Reise Know-How KulturSchock Kolumbien - Oliver Schmidt - E-Book

Reise Know-How KulturSchock Kolumbien E-Book

Oliver Schmidt

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Beschreibung

Kolumbien ist das bevölkerungsreichste spanischsprachige Land Südamerikas und seine Einwohner verteilen sich aufgrund der komplexen Geografie über das Land wie auf einem Flickenteppich. Ethnische, soziale und Mentalitätsunterschiede prägen die nationale Psyche: Auf den Höhen der drei Andenkordilleren, an der Karibischen See und dem Pazifischen Ozean, in den Savannen des Orinokostroms und den Dschungeln des Amazonas – überall findet man ein ganz eigenes Kolumbien vor. Indigene Völker halten alte Traditionen im Einklang mit der Natur am Leben, afrokolumbianische Gemeinden verschmelzen mit dem Urwald des Chocó, sephardische Geschäftsleute kultivieren Antioquia und in den Metropolen pulsiert das moderne Leben. Die schiere Vielfalt Kolumbiens, der herausfordernde und langwierige Friedensprozess, die ideenreichen Anstrengungen und die Improvisationskunst der Menschen zur Bewältigung ihres schwierigen Alltags – all dies bewirkt eine komplexe gesellschaftliche Dynamik, die im vorliegenden Werk anschaulich dargestellt wird. Daneben gibt der Autor viele Hinweise für den Austausch mit Kolumbianern und räumt kulturelle Stolpersteine aus dem Weg. ++++ Aus dem Inhalt: - 12 Seiten Verhaltenstipps A-Z - Das Land ohne Jahreszeiten - San Agustín und der präkolumbische Kosmos - Legende und Mythos des Befreiers Simon Bolívar - Die große kreolische Vermischung: mehr als 60 Sprachen - eine Nation - Schwacher Staat, starker Regionalismus: eine postkoloniale Hinterlassenschaft - Der bewaffnete Konflikt: Akteure - Alltag - Friedensprozess - Familie und Kinder in der Gesellschaft - Sicherheit und Unsicherheit - Deutsche in Kolumbien - Gastfreundschaft und zu Gast in der Familie u.v.m. KulturSchock - die besonderen und mehrfach ausgezeichneten Kultur-Reiseführer von REISE KNOW-HOW. Fundiert, unterhaltsam und hilfreich im fremden Alltag unter dem Motto: Je mehr wir voneinander wissen, desto besser werden wir einander verstehen. REISE KNOW-HOW - Reiseführer für individuelle Reisen

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Seitenzahl: 509

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Vorwort

„Hundert Jahre Einsamkeit“, die epische Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez, mag für dieses Land stehen wie kein zweites Werk. Wie Kolumbien in einem weiteren Jahrhundert aussehen wird, kann heute noch kein Autor der Welt erträumen, doch allein die erste Dekade dieses neuen Jahrtausends hat bereits enorme Veränderungen gebracht und vor Kurzem noch Undenkbares denkbar werden lassen.

So gibt es im Zusammenhang mit Kolumbien kein Klischee, das nicht auch passen würde. Hier das Land Pablo Escobars, ein vermeintliches Drogenparadies. Dort ein versagender Staat, der sich illegale Söldnerheere hält, um die Guerilla in Schach zu halten. Diese immer wieder reproduzierten Stereotype sind nicht unwahr und umso tiefer in den Köpfen verankert. Den Kolumbianern selbst tun sie in der Seele weh. Die Realität vor Ort aber ist vielschichtiger und vor allem: sie ist permanent in Bewegung.

Kolumbien ist in Wirklichkeit nicht ein Land, sondern viele Zustände und Wechselbeziehungen auf einmal. Natürlich ist es auch das Land, das die Vereinten Nationen und Menschenrechtler bereits als unregierbar abgeschrieben hatten, mit einem schier unendlichen Konflikt, grassierender Armut, einem Meer von Binnenflüchtlingen. Im Wirbel dieser Spirale aus Gewalt und deren sozialen Wurzeln, die heute den Alltag vieler Menschen prägen, wären auch andere Staaten in die Knie gegangen.

Doch Kolumbien ist eben auch eine Wirtschaft, die seit Jahren robust wächst, die älteste Demokratie Lateinamerikas mit einer der modernsten Verfassungen des Kontinents und einem Präsidenten an der Spitze, der sich im nationalen Interesse für die Entkriminalisierung der Drogenpolitik ausspricht. In den letzten Jahren spürt man in vielen Teilen der Gesellschaft eine vorsichtige Aufbruchstimmung. Mit ihr kehrte die Zuversicht zurück, den verruchten Ruf abstreifen zu können und etwas Neues auf die Beine zu stellen.

