knutschendes Pärchen, das sich auf dem Boden wälzte. Wurde angerempelt von Leuten, die an seinem kräftigen Körper abprallten wie Pingpongbälle.
Dieser Henry war nicht in Ordnung.
Nils erkannte ihn, noch bevor Moritz ihn vorstellte.
»Henry!«, brüllte Moritz. »Wach auf, ich hab deinen Skilehrer mitgebracht. Das ist Nils.«
Der Typ hing auf dem Sofa, arrogant und so offensichtlich schwerreich als würde er einen aus Tausendern genähten Anzug tragen. Er hatte zwei Mädels im Arm. Nils erkannte Eva und Amelie, die sich um den Schönling stritten. Natürlich. So einer hatte immer zwei Mädels im Arm. Mindestens.
Nils sah sich um und bemerkte ohne Überraschung, wie viele Blicke auf dem Schnösel ruhten. Selbst unter den Reichen war er eine Ausnahmeerscheinung. Dem triefte der Wohlstand aus jeder Pore. Aus jeder … hübschen Pore. Er sah verdammt gut aus. Wie ein Model, mit seinen sanft gewellten Haaren und den kaffeebraunen Augen. Und den Lippen, die so voll und geschwungen waren, dass sie fast unecht wirkten. Irreal … Und natürlich hing der Kerl vollkommen desinteressiert auf dem Sofa, die Lider mit den dichten Wimpern halb geschlossen.
Arroganter Mistkerl.
Nils stellte sich vor ihn und der Typ richtete sich unwillig auf. Als wäre er sauer, dass er in seinem ach-so-wichtigen Rumsitzen gestört worden war. Der müde Blick seiner dunklen Augen wanderte langsam an Nils hoch.
Moritz strahlte und stach Nils mit seinem Zeigefinger fast ein Auge aus.
»Nils ist der beste Skilehrer von ganz Ebernau«, behauptete er. »Mindestens.«
»Hallo«, lallte der Typ. Er klang so herablassend, dass Nils ihn gleich noch mehr verachtete. So wie er da hing, selbstverliebt und gelangweilt, zwischen den Mädels …
»Na, was sagt ihr? Nils?« Moritz hüpfte auf und ab wie ein koffein-gedoptes Wiesel.
Nils starrte auf Henry nieder. Versuchte, irgendetwas zu sehen, das er nicht absolut hasste. Und scheiterte.
»Was ist denn das für ein Arschloch?«, knurrte er.
Die Mädels hörten auf, sich zu streiten. Moritz atmete erschrocken ein. Und dieser Henry … Dessen Augen weiteten sich ein klein wenig. Immerhin.
»Mann, Nils«, zischte Moritz nervös. »Ich hab dir gesagt, dass er in Ordnung ist.«
»Er ist ein Arschloch«, wiederholte Nils. Warum war er der Einzige, der das sah? Warum behandelten die anderen diesen Horst, als wäre er ein Halbgott oder so?
»Nils …« Moritz trat von einem Fuß auf den anderen. »Er ist wirklich okay. Und er sucht einen Skilehrer.«
»Kein Interesse.«
Nils drehte sich auf dem Absatz um und marschierte davon. Mitten durch die Menge. Vorbei an blöden Leuten, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu feiern, während er morgen früh in Maries Küche stehen musste, damit sie ihnen nicht das Gas abdrehten …
Kalte Luft schlug ihm entgegen, sobald er aus der Tür trat. Herrlich frisch im Vergleich zu dem Mief da drinnen. Schneebedeckte Kiefern streckten ihre Zweige aus der Dunkelheit. Er wollte heim. Obwohl er keine Lust hatte, seiner Familie zu erklären, warum er den Job abgelehnt hatte …
»Hey!«
Er fuhr herum.
Dieser Henry warf die Tür hinter sich zu. Schwankte auf Nils zu, dass seine weichen Locken in seine Stirn fielen.
»Was willst du?«, knurrte Nils.
»Ich verlange, dass du mein Skilehrer …« Ein verwunderter Ausdruck trat in Henrys Gesicht. Er riss die Augen auf. Gleichzeitig knickten seine Beine weg. Nils konnte ihn gerade noch auffangen.
»Oh, Scheiße«, murmelte er.
Er kannte das. Von Moritz, wenn sie ihn anriefen, damit er ihn von einer Party abholte. In der Wärme drinnen merkte man nicht, wie betrunken man war. Aber sobald man nach draußen trat und die Lungen mit Sauerstoff füllte, erwischte es einen mit voller Wucht. In letzter Sekunde schaffte Nils es, Henry herumzudrehen. Sein Gesicht von sich wegzumanövrieren.
Dann schoss ein graugelber Strahl aus Henrys Mund. Kotze klatschte vor seinen Füßen in den Schnee. Aus seiner Kehle kamen verzweifelte Würgelaute.
Nils hielt ihn an der Taille und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. So, wie er das bei Marc gemacht hatte, als der seinen ersten Rausch gehabt hatte. Bei den Zwillingen, als der Norovirus sie erwischt hatte. Und bei seiner Mutter, als sie mit den Zwillingen schwanger gewesen war.
»… verlange …«, brachte der Schnösel hervor, aber ein weiterer Würgeanfall unterbrach ihn. Vor seinen Füßen, die in feinstem Leder steckten, breitete sich ein unappetitlicher See aus.
»Du verlangst gar nichts«, brummte Nils. Jetzt bloß kein Mitleid entwickeln, nur, weil der Typ sich aufs Erbärmlichste wand, hustete und keuchte. Wo waren seine ganzen Freunde? Hier draußen stand niemand herum, nur sie beide …
Die Tür krachte an die Wand und Moritz taumelte heraus.
