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Melinda Gauss

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Beschreibung

Die Reise geht weiter … Nach wie vor befinden sich Alina und Sepp auf der Suche nach Lanh, Alinas Vater, der sich in Gefangenschaft der Ukrith befindet – irgendwo in der fremden Welt Sarath-Menen, in welche die zwei Freunde unerwartet hineingezogen wurden. Währenddessen fährt der Graue König fort, sich das Land Stück für Stück untertan zu machen und in ein gefühlloses Chaos zu stürzen, indem er mittels schwarzer Magie ganze Völker in besessene Kampfmaschinen verwandelt. Die Zeit rückt heran, dass die Völker Sarath-Menens sich endlich wieder vereinen müssen, um der Dunkelheit Einhalt zu gebieten. Alina spürt, dass sie als Reisaren an diesem uralten Kampf beteiligt ist. Aber sie will alles andere als Krieg. Wie kann es gelingen, den Frieden in dieser wunderschönen, atemberaubenden Welt wiederherzustellen? Muss alles in Chaos enden? Worauf beziehen sich die Hinweise des geheimnisvollen Elben Yëvhan, der an eine andere Lösung glaubt?

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Melinda Gauss

Reisaren

Das Ungewisse

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

I. Ankunft in Niroft

 

Eine sanfte Brise wehte über das Meer und trieb die geisterhaften Schwaden des sich langsam auflösenden Morgennebels vor sich her. Leise rauschten die schwachen Wellen und schwappten gegen den Bug des großen Dreimasters. Im Osten glühte die Sonne wie ein roter Feuerball durch den Dunst und tauchte Wasser und Luft in flammende Farben, während sie Stück für Stück vom Horizont emporstieg und mit ihren Strahlen auch noch die letzten schlafenden Passagiere und Matrosen weckte.

Norgann und seine Mutter waren schon lange vor Sonnenaufgang erwacht. Sie waren noch viel zu aufgewühlt, um lange schlafen zu können. Drei Tage zuvor waren sie durch ganz Esgarough geirrt, auf der verzweifelten Suche nach irgendeinem Zeichen von Niathél, Norganns Geliebter. Sie hatten sich keine Ruhepause gegönnt, wenigstens der Junge nicht, und es hatte sich ausgezahlt – sie konnten am Ende ihrer Suche alle aufatmen. Aus ihren Umfragen in der Stadtbevölkerung hatten sie von einigen Verbündeten der Rebellen letztendlich erfahren, dass Niathéls Familie bis vor einer Woche tatsächlich noch in Sarath-Menens Hauptstadt geweilt hatte, dann aber waren sie offenbar mit einem Handelsschiff aufgebrochen, das offiziell nach Ystar im Süden fuhr, um dort verschiedene Güter abzuladen und zu verkaufen oder an Bord zu schaffen und nach Esgarough zu verschiffen. Doch Sulan, der Rebell, den Norgann und Yadwega kurz nach ihrer Ankunft in Esgarough kennengelernt hatten, hatte ihnen erklärt, was es mit einigen dieser Handelsschiffe in Wahrheit auf sich hatte. Sie segelten zwar nach Ystar, aber nahmen auf dem Weg dorthin heimlich Kurs auf Niroft, die bis jetzt noch von den Ukrith unbemerkte Stadt der Rebellen. Weder der König Valoreth noch die Ukrith wussten davon, dass jede Woche ein solches Schiff Flüchtlinge, Aufständische und Verfolgte als blinde Passagiere aufnahm und in die Rebellenstadt brachte. Natürlich war dies nicht ungefährlich für den Händler, der dieses Wagnis einging. Seine Arbeit, seine Familie und sein Leben – er konnte all das sehr bald verlieren, wenn eines Tages der neue König davon zu hören bekäme. Er war selbst einer der Widerstandskämpfer aus Niroft, und es war ein ungeheures Risiko, das er für die Freiheit Sarath-Menens auf sich nahm, daher war jeder ihm dankbar und bewunderte ihn für seinen Mut und seine Gerissenheit.

Norgann und Yadwega hatten ihn jedoch nicht persönlich kennengelernt, auch Sulan nicht, der zusammen mit ihnen und ein paar anderen Leuten heimlich am vorigen Abend an Bord des nächsten Schiffes nach Ystar gegangen war. Anscheinend legte der besagte Händler großen Wert darauf, unerkannt zu bleiben, und er tat gut daran.

Sulan hatte ihnen gesagt, sie könnten Gift darauf nehmen, dass Niathéls Familie nach Niroft übergesetzt war. Was hätten sie denn in den südlichen Städten Sarath-Menens gewollt? Außerdem waren sie keine Händler. Es war nur allzu wahrscheinlich, dass sie von der Rebellenstadt gewusst und sich dorthin in Sicherheit gebracht hatten. Sulan hatte also dafür gesorgt, dass auch Norgann und seine Mutter mit dem nächsten Schiff nach Niroft gelangen konnten. Er hatte ihnen ausgemalt, wie sehr sich ihr Leben dann zum Besseren verändern würde – und außerdem würden sie endlich offen über die Machenschaften der Ukrith sprechen können, ohne dafür verschleppt zu werden. Norgann und seine Mutter würden teilhaben können am Widerstand gegen den fragwürdigen König Valoreth und seine Unterdrückungsherrschaft. Fast täglich würden neue Informationen über die Aktivitäten der Grauen eintreffen und den Rebellen helfen, ihre Vorbereitungen zu treffen.

Norgann war erstaunt gewesen zu hören, dass die Rebellen schon bald ein Manöver gegen die Ukrith ausführen wollten – es war alles bereits geplant. Der Anführer der Rebellen wusste um die Festung in Inad; Spähern war es endlich gelungen, die ,Burg von Inadʻ ausfindig zu machen, als sie beobachten konnten, wie Gefangene der Ukrith abgeführt wurden. In Niroft arbeitete man eifrig daran, eine Heeresmacht von Freiheitskämpfern gegen die Grauen aufzustellen und zur Festung in Inad zu ziehen.

Norgann fragte sich jedoch ernsthaft, ob die Rebellen in dieser Hinsicht nicht sehr voreilig waren und dabei riskierten, die Ukrith zu unterschätzen. Hatten sich denn schon so viele in Niroft versammelt, dass sie es wagen konnten, dem neuen König Esgaroughs entgegenzutreten? Er konnte nicht glauben, dass sich innerhalb eines so kurzen Zeitraumes bereits eine solche Menge von Menschen von den Rebellen erfahren und sich ihnen angeschlossen hatte – und dann auch noch, ohne entdeckt zu werden! Doch Sulan hatte seine Bedenken zerstreut.

„Wenn wir nicht bald gegen den Feind vorgehen, wird er immer stärker und ist irgendwann gar nicht mehr aufzuhalten“, hatte er zu Norgann gesagt. „Wir müssen jetzt anfangen zu handeln und möglichst bald den Ukrith den Kampf ansagen!“ Norgann hatte sich nicht ganz überreden lassen. Er glaubte kaum, dass die verhältnismäßig kleine Schar von Rebellen eine Chance hatte, sich auf Dauer gegen die Ukrith zu behaupten.

Doch jetzt galten seine Gedanken einzig der geheimen Stadt selbst. Er strich sich die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht und spähte angestrengt in die Ferne. Sein Herz machte einen Sprung, als der Nebel sich lichtete und er die Türme der Stadt erblickte. Er war beeindruckt von ihrer Größe – er hätte nie gedacht, dass eine Stadt von solchem Ausmaß so lange von den Grauen unangetastet bleiben würde. Die Mauern waren beinahe so hoch wie die Esgaroughs, und als der Morgendunst sich in den Sonnenstrahlen endgültig verflüchtigte, konnte Norgann erkennen, das auch Niroft in mehrere Ringe gegliedert war, so wie alle Menschenstädte. Im Zentrum der Stadt ragte ein großer Felsen empor, auf dem eine kleine Burg thronte, und natürlich war auch der Hafen bereits zu sehen; mehrere große Schiffe, aber auch kleine Fischerboote lagen dort vor Anker.

Nun trennten nur noch wenige hundert Meter das Handelsschiff vom Anlegeplatz. Anweisungen an die Matrosen wurden über das Deck gerufen, und es wurde unruhig. Die Flüchtlinge aus Esgarough suchten ihre wenige Habe zusammen, die sie hatten mitnehmen können. Auch Norgann und Yadwega schulterten ihre Lederrucksäcke, die lediglich mit etwas Proviant und einigen Gebrauchsgegenständen gefüllt waren.

Norgann war furchtbar aufgeregt und wurde immer unruhiger. Er konnte es kaum erwarten, bis der große Dreimaster endlich im Hafen Nirofts angelegt hatte. Es roch nach nassem Holz, nach Brackwasser und auch nach Fisch, obwohl die Fischerboote auf der anderen Seite lagen. Zwei mächtige Handelsschiffe fielen besonders ins Blickfeld der Anreisenden. Ob das Schiffe des Königs waren?

Aber Norgann verwarf den Gedanken sofort, denn diese Schiffe trugen keine Flagge.

„Die sind aus Banauria“, erklärte Sulan, der sich zu den beiden gesellt und ihre forschenden Blicke bemerkt hatte. „Wir treiben viel Handel mit den Banauriern, denn auch die Sterninsel ist völlig unberührt von den Feinden geblieben. Außerdem kommen von dort ständig Neue zu uns, die sich uns anschließen wollen. Bis vor ein paar Monden kamen sogar noch Leute aus Ystar hierher, aber seit die Ukrith auch diese Stadt in ihren Fängen haben, hören wir keinen Laut des Widerstandes mehr von dort.“

Im Hafen tummelten sich eine Menge Menschen; Arbeiter, Fischer, Händler und viele andere gingen eifrig ihren Geschäften nach. Das dumpfe Brüllen von Lunarks und das Wiehern von Pferden und Darots erfüllte die Luft. Eine Schar Kinder am Kai beobachtete neugierig die Ankunft des Schiffes.