Nicht überall und wahrlich nicht für jedermann, aber in vielen Ecken eröffnen sich neue Spielräume. Die Menschen fahren wieder übers Land, sie reisen, sie besuchen sich in Landesteilen, die lange nicht mehr als sicher zugänglich galten. Auch der Besucherstrom aus dem Ausland nimmt zu, für Rucksacktouristen ist Kolumbien inzwischen eine Spezialität: Kaum ein anderes Land in Südamerika verbindet auf derart grandiose Weise Naturspektakel mit Kulturschätzen wie Barichara oder Villa de Leiva, Mompox oder Cartagena, San Agustín oder die im subtropischen Regenwald versteckte „verlorene Stadt“ Ciudad Perdida.

Der Makel von gestern – Kolumbiens langjährige Abwesenheit von den Routen der Globetrotter – verwandelt sich heute scheinbar zum Elixier der Reisenden.

Forscher und Ingenieure, Glückssucher und immer mehr Wirtschaftsunternehmen entdecken gerade ein weitgehend unerschlossenes Land, das uns Mitteleuropäern kulturell zugänglich und verwandt, doch in weiten Teilen vom Massentourismus verschont geblieben erscheint. Ob mit einer Reisegruppe unterwegs oder als Individualtourist – Kolumbien bewahrt ihnen allen das Gefühl, auf eigene Faust unterwegs zu sein und auf Menschen zu treffen, für die jeder Gast gern gesehen ist.

Eine ungewöhnliche Mischung aus urwüchsiger Schönheit und kultureller Vielfalt, die das Aufeinanderprallen von Europäern, Indigenen und Nachfahren afrikanischer Sklaven bis heute entstehen ließ, übt auf Reisende eine Faszination aus.

Kolumbien ist das einzige südamerikanische Land, das sowohl vom Pazifik wie vom Atlantik aus erreicht werden kann. Um sich diesem Flecken Welt zwischen den Andenketten und den Ebenen des Orinoko und Amazonas anzunähern und ihn für sich zu erschließen, bedarf es nicht viel: ein bisschen Mut, die Vorurteile durch eigene Erfahrungen zu überprüfen, und eine Prise Spanisch, allgegenwärtige Verkehrssprache unter den über 45 Millionen Landesbewohnern. Mit Englisch alleine, so viel vorweg, wird man nicht überall durchkommen.

Alles andere besorgt die Neugierde der Gastgeber. Sie werden Herzen öffnen und die anfängliche Vorsicht, die der Fremde mitbringen mag, entwaffnen.

Europa und Lateinamerika sind sich in Vielem näher, als die etwas lustlose politische Zusammenarbeit in den letzten beiden Jahrzehnten vermuten ließe. Dennoch wird dem Neuankömmling vieles fremd vorkommen – protestantisch geprägten Mitteleuropäern vermutlich noch mehr als mit den kulturellen Errungenschaften des Vatikans seit jeher vertrauten Südeuropäern. Denn Kolumbien ist ein zutiefst katholisches Land und eine von der Kolonialherrschaft der Spanier geprägte Kultur, die im 20. Jahrhundert vom amerikanischen Einfluss überlagert wurde. Diesen Kräften konnte ein in vielen Bereichen bis heute abwesender Nationalstaat bislang nur bedingt etwas Eigenes, Selbstbestimmtes entgegensetzen.

Kolumbien lebt von der Kraft seiner ebenso überbordenden wie gefährdeten Natur: eine Perle der Tropen, durchzogen von drei steilen, die Alpen in den Schatten stellenden Kordilleren, umspült von zwei Weltmeeren und gespeist von mächtigen Flüssen wie dem Magdalenenstrom, dessen Wucht ein Anrainer des vergleichsweise milden Mains, Inns oder der Saale kaum ermessen kann.

Mit seinen über 60 Sprachen ist Kolumbien zugleich ein moderner Vielvölkerstaat, der seinen indigenen und afrokolumbianischen Minderheiten per Verfassung Sonderrechte garantiert. Diese Rücksicht überrascht angesichts des historisch einmaligen Raubbaus an den Indiokulturen und des schier unaufhaltsamen Vordringens moderner Lebensformen in deren Rückzugsgebiete. Diese immense ethnische, soziale und regionale Vielfalt der kolumbianischen Gesellschaft und die sie umgebende biologische Diversität verstehen zu wollen, bedürfte mehr als ein Menschenleben. Doch was für eine Vorstellung: Es gibt in diesem Land noch immer Ecken, in die bis heute so gut wie kein weißer Europäer je einen Fuß gesetzt hat!