»Nils, du Trottel … Henry?« Er wankte auf sie zu und wäre fast in Henrys Spucklinie geraten. Erstaunlich elegant wich er aus. »Henry? Geht’s dir gut?«
Henry hatte jeden Versuch, zu reden, aufgegeben. Moritz betrachtete ihn andächtig. Dann sank er langsam zu Boden und lehnte sich an die Steinwand des Chalets.
»Scheiße …«, murmelte er. »Voll … müde.«
»Mo, wenn du jetzt auch noch anfängst, zu spucken, kann ich dir nicht helfen«, sagte Nils. »Dieser Henry ist sauschwer.«
Aber Mos Kopf kippte nach hinten und seine Augen schlossen sich. Ein sanftes Schnarchen brachte seine Lippen zum Zittern. Nils stöhnte leise. Wenn er nichts tat, würde Mo da liegen bleiben, bis sie am Morgen seine steifgefrorene Leiche fanden. Und dieser Henry vermutlich auch.
Dessen Magen hatte sich wohl endlich beruhigt und er hing wie ein nasser Sack in Nils' Armen. Nils packte sein Handgelenk und legte sich dann Henrys Arm über die Schulter. Versuchte, ihn vorwärts zu schleppen, aber der Typ weigerte sich, mitzuhelfen.
»He! Lauf ein Stück mit!«, kommandierte Nils. Keine Reaktion. Die sündhaft langen Wimpern dieses Henry hoben sich keinen Millimeter.
Auch er schnarchte. Toll. Nils wollte gerade losgehen, als Henrys Kopf herumschlenkerte und seine Wange an Nils' Hals landete. Kalte Haut. Weich, ein wenig stoppelig. Nils verharrte. Schluckte. Dann riss er sich zusammen, warf Henry über seine Schulter und schleppte ihn durch die Tür.
Die Mädels stritten immer noch. Aber sie standen auf, damit er Henry auf das Sofa legen konnte. Er zwängte sich noch einmal durch die Menge und holte Moritz. Glücklicherweise war die Sitzfläche groß genug für zwei Alkoholleichen. Nils versicherte sich, dass die beiden seitlich lagen und frei atmen konnten. Er befahl den nächstbesten Neugierigen, die fragten, was los sei, ein Auge auf sie zu haben. Dann verließ er diese sinnlose Party. Er radelte durch die kalte Nacht nach Hause.
So eine Zeitverschwendung. Hoffentlich würde er diesen Schönling nie wiedersehen.
Er musste pissen. Sofort. Das war alles, was Henrik wusste, als er zu sich kam. Er spürte nassen Stoff an seiner Wange. Blinzelte. Licht verbrannte seine Netzhaut. Er schloss sie wieder. Aber seine Blase war so voll, dass er es wohl nochmal versuchen musste … Musste er? Kurz überlegte er, es einfach darauf ankommen zu lassen, entschied sich aber dagegen. Und öffnete endgültig die Augen.
Das Wohnzimmer war ein Saustall. Das Kissen unter ihm vollgesabbert. Getrocknete Spucke klebte in seinem Mundwinkel. Ihm war schlecht, seine Kehle war eine säureverbrannte Wüste und sein Schädel ein Kirchturm mit laut dröhnenden Glocken. Mühsam erhob er sich von dem Sofa und sah sich um. Er war allein.
Schnell jetzt.
Er torkelte über leere Flaschen und umgestürzte Möbel und erreichte das Badezimmer in letzter Sekunde. Irgendwie schaffte er es sogar, die Schüssel zu treffen. Er hätte sich gern gesetzt, aber die Brille triefte vor rotschillerndem Erbrochenem. Irgendein Ekelgetränk aus Wackelpudding und Wodka, erinnerte er sich. Einer seiner neuen Freunde hatte es mitgebracht.
Aber die waren weg. Sie hatten ihn friedlich schlummernd und in die Kissen sabbernd zurückgelassen. Sein Kopf fühlte sich an, als wollte ein Monster daraus entkommen, das kratzte, biss und versuchte, seine Schädeldecke zu sprengen. Aspirin, erinnerte er sich.
Er fand es im Badezimmerschrank, der glücklicherweise gut gefüllt war. Die Tablette löste sich zischend in seinem Zahnputzbecher auf. Als er es wagte, in den Spiegel zu schauen, war er überrascht, wie lebendig er aussah. Viel besser als er sich fühlte. Seltsam. Sonst … Hm. Er erinnerte sich an etwas. An gestern. Moritz hatte gesagt … er bräuchte einen Skilehrer.
Er kratzte sich am Kopf. Das Bild, das er kurz vor Augen gehabt hatte, verschwand im Nebel des Katers. Er setzte das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug aus …
Nils.
So hieß der Typ, der ihn als Arschloch bezeichnet hatte. Einfach so, ohne dass Henrik etwas getan hätte. Hatte er nicht, oder? Bestimmt nicht, sonst wäre er nicht so sauer …
Henrik starrte in den Spiegel. Sah den Ausdruck der Verwunderung in seinem blassen Gesicht.
Er hatte sich geärgert. Er hatte etwas gefühlt. Ärger war ein Gefühl, oder? Garantiert. War das gut?
Er musste Wolfram fragen. Wo war sein Handy? Oben im Schlafzimmer, vermutlich.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, tapste er die freistehenden Stufen der Holztreppe hinauf. Man hatte sie einzeln in die Mauer eingelassen und mit einem schmiedeeisernen Geländer versehen. Sehr edel. Aber mit Kater lebensgefährlich.