Endlich legten sie an. Alle sammelten sich an Deck und warteten, bis eine Rampe heruntergelassen wurde, über die sie an Land gehen konnten. Die Flüchtlinge schulterten ihr Gepäck und betraten voller Hoffnung den Boden der unbekannten Stadt.

Norgann und Yadwega folgten Sulan, der sie über das Hafengelände zu den Straßen führte. Sobald alle blinden Passagiere das Schiff aus Esgarough verlassen hatten, wurde die Rampe auch schon wieder eingezogen und der Anker eingeholt, und es setzte unverzüglich den Weg zu seinem eigentlichen Bestimmungsort Ystar fort.

Norgann sah dem Handelsschiff noch kurz hinterher und schaute sich dann um. Die Häuser in Niroft waren recht klein und nicht so regelmäßig angeordnet wie in der Hauptstadt Sarath-Menens, ansonsten aber unterschieden sie sich im Wesentlichen nicht von Gebäuden in anderen Städten. Sie waren genauso aus Stein erbaut wie in jeder anderen Menschenstadt und ihre Dächer waren mit Ziegeln gedeckt. Interessiert schaute Norgann zu dem großen Felsen im Zentrum der Stadt hinauf, der einen großen Teil seines Blickfeldes einnahm. Einen solchen Felsen hatte er noch nie gesehen – er war zerklüftet und ragte in abgerundeten, stufenartigen Gebilden steil auf. Manche der glatten, runden Formen muteten an wie steinerne Türme. An einigen Stellen wurzelten gekrümmte Bäume, denen man die Mühe ansah, mit der sie sich auf dem Gestein zu verankern versuchten. Die Burg, die auf dem Rücken des Felsens erbaut war, wirkte neben seiner Größe nur wie eine kleine Hütte. Dennoch war sie ein beeindruckendes Bauwerk, das dem Königspalast in Esgarough um nichts nachstand. Selbst von unten glaubte Norgann zu erkennen, dass die steinernen Mauern mit kunstvollen Gravuren übersät waren und dass verschiedene Steinfiguren über den hohen, spitzbögigen Fenstern hervorragten. Sogar der Burgfried trug eine Reihe solcher Figuren.

Während er sie die gepflasterten Straßen entlangführte, erzählte Sulan ihnen aus der Geschichte Nirofts.

„Diese Hafenstadt war, wie ich bereits sagte, schon immer autark und der König hatte keinen Einfluss auf sie. Handel betreiben wir, wenn überhaupt, schon immer nur mit Banauria und Ystar. Das ist auch einer der Gründe dafür, weshalb die Ukrith noch nicht groß auf uns aufmerksam geworden sind. Als die Menschen hier von den Machenschaften der Ukrith erfuhren, nachdem erste Flüchtlinge aus zerstörten Dörfern hierher gekommen waren, waren sie entsetzt von den Dingen, die außerhalb Nirofts ohne ihr Wissen vor sich gingen. Der Statthalter, der dort oben wohnt,“ – Sulan deutete auf die kleine Burg – „beschloss bald, etwas dagegen zu tun. So gründete er mit anderen bedeutenden Persönlichkeiten hier den Bund der Rebellen und rief die Bevölkerung Nirofts zum Widerstand auf. Es ist schon erstaunlich, dass alle Bürger dieser Stadt entschlossen einwilligten, bis auf einige Ausnahmen, die sich zu sehr vor den Ukrith fürchteten. Alle arbeiten seitdem unermüdlich am Aufbau einer Streitmacht gegen den Feind, und wie ihr seht, tragen unsere Bemühungen Früchte. Von überall her kommen Leute zu uns und stellen sich in unsere Reihen!“ Begeistert lachte er auf. „Bald werden wir es den Ukrith zeigen!“

So sehr Norgann Sulan gern glauben mochte, er konnte sich der Vorfreude nicht anschließen. Er hatte die Macht der Grauen am eigenen Leib erfahren müssen und die Spuren der Verwüstung und des Elends gesehen, die sie überall hinterlassen hatten, und er war sich nicht sicher, ob man so schnell und so leicht eine wirkungsvolle Armee gegen sie aufstellen konnte.

„Wo bringst du uns eigentlich hin?“, fragte Yadwega, die nicht verstehen konnte, wie Sulan in diesen verwinkelten Gassen und Straßen überhaupt noch wusste, wo er entlangging.

„Na, zu mir“, antwortete er strahlend. „Ihr sollt bei mir wohnen, bis ihr hier eine Arbeit gefunden habt und selbst Geld verdient, um euch eine eigene Unterkunft zu leisten. Das ist schon in Ordnung, wir haben ziemlich viel Platz und kein Problem damit, noch zwei Besucher aufzunehmen. Ihr werdet meine Frau kennenlernen, und meine beiden Kinder. Sie sind wirklich sehr liebenswert.“

Immer weiter führte er sie durch die verzweigten Straßen von Niroft, bis sie sich endlich vor einem kleinen, zweistöckigen und in einem zarten Grün angestrichenen Haus wiederfanden.

„Na, was sagt ihr dazu – ist doch ein schönes Heim, nicht?“, meinte er stolz.

„Gehört das Haus allein euch?“, fragte Norgann erstaunt.

Sulan nickte. „Ja, natürlich.“

„Dann müsst ihr ja ziemlich wohlhabend sein. Zumindest kann ich mir nicht denken, dass man in Esgarough ein solches Haus besitzen könnte, wenn man nicht eine ganze Summe mehr als ein einfacher Arbeiter oder Handwerker verdient“, meinte Yadwega.

„Hier in Niroft verdient jeder gut, das heißt aber auch, dass jeder hier hart dafür arbeitet. Es ist unsere Unabhängigkeit, die diesen Wohlstand zulässt“, entgegnete der Rebell mit fester Überzeugung und einer Spur von Stolz in seiner Stimme.

Dann öffnete er ihnen die Haustür. Innen war es hell erleuchtet, trotz der kleinen Fenster, und es schien geräumiger zu sein, als es von außen den Anschein hatte. Vier Türen gab es im Erdgeschoss, von denen zwei zu je einem Wohnzimmer führten. Im zweiten Stock konnte man noch drei andere Räume ausmachen; und auf dem Boden vermutete Norgann eine Abstellkammer. Die Wände waren ockerfarben bemalt, und es gab sogar Wandleuchter mit je zwei großen Kerzen. Von der Bauweise her erinnerte es ihn ein wenig an Magnevs Haus in Inad. Es war wirklich behaglich eingerichtet; in den Zimmern standen schöne alte Schränke aus dunklem Holz und andere Möbel, die sicher schon eine Generation lang gehalten hatten.

Über die Treppe aus dem zweiten Stock ertönte eine glockenhelle Stimme.

„Sulan? Bist du zurück?“

Einen Augenblick später kam eine etwas kräftige Frau mit wilden, schwarzen Locken in wehendem, roten Rock die Stufen herunter und blieb verwundert stehen, als sie die beiden Fremden sah.

Norgann hatte eine Frau wie sie noch nie gesehen. Sie hatte so tiefbraune Augen, dass sie beinahe schwarz waren, und ihre Haut hatte die Farbe frischer Erde. Er vermutete, dass sie sehr weit aus dem Süden stammte – er hatte von den fahrenden Händlern, die damals regelmäßig sein Heimatdorf Velok besuchten, irgendwann einmal gehört, dass Menschen und Elben aus diesen entfernten Landen dunklere Haut hatten als jene im Norden.

„Darf ich vorstellen?“, hob Sulan an. „Norgann und seine Mutter Yadwega. Sie sind nach der Zerstörung ihres Heimatdorfes Velok nach Esgarough geflohen und dort auf mich getroffen. Ich habe ihnen dann kurzerhand von den Rebellen erzählt und dass sie hier Zuflucht finden würden. Norgann, Yadwega, das ist meine Ehefrau Ombagwa. Ich hoffe doch, du hast nichts gegen zwei zusätzliche Familienmitglieder für die nächsten Wochen einzuwenden, oder?“

Einen Moment lang musterte Ombagwa die beiden Besucher eingehend, doch dann strahlte sie übers ganze Gesicht und lachte ihnen freundlich entgegen.

„Aber selbstverständlich dürfen sie hier bleiben; fürs Erste, versteht sich“, sagte sie und reichte Norgann und seiner Mutter zur Begrüßung eine dunkelhäutige Hand. „Seid gegrüßt in unserem Haus.“

In diesem Moment kamen zwei Kinder angelaufen und beäugten die Besucher neugierig, wobei sie sich jedoch etwas schüchtern hinter dem weiten Rock der Mutter versteckten. Das Mädchen hatte, wie die Mutter, eine dunkle Hautfarbe, wenn auch etwas heller, und kurze, schwarze Locken. Der Junge, der etwa zwei Jahre älter sein musste, hatte braune Augen, aber sehr helles Haar wie sein Vater.

„Und das sind meine Kinder, Tomal und Sigala“, fügte Sulan lächelnd hinzu. „Kommt, begrüßt unsere Gäste – ihr braucht keine Angst zu haben. Sie werden eine Weile lang bei uns wohnen.“

Zögerlich kamen die beiden hinter ihrer Mutter hervor und sagten leise Hallo. Norgann schaute sie so freundlich und offen an, wie er nur konnte, und die Kinder erwiderten schließlich scheu sein Lächeln.

„Wir danken Euch sehr für Eure Gastfreundschaft und hoffen, dass wir Euch keine Last sein werden und bald auf eigenen Beinen stehen können, um eine eigene Wohnung zu bezahlen“, sagte Yadwega.

Ombagwa winkte ab. „Ach was“, meinte sie. „Ihr macht uns keine Umstände. Übrigens können wir uns gerne duzen – mit meinem leichtlebigen Mann seid ihr ja immerhin schon vertraut genug. Kommt doch mit hoch, wir haben ein Gästezimmer, dort könnt ihr gerne einziehen.“

Sie folgten Sulans Frau hinauf in das Zimmer. Die Holztreppe knarrte leise bei jedem Schritt. Der Raum war gemütlich eingerichtet mit einem großen Kleiderschrank, einer Kommode und einem zweistöckigen Bett sowie einem kleinen, eckigen Tisch am Fenster. Auf dem Boden lag sogar ein Teppich, aus den dünnen, hellen Zweigen des Kunster geflochten, einer Strauchpflanze, die vornehmlich an sandigen Küsten wuchs.