Und was für ein seltenes Reiseglück ist es, eine Kultur zu erkunden, die im globalen Zeitalter noch kaum Spuren im kollektiven Bilderspeicher hinterlassen hat. Kolumbien ist ein für Europäer vielfach abgestempeltes, doch eben deshalb – und auch 500 Jahre nach Christoph Kolumbus – uns noch weitgehend unbekanntes Land: terra incognita.

Die vorliegende Einführung in die kolumbianische Kultur versteht sich als bescheidene Einstiegshilfe. Sie geht dem zur Hand, der sich dem Land und seinen Bewohnern mit Verständnis und Feingefühl nähern möchte.

Wer das versucht, wird sich an den Realitäten sicher auch mal reiben und den eigenen Blickwinkel hin und wieder wechseln müssen. Der Alltag mit dem Ungewohnten weckt die (Über-)Lebensgeister. Hier und da bringt die Berührung mit dem Fremden auch unbequeme Gefühle mit sich wie Ohnmacht oder gar Wut. Wenn Gäste die eine oder andere Erfahrung als Schock verbuchen, sollten sie sich daran erinnern, dass ein Erschrecken auch heilsam und lehrreich sein kann. Denn wer reist, möchte nicht nur Spaß haben, sondern verstehen lernen, wie andere sich in ihrem Leben einrichten und es mit Sinn füllen. Reisende machen sich auf den Weg, riskieren dabei immer auch ein bisschen ihre lieb gewonnenen Sicherheiten. Sie sollten nicht vergessen, dass sie in der Ferne die Menschen und Dinge zunächst erst einmal so wahrnehmen, wie sie vor dem Filter unserer bisherigen Erfahrungen und Erwartungen erscheinen.

In Kolumbien trifft der Besucher auf ein Land im Wandel, voller Leben. Es mag uns faszinieren oder entgeistern, aufrütteln oder verzaubern – es wird uns sicher nicht kalt lassen. Kolumbien verändert den, der sich darauf einlässt.

Oliver Schmidt

Anmerkungen des Redakteurs dieser Auflage

Seit der ersten Auflage dieses Buches sind nur wenige Jahre vergangen. Wenige Jahre, die Kolumbien einen kraftvollen Umbruch beschert haben – einen Wandel hin zu etwas, das die Menschen seit Jahrzehnten ersehnen: Frieden. Noch ist er nicht wirklich da, aber er ist greifbar – greifbarer als je zuvor. Der Friedensvertrag mit der großen Guerilla-Organisation FARCEP ist besiegelt, seitdem haben die ersten Parlamentswahlen stattgefunden. Der Papst hat gemeinsam mit Opfern und Tätern gebetet.

Reisenden öffnet sich Kolumbien in einer Weise wie nie zuvor. Optimismus, ja fast rauschhafter Enthusiasmus erfasst viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer, die nicht nur ihre emotionalen Traumata anzugehen hoffen, sondern auch wirtschaftlichem Aufschwung entgegenstreben und entsprechend beherzt in die Hände spucken, um Neues zu schaffen. Doch durch die politische und ökonomische Welt Kolumbiens verläuft eine gefährliche Spaltung, die auch im Präsidentschaftswahlkampf 2018 offensichtlich wurde. Noch ist nichts „in trockenen Tüchern“, das zarte, fragile Gebilde „Frieden“ ist wie eine Blume, die täglich gegossen werden muss. Hier kann der Tourismus positiv ansetzen, hilft der Austausch mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen – für mehr Verständnis, mehr Miteinander, für Teilhabe, Entwicklung und Naturschutz gleichermaßen. Diese Hoffnung habe ich und wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt!

Ingolf Bruckner

Inhalt

Vorwort

Verhaltenstipps A–Z

Geografische Vielfalt, geschichtliche Wurzeln

Kolumbien – Land der Extreme

Historische Spurensuche: frühe Besiedlung, Kolonialzeit und Revolution

Geschichtliche Daten im Überblick

Der kulturelle Rahmen

Multiethnische Gesellschaft

Religion – eine Gesellschaft zwischen Glauben und Aberglauben

Feste vermischt

Image und Identität

Zurück in die Zukunft: Denkweisen und Lebensgefühl

Die Gesellschaft heute – Staat, Politik und Wirtschaft

Politische Landschaft und Kultur

Wirtschaftslage und Konjunktur

Soziale Ungleichheit

Zwischen Land und Stadt

Politische Konflikte und politische Gewalt

Der bewaffnete Konflikt: Akteure – Alltag – Friedensprozess

Gewalt und Drogenökonomie

Geschlechter und Familie

Rollenverhalten von Männern und Frauen

„Diversidad!“ LGBTI kämpfen um ihre Rechte

Familie und Kinder in der Gesellschaft

Der Lebenszyklus: Geburt, Jugend, Alter, Tod

Alltag

Arbeit und Brot

Alkohol, Rauchen, Drogen

Gesundheit und Vorsorge

Kino und Theater

Esskultur und Restaurantszene

Lifestyle, Moden und Marken

Im Zerrspiegel der Medien: Print, Radio, TV, Internet

Musik und Tanz

Sport und Spiele

Schrift und Sprache: kolumbianisches Spanisch

Ökologie und Umweltbewusstsein

Prostitution und Sextourismus

Sicherheit und Unsicherheit

Tagesrhythmus

Telefon und Kommunikation

Treffpunkte

Wie wohnen die Menschen?