Er erinnerte sich, dass er damals fast die gesamte Länge der Treppe heruntergestürzt wäre. Fast. Er hatte sich gerade noch an dem mit Elchen verzierten Geländer festhalten können. Hier war alles mit Elchen verziert. Der Kamin, die Gardinen, die Tischdecke …
Leise öffnete er die Tür zum Schlafzimmer. Vielleicht war ja noch jemand hier und wollte weiterschlummern … Ja, unter der karierten Bettdecke machte er zwei Erhebungen aus. Helles Mittagslicht brachte die honigfarbenen Bodendielen zum Leuchten. Ein Geruch nach abgeschliffenem Holz lag in der Luft, der bestimmt heimelig war. Der einen bestimmt dazu brachte, sich geborgen zu fühlen … wenn man etwas fühlte. In Henrik war wieder alles erstarrt. Aber gestern, da hatte er …
Ah, das Handy lag auf dem Nachttisch. Er schlich auf Zehenspitzen heran, bis er danach greifen konnte. Seine Finger schlossen sich um die glatte Hartplastikhülle. Und wollte sich gerade zurückziehen, als sein Blick auf das Bett fiel.
Eva und Amelie schliefen dort, eng umschlungen. Und nackt, soweit er das erkennen konnte. Amelie umarmte Eva von hinten, und die hatte ihre schlanken Finger mit Amelies verschränkt. Hellbraune Haare breiteten sich auf dem Kissen aus wie Seetang auf einem Felsen. Jetzt, da es hell war, konnte er erkennen, dass Evas Mähne dunkler war.
Henrik wusste nicht, was er davon halten sollte. Also drehte er sich um und schlich aus dem Zimmer, ohne die beiden zu wecken.
Wolfram ging beim dritten Läuten ran.
»Wolfram Flint-Waldhaus«, näselte er. Irgendetwas war mit seiner Nasenscheidewand, vermutete Henrik. Wolfram klang immer, als hätte er Schnupfen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wolfram, ich glaube, ich habe gestern etwas gefühlt. Da war so ein Kerl, der mich total genervt hat. Der kannte mich gar nicht und hat mich gleich ein Arschloch …«
»HENRIK?« Ein Husten. Verschluckt. »Henrik, bist du das?«
»Äh, ja. Also, dieser Typ meinte …«
»Henrik, wo bist du?«, rief Wolfram in seine Ohrmuschel.
»Das tut nichts zur Sache.« Henrik sah aus dem Küchenfenster, hinter dem sich sanft verschneite Hügel wellten.
»Was, du …« Tiefes Einatmen. »Henrik, dein Onkel hat mich angerufen. Er macht sich Sorgen um dich. Sie können dich nirgendwo finden und er hat schon die Polizei und einen Privatdetektiv verständigt und …«
»Die Polizei?« Henrik schrak zusammen. »Aber ich hab ihm doch eine Nachricht geschickt. Dass es mir gut geht und so.«
»Henrik.« Wolfram klang, als gäbe er sich Mühe, nicht zu schreien. »Es geht dir nicht gut. Das weißt du.«
»Ja.« Henrik sah auf seine Füße, die in schwarzen Merino-Socken steckten. Irgendjemand hatte ihm gestern die Schuhe ausgezogen. Wer? »Aber … kannst du ihm sagen, dass er keine Angst um mich haben muss? Ich werde mir nichts antun. Ich musste nur … mal raus.«
»Hm.« Ein missgünstiges Schnauben. »Ich kann es ihm ausrichten, denke ich. Und was soll ich ihm sagen, wo er dich findet?«
»Na, nirgendwo. Ich will nicht gefunden werden.«
»Warum?«
»Ich will … mal wieder normal sein?« Wenn er ehrlich war, hatte Henrik nicht darüber nachgedacht. Er hatte am Tag nach Weihnachten einfach seine Sachen gepackt, eins seiner Konten leergeräumt und war abgehauen.
»Hm-hm«, machte Wolfram und klang endlich wie ein Therapeut. Gleich darauf noch mehr, als er fragte: »Und wie fühlst du dich dabei?«
»Ich fühle nichts. Wie immer. Nur gestern …« Henrik räusperte sich. »Da war ich kurz wütend.«
»Hm-hm. Und dann?
»Dann hab ich gekotzt, soweit ich mich erinnere.« Henrik runzelte die Stirn. Sobald er aus der Tür getreten war, hatte der Filmriss eingesetzt. Ob Nils ihm die Schuhe ausgezogen hatte? Oder Moritz?
»Hast du getrunken?«
»Eher gesoffen.« Henrik massierte seine Schläfen. Der Schmerz wurde langsam schwächer. »Also ich … da war dieser Typ und der meinte, ich wäre ein Arschloch. Obwohl er mich nicht kannte. Aber … wenn ich darüber nachdenke: Da ist er nicht der Erste. Der mich ein Arschloch genannt hat. Aber normalerweise werde ich nicht wütend.«
»Hm-hm.«
»Ich … Denkst du, ich soll die Sache weiter verfolgen? Moritz meinte eh, ich könnte ihn als Skilehrer engagieren.«
»Wer ist Moritz?«
»Ja, ich glaub, das mache ich. Danke für deine Hilfe.«
»Was? Henrik, du solltest …«
Henrik legte auf. Atmete tief ein. Horchte in sich hinein. Nichts. Na, egal. Er hatte eine Spur. Eine Chance, egal wie klein. Das war doch was.
Er vernahm leise Schritte hinter sich. Eva schlich an der Küche vorbei, die dicken Schneestiefel in der Hand.
»Kaffee?«, fragte er.
Sie zuckte zusammen.
»Äh, ne. Danke«, brummte sie und huschte weiter.