„Es ist zwar eher selten, manchmal haben wir aber Gäste, meist Verwandte“, sagte Ombagwa. „Fühlt euch wie zu Hause. Ach du meine Güte – ihr habt doch kaum Sachen dabei! Habt ihr denn wenigstens ein paar Kleidungsstücke für euch mitgenommen?“

Yadwega schüttelte hilflos den Kopf. „Wir haben doch nichts mehr, seit unsere Heimat zerstört wurde. Unser Haus ist mit allem, was wir besaßen, bis auf den Grund abgebrannt. Und Geld hatten wir auch kaum noch gehabt, und das haben wir nur für das Wichtigste ausgegeben.“

Ombagwa seufzte und griff sich an den Kopf. „Hach, stimmt ja. Oje, was machen wir denn jetzt? Moment, ich habe eine Idee. Wartet hier kurz, und räumt derweil ruhig eure wenigen Sachen ein und macht es euch gemütlich.“

Und schon wehte sie durch die Tür und tappte mit schnellen Schritten hinunter ins Erdgeschoss. Schulterzuckend sahen sich Norgann und seine Mutter an und begannen, sich häuslich einzurichten. Der Raum war in der Tat viel zu groß für das bisschen, was sie von zu Hause hatten retten können. Sie hatten gerade ihre Sachen in die kleine Kommode geräumt, als Sulans Frau auch schon wieder angerauscht kam und in das Gästezimmer trat. In ihren Armen trug sie gleich einen ganzen Stapel sauberer, sorgsam zusammengelegter Kleidungsstücke, ging damit hinüber an den Kleiderschrank und legte sie hinein.

„So, die sind erstmal für euch, solange ihr euch noch nicht selbst Kleider kaufen könnt“, meinte sie nur.

„Aber – “, wollte Yadwega einwenden, „wir können doch nicht einfach …“

Doch Ombagwa schnitt ihr das Wort ab. „Natürlich könnt ihr! Und keine Widerrede. Ich möchte meine Gäste doch nicht bei solchen Zuständen hier wohnen lassen“, entgegnete sie lachend.

Norganns Mutter seufzte „Vielen, vielen Dank, gute Frau. Ihr seid zu freundlich, und ich weiß nicht, wie wir euch das jemals danken sollten.“

„Ich habe doch schon einmal gesagt, ihr könnt ruhig du zu mir sagen! Für euch bin ich einfach Omb“, wehrte Sulans Frau gutmütig ab. „So, und jetzt kommt mit hinunter in die Wohnstube. Ihr habt doch sicher noch nicht gefrühstückt!“

Ombagwa kümmerte sich liebevoll um ihre Besucher und war durch nichts aufzuhalten. Nachdem Yadwega dreimal dankend abgelehnt hatte, ließ sie sich schließlich zum Frühstück überreden, und sie setzten sich alle zusammen an den Tisch. Als Norgann das frische Brot, die gebratenen Eier und die saftigen roten Chamunfrüchte vor sich sah, bemerkte er erst, wie hungrig er eigentlich war. Er zögerte nicht lange, sich den Bauch vollzuschlagen und sich zu sättigen. Während sie aßen, sprachen sie gemeinsam darüber, wie das Leben hier ablief und wie es mit ihnen weitergehen sollte.

„Es gibt in Niroft keinen Einzigen, der keine Arbeit hat. Die meisten sind als Hafenarbeiter, Bauern oder Weber tätig, denn die ständig zuströmenden neuen Einwohner haben die Nachfrage nach Kleidung ziemlich in die Höhe getrieben“, erklärte Sulan. „Ich bin übrigens als Schreiber in der Bibliothek der Stadt tätig, und Ombagwa ist eine der besten Weberinnen in ganz Niroft.“

„Ihr habt eine Bibliothek?“, fragte Norgann erstaunt.

Sulan nickte. „Ja. Dort werden noch Schriften aus uralten Zeiten aufbewahrt und immer wieder neu abgeschrieben, damit sie nicht zerfallen und dann für immer verloren gehen. Das ist auch eine meiner vielen Aufgaben. Aber ich bin in meinem Beruf nicht unbedingt in einem höheren Rang als ein Arbeiter oder Bauer – die Rebellen haben den Gleichberechtigungssinn des alten, unabhängigen Niroft stets bewahrt. Bei uns lernen auch alle Kinder von ihren Eltern Lesen und Schreiben, was ja längst nicht in allen Städten und Dörfern Sarath-Menens der Fall ist.“ Er räusperte sich und fuhr fort. „Die Arbeitszeit beginnt für die meisten Berufe zur ersten Tagesstunde, und sie endet so zwischen der achten und neunten Tagesstunde. Die große Glocke im Mittelturm in Niroft läutet zu jeder Stunde, auch in den Nachtstunden. Jeder arbeitet hier hart und gibt alles für die Zukunft dieses Landes.“

„Und wo werden wir einen Beruf finden?“, wollte Yadwega wissen. „Geht das denn hier so einfach?“

Sulan überlegte und schaufelte währenddessen noch etwas von den gebratenen Eiern auf seinen Holzteller. „Hm. Also, ich kenne da ein paar Leute, die noch Unterstützung brauchen. Es gibt einen Schmied hier gleich in der Nähe, der einen Lehrling aufnehmen könnte; und ein enger Freund von mir, ein Schiffsbauer, sucht einen Mitarbeiter in der Werft; vielleicht sagt dir eine dieser beiden Stellen zu, Norgann. Ansonsten musst du dich halt umhören. Eine Kriegsausbildung bekommt zur Zeit sowieso jeder verfügbare Mann, wir nennen das Heeresschulung. Es findet jeden Tag für verschiedene Altersgruppen zu unterschiedlichen Tagesstunden statt und jeder Mann zwischen achtzehn und siebzig Jahren muss teilnehmen. Du kannst aber auch gleich zur festen Armee gehen, wenn du das möchtest.“

„Wieso gehen nicht alle zur festen Armee, wenn ihr doch unbedingt ein Heer aufstellen müsst?“

„Weil sonst die gesamte Wirtschaft zusammenbrechen würde“, erwiderte Sulan. „Jedenfalls, überleg es dir. Und du, Yadwega, kannst mit Ombagwa zu den Weberinnen gehen; dort werden stets helfende Hände gebraucht. Die Bezahlung ist meist nicht übel“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Norganns Mutter seufzte. „So fangen wir hier also nun ein neues Leben an“, meinte sie.

Ihr Sohn lächelte sie hoffnungsvoll an. „Ja, und es wird ein gutes Leben werden, wenn wir uns Mühe geben, da bin ich zuversichtlich.“

Doch insgeheim musste er an Niathél denken. Wenn sie irgendwo in Niroft mit ihrer Familie lebte, würde er hier glücklich sein. Er nahm sich vor, gleich nach dem Frühstück nach ihr zu suchen, noch bevor er nach Arbeit suchte. Sein Herz schlug wild, als er sich darüber im Klaren wurde, dass es in dieser Stadt endlich ein Wiedersehen mit seiner Geliebten geben würde.

 

 

II. Über das Meer

Ruhig floss der Strom des Unbrinnen dahin und trieb das Elbenboot langsam voran. Der sanfte Wind kräuselte das Wasser, und im Zusammenspiel mit den hellen Strahlen der Sonne, die dann und wann hinter den Wolken hervorbrach, warfen die leichten Wellen unzählige Reflexionen hervor. Manchmal schien es, als würde der Fluss selbst leuchten und glitzern. Sein Wasser war von klarem Dunkelgrün und in der Mitte des Stromes sehr tief. Wenn man doch einmal bis auf den Grund sehen konnte, erblickte man zahllose glatte, rund gewaschene Steine und langes, grünes Flussgras, das sich in der Strömung sacht bewegte wie Haar im Wind. In Ufernähe dagegen hatte die eisige Kälte das Wasser teilweise zu Eisschollen erstarren lassen.

Zu beiden Seiten des Unbrinnen erstreckte sich in einiger Entfernung vom Ufer der Ceronforst mit seinen uralten, großen Bäumen, zwischen deren Stämmen fast nie ein Elb, geschweige denn ein Mensch, anzutreffen war. Dennoch war er voller Leben, das sich nun aber, zu Beginn des Winters, in einem Ruhezustand befand. Die meisten Vögel waren schon längst in südlichere Gefilde gezogen, und größere Tiere kamen entweder selten aus ihren Verstecken hervor oder hielten bereits Winterschlaf. Es war in den letzten Tagen stechend kalt geworden, eine Schneeschicht bedeckte alles und drückte das hohe Gras nieder, das zwischen dem Fluss und dem Wald wuchs. Zu Beginn ihrer Reise hatte der Ceron sie noch von allen Seiten undurchdringlich umschlossen, doch je weiter sie flussabwärts vorankamen, desto ausgedehnter wurden die Wiesen an den Seiten des Unbrinnen.

Alinas Atem gefror in der Luft. Sie hatte sich sich eng in ihren Wollmantel geschlungen, die Kapuze über ihr langes, fast schwarzes Haar gezogen und die dicken Fellhandschuhe übergestülpt, die sie in Fortass, der Hauptstadt der Elben, für ihren weiteren Weg bekommen hatten. Auch Giuseppe, Yakov und Marianne waren in ihre warmen Sachen eingepackt, um nicht zu frieren. Nur Lyrani schien die Kälte nicht das Geringste auszumachen. Der Feenidin war seit dem Herbst ein dichtes Winterfell gewachsen, das sie nun optimal vor den niedrigen Temperaturen schützte; selbst ihre fledermausartigen Flügel waren nun mit einem wärmenden Saum überzogen. Xarafeng und Crynageadh kreisten hoch über ihnen und begleiteten sie die ganze Zeit über. Die Greifin und der Drache brauchten ebenfalls keinerlei zusätzlichen Schutz. Greife von Xarafengs Art lebten von Natur aus in nördlicheren Gebieten, ausgestattet mit einem dichten Federkleid, und ein Kurunn wie Cryn war das raue Gebirgsklima gewohnt – somit war für ihn selbst der härteste Winter im Tiefland auszuhalten.