Als Fremder im Kulturkreis

Deutsche in Kolumbien

In den Köpfen: deutsch-kolumbianische Bilder der Gegenwart

Geschichte der deutschen Einwanderung

Spuren deutscher Einwanderung

Deutschsprachige Touristen

Was dem Fremden sofort auffällt

Übersiedeln in die Anden: eine logistische Großtat

Ortskenntnis und Orientierung

Ausländische Studierende in Kolumbien

Als Diplomat und Experte in Kolumbien

Als Geschäftsmann in Kolumbien

Unter Arbeitskollegen

Umgang mit Geld

Einkaufen

Umgangsformen

Gastfreundschaft und zu Gast in der Familie

Anhang

Abkürzungen

Glossar

Websites

Literatur

Register

Übersichtskarte

Der Autor

Danksagung

Ich danke allen, die das Buchprojekt unterstützt haben. Kata, Michael, María, Ralf und Uli Rüger haben mir mit ihrer Offenheit und großen Erfahrung dabei geholfen, das Land und seine Lebensformen zu erschließen. Bei den Recherchen haben mich inspiriert und kenntnisreich unterstützt: Julián, María Angélica, Pedro Oswaldo, Juan Federico und in besonderer Weise Juan José. Henry, Marcela und mein Bruder Andreas lehrten mich aufs Neue, wie Sprache Kulturen zu durchdringen vermag; Oscar und Milena, wie leichtfüßig Musik die Seelen erschließen kann.

Viel gelernt habe ich von Ares, Armando, Beatriz, Catalina, Christian, Ciro, Guillermo, Hans, Mac, Magdalena, Mariano, Maricela, Martin, Nicolás, Uli, Ursula, den jungen Fußballcracks von „Thimos“ und vielen anderen. Den alten Weggefährten Daniel, Lucia, Nano und Stephan danke ich für lange Jahre gemeinsamen Wegs, Jochen für den Anstoß zu diesem Buch, meiner Familie für die Besuche aus der Heimat, schließlich Alex, André sowie Ralf für verlässliche Väterbande in einer kaum begreiflichen Riesenstadt wie Bogotá. Jairo erhält ein Augenzwinkern für die unbeabsichtigten Abenteuer auf unseren Streifzügen, gracias a Dios ging bis heute alles gut. Michael S. bin ich dankbar für unsere Gespräche übers Reisen und die Risiken, beim Schreiben nur wieder neue Klischees zu produzieren. Weder „Kolumbien“ noch der zunächst etwas heillos erscheinende „Kulturschock“ sind ohne Silke und Frida denkbar. Innige Erinnerungen verbinden wir mit dem Cristianía von Rosa Inés, Ricardo und Nubia – sowie dem Paisa-Clan der Melos: Susanita, Guillermo und Vicky-Mouse. Jorge Orlando bleibt für mich der erste und letzte olympische Schriftgelehrte, der sich jederzeit, um Geschichten vorzulesen, von einem kleinen Nachbarmädchen unterbrechen lässt.

Aus all diesen Begegnungen und vielen mehr speist sich dieses Buch. Michael Wagner († 19. Juli 2012) hat dessen Veröffentlichung leider nicht mehr erleben können, sein streitbarer Geist war unbestechlich.

Extrainfos im Buch

ergänzen den Text um anschauliche Zusatzmaterialien, die vom Redakteur dieser Auflage aus der Fülle der Internet-Quellen ausgewählt wurden. Sie können bequem über unsere spezielle Internetseite www.reise-know-how.de/kolumbien18 durch Eingabe der jeweiligen Extrainfo-Nummer (z. B „#1“) aufgerufen werden.