Die Tür fiel donnernd ins Schloss. Henrik fuhr sich durch die Haare. Dann würde er alleine Kaffee trinken … Obwohl, er konnte auch gleich in Maries Hütte gehen und frühstücken. Er traute sich gerade kaum zu, Rührei zu machen. Und er konnte sie über diesen Nils ausfragen. Marie kannte jeden, das hatte er schon herausbekommen.
Gegen elf wurde es endlich ruhiger. Der Stapel schmutziger Teller neben ihm wurde kleiner und zwischendurch schaffte Nils es sogar, die Spülmaschine auszuräumen und das Besteck in die Kästen zu sortieren. Die letzten Frühstücksgäste verzogen sich auf die Piste.
Marie kam herein, als er gerade eine der gusseisernen Pfannen schrubbte.
»Läuft’s gut?«, fragte sie, wie immer ohne zu lächeln. Ihre schwarzen Haare waren zu einem Zopf gebunden, der ihr fast bis auf die Taille fiel.
»Alles okay.« Nils nickte und drehte sich wieder um.
Er erwartete, dass Marie die Küche verlassen würde. Dimitri, der Koch, hasste es, wenn man ihm im Weg stand, während er zwischen den Herden herumwirbelte. Obwohl er bei der Chefin persönlich natürlich nichts sagen konnte. Der Chefin dieses Ladens und von über zehn Chalets. Marie war eine der reichsten Frauen, die er kannte. Und sie kam von »unten«, genau wie er.
Aber Marie trat an ihn heran. Der Geruch nach kalter Zigarettenasche und Pfefferminzkaugummi stieg in seine Nase.
»Daniel braucht eine Pause. Hast du schon mal gekellnert?«
»Ja, in Willis Kneipe«, sagte Nils. Marie verzog den knallrot geschminkten Mund.
»Die Gäste sind hier ein bisschen gewaschener. Na ja, aber besser als Daniel wirst du es schon machen. Lass den Kram stehen und komm mit.«
Nils nahm seine Spülerschürze ab, hängte sie an den Eisennagel neben der Tür und folgte ihr ins Hinterzimmer.
Daniel huschte an ihnen vorbei, blass wie eine Leiche, nur grünlicher. Die gestrige Party stand ihm ins Gesicht geschrieben. Wie durch ein Wunder hatte er den Frühstücksansturm überstanden, aber nun … war er mit seiner Kraft wohl am Ende. Die Party bei diesem blöden Henry … Der schlief seinen Rausch bestimmt noch aus und musste nicht arbeiten wie normale Menschen.
Kurz darauf trug Nils eine Kellneruniform. Das weiße Hemd spannte ein wenig über seiner Brust, aber die schwarze Hose saß wie angegossen.
»Gar nicht schlecht«, sagte Marie anerkennend. Ihre schmale Augenbraue hob sich, als sie ihn betrachtete. »Alles andere als schlecht sogar. Wenn du ein bisschen freundlich bist, schwimmst du heute Abend in Trinkgeld.«
»Warum soll ich freundlich zu denen sein?«, brummte Nils. Sie seufzte leise.
»Sei wenigstens höflich. Oder du hattest die längste Zeit einen Job.«
Nils nickte mürrisch. Er konnte es kaum erwarten, zurück in die Spülküche zu kommen. Feine Skifahrer zu bedienen war nicht sein Ding.
Als Marie und er in den Speiseraum traten, war er fast leer. Die Tischdecken mit den roten Trachtenmustern strotzten vor Essenresten, halbleeren Tellern und Kaffeeflecken.
»Räum erstmal ab. Ich kümmere mich um die Gäste.« Marie warf ihm einen warnenden Blick zu. Nils beschloss, sich zusammenzureißen. Sie brauchten das Geld.
Ein paar Minuten lang war der Job richtig nett. Er sammelte Geschirr ein und genoss die Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster hereinschienen. Draußen schwebten Leute vorbei. Eine Liftstation begann genau vor der Tür von Maries Bar und Restaurant, was den Laden ziemlich beliebt bei den Touristen machte.
Für Nils' Geschmack war die Einrichtung zu kitschig. Der Raum quoll fast über vor Schnickschnack. Samtgirlanden wanden sich um die kräftigen Deckenbalken und auf den Fensterbänken drängten sich plüschige Teddys in Ski-Outfits. Die Fensterscheiben waren mit Kunstschneemustern verschandelt und die Wände mit Lichterketten. Der Laden passte gar nicht zu Marie. Der einzige Schmuck, den die an ihrem hageren Körper trug, war ihr knallroter Lippenstift. Aber den Touristen gefiel es wohl …
Ach, Kacke.
Dieser Henry marschierte herein. Er öffnete die Tür, als erwartete er, dass ein roter Teppich vor ihm ausgerollt würde. Allein, wie der sich die Handschuhe von den Fingern streifte. Wie er den Kopf hielt. Wie ein … Pfau. Ihre Blicke trafen sich. Henrys hübsche Augen wurden groß. Dann trat Marie vor ihn, um ihn zu begrüßen und versperrte Nils die Sicht.
Natürlich kam dieser Idiot hierher. Was …
»Nils!« Marie winkte ihn her. Nils ließ den Stapel schmutziger Teller stehen und trottete hinüber.
»Hallo Nils«, sagte dieser Henry. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn. Nils erinnerte sich, wie weich die Dinger sich gestern angefühlt hatten und seine Laune verschlechterte sich weiter.
»Henry möchte, dass du ihn bedienst.« Ein warnender Unterton lag in Maries kühler Stimme. »Das machst du mit Vergnügen, nicht wahr?«
»Klar«, sagte Nils, so überzeugend, wie er konnte, und wandte sich an Henry, dessen Gesicht so arrogant und überheblich war, als hätte er sich gestern nicht vor Nils die Seele aus dem Leib gekotzt. »Wo willst du sitzen?«
»Am Fenster, wenn das möglich ist.« Henrys Stimme war kalt, aber melodiös. Irgendwie … unbeteiligt.