Bald würden sie die Stadt Tugile erreichen, eine kleine elbische Hafenstadt an der Küste. Von dort aus würden sie dann mit dem Schiff weiterfahren, das auf Befehl des Elbenkönigs Bendas dort bereitgestellt wurde. Der Handel zwischen den beiden Städten Saran und Tugile war für die Elben auf dem Landweg einfach zu umständlich, da alles dicht bewaldet war. Es war einfacher, größere Waren per Schiff zu transportieren, daher lief der Verkehr über den Ozean. Im Grunde trieben die Elben nur sehr wenig Handel untereinander, denn in der Umgebung ihrer Städte fand sich für sie alles, was sie zum Leben brauchten. Für Reisende aber war es nun gefährlich geworden, von Tugile aus nach Saran zu kommen, weil es wahrscheinlich war, dass die Ukrith trotz ihrer Niederlage nicht länger im Verborgenen bleiben würden. Deshalb hatte König Bendas kurzerhand eine Schiffslinie einrichten lassen, die täglich zwischen den beiden Städten hin und her verlief. Die erste Fahrt würde noch heute stattfinden.

Das traf sich für die sieben Reisenden ganz gut, da sie vorhatten, von Westen an Corthages Turm heranzukommen, und nicht direkt von Fortass aus, wie die Ukrith es erwarteten. Da die Grauen sich vor dem Ozean fürchteten, hielten sie sich nach Kräften möglichst fern vom Meer und konnten so noch nichts davon wissen, dass die Elben neuerdings regelmäßig auf dem Seeweg Handel trieben und reisten. Ihre geheime Befreiungsaktion war somit nicht gefährdet.

Die meiste Zeit ihrer Reise verlief schweigsam. Zwei hellhaarige Elben, die sich als Nangor und Irand vorgestellt hatten, waren als Begleiter und Steuermänner mitgekommen. Sie lenkten das schmale Kanu geschickt mit ihren langen Paddeln und trieben es schnell voran. Auch sie redeten nicht viel – offensichtlich waren alle Elben von Natur aus eher wenig beredt. Dafür waren sie sehr aufmerksame Beobachter und Zuhörer. Mit wachsamen Blicken suchten sie die Umgebung ab und achteten auf jedes noch so kleine Geräusch, das zu hören war. Selbst wenn nur ein Reh oder ein Hase aus dem Unterholz hervorbrach, oder ein Wasservogel aufflog, der sich von ihnen gestört fühlte, schien sie das schon zu beunruhigen. Die Erkenntnis, dass sich schon seit Jahren die Ukrith in diesem Gebiet herumtrieben, ohne dass ihr Volk es bemerkt hatte, verunsicherte die Elben sehr und so waren sie nun ständig auf der Hut.

Alina störte es nicht, dass keiner sprach. Sie hatte so viele Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen, dass ihr die Ruhe sehr gelegen kam. Sie musste die ganze Zeit vor allem über die Worte des Ukrith-Magiers nachdenken, der sie während der Schlacht von Fortass angegriffen hatte. Ob er sie nicht vielleicht doch angelogen hatte, als er von Corthages Turm gesprochen hatte und davon, dass ihr Vater dort gefangen sein sollte? Und wie viel Macht mochte der König der Ukrith haben, wenn schon ein gewöhnlicher Magier der Grauen so stark war? Sie hatte Yakov schon darauf angesprochen, aber er hatte bloß gemeint, dass dieser Magier, der sie angegriffen hatte, nicht gewöhnlich gewesen sei. Auf ihre Frage, was genau er damit meinte, hatte er nicht geantwortet. Offensichtlich wusste Yakov mehr darüber, als er zugeben wollte.

Es beschäftigte Alina unablässig, wie der Ukrith dazu imstande gewesen war, sich in einen Raben zu verwandeln. Konnten das nicht nur Reisaren? Doch er konnte ja kein Weltenwanderer sein, denn sonst hätten die Ukrith es überhaupt nicht mehr nötig, ihnen nachzustellen.

Wer oder was war er dann?

Nachdenklich starrte sie auf das Wasser. Sie blinzelte, als sie plötzlich erkennen konnte, dass in der Ferne das Land zu beiden Seiten abrupt endete und sich am Ende des Flusses eine weite Fläche ausbreitete. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass dies das Meer sein musste. Jetzt erst fiel ihr der Geruch von Salzwasser auf, der ihnen entgegen wehte.

„Gleich werden wir Tugile erreichen“, sagte Irand und deutete in Richtung der großen Wasserfläche.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte Giuseppe nach vorne. „Stehen dort eure Häuser auch zwischen den Bäumen?“, fragte er.

Der schmalgesichtige Elb lächelte. „Merk dir eines: unser Volk würde nie mehr Bäume fällen oder Wiesen dem Erdboden gleichmachen, als unbedingt nötig. In Tugile winden sich unsere Bauten auch durch den Küstenwald hindurch, ohne ihn zu zerstören. Jede unserer Städte sieht so aus. Wir sind nicht wie die Menschen, die Bäume abhauen und den Boden einstampfen, um dann protzende Steinbauten darauf zu stellen.“ Als er Giuseppes Stirnrunzeln sah, fügte er hinzu: „Ihr braucht euch nicht beleidigt zu fühlen – ich weiß durchaus, dass nicht alle Menschen so leben, nur jene in größeren Städten. Im Süden soll es ja sogar Völker geben, die als Nomaden im Wald leben. Das berichten jedenfalls Reisende, die sich in dieses fremdartige, unbekannte Land vorgewagt haben. Doch genug des Geredes! Wir sind gleich da.“

Schon bevor sie den Anlegeplatz nahe der Küste erreichten, kamen die Behausungen der Elben in Sicht. Ähnlich wie in Fortass waren sie aus Holz und schienen direkt aus dem Boden hervorgewachsen zu sein, sie waren von Ranken überwuchert und muteten an wie echte Pflanzen – es waren ja im Prinzip sogar Pflanzen, wie Alina einfiel, denn die Elben ließen einige Bäume mit magischer Hilfe so wachsen, dass sie ihre gewünschte Form annahmen. Viele standen nah am Wasser und hatten eine eigene kleine Anlegestelle mit einem oder mehreren Kanus.

Nangor und Irand steuerten das Boot mit ihren kurzen Paddeln zu einer Art Nebenhafen am Fluss, von dem aus man den Haupthafen mit den größeren Schiffen sehen konnte, der direkt am Meer lag. Es war ihnen ein Leichtes, mit dem Kanu anzulegen, denn hier an der Mündung floss der Unbrinnen sehr langsam. Alina fiel auf, dass der Strom sich hier, wo er ins Meer überging, in einem leichten Türkis färbte. Große Möwen mit schiefergrauem und weißem Gefieder kreisten über dem Wasser und ihre hellen, lachenden Rufe waren weit hörbar.

Für eine Elbenstadt war Tugile auffallend belebt, obwohl hier keinesfalls eine solche hektische Geschäftigkeit herrschte wie in den großen Städten der Menschen. Die Elben schienen zwar zielorientiert, aber auch ruhig ihren täglichen Arbeiten nachzugehen. Sie warfen den Reisenden abschätzende, jedoch freundliche Blicke zu.

Ohne weitere Umwege geleiteten ihre Begleiter sie zum Haupthafen, wo schon das Schiff wartete, dass nach Saran fuhr. Es gab keine Notwendigkeit für sie, in der Stadt noch Proviant und andere Dinge zu besorgen, denn sie hatten von König Bendas für den Weg nach Saran mehr als genug Wegzehrung und andere Ausstattung erhalten, die sie in ausreichend großen und dennoch leichten Rucksäcken mit sich trugen. Außerdem wollten sie nicht unnötig verweilen, und es sollte alles möglichst schnell vonstatten gehen.

Alina bemerkte, dass sie nicht die einzigen Reisenden waren, die zum Hafen strömten. Einige Elben wollten ebenfalls nach Saran aufbrechen, und es gab auch einige Handelswaren, die auf das Schiff verladen wurden. Auch wenn es kein sehr großes Schiff war, bot es doch genug Platz für alle. Es war verhältnismäßig flach, mit zwei hohen Masten, deren Rahen weite Segel aus hellem Stoff aufspannten. Wie die Häuser der Elben war es auf magische Weise aus widerstandsfähigem, hellem Kohreholz erschaffen worden; allerdings mit dem Unterschied, dass dieses Holz natürlich nicht mehr zu einem lebendigen Baum gehörte, da dieser auf dem Wasser wohl kaum Wurzeln hätte schlagen können.

Sie suchten sich einen Platz auf dem Deck und legten ihre Sachen ab. Alina warf einen flüchtigen Blick über den Rand auf das Meer. Es war wenig Wellengang und das Schiff schwankte nur kaum merklich auf dem Wasser, doch Alina war noch nie mit einem Schiff auf hoher See gewesen und fragte sich besorgt, ob sie bei stärkerem Wind und höheren Wellen vielleicht seekrank würde. Sie sah in den nahezu wolkenlosen Himmel hinauf und entdeckte in der Ferne über dem Ceron-Forst Xarafeng und Crynageadh, die in beträchtlichem Abstand ihre Kreise zogen.

„Wann fährt das Schiff ab?“, fragte sie ihre Mutter.