Exkurse zwischendurch

Abenteuerlich: die ersten Stadtgründungen

Glück, Unglück und Mythos des Simón Bolívar

„M“, der Maulwurf: Mauss, Mannesmann und die „Waldmenschen“

Vom Schutzengel ohne Flügel

Iglesia 20 de Julio – von der Kraft der Volkskirche

Kolumbianische Nationalfeiertage

Kolumbien im Überblick – Basisdaten

Der Caudillo – Lateinamerikas Beitrag zur politischen Weltgeschichte

„Was ich habe, kann mir keiner nehmen“: vom Leben einer Landfrau

Unsichtbar im Herzen Kolumbiens: Afrokolumbianer und Indigene im Chocó

Bolillos Fall: Warum Kolumbiens Jogi Löw zurücktreten musste

Florence Thomas: „Zur Feministin wurde ich erst in Kolumbien“

Was legal und was illegal ist, bestimmt der Zeitgeist

Mit Finger, Löffel oder als Saft: die 20 wichtigsten Früchte

Ojo! Tipps für das Essen auf der Straße

Juan Valdez und der Aufstieg der Kaffeekultur

Shakira: WakaWaka – Kolumbiens Stern in der Welt

Fußballschulen: die Fundación Thimos und die „fútbol chicas“

Microfútbol: Spezialität der Amateure

Tejo: nationaler Freizeitsport

Die Ökowelle, noch ganz am Anfang

„Paseo millonario“: unerwünschter Ausflug mit Unbekannten

„Gracias a Dios“: Palomino um Punkt sechs

„Wie zu Hause“: die Ungars und die Librería Central

Die alte Hauptstadt – wie die Oberschicht um 1900 wohnte

Rogelio Salmona – Kolumbiens Beitrag zum architektonischen Welterbe

Euro-Snack: zusammen braten, was zusammengehört

Nikolaus Federmann und die Welser: Suche nach El Dorado

Geo von Lengerke: der herumirrende Gott von Zapatoca

„Die Informanten“ – ein aufgehelltes Kapitel deutsch-kolumbianischer Kriegsgeschichte

„Wie gestern“: deutsches Holzspielzeug als kolumbianisches Nationalgut

Hans-im-Feld: ein politischer Bildungsarbeiter zwischen den Fronten

„Auf dem Sprung”: Geschäftsaussichten zwischen PR und realistischem Potenzial

Prävention: persönliche Vorsichtsmaßnahmen im Nachtleben

Die Polizei, dein Freund und Helfer

Peter Schultze-Kraft – Wanderer zwischen den Kulturen

Verhaltenstipps A–Z

Von Ingolf Bruckner

Anrede: Wer von Fremden (z. B. Verkäuferinnen im Dorfladen) mit mi amor (meine Liebe), cariño (Liebling) oder mi corazón (mein Herz) angesprochen wird, muss sich darauf ebenso wenig (oder viel) einbilden, als ob man – hier entscheidet mehr regionales Temperament als Zuoder Abneigung des Sprechenden – mit Titeln wie profesor oder su merced (Euer Gnaden) adressiert wird. Im kühlen Hochland ist man eher señor oder señora und an der heißen Küste einfach mal der amigo (Freund) oder man wird – je nach äußeren körperlichen Merkmalen – gern auch flaco (Dünner), gordita (kleine Dicke), guapa (Hübsche) und mono/a (Blonde/r) gerufen. Formell oder informell, duzen oder siezen, das ist eine Philosophie für sich, die primär mit lokaler Tradition, aber durchaus auch antiquierten Standesunterschieden oder (eingebildeten) Hierarchien zu tun hat. Man richtet sich im Zweifel respektvoll an der Art und Weise aus, die einem vom jeweiligen Gesprächspartner entgegengebracht wird. Ältere Menschen genießen in Kolumbien die besondere Achtung der Jugend. Mehr zum Thema findet sich im Kapitel „Umgangsformen“ ab Seite 303.

Armut: Viele sind in Kolumbien von Armut betroffen und für viele führt kein Weg hinaus. Engagement in einem sozialen Projekt kann helfen, die Not zu lindern. Leben und leben lassen heißt die Devise. Es hat sich auch noch kein Passant einen Zacken aus der Krone gebrochen, der ein paar Münzen für einen Bettler übrig hatte: Das machen in Kolumbien auch erstaunlich viele Menschen, die selbst nicht unbedingt auf Rosen gebettet sind. Massen an informellen Straßenverkäufern und -dienstleistern sind in den Städten zu finden: Scheiben wischen an der Ampel, Aufpassen auf das vor dem Restaurant geparkte Auto etc. verdient angemessene Entlohnung. Wer sich allerdings penetrant angegangen oder gar bedroht fühlt, kann hier im eigenen Interesse (und im Interesse aller anderen) eine klare Linie ziehen (so eventuell bei gewissen Angeboten am Strand von Bocagrande). Man weiß es übrigens auch aus Europa: Kleine, lokale Händler sind unterstützenswürdiger als riesige Ladenketten mit zweifelhaften Besitzverhältnissen …