»Sicher.« Nils rang sich ein Lächeln ab, das nur einen Mundwinkel erreichte, und geleitete den Schnösel zu einem Zweiertisch.
Sonnenstrahlen glitzerten auf den Messern und Gabeln, die in einem rustikalen Bierkrug steckten. »Rustikal« bedeutete »mit Elchen«. Total albern. Nils hatte in seinem Leben noch keinen echten Elch gesehen, warum pflasterten sie alles mit den Viechern voll und nannten es »authentisch«?
»Oh, noch ein Elch«, sagte der Snob. »Gibt es hier überhaupt wilde Elche?«
»Klar, die sind super-authentisch«, murrte Nils. »Was willst du essen? Brauchst du die Frühstückskarte?«
»Gestern hatte ich das große Schlemmerfrühstück«, sagte der Kerl. »Mit Rührei und Lachs. Ich denke, das nehme ich wieder.«
»Was zu trinken?«
»Kaffee. Schwarz.«
»Okay« Nils wandte sich um und versuchte, die Tatsache zu verdauen, dass dieser Schnösel seinen Kaffee so trank wie er. Mit dem wollte er nichts gemeinsam haben, nicht mal die kleinste Kleinigkeit.
Während Dimitri das Frühstück zubereitete, räumte Nils die restlichen Tische ab. Dieser Typ beobachtete ihn. Die ganze Zeit über. Sein dunkler Blick bohrte sich in Nils' Rücken als wäre er irgendwie interessant.
»Was ist?«, flüsterte er Henry zu, als Marie hinter dem Tresen beschäftigt war. »Wieso glotzt du mich so an?«
Der Kerl schaute verwundert.
»Ich habe nichts Besseres zu tun«, sagte er, als ob das Nils' Schuld wäre. »Mir ist langweilig.«
»Soll ich dir ’ne Zeitschrift bringen? Das Angeberblatt oder Schnösel Aktuell oder …«
Marie sah auf und Nils beeilte sich, von dem Typen wegzukommen.
Als er ihm das Frühstück servierte, lächelte der Kerl nicht mal. Na ja, Nils lächelte ebenfalls nicht, also konnte er ihm das nicht übel nehmen. Stattdessen deutete Henry auf den Platz vor sich.
»Setz dich, Nils.«
Nils starrte ihn an. Was?
»Ne, danke«, sagte er. »Ich muss arbeiten. Guten Appetit wünsche ich.«
»Marie!« Der Schnösel winkte Marie, die gerade den Nebentisch abkassierte. »Hat Nils einen Moment Zeit, um sich zu mir zu setzen?«
»Natürlich«, sagte Marie, diese eiskalte Verräterin. Dabei schneiten bereits die ersten Mittagsgäste herein, und wenn sie die alleine bedienen wollte, würde sie schwer beschäftigt sein.
»Aber …«, versuchte Nils es, doch sie unterbrach ihn sofort.
»Setz dich zu Henry, Nils. Und sei höflich.«
So eine … was dachte dieser Kerl sich? Warum steckten dem alle alles in den Arsch? Nils plumpste vor ihm in den Stuhl und verschränkte die Arme. Er sah Henry wütend an.
»Und? Was willst du?«
Henry verzog keine Miene. Er faltete die Hände unter seinem Kinn und durchbohrte Nils mit Augen, die so dunkel waren wie der dampfende Kaffee vor ihm. Das war das Irritierende, wurde Nils klar. Alles an Henry war eigentlich warm. Seine Haarfarbe, seine Augen, der leichte Goldschimmer seiner Haut. Aber der Kerl war ein Eisklotz. Ein gefühlloser Eisklotz. Das passte nicht zusammen.
»Ich will Skifahren lernen«, sagte Henry. Sein Blick löste irgendetwas in Nils' Magen, das erwachte und hochflatterte wie eine kleine Motte.
»Dann tu das.« Nils verschränkte die Arme nur noch fester.
»Und ich will, dass du mein Skilehrer wirst.«
»Vergiss es.«
»Wieso?« Henry legte den Kopf schräg. »Du magst mich nicht, aber warum? Gestern hast du mich auch als Arschloch bezeichnet.«
»Weil du eins bist.« Nils sah aus dem Fenster. Lachende Touristen schwebten vorbei, mit verspiegelten Sonnenbrillen und strahlend weißen Zähnen.
»Mag sein, aber woher weißt du das?« War da ein Hauch von Interesse in Henrys Stimme?
»Instinkt.« Der Duft des frischen Rühreis zog zu Nils herüber und erinnerte ihn daran, wie leer sein Magen war. Frühstück war für ihn ausgefallen. Seine Geschwister hatten mal wieder den Kühlschrank leergefressen. Und die Reste dieser reichen Schnösel zu verputzen? Dafür war er zu stolz.
Henry nahm ein Croissant aus dem Brotkorb, riss es auf und begann, es mit Rührei zu füllen.
»Magst du auch etwas?«, fragte er Nils. So arrogant.
»Denkst du, ich kriege zuhause nichts zu essen?«, schnappte Nils. »Meinst du, du musst mich durchfüttern, weil ich so scheißarm bin?«
»Was? Nein.« Die Verwunderung in Henrys Blick war echt. Einen Moment lang kitzelte das schlechte Gewissen Nils. Er benahm sich wie ein Arschloch. Aber er schaffte es nicht, nett zu sein.