Ann zuckte die Schultern. „Ich vermute mal, wenn alle da sind, die mitwollen. Ich weiß nicht genau, wie das hier abläuft.“

Nangor wusste Antwort. „Das Transportschiff nach Saran fährt zur fünften Tagesstunde ab. Es wird bei günstiger Wetterlage ungefähr zwei Tage dauern, bis ihr da seid. Wenn die Winde nicht mitspielen, könnte es auch vier oder fünf Tage dauern, oder noch länger.“

Sepp warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „So ein Unterschied? Aber ihr habt doch Magie und alles – könnt ihr da so etwas nicht verhindern?“

Der Elb sah ihn schräg an. „Magie hat auch ihre Grenzen. Ohne Magie würde es sowieso länger dauern. Und unsere Schiffe sind schon die schnellsten, die du in ganz Sarath-Menen findest. Wenn ihr vorhabt, auf unbemerktem Weg an die Ukrith heranzukommen, könnt ihr das nur über das Wasser tun. Überdies müssen wir nun Abschied nehmen, denn wir beide werden nun nach Fortass zurückkehren. Wir wünschen euch eine gute Reise und Erfolg bei eurem Vorhaben. Thûn evos Aikalon.“

Dieser Abschied kam sehr plötzlich; obwohl die beiden ihnen schon zu Beginn der Reise gesagt hatten, dass sie sie nur bis nach Tugile begleiten würden. Aber das schien eben ihre Art zu sein – sie sagten nie viel mehr als nötig und waren zuweilen ein wenig seltsam. Sie wünschten den beiden alles Gute, und Yakov sprach seinen Dank an sie und ihren großzügigen König aus.

„Die Reisaren sind uns stets willkommen gewesen und daran ändert sich auch nichts“, bemerkte Irand. „Und angesichts des großen Dienstes, den ihr uns erwiesen habt, indem ihr uns vor den Ukrith gewarnt habt und uns in der Schlacht beigestanden habt, weiß Galdor Bendas euch noch mehr zu schätzen.“

Mit einem letzten Lebewohl wandten sie sich ab und verließen das Schiff, das in Kürze aus dem Hafen auslaufen würde.

Giuseppe sah ihnen noch einen Augenblick nach und blickte dann kopfschüttelnd und mit verschränkten Armen auf das Wasser. „Zwei bis vier Tage, oder noch länger! Wir haben doch mit der Reise bis hier schon fast vier Tage gebraucht. Was in der Zeit wieder alles passieren kann …“

Yakov seufzte. „Ich habe euch doch gesagt, dass es etwas länger dauern wird. Und jetzt beschwert euch nicht weiter, es geht schon gleich los. Unser Plan ist gut, und nur so funktioniert er. Kommt, wir sollten die Sachen jetzt in unsere Kajüte schaffen; die anderen dürfen auch gerade hineingehen.“

Alina sah hinüber zu der Holztür, die in den Bauch des Schiffes führte. Sie war eben erst für die Passagiere geöffnet worden, nachdem alle Fracht verladen war. Sie hoben ihr Gepäck auf und strömten mit den anderen Reisenden durch den Eingang unter Deck zu den Kajüten. Die Kabinen waren zwar recht eng, aber komfortabel eingerichtet. Jeder hatte eine eigene Hängematte, in der er schlafen konnte – sie hingen übereinander; anders wäre kein Platz mehr gewesen für den kleinen, reich verzierten Schrank und sogar einen rundlichen Tisch mit zwei flachen Bänken, alles aus dem hellen Holz von Kohren geschaffen. Trotz des Platzmangels fand Alina es ziemlich gemütlich. Durch ein Bullauge, das wie alle Fenster bei den Elben nicht verglast, sondern mit einem magischen Schild versehen war, drang etwas Licht in die Kabine und man konnte nach draußen auf das wogende Meer blicken.

„Hier wohnen wir nun also für die nächsten paar Tage“, stellte Ann fest und sah sich musternd um. „Ich hoffe, von euch ist niemand für Seekrankheit anfällig.“

„Und wenn doch, dann schläft derjenige bitte ganz unten. Ich habe keine Lust, in der Sauerei von irgendjemandem aufzuwachen“, fügte Sepp hinzu.

Sie verstauten ihre Sachen und richteten sich alles nach Belieben ein. Dann zog Alina Sepp wieder mit auf das Deck. „Komm, ich will dabei sein, wenn das Schiff losfährt!“

Sie stellten sich an den Rand, von wo aus sie die Elbenstadt und ihren Hafen überblicken konnten. Allerdings waren die eigentümlichen Gebäude der Elben zum Großteil von den ausladenden Baumkronen verdeckt und man hatte nur auf den Bezirk, der nahe am Strand lag, freie Sicht. Zwischen der eigentlichen Stadt und dem Hafen war noch eine kurze Entfernung, die durch lange Stege und Brücken überwunden wurde. Neben ihnen lagen noch zwei andere größere Schiffe vor Anker; ein weiterer Zweimaster sowie ein schlanker Segler. Und dann gab es noch zahlreiche Fischerboote; die Elben an der Küste lebten zu einem überwiegenden Teil von Fischen und Meeresfrüchten, anders als die Waldelben, die eher auf pflanzliche Nahrung zurückgriffen und ab und zu auch jagten. So jedenfalls hatte Yakov es erklärt.

Bald legte das Schiff ab. Der Anker war eingeholt und die Taue losgemacht, die Segel wurden gesetzt. Langsam setzte sich der flache Rumpf des Zweimasters in Bewegung. Der Wind wehte sehr günstig und somit bedurfte es der Magier nicht, die die Aufgabe hatten, bei einer Flaute mithilfe von Magie einen Luftstrom zu erzeugen, der die Segel blähte. So aber glitt das Schiff immer schneller über das Wasser, ganz allein angetrieben von der natürlichen Kraft der Elemente. Der Hafen von Tugile entfernte sich langsam; einige wenige Angehörige anderer Reisender standen am Kai und hoben zum Abschied die Hand.

Alina eilte mit Sepp zum Bug des Schiffes. Sie sahen, dass sie sich in einer Bucht befanden; die Wasserfläche um sie herum war von einem flachen Landstreifen umrahmt, und vor ihnen lag zwischen Ausläufern des Festlandes, die zu niedrigen Steilküsten anstiegen, die Meerenge, die auf den offenen Ozean führte.

„Ich war vorher noch nie auf einem Schiff gewesen“, bemerkte Alina, während sie den wunderbaren Ausblick genoss. „Zumindest nicht auf dem Meer, nur auf größeren Seen.“

„Nicht?“ Sepp grinste. „Und, fühlst du dich schon seekrank?“

Alina lachte. „Ach, Quatsch.“

Bald hatten sie die Bucht verlassen und das Schiff wandte sich gen Norden, wobei es immer nahe an der Küste blieb. Das Wetter war herrlich. Bald hatten sich auch die letzten Wolken aufgelöst, über ihnen erstreckte sich das Blau des Himmels und unter ihnen das Blaugrün des Ozeans. Nur weit im Westen über dem offenen Wasser türmten sich große Wolkenberge auf und muteten an wie gigantische, weiße Himmelsfestungen. Der Wind nahm zu und trieb sie schnell voran.

Alina blieb auf Deck und beobachtete die großen Seevögel, die sich von der gerade noch als dünnen Streifen erkennbaren Küste entfernten und ein Stück aufs offene Wasser hinausflogen, um dort Beute zu machen. Das Wasser war so klar, dass man von Zeit zu Zeit Fische sehen konnte, die sich in einigem Abstand vom Schiff der Elben entfernt hielten. Auf einmal sah Alina zu ihrem Erstaunen, wie ein großer, blaugrauer Rücken das Wasser teilte; eine hohe Fontäne schoss aus zwei Löchern auf der Oberseite dessen hervor, was der Kopf des Wesens zu sein schien, das dort aus dem Meer auftauchte. Sie wollte Sepp holen, der gerade auf der anderen Seite des Decks mit Lyrani und Ann ins Gespräch vertieft war; doch schon tauchte der riesige Wal wieder ab und zeigte dabei seine gewaltige, breite Schwanzflosse, die auf der Unterseite weiß zu leuchten schien.

„Oh, ein Südwal“, sagte eine Stimme neben ihr.

Alina sah hinüber und erblickte einen hochgewachsenen Elben mit hellem Haar und schmalem Gesicht. Er lächelte ihr zu. Auch er schien ein Reisender zu sein, und Alina erinnerte sich daran, ihn auf dem Hafen gesehen zu haben.

„Ich, ähm … habe noch nie einen Wal gesehen“, meinte sie.

Der Elb nickte nur. „Hier an der Küste sieht man sie recht selten, sie sind weiter draußen auf Fischfang. Ich war vor vielen Jahren einmal mit einem Schiff von der Sterninsel auf dem Weg hierher, da konnte man sogar eine ganze Herde sehen, mit ihren Jungtieren. Diese Tiere sind sehr eindrucksvoll.“

Für einen seines eher schweigsamen Volkes sprach er ungewöhnlich viel, fand Alina. Sie nickte nur lächelnd und wusste nicht, was sie sagen sollte.

„Ich sehe nur äußerst selten Menschen auf diesem Schiff“, fuhr er fort und kam somit auf das Thema zu sprechen, auf das er offenbar hinauswollte. „Aber einen Feeniden habe ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen.“

Alina folgte seinem Blick zu Lyrani, die immer noch mit Ann und Sepp auf der anderen Seite war.

„Sie reist mit uns. Als wir auf unserem Weg durch das Feenidenreich kamen, schloss sie sich uns an.“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, fragte sie sich ernsthaft, ob sie das vielleicht lieber für sich hätte behalten sollen.

„So? Das wundert mich“, entgegnete der Elb. „Das letzte, was ich von den Feeniden gehört habe, war, dass sie sich an einen Ort zurückgezogen haben, der so gut versteckt ist, dass selbst die Ukrith sie nur schwer finden können; und das war vor mindestens fünf Jahren. Tja, und dann kommt diese Feenidin gerade mit Euch?“

Alina wand sich unschlüssig. „Na ja, also …“

Doch zu ihrer Erleichterung winkte der Elb ab. „Ach, lasst nur. Ihr habt sicher Eure eigenen Gründe und Angelegenheiten. Entschuldigt bitte, ich wollte nicht neugierig sein. Ich habe mich nur gefreut, dass auch ihr Volk sich wieder hervorwagt. Kommt Ihr aus Fortass?“

Alina nickte wieder.