Badestellen („balnearios“): Kolumbien ist nicht Japan, wo im Onsen traditionell nackt gebadet wird. Aber beide Länder haben doch etwas gemeinsam: die außerordentliche Liebe zu ihren heißen Thermalbädern, von denen es aufgrund der vulkanischen Aktivitäten eine ganze Menge gibt. In den kolumbischen termales – wie auch in den allseits beliebten turcos (Dampfsaunen), die sich gern daran anschließen –, an den gerölligen Flüssen des Piedemonte (dem Übergang der Kordilleren in die Tiefsenken der Llanos) und auf weißen Karibik- und schwarzen Pazifikstränden gibt man sich zwar im Zweifel sexy, aber bedeckt, sprich: Nacktbaden ist verpönt. Dem Redakteur ist nur ein einzige kolumbianischer FKK-Strand (playa nudista) bekannt, Boca del Saco im Tayrona-Park, ein Ort, an den sich fast ausschließlich ausländische Touristen wagen.

Brückentage („puentes“): Der geringe jährliche Urlaubsanspruch in Kolumbien wird kompensiert durch zahlreiche – christliche oder säkulare – Feiertage. Viele von ihnen verlegt man nonchalant auf den jeweils auf das eigentliche Datum folgenden Montag, sodass lange Wochenenden entstehen. Diese nutzen mittelständische Familien gern für regionaltouristische Aktivitäten und Kurzreisen. Dann erwacht manche Ausflugslokalität, die unter der Woche verwaist und tot darniederliegt, zum Leben – das gilt für Themenparks und balnearios ebenso wie für verschwiegene Kolonialdörfer. Hier trifft man dann auf eine gut gelaunte, aufgeschlossene Reisegesellschaft und kommt wunderbar ins Gespräch. Begleiterscheinung können aber auch ausgebuchte oder überteuerte Unterkünfte oder überlaufene Strände sein. Es ist daher sinnvoll, den eigenen Reiserhythmus elegant und gezielt auf die puentes abzustimmen. Mehr zu dem Thema steht im Kapitel „Feste vermischt“ ab Seite 73.

Demonstrationen/politische Kundgebungen: In einem politisch so polarisierten Land wie Kolumbien mit sozial prekären Zuständen, stark ausgeprägten Gegensätzen zwischen Stadt und Land und einer auseinanderklaffenden „Reichtumsschere“ ist das Parkett, auf dem der gesellschaftliche Verteilungskampf ausgetanzt wird, heiß. Lokale Proteste und Versammlungen werden manchmal hitzig oder brachial ausgetragen und bieten sowohl Teilnehmenden als auch zufällig Anwesenden gewisse Unwägbarkeiten. Straßensperren, brennende Autoreifen, Attentate – all das ist ganz sicher nicht die Regel, kommt aber vor, wie 2017 zum Beispiel in Buenaventura, und dann will bestenfalls dabei sein, wer sich zu 100 % mit den jeweiligen Anliegen identifiziert.

Einkaufen/Märkte: Der Klassiker sind kleine Dorfläden und – auch in den Städten – „Tante-Emma-Läden“, wo es alles Wichtige gibt, von Spaghetti und Kartoffeln bis zu Bier, Batterien und Waschpulver – ideal für Selbstversorger und jene, die Vorräte für ihre mehrtägigen Naturabenteuer/Dschungelexpeditionen auffüllen möchten. Moderne Supermärkte (z. B. Éxito) verfügen über eine riesige Angebotspalette samt Drogerieartikeln. An Bushaltepunkten verkaufen fliegende Händler Selbstgebackenes, Maiskolben oder Erfrischungsgetränke – man muss also keine Angst haben, auf längeren Fahrten Hunger oder Durst zu leiden, und unterstützt zugleich die im informellen Sektor arbeitende Bevölkerung. Unbedingt probieren: frisch gepresste Obstsäfte, die Verkäufer auf den Plazas feilbieten. Man nimmt sie je nach Frucht „con agua“ (mit Wasser) oder „con leche“ (mit Milchpulver), mit oder ohne Zucker zu sich. Ein besonderes Erlebnis ist der (morgentliche) Besuch von Märkten: Nirgendwo bekommt man derart günstig und frisch regionale Köstlichkeiten, frisch geerntete exotische Früchte und leckere Hausmannskost (etwa tamales oder Fischsuppen).