»Was soll diese Aktion?«, fragte er, um seinen Ärger aufrechtzuerhalten. »Fühlt es sich gut an, mit deiner Macht zu protzen? Erst zwingst du mich, dich zu bedienen und dann, hier rumzusitzen. Ganz schön eingebildet für jemanden, der mir gestern noch fast auf die Schuhe gekotzt hat.«
»Habe ich das?«, fragte Henry und biss unbeeindruckt in das Croissant.
»Wie ein Feuerwehrschlauch«, sagte Nils. »Bist gar nicht mehr rausgekommen aus dem Spucken.«
»Ah. Das tut mir leid.« Eine offensichtliche Lüge. Dem Kerl war das scheißegal. Hasserfüllt sah Nils ihm beim Kauen zu. Ein Blätterteigkrümel klebte auf Henrys vollen Lippen und Nils konnte nur mit Mühe den Blick abwenden.
»Gut«, knurrte er. »Kann ich jetzt gehen?«
»Warum willst du nicht mein Skilehrer werden?«, fragte Henry. »Eva meinte, du hasst die Leute von oben. Warum?«
»Warum nicht? Guck doch mal, wie du mich behandelst. Wie du hier reingeschneit bist, als würde der Laden dir gehören. Wie sich die Mädels um dich gestritten haben, gestern und dir das am Arsch vorbeigegangen ist. Streiten sich die ganze Zeit Mädels um dich?«
»Bist du neidisch?« Eine breite Augenbraue hob sich. »Ich glaube nicht, dass du Probleme mit Mädchen hast, oder?«
Nils zuckte zusammen. Er konnte nicht anders. Hatte dieser Kerl …
»Wie meinst du das?«, zischte er. Henry deutete auf Nils' Brust, die die Knöpfe seines Hemdes fast sprengte.
»Na, du siehst echt gut aus.« Henry biss erneut in sein Rühreicroissant. »Wie ein Wikinger oder so. Ich dachte, Frauen stehen auf sowas.«
»Was, ich …« Nils zwang sich, nicht rot zu werden. »Keine Ahnung, worauf die stehen«, brummte er. »Mir auch egal. Ich hab keine Zeit dafür. Ich muss ’ne Familie durchfüttern.«
»Musst du das?« Verdammt, er hatte Henry nichts verraten wollen. Der verputzte das Croissant und kramte in seiner Hosentasche. Ein bestimmt sauteures Lederportemonnaie tauchte in seinen Händen auf. »Wie viel brauchst du?«
»Was? Willst du mir etwa … Geld schenken?« Nils war entsetzt. »Einfach so?«
»Aber nein.« Henrys wellige Haare gerieten durcheinander, als er den Kopf schüttelte. »Das ist selbstverständlich eine Anzahlung. Für deine Dienste als Skilehrer.«
»Für deine Dienste als Skilehrer«, äffte Nils nach. »Hörst du dich selbst reden?«
»Ist das ein Nein?«, fragte Henry. Immer noch klebte dieses blöde Blätterteigstückchen an seinem Mund. Ein goldgelber Fleck auf der prallen, rosa schimmernden Unterlippe.
»Natürlich ist das ein Nein.« Er deutete auf Henrys Mund. »Du … du hast da was.«
Henrys Zunge erschien. Nass glänzend fuhr sie über die Kurve der Unterlippe. Verdammt, der Kerl hatte einen Mund wie diese kitschigen Weihnachtsengel. Nur … sexy.
»Was kann ich tun, um dich umzustimmen?«, fragte Henry.
»Du … was?« Diesmal konnte er nicht verhindern, rot zu werden. Nils ballte die Fäuste. »Nichts natürlich. Lass mich endlich in Ruhe. Such dir 'nen anderen Skilehrer.«
»Ich will keinen anderen.«
»Tja, du Schnösel, dann wirst du einmal in deinem Leben nicht das bekommen, was du willst.« Nils grinste. »Wie fühlt sich das an?«
»Unerwartet … interessant.« Henrys pralle Lippen verzogen sich zu … einem Lächeln?
Seine Augen sahen Nils herausfordernd an und er wirkte plötzlich richtig wach. Was war jetzt los? Der Kerl flirtete doch nicht etwa mit ihm, oder? Nein. Nein, ganz bestimmt nicht.
»Ich muss zurück in die Küche.« Der raue Klang seiner Stimme überraschte Nils. »Arbeiten. Und so.«
»Ich biete dir fünfhundert Euro am Tag, wenn du mir Skifahren beibringst«, sagte dieser Schönling und zog tatsächlich fünf nagelneue grüne Scheine aus seiner Brieftasche. Nils starrte darauf.
Nein, befahl er sich. Nein.
»Denkst du, ich bin käuflich, du Arschloch?«, brüllte er.
Oh Mist, er brüllte wirklich. Und er war aufgesprungen. Er hörte den Stuhl hinter sich zu Boden poltern. Gäste an allen Tischen starrten ihn an. Erschrocken. Nur Henry wirkte milde interessiert. Marie, am anderen Ende des Raums, warf ihm einen eindeutigen Du-bist-gefeuert-Blick zu. Fuck. Konnte er sie noch umstimmen? Konnte er …
Scheiß drauf.
»Und jetzt lass mich in Ruhe«, motzte er, packte sich im Vorbeigehen ein Brötchen aus Henrys Korb, biss ab und marschierte an Marie vorbei.
»Ja, ja, ich bin gefeuert«, brummte er.
»Und wie du das bist.« Sie hob nicht mal die Stimme.