„Der Landweg nach Saran war Euch sicher auch zu gefährlich, wegen der Ukrith, oder?“

„Ja, das stimmt“, antwortete sie.

„Es ist schon beunruhigend, was sie alles eingenommen haben, die Ukrith. Aber ich schätze, wir Elben werden dem Grauen König standhalten können.“ In seiner Stimme bahnte sich etwas Überhebliches an, und das gefiel Alina nicht.

„Aber fast ganz Sarath-Menen ist schon von den Ukrith besetzt“, gab sie zu bedenken. „Wir waren südlich der Sortes-Berge, so gut wie alle Städte und Dörfer sind von ihnen zerstört oder gewaltsam unterworfen worden!“

Der Elb sah sie kühl an. „Das wissen wir. Man unterstellt uns zwar, dass wir uns einfach von der Außenwelt zurückgezogen haben und uns nur noch um uns gekümmert haben. Doch im Gegensatz zu Fortass hatten wir in Tugile durch die Schifffahrt noch eine winzige Verbindung zur Außenwelt. Die Grauen haben sich doch überall ausgebreitet, selbst die Hauptstadt ist mittlerweile unter ihrem Einfluss; der neue König persönlich scheint mit ihnen unter einer Decke zu stecken.“

Alinas Hände verkrampften sich unwillkürlich. Das hatte sogar sie noch nicht gewusst. „Der alte König ist nun also gestorben?“, fragte sie und erinnerte sich an das, was sie von Callia, Magnev und Norgann gehört hatte.

„Schon vor einer ganzen Weile“, sagte der Elb. „Nicht gerade auf dem neuesten Stand, was?“

Alina mochte seine Art überhaupt nicht. Aber das, was er sagte, gab ihr zu denken. In den letzten Tagen war so viel passiert, sie hatten seit ihrem Aufbruch von Callias Hütte nichts mehr darüber erfahren, was im südlicheren Teil dieser Welt vor sich ging. Plötzlich überkam sie Besorgnis – wie es Norgann und seiner Mutter wohl bisher ergangen war?

„Aber es soll einige Menschen geben, die sich gegen die Ukrith und den neuen König Esgaroughs zur Wehr setzen“, erklärte der Elb weiter. „Sie haben sich zusammengeschlossen, und von der Sterninsel – mit der wir übrigens noch ein wenig in Kontakt stehen – und aus vielen zerstörten oder eroberten Gebieten kommen immer mehr Menschen, die sich ihnen anschließen. Man nennt sie die Rebellen.“

Fragend blickte sie ihn an. „Rebellen?“

„Genau. Und es ist scheinbar nur noch eine Frage der Zeit, bis sie sich offen gegen die neue Weltordnung stellen.“

„Entschuldigt, wenn ich mich einmische, aber – wie lange gibt es diese Rebellen schon?“

Alina drehte sich um und sah Yakov, der nicht weit entfernt von ihnen stand und die letzten Worte des Elben aufgeschnappt hatte.

„Nun,“ entgegnete der Elb, „es gibt sie schon seit längerer Zeit, aber erst seit kurzem dringen Gerüchte über sie an die Außenwelt.“

Yakov war sichtlich erstaunt über diese Neuigkeit. „Das wusste ich auch noch nicht“, sagte er. „Tut mir leid, es war unhöflich von mir, mich einzumischen.“

Der Elb schüttelte den Kopf. „Es macht nichts. Ich bin allein unterwegs und freue mich, wenn ich ein paar Leute kennenlerne.“ Er seufzte. „Ich hoffe, dass Fortass nach der Schlacht eine neue Armee aufstellen kann. Zwei Gesandte aus Fortass kamen heute in Tugile an, und sie verbreiteten überall die Nachricht, dass die Elben sich zum Kampf rüsten werden und gegen die Ukrith ziehen wollen. Ich weiß nicht, ob Ihr das schon mitbekommen habt; die Nachricht ging erst herum, kurz bevor das Schiff ablegte. Soviel ich weiß, war ihr Auftrag, alle Elbenstädte von der kürzlichen Schlacht zu unterrichten und ihnen die Botschaft Galdor Bendas' zu überbringen. Er ruft alle zur Schlacht. Fliegende Boten wurden zu allen Elbenstädten ausgesandt, die die Nachricht ebenfalls verbreiten.“

Yakov kratzte sich gedankenverloren am Kinn. „So schnell geht das plötzlich“, meinte er leise zu Alina. „Erst kommen die Elben für Jahrhunderte nicht aus dem Knick und dann passiert alles von heute auf morgen.“

Der Elb hatte Yakov offensichtlich nicht verstanden, hielt sich aber höflich zurück und tat so, als hätte er nicht bemerkt, wie er sich leise mit Alina unterhielt. „Es ist an der Zeit, dass wir die Ukrith für immer niederschlagen“, fuhr er fort. „Wir müssen sie vernichten.“

Yakov hob die Brauen. „Vernichten? Das klingt sehr … na ja. Nicht gut, jedenfalls“, meinte er nachdenklich.

„Nicht gut, sagt Ihr?“ Die Augen des Elben verengten sich. „Sicher ist Krieg nichts Schönes, doch wie sonst sollte man die Ukrith auslöschen? Nennt mir einen anderen Weg, gegen sie anzukommen, als mit Heeren und Waffen!“

Was der Elb sagte, gefiel Alina gar nicht. Im Grunde schien er recht zu haben, doch irgendwie wurde er ihr zunehmend unsympathisch. Sie hatte gedacht, dass gerade die Elben Kriege verabscheuen würden und alles taten, um einem vermeidbaren Kampf aus dem Weg zu gehen. Die Erinnerung an die Verwundeten nach der Schlacht war ihr noch zu gut ins Gedächtnis eingegraben.

„Es muss einen Weg geben“, meinte Yakov. „Ob er für uns umsetzbar ist, ist die andere Sache.“

Der Elb schnaubte. „Pah! Und was nützt uns das? Ich gebe dem recht, der sagt, wir Elben hätten uns zu lange zurückgehalten und nicht für den Rest Sarath-Menens interessiert. Doch jetzt schreiten wir zur Tat! Wir müssen diese Ukrith ein für allemal auslöschen; sie sind eine Schande für diese Welt!“

„Solche Worte sind nicht weit entfernt von denen der Grauen selbst“, kommentierte jemand.

Sie drehten sich um. Aus dem Hintergrund trat ein weiterer Elb heran und gesellte sich zu ihnen. Er schien etwas jünger als der andere zu sein – wobei man das bei diesem Volk nie so recht sagen konnte – und war gekleidet in eine schlichte, blaugrüne Tunika. Sein dunkles Haar wallte im Wind. Ein seltsames Gefühl beschlich Alina plötzlich, als sie ihn erblickte, doch sie wusste es nicht zu deuten.

„Was soll das heißen?“, blaffte der andere Elb verärgert. „Und wer seid Ihr überhaupt?“

Alina sah verwirrt zwischen den beiden hin und her, unsicher, worauf das Ganze hinauslaufen würde.

„Mein Name ist Yëvhan, und ich bedaure, sagen zu müssen, dass die Denkweise der Grauen nicht verwunderlich ist, wenn bereits die Elben in solcher Art und Weise sprechen.“

Irgendetwas an dieser Aussage war für den anderen Elben offenbar dermaßen schlimm, dass er beinahe die Fassung verlor. Er tat einen Schritt auf Yëvhan zu, ballte die Fäuste und schien sich nur schwer davon abhalten zu können, ihn anzuschreien. „Seid Ihr denn selbst kein Elb, dass Ihr so herablassend über euer eigenes Volk sprecht?“, fragte er mit wenig überzeugender Höflichkeit, die seinen aufwallenden Zorn überdecken sollte.

Yëvhan jedoch ließ sich von seiner Wut nicht beeindrucken. „Selbstverständlich bin ich ein Elb. Und ich spreche keineswegs herablassend über mein Volk, nur kann ich leider die Wahrheit nicht leugnen.“

Alina warf Yakov einen Seitenblick zu; sie versuchte an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, ob er verstand, worüber die beiden sprachen. Doch seine Miene war unergründlich, nur eine leichte Besorgnis zeichnete sich in seine Zügen ab.

„Es war doch nicht unsere Schuld!“, stieß der andere Elb hervor und machte noch einen Schritt nach vorn.

„Wer redet denn von Schuld? Die Dinge hatten einen traurigen Weg eingeschlagen. Es geht hier doch nicht um Schuld und Unschuld. Aber unser Volk hätte vieles verhindern können, wenn es sich nicht all die Jahre versteckt hätte.“

Der Elb starrte Yëvhan an; er wirkte schockiert und zuckte zurück, als hätte jemand ihn bedroht. Er schien sich auf etwas zu besinnen und sah weg. Nach einem Moment der Stille holte er tief Luft und blickte Yëvhan an. „Es ist … ich meine, ich … hatte das nicht so gemeint“, begann er zögerlich und seine Stimme klang plötzlich ganz anders. „Aber … was sonst sollte man gegen die Ukrith tun? Dieser ewige Kampf gegen die Ukrith muss enden!“

„Da stimme ich Euch in jedem Falle zu. Es ist Zeit für den Frieden. Und Frieden wird nicht lange bestehen können, wenn Blut und Mord die Streitenden zuletzt getrennt hat.“

Der Elb verharrte einen Augenblick, dann nickte er bloß. Er wandte sich ohne ein weiteres Wort um, ging über Deck und verschwand in der Tür, die zu den Kajüten führte.

Irritiert sah Alina ihm hinterher. „Was war das denn jetzt?“

Yakov seufzte. „Tja, die Elben sind meistens nicht so gut auf ihre Vergangenheit zu sprechen. Was nicht allzu verwunderlich ist“, meinte er. „Dennoch habt Ihr die Situation scheinbar erkannt, Yëvhan.“

Yëvhan lächelte. „Am wichtigsten ist es, dass unser König die Lage erfasst. Und dank Euch hat er das auch kürzlich.“

Nun machte selbst Yakov einen verwunderten Eindruck. „Entschuldigt, aber – woher wisst Ihr, dass wir …“ Er brach ab.