Einladungen: Die offenen Kolumbianer schließen neue Freunde schnell ins Herz. Zu Einladungen nach Hause bringt man idealerweise eine kleine Aufmerksamkeit mit (das ist aber keine Pflicht), z. B. ein Souvenir (aus Europa, soweit man eins im Gepäck hat), eine Flasche guten Whiskey oder Konfekt. In abgeschiedenen Regionen, wo die Menschen über sehr wenig Besitz verfügen, könnten – je nach Gastgeber – z. B. auch Taschenlampe, ein hippes Baseballcap oder eine Sonnenbrille gute Geschenke sein. Man überschüttet die Gastfamilie wortreich mit Freundlichkeiten, lobt Charme und Liebenswürdigkeit, kulinarische Bemühungen und vor allem die Kinder. Als guter Einstieg in die Konversation bietet sich z. B. das Zeigen von Fotos der eigenen Familie oder aus der Heimat an. Kritische Anmerkungen auch zu politischen Themen erspart man der Familie oder legt jedenfalls nicht den Finger zu sehr in Wunden.

121kn-os

Marktstand mit Mango, Baumtomate & Co.

Fotografieren: Wer um Erlaubnis fragt, bekommt diese in der Regel. Fotos kann man gegebenenfalls im Nachgang an Berg- oder Bootsführer bzw. Reisebekanntschaften durch Messenger-Dienste übermitteln. Afrokolumbianer und Indigene lassen sich oft nicht gern fotografieren. Manche – z. B. die Völker der Sierra Nevada de Santa Marta – möchten dies grundsätzlich nicht. In Gebieten ohne orden público und bei Protestkundgebungen sollte man besonders sensibel umgehen. Oppositionelle, Militärs, potentielle Ziele von Attentätern im bewaffneten Konflikt, Polizeistationen, etwaige Drogendealer – all dies sind Motive, die zu enormen Schwierigkeiten führen können.

Frau und Mann: Die Geschlechter verhalten sich zueinander sehr höflich, zuvorkommend und charmant. Man ist rücksichtsvoll, hilft sich im engen Fahrgastraum mit dem Gepäck oder dem Baby, reicht sich Arm oder Hand zur Stütze und achtet aufeinander: Berührungsängste sind dann fehl am Platze. Wer zur Arbeit nach Kolumbien kommt, merkt schnell: Komplimente unter Kollegen sind an der Tagesordnung – natürlich im Rahmen des gebotenen Respekts – und helfen, ein vertrauensvolles, gutes Klima aufzubauen. Die klassischen Rollen werden in Kolumbien gelebt; aber auch diese verändern sich zumindest bei der gut ausgebildeten städtischen Bevölkerung zusehends.

Gullydeckel: Diese Schwergewichte stehen emblematisch für das Unvorhersehbare und Unvorgesehene, das oft genug den Straßenalltag auszeichnet. In ärmeren Regionen gibt es sie kaum; die Dörfer sind Überschwemmungen ausgeliefert. In urbanen Zentren sind sie durchaus geplant, fehlen aber oft. Diebe entwenden nicht nur in Bogotás Candelaria regelmäßig die gusseisernen Abdeckungen, um mit dem Metallwert Geld zu verdienen. Die öffentliche Hand versäumt anschließend, sie zu ersetzen oder für eine Absperrung zu sorgen. Mit schrecklichen Folgen: So verschwand mitten auf der Avenida Jiménez ein Mädchen, das die Großmutter einen Augenblick von der Hand gelassen hatte; die Kleine wurde einen Kilometer weiter aus der Kanalisation gefischt. Außer dem fatalen Unfallrisiko für Fußgänger sind aber auch Autofahrer gefährdet. Nicht immer sind Langfinger schuld: Starke Regengüsse, die ungeheuren Druck in der Kanalisation erzeugen, sorgen schon mal dafür, dass Gullydeckel auf der Hauptstraße wie von einer Fontäne aus ihren Angeln gehoben und weggeschleudert werden. Soll heißen: Augen auf im Straßenverkehr, hier sind Dinge möglich, von denen man in Mitteleuropa nicht mal träumt! Mehr zum Thema im Kapitel „Was dem Fremden sofort auffällt“ ab Seite 279.

Indigene: Sozial und emotional sehr bereichernd kann der Kontakt mit Indigenen sein. Er ist jedoch von diesen nicht unbedingt erwünscht – und das ist zu respektieren. Die einst zahlreichen indianischen Völker mussten seit Kolumbus – und besonders während der Zeiten des bewaffneten Konflikts – viel aushalten und nur besonderer Zusammenhalt und Abgrenzung von der Außenwelt hat die letzten von ihnen vor dem Verschwinden bewahrt. Einheit, Autonomie, Land, Kultur und Sprache sind die Grundpfeiler für ihre Zukunft in der modernen, globalisierten Welt, in welcher Entwurzelung, Wanderbewegungen, Konsumorientierung und soziale Verarmung eine ständige Bedrohung darstellen. Besucher von resguardos (Reservaten) betreten gewissermaßen unabhängiges Terrain – und so sollten sie sich auch verhalten. Besuche bei den lokalen Autoritäten und respektvolles Eingehen auf jede einzelne Person gehören dazu, ebenso die Achtung von Tabus (betrifft z. B. vielerorts den Genuss von Alkohol) oder das Verbleiben auf öffentlichen Wegen.