Schwungvoll stieß er die Tür auf und stapfte in die Kälte hinaus. Die verdammt kalte Kälte, die sofort durch das dünne Hemd drang. Fröstelnd hielt er inne. Sollte er nochmal zurück und seine Sachen holen? Wäre ziemlich peinlich, aber …
Wäre viel zu peinlich, entschied er und schloss sein Fahrrad auf.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte Marie kopfschüttelnd und legte ein frisches Brötchen in Henriks Korb. »Ehrlich. Ich achte sehr auf geschultes Personal, bloß heute gab es einen Engpass …«
»Schon gut«, sagte Henrik. »So schlimm war das auch nicht. Eigentlich ganz amüsant.«
Marie sah ihn zweifelnd an. Aber er meinte es ernst. Er fühlte sich seltsam … beschwingt. Doch, er fühlte definitiv etwas. Er wusste nicht, was, aber es war ein Gefühl. Bestimmt. So lange schon war er kalt. Vereist, als wäre sein Körper ein Gletscher, in dem alles lahmgelegt und abgestorben war. Einsam.
Doch etwas lebte. Er spürte es, tief drinnen. Ein schwaches Klopfen. Weit entfernt, trotzdem … da war etwas.
»Was ist mit diesem Nils?«, fragte er Marie.
Sie seufzte. Er überlegte, wie alt sie war. Höchstens vierzig, dachte er. Sehr elegant, in ihrem schwarzen Kleid und der weißen Schürze.
»Nils … kommt nach seiner Mutter«, sagte sie. Klang, als wollte sie noch etwas sagen, es aber nicht tun.
»Ich weiß nicht, womit ich ihn so verärgert habe …«
»Du kannst nichts dafür, Henry.« Sie richtete den Stuhl wieder auf, den Nils umgeworfen hatte. »Der Junge hat Probleme. Ich hätte ihn nie hier vorne einsetzen dürfen.«
»Wer hat keine Probleme?« Henrik zuckte mit den Achseln. »Aber was ist mit ihm? Warum hasst er mich? Ich bin vollkommen sicher, dass ich ihn gestern erst kennengelernt habe und trotzdem führt er sich auf, als hätte ich seine Schwester geschwängert und sitzengelassen.«
Marie schwieg. Sah aus dem Fenster. Dann fixierten ihre hellen Augen ihn.
»Ich fürchte, das wirst du ihn selbst fragen müssen. Es wäre nicht richtig, Dinge über ihn zu erzählen, die er nicht erzählen will. Selbst, wenn es jeder weiß.«
»In Ordnung.« Henrik nickte. »Wo wohnt er?«
»Du willst ihn besuchen?«, fragte Marie.
»Ich könnte mir seine Handynummer geben lassen, aber ich schätze, er würde direkt auflegen, sobald er meine Stimme hört.«
»Wahrscheinlich.«
Marie gab ihm Nils' Adresse und er zahlte, obwohl sie beteuerte, dass er das nicht musste.
»Kannst du das mitnehmen?«, fragte sie, als er seine Jacke anzog. Sie hielt ihm eine große Plastiktüte hin. »Das sind seine Klamotten. Und sag ihm, er soll mir die Kellneruniform zurückbringen.«
Als Henrik in die Kälte hinaustrat, war das leise Pochen in ihm bereits wieder verklungen. Er horchte in sich hinein, aber da war nichts. Nur Eis.
Wenige Meter entfernt rasten Leute die Hänge hinunter. Grellbunte Skijacken zogen vorbei. Sah spaßig aus. Vielleicht sollte er das echt lernen. Er erinnerte sich, dass sein Vater versucht hatte, es ihm beizubringen. Mit einer Engelsgeduld hatte er ihm gezeigt, wie man im Schneepflug fuhr, hatte ihn vor sich gehalten, damit Henrik es im Schutz des Dreiecks, das seine Skier machten, lernte.
Er war furchtbar darin gewesen. Warum auch immer. Ballsport war kein Problem für Henrik. Er war ins Basketballteam seiner Schule gekommen, obwohl er echt kein Riese war. Nicht wie Nils. Er glaubte, dass er ihm höchstens bis zur Nase reichte, aber falls sie sich je direkt gegenübergestanden hatten, konnte er sich nicht daran erinnern.
Sein Handy brummte. Wolfram.
»Hallo«, sagte Henrik und setzte sich in Bewegung. Die Strecke hatte die perfekte Länge für einen Anti-Kater-Spaziergang.
»Henrik.« Wolfram klang streng. »Du hast vorhin einfach aufgelegt. Warum?«
»Oh.« Henrik ließ die Piste hinter sich und bog in die Hauptstraße von Ebernau ein. »Sorry, ich war so begeistert von meinem Plan, ich … Für einen Moment war es fast wie damals.«
»Aha.« Wolfram klang immer noch verstimmt.
»Aber das ist gut, oder? Bevor … Früher war ich immer viel zu voreilig. Das haben alle gesagt. Immer mit dem Kopf durch die Wand, meinte Mama. Das ist doch bestimmt ein gutes Zeichen.«
»Hm-hm. Henrik, du solltest deinen Onkel anrufen. Ich habe ihm Bescheid gesagt und er lässt dir ausrichten, dass du dich bei ihm melden sollst.«
»Nein.« Henrik stapfte an den Schaufenstern der Skiausrüstungsläden vorbei. »Ich habe hier noch was zu erledigen.«
»Was?«
»Das … weiß ich nicht. Irgendetwas ist es sicher.«
»Und wo ist »hier«, Henrik?«, fragte Wolfram.
»Du stehst noch unter Schweigepflicht, oder?«, fragte Henrik. Er hörte Wolfram seufzen.
»Ja, tue ich. Du kannst mir alles erzählen. Nichts, was du mir sagst, wird je ein Dritter erfahren.«
»Dies ist ein geschützter Raum«, zitierte Henrik. »Also gut. Ich bin in einem Skiort. Als ich klein war, haben wir hier mal Urlaub gemacht.«
»Interessant«, sagte Wolfram. »Weißt du, warum es dich dorthin gezogen hat?«
»Nein.« Henrik schluckte. Es stach in seiner Kehle. Tief einatmend zwang er den Schmerz, zu verschwinden.