„Woher ich weiß, dass Ihr die Reisaren seid, die Galdor Bendas von der Bedrohung durch die Grauen berichtet haben und ihn zum Handeln aufforderten?“, setzte Yëvhan fort. „Weshalb sonst sollten vier Menschen und ein Feenide aus Fortass kommen? Seit Ewigkeiten hat niemand anderes als ein Elb oder höchstens ein Reisaren diese Stadt betreten. Einige von uns haben bereits erfahren, dass Galdor Bendas von drei Weltenwanderern gewarnt wurde, die aus dem Süden hierherkamen – auch wenn fast niemand Euch persönlich kennt. Ihr seid ja auch erst seit kurzem von Fortass aufgebrochen und die Nachricht kam mit Euch hierher. Und noch ehe Ihr in Tugile ankamt, hatte Galdor Bendas fliegende Boten in alle Städte der Elben ausgesandt, damit jeder weiß, was vor sich geht. Im Übrigen kann ich spüren, dass ihr Reisaren seid; also wundert Euch nicht weiter.“

Mit einem Mal wusste Alina, woher das seltsame Gefühl kam. „Ihr – Ihr seid auch ein Weltenwanderer!“, rief sie erstaunt aus.

Yakov sah Yëvhan an. „Ich … wollte Euch bereits darauf ansprechen, Ihr …“

Der Elb ahnte offenbar, was Yakov noch auszusprechen zögerte. „Bis jetzt seid Ihr wohl noch keinem anderen begegnet?“, fragte er.

„Na ja, nur dieser Wächter-Eule aus Fortass, Aurelia“, antwortete Yakov. „Anderen noch nicht, jedenfalls nicht so direkt. Wir wissen aber, dass unter den Elben einige Reisaren sind und dass sie auch in der Schlacht dabeigewesen waren.“

Yëvhan blickte aufs Meer hinaus. „Ihr habt sicher den Eindruck, dass sich von unserer Seite kaum etwas regt. Die Reisaren waren schon immer sehr weit verstreut, doch seit die Ukrith damals den Rat der Reisaren zerschlagen haben, schwindet ihr ohnehin nur spärlicher Zusammenhalt mehr und mehr. Dabei sollen ja die Weltenwanderer die prophezeiten Retter Sarath-Menens sein.“

„Sowie dieser angeblich aufgetauchte Sohn Aikalons“, fügte Yakov hinzu.

Langsam nickte Yëvhan. „Ja, genau. Wobei die Ansichten der Leute in dieser Sache auseinander gehen. Wie auch immer, ich kann Euch sagen, dass jeder Reisaren fühlt, dass es an der Zeit ist, sich einer gewissen Verantwortung bewusst zu werden. Bis jetzt seid Ihr und wenige andere noch die Einzigen, die wirklich etwas unternehmen. Aber ich bin sicher, dass der Tag bald kommen wird, an dem sich alle Reisaren vereinen werden, um sich den Ukrith entgegenzustellen. Diesmal steht mehr auf dem Spiel als das Schicksal Sarath-Menens; auch allen anderen Welten droht Gefahr. Das Gleichgewicht ist aus den Fugen geraten.“ Er seufzte. „Ich werde mich Euch nicht anschließen können; aber seid versichert, dass ich bereits einiges getan habe und auch noch einiges tun werde, um meiner Pflicht, die ich als Reisaren in gewissem Sinne habe, gerecht zu werden.“

Yakov schwieg und betrachtete eine Silbermöwe, die weit auf die offene See hinausgeflogen war und nun mit angewinkelten Flügeln über dem Wasser segelte und nach kleinen Fischen Ausschau hielt. Dann blickte er Yëvhan an. „Ich bin froh, dass Ihr das so sagt. Ich hatte das Gefühl, dass … nun ja, dass die Weltenwanderer sich ebenso zurückgezogen hatten wie alle anderen. Früher hatte ich auf meinen gelegentlichen Besuchen in dieser Welt zumindest noch ein paar andere an meiner Seite; doch nun scheinen alle verschwunden zu sein. Aber was die Elben angeht, bin ich ehrlich überrascht.“ Er lächelte kopfschüttelnd. „Es scheint mir, dass die Elben sehr schnell handeln können, wenn auch die Zeit, bis sie aktiv werden, lange währen kann.“

Yëvhan schmunzelte. „Das ist wohl wahr.“ Sein Blick wanderte kurz zu Alina. „Nun, ich denke, dass es noch eine Weile bis nach Saran dauern wird, also sehen wir uns mit Sicherheit noch einmal. Thûn evos Aikalon.“

Ehe er sich umwandte, konnte Alina in seine warmen Augen sehen. Etwas regte sich in ihr; und es war nicht das Bewusstsein, dass er ein Weltenwanderer war – irgendwo hatte sie diesen Mann schon einmal gesehen, nur wusste sie nicht mehr, wo, und irgendetwas schien sie daran zu hindern, sich zu erinnern. Doch bevor sie ihn sich noch einmal genauer ansehen konnte, verließ er sie und ging unter Deck.

Aus irgendeinem Grund war Alina unwohl, und sie schob ihre Gedanken beiseite. Die ganze Zeit über hatte sie sowieso eine andere Frage beschäftigt.

„Yakov, was hat es mit dieser Vergangenheit der Elben auf sich?“, wollte sie wissen.

Er wandte den Blick zum Himmel, wo in der Ferne graue Wolken aufzogen. „Versprich mir bitte erst, dass du möglichst nie einen Elben darauf ansprichst, denn nicht viele werden so damit umgehen können wie dieser eben“, sagte er.

Alina nickte. „Versprochen.“

Yakov begann zu erzählen. „Früher hatten die Bewohner Sarath-Menen lange nichts dagegen, dass von Zeit zu Zeit Besucher aus anderen Welten ihr Land betraten und dass einige, wie die Menschen, sich hier sogar angesiedelt und schon viele Städte errichtet hatten. Aber dann waren einige Elben wütend darüber, dass Wesen, die nicht ursprünglich von hier stammten, einfach so in diese Welt kamen. Sie äußerten sogar die Forderung, sie aus Sarath-Menen zu verbannen und in ihre eigene Welt zurückzuschicken, obwohl es bis dahin nie zu einem ernsthaften Konflikt gekommen war.“ Er sah in die Ferne. Hinter ihnen bildeten sich graue, schwere Regenwolken am Horizont, die vom Wind herangetragen wurden und ihr Schiff einzuholen schienen. „Es brach ein Streit aus, und die Elben spalteten sich in zwei Gruppen auf. Der größte Teil der Elben akzeptierten die Fremden, die ja nur recht selten nach Sarath-Menen gelangten und von denen es bis auf die Menschen nicht unbedingt viele gab. Aber die anderen sahen sie mittlerweile als unreine Fremdweltler an. Es kam sogar zum Krieg, aus dem weder die einen noch die anderen siegreich hervorgingen. Stattdessen wurde nur Unheil gesät.“

Alina dämmerte etwas. „Das ist also der Grund dafür, weshalb die Elben sich zurückzogen?“, fragte sie.

Yakov nickte. „Allerdings. Die Elben fühlten Trauer und Erschütterung über das, was geschehen war, und empfanden Zorn und Enttäuschung gegenüber ihrem eigenen Volk. Sie fühlten sich verraten. Darum zogen sie sich für die nächsten Jahrhunderte hinter die Sortes-Berge zurück, denn hier war bis auf die wenigen nördlicheren Menschenstädte schon immer Elbengebiet gewesen. Keiner drang von da an gern in ihr Reich vor, denn man wagte es nicht, ihnen in ihrem Groll sonderlich nahe zu kommen. Auch der andere, abtrünnige Teil der Elben kümmerte sich danach nur noch um seine eigenen Angelegenheiten und plant noch heute, Sarath-Menen von fremdem Blut zu reinigen …“

„… und die Tore für immer zu verschließen“, beendete Alina den Satz. Entsetzt sah sie zu ihm auf. „Es waren die Ukrith?“

Yakov schaute sie ernst an. „In der Tat.“

Ungläubig schüttelte Alina den Kopf. „Das ist … das hätte ich nie gedacht … dieser Graue König – ist er … ?“

„Zachathoton ist immer noch derselbe: derjenige, der die ersten Ukrith damals anführte. Er ist ein Elb“, bestätigte Yakov. „Natürlich leben Elben im Allgemeinen sehr lange, so wie alle Wesen dieser Welt aus irgendeinem Grund länger leben als bei uns, manchmal weit über tausend Jahre. Doch Zachathoton ist kaum mehr ein sterbliches Wesen; seine Gier hat ihn so mächtig werden lassen, dass ihn ein natürlicher Tod erst in ferner Zukunft ereilen würde. Dass er einen Weg zur Unsterblichkeit finden wird, wollen wir lieber nicht hoffen.“

Erschrocken sah Alina ihn an. „Aber – das ist ja furchtbar!“, entfuhr es ihr. „Kann ihn denn niemand besiegen? Und woher hat er diese Macht? Wie kann ein Elb so etwas tun?“

Yakov entrang sich ein bitteres Lachen. „Hast du geglaubt, die Elben wären ehrenhafter und weiser als die Menschen, nur weil sie sich rühmen, ein uraltes Volk zu sein, das mit der Natur im Einklang lebt? Dachtest du, die Greife wären es, die Zwerge, die Drachen? Nein. Es ist wahr, dass sie viele Dinge klüger handhaben als die Menschen. Aber nur weil sie irgendetwas besser machen als wir, heißt das noch lange nicht, dass sie perfekt und unfehlbar sind. So viel anders als die Menschen sind sie nicht, Alina. Auch sie haben Schwächen. Und Zachathotons große Schwäche war und ist seine Gier nach Macht.“

Alina sah ihn an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn wieder, und schwieg. Dann wagte sie noch einen Versuch. „Aber … die Ukrith wollten doch nie die Macht über diese und andere Welten, oder? Sie wollten ihre Welt nicht mit anderen teilen und alle vernichten, die ihnen nicht passten … das ist … ich meine, dass ist ja schon schlimm genug – aber Gier nach Macht?“

Ihr Geigenlehrer seufzte. „Vielleicht wollten sie es damals noch nicht, doch das ändert nichts daran, dass sie es sich nun anders überlegt haben. Es reicht Zachathoton nicht, die Tore allein zu verschließen; er will sie für seine Zwecke missbrauchen. Im Wissen um das Geheimnis, wie man die Weltentore öffnet, sieht er das Potential, alles zu beherrschen, was jemals geschaffen wurde. Er will sich gleichstellen mit dem Schöpfer selbst.“

Alina stützte den Kopf auf ihre Hände und starrte auf das Wasser. Sie konnte nicht verstehen, was jemand für Gründe haben könnte, eine solche Macht besitzen zu wollen. Und dass so jemand aus dem Volk der Elben hervorgehen konnte, von dem sie immer gedacht hatte, es wäre ein weises und magisches Volk, konnte sie auch nicht begreifen.