»Bist du sicher? Suchst du vielleicht nach der Vergangenheit? Willst du sie zurückho…«
»Ich bin da«, log er. »Muss Schluss machen. Bis bald, Wolfram.«
»Hen…«
Er beendete den Anruf. Armer Wolfram. Dass er selbst zwischen den Feiertagen anrief. Aber er war nicht umsonst einer der besten Therapeuten von München. Und einer der teuersten. Onkel Falk hatte gehofft, dass er Henrik in Nullkommanix wieder in Ordnung bringen würde.
Hatte er nicht.
Die malerischen Häuser mit den geschnitzten Balken gingen fast bis zum Horizont. Die Hauptstraße von Ebernau war lang. Verdammt lang. Und er musste sie bis zum Ende laufen und dann abbiegen. Bis zum Fleischhauer-Viertel. Dahin, wo Nils lebte.
Plappernde Winterschönheiten flanierten an ihm vorüber. Die Mittagssonne brannte so stark, dass er den Reißverschluss seiner schwarzen Jacke öffnen musste. Er kam an einem köstlich duftenden Maronenstand vorbei und an einem kleinen Teich, auf dem kreischende Kinder Schlittschuh liefen. Ebernau war so malerisch, dass es an Kitsch grenzte.
Der Kater machte ihm immer noch zu schaffen. Seine Beine waren schwächlich und sein Kopf hatte wieder begonnen, zu dröhnen. Hatte er Nils echt vor die Füße gekotzt? Ganz schön peinlich, theoretisch zumindest. Das war einer der Vorteile daran, innerlich vereist zu sein: Es war einem nichts mehr peinlich. Wenn er daran dachte, wie oft er sich im letzten Jahr übergeben hatte und wo …
Dunkel erinnerte er sich an eine Party. Eine feine Party, den Geburtstag von Jonathans Vater … Er hatte sich mit Sekt abgeschossen und noch vor Mitternacht in den Swimmingpool gekübelt. Er sah die traurigen Blicke der anderen Gäste noch vor sich. Nicht angeekelt. Traurig.
Der arme Junge, hatten sie geflüstert. Kein Wunder, nach der Geschichte …
Hier war es besser, entschied Henrik. Hier war er nicht der arme Junge, wenn er trank. Sondern ein besoffenes Arschloch.
He. Nils hatte ihn ein Arschloch genannt. Eben hatte er ihn wieder beleidigt. Und Henrik hatte gelächelt. Sein Mund hatte sich daran erinnert, wie das ging, und das nach fast einem Jahr.
Oh.
Es war fast ein Jahr her. Mist. In wenigen Tagen war Silvester, dann …
Henrik schüttelte den Kopf und marschierte weiter.
Zwanzig Minuten später war er in einem Teil von Ebernau, den er noch nie gesehen hatte. Er wirkte ungleich düsterer, obwohl die Sonne hoch über der Bergkette leuchtete. Auch hier standen Fachwerkhäuser. Aber sie waren viel schiefer als die in der Innenstadt. Ungepflegter. Die weiße Wandfarbe war verwittert und abgeblättert. Die Holzbalken mehr grau als braun. Wo die Straßen geräumt worden waren, kam löchriges Pflaster zum Vorschein und überall sonst lag schmutziger Schnee.
Interessant. Wenn Ebernau sowas wie ein schlechtes Viertel hatte, musste es das hier sein. Die wenigen Menschen, die auf den Bürgersteigen unterwegs waren, schleppten sich miesepetrig voran.
Nils' Adresse war das heruntergekommenste aller Häuser. Ganz am Ende der Straße, die in einer Sackgasse mündete, stützte es sich auf das Gebäude zu seiner Rechten. Ein zweistöckiges Fachwerkhaus, das wirkte, als sei es kurz vorm Zusammenbrechen. Aber die Dinger waren immer stabiler, als sie aussahen. Das hatte sein Vater ihm erzählt.
»Winter«, las Henrik auf einem selbstgetöpferten Klingelschild. Mit Tonwürsten waren fünf Namen darum herumgeschrieben worden.
Jennifer, Nils, Marc, Shirley und Josh.
Er fragte sich, wer Nils' Eltern waren. Marc und Jennifer, schätzte er. Ob Nils' Geschwister genauso launisch waren wie er?
Ein ohrenbetäubend lautes Klingeln schallte durch die Tür, als er auf den Knopf drückte. Erst geschah nichts. Dann hörte er eine Stimme, die fast so dröhnend wie die Klingel war.
»Shirley! Jetzt mach endlich auf!«
Schlurfen, das näher kam. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Nicht ganz saubere Brillengläser erschienen auf Höhe seiner Brust, und für einen Moment glaubte Henrik, dass es Titus wäre. War es nicht. Natürlich.
»Ja?«, fragte das Mädchen vorsichtig. Sie trug einen verwaschenen Kapuzenpulli. Viel mehr konnte Henrik nicht erkennen, bis auf die Tatsache, dass ihre Augen so limettengrün wie Nils' waren.
»Ich suche Nils. Das ist dein Bruder, oder?«
Sie nickte, öffnete die Tür aber kein Stück weiter.
»Was willst du von ihm?«, fragte sie.
»Wir sind Freunde«, log Henrik.
»Seid ihr nicht.« Was? Ihre hellen Augen musterten seine hochwertige Jacke und die Markenjeans. Die Stimme von vorhin ertönte wieder.
»Wer ist es?«, brüllte sie.