Ihr fiel noch etwas ein, das sie Yakov schon länger hatte fragen wollen. „Warum fürchten denn die Ukrith eigentlich das Meer?“

Er blickte auf die Wellen. „Das kann ich dir nicht genau erklären. Viele wissen gar nicht um diesen Umstand, aber ich habe es damals während meiner Ausbildung in Magie mitbekommen. Du weißt ja, dass die Sucher, die Zachathoton an den Weltentoren stationiert, keine physisch gebundenen Wesen sind, sondern Geister. Genau genommen handelt es sich dabei um eingefangene Vogelseelen.“

„Eingefangene Vogelseelen?“ Das erschütterte Alina. „Aber wie kann jemand denn eine Seele einfangen?“

„Das ist verbunden mit sehr grausamer Magie, über die ich aber auch nicht viel weiß“, fuhr Yakov fort. „Jedenfalls hat der Graue König schon immer mit Geistern herumexperimentiert und danach getrachtet, sie sich für seine Zwecke untertan zu machen. Einmal aber wagte er sich an einen sehr mächtigen Geist. Dieses Wesen wurde Hithuglir genannt, was ungefähr so viel bedeutet wie ,Geist, der Lieder singtʻ. Von ihm hat dieses Meer, das Ynarik Hithuglirian oder auch das Meer der Seelengesänge, seinen Namen, denn hier soll dieser uralte Geist wohnen, weit draußen, in den finstersten Tiefen des Ozeans. Zachathoton gefiel die Vorstellung, ein solch außerordentlich starkes Wesen in seine Dienste zu zwingen, doch seine Begegnung mit Hithuglir war anscheinend alles andere als das gewesen, was er sich erträumt hatte. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber er erlitt einen solchen Schock, dass er und alle seine Untergebenen seitdem das Meer fürchten. Und wir können froh sein, dass es so ist, denn sonst hätten sie schon längst die Meere unsicher gemacht.“

Alina bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, dass in eben dem Meer, welches sie soeben überquerten, ein machtvoller alter Geist leben sollte. Sie war nicht sicher, ob sie das beruhigte oder ihr Angst machte.

Mittlerweile war die Sonne bedeckt; der Himmel verschwamm zu einem einheitlichen Grau und es begann zu regnen. Die meisten Passagiere, die noch an Deck waren, zogen sich in die Kajüten zurück, als aus dem leichten Niesel ein regelrechter Wolkenbruch wurde, und auch Alina und Yakov gingen unter Deck; vorsichtig darauf bedacht, auf dem nassen Holz nicht auszurutschen. In ihrer Kajüte fanden sie Ann, Sepp und Lyrani vor, die sich bereits hierher geflüchtet hatten, als sie die dicken Regenwolken hatten aufziehen sehen. Giuseppe hatte es sich in der obersten Hängematte gemütlich gemacht und schaukelte leicht hin und her. Ann saß auf einer der Bänke und schaute aus dem Bullauge auf die von dicken Regentropfen aufgewühlte Wasseroberfläche hinaus.

„Der Wind ist ziemlich abgeflaut“, meinte Lyrani, die sich mit ihren langen Zehen auf der Kante des kleinen Schrankes festgekrallt hatte. „Es wird bestimmt mehr als zwei Tage dauern, wenn das so weitergeht.“

Yakov nahm schulterzuckend auf einer Bank Platz. „Und wenn schon. Ändern können wir es doch ohnehin nicht“, entgegnete er.

Alina lehnte sich gegen die Wand und sagte nichts. In Gedankenversunken starrte sie die Hängematten an und fragte sich, wie sie darin übereinander schlafen sollten, ohne in Platzschwierigkeiten zu geraten. Sie war froh darüber, dass immerhin Lyrani keine solche Schlafgelegenheit benötigte und es vorzog, auf einer Bank hockend zu schlafen – denn hätte man hier noch eine fünfte Hängematte aufgehängt, wäre der ganz oben Liegende mit seiner Nasenspitze an die Decke gestoßen.

„Sag mal, wer sind eigentlich diese anderen Weltenwanderer, von denen du immer sprichst?“, wollte Ann interessiert von Yakov wissen. „Ich habe lediglich während meiner Magieausbildung einige kennengelernt, und später habe ich mit zweien zusammengearbeitet; es waren auch Menschen. Aber als ich ihnen unterbreitete, dass ich wegen meiner Tochter in meiner Welt bleiben würde, machten sie alleine weiter. Ich habe sie seitdem nicht mehr wiedergesehen.“

Yakov strich sich über das kurze, dunkle Haar. „Nun, viele kannte ich auch nicht, nur vier. Zwei von ihnen waren ebenfalls Menschen, einer von ihnen stammte aus Rakfurt und ein anderer aus Ambómirus. Und dann bin ich auch noch auf einen Fuchs namens Haffak getroffen – ach Sepp, schau mich nicht so an, ich habe doch erklärt, dass auch Tiere Reisaren sein können – jedenfalls standen diese drei an meiner Seite, und wir zogen umher und trieben die Ukrith zurück, die in das Land eindrangen.“

„Und wer war der Vierte?“, hakte Alina nach.

„Die Vierte“, berichtigte Yakov lächelnd. „Sie war ein Seemoloch, eine kleine Drachenart, die an den Küsten und auf Inseln vorkommt. Auf sie trafen wir erst später, besser gesagt, sie traf auf uns. Zu fünft sorgten wir in dem Gebiet um Inad herum dafür, dass die Ukrith sich fernhielten, die in der Zeit oft versuchten, offensichtliche ,Fremdweltler‘ aufzuspüren. Übrigens war auch Magnev so manches Mal mit von der Partie – trotz ihres hohen Alters.“

Alina erinnerte sich noch gut an die alte, geheimnisvolle Frau, die sie auf ihrer Reise von Inad nach Velok begleitet hatte. Sie fragte sich, ob sie immer noch zusammen mit Callia in der Hütte der Einsiedlerin weilte und ob es ihr gut ging.

Lyrani schüttelte ihre weiße Mähne und blickte Yakov an. „Und weshalb seid ihr auseinander geraten?“

Er seufzte. „Wie ich schon mal erklärt habe, nahmen die Angriffe der Grauen damals immer mehr ab, bis sich irgendwann von ihrer Seite gar nichts mehr regte. Als nach einem halben Jahr immer noch nichts passiert war, gingen wir davon aus, dass die Ukrith sich zurückgezogen hatten und uns in den nächsten Jahren in Ruhe lassen würden. Die beiden Menschen nutzten die Gelegenheit und gingen in ihre Heimat zurück, um sich eine Ruhepause zu gönnen. Haffak machte sich auf den Weg zu seiner Familie im Xanceres, und die Seemolochin flog wieder in die fernen Küstengebiete der Straße von Herinan, am Rande des Kontinents.“

„Und ihr habt euch seitdem nicht wiedergesehen?“, wollte Alina wissen.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Eigentlich wollte ich mich auf die Suche nach ihnen machen, aber nun ist ja alles ganz anders gekommen. Ich weiß nicht, wie es den anderen ergangen sein könnte; möglicherweise sind sie angesichts des nahenden Heeres der Ukrith geflohen.“

Ann stützte den Kopf auf ihre Hände. „Wer weiß. Vielleicht haben sie ja sogar zu den Rebellen gefunden. Wenn die Ukrith herausgefunden haben sollten, dass sie Reisaren sind, haben sie sicher nach ihnen gefahndet. Falls sie ergriffen wurden, dann …“ Sie schluckte.

„Dann können wir nur hoffen, dass sie ein schnelles Ende gefunden haben“, beendete Yakov ihren Satz betrübt.

Alina biss sich auf die Lippen. „Ist es denn den Ukrith kein einziges Mal gelungen, einen Reisaren zur Aussage zu zwingen?“

„Nein. Diejenigen, die sie schnappten, verrieten nie das Geheimnis ihrer Kraft, und sie werden es auch nie verraten. Selbst die schrecklichsten Foltermethoden der Ukrith können es ihnen nicht entlocken.“

Alina fuhr schaudernd zusammen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie denn die Grauen ihre Gefangenen folterten, geschweige denn, dass sie selbst eines Tages ihre Gefangene sein könnte und wie sie es dann zuwege bringen sollte, kein Wort preiszugeben. Bei dem Gedanken wurde ihr flau im Magen. Sie versuchte sich abzulenken und sah durch das Bullauge nach draußen, wo es noch immer in Strömen goss.

„Ich hoffe, es schifft nicht die ganze Zeit“, sagte Sepp verdrießlich. „Sonst hängen wir ja nur hier rum – im wahrsten Sinne des Wortes.“ Er machte eine bedeutungsvolle Kopfbewegung in Richtung der Hängematten.

Doch an diesem Tag hörte es nicht mehr auf zu regnen, und sie verbrachten die Zeit unter Deck.

III. Neue Hoffnung

Es hatte drei Tage in Anspruch genommen, aber nun endlich waren sie zurückgekehrt nach Ikintu paowan