Katholizismus: Er prägt Kolumbien seit dem 16. Jahrhundert und ist auch heute die mit großem Abstand populärste Form der Gottesanbetung. Er durchdringt den Alltag (Taxi- und Busfahrer haben Bilder von Schutzheiligen bei sich und schlagen an schwierigen Straßen ein Kreuz), stärkt gesprochen aus dem Mund der Alten die Jungen („Dios te bendiga! – Gott segne dich!“), spendet Trost an einsamen Kreuzwegen (hier sieht man Mariendarstellungen, gern mit Kerzen bestückt) und prägt die Architekur aller Städte und Dörfer (die Kirche ist deren Zentrum, hier findet bei Sonnenuntergang eine Messe statt). Er hat auch eine finstere Seite: Manch Kloster wirkt wie ein Gruselkabinett mit all den Ölgemälden von toten Nonnen, gequälten Heiligen und den verdrehten Holzfiguren, die verstaubt auf ihr Festkleid bei der nächsten Prozession warten. Kenntnisse des Katholizismus – und selbstverständlich Respekt für die Gläubigen – helfen, die Mentalität zu verstehen, die Menschen schätzen und lieben zu lernen.

Kokain/Koka: Für Zehntausende Familien Lebensgrundlage, für Kolumbiens Ruf in der Welt ein Fluch, für die Sicherheit der Reisenden ein Risiko – das sind nur einige der Facetten von Kokaanbau, Kokainherstellung und -konsum. Gebiete mit professionell angelegten Kokaplantagen gehören zu den unsicheren Regionen des Landes. Hier gibt es in der Regel keinen oder wenig orden público, hier streiten bacrims (s. S. 136) um Macht und Einfluss und man meidet sie besser. Die harschen Konsequenzen von Konsum bzw. Schmuggel des illegalen weißen Pulvers kann sich jeder ausmalen. Anders verhält es sich mit Koka im Naturzustand: Indigene Völker, die die Sträucher nicht zur Herstellung des für den Export bestimmten Kokainhydrochlorids, sondern von Alters her zur eigenen Verwendung in ihren resguardos pflanzen, kauen die Blätter aus (spi-)rituellen oder medizinischen Gründen. Jene, mit denen sie freundlicherweise diese Tradition in ihren Dörfern teilen möchten, dürfen sich geehrt fühlen und müssen nicht nein sagen. Kokablätter im Teebeutel gibt es inzwischen sogar ganz legal im Öko-Shop (z. B. in touristischen Orten wie Villa de Leyva); die Wirkung des an Heu erinnernden Geschmacks eines solchen Tees hält sich allerdings sehr in Grenzen. Mehr zu dem Thema findet sich in den Kapiteln „Gewalt und Drogenökonomie“ ab Seite 142 und „Alkohol, Rauchen, Drogen“ ab Seite 181.

Kriminalität: Zu unterscheiden ist armutsbedingte bzw. durch Drogenmissbrauch bedingte (Klein-)Kriminalität sowie die „große“ organisierte, mafiöse Kriminalität. In Landesteilen mit orden público ist das Risiko vielleicht geringer als in manch anderem lateinamerikanischen Land. Generell trifft man in Kolumbien auf sehr zuvorkommende und äußerst hilfsbereite Menschen. Im falschen Stadtviertel schlägt die Sache um – wo sich die Zivilgesellschaft aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen hat, sind Gangster aktiv. Einfache Handydiebstähle, heimlicher Einsatz von KO-Tropfen, als inoffizielle Taxifahrer getarnte Spitzbuben und Überfälle in einsamen, dunklen Ecken sind die Klassiker. Heutzutage selten geworden sind hingegen Entführungen und der paseo millonario (s. S. 240). Heldentum bleibt generell besser daheim. Mehr dazu im Kapitel „Sicherheit und Unsicherheit“ ab Seite 238.

Kritik (im Gespräch): Kritik wird im Regelfall charmant verpackt und ist zwischen den Worten und in der Wortmelodie zu suchen. Sensibilität und soziale Kompetenz im Umgang mit Gesprächspartnern, gepaart mit einer gehörigen Portion Konformismus, gehören zum kolumbianischen Leben wie der Koriander ins Essen. Ausnahmen bestätigen die Regel …

Öffentliche Ordnung („orden público“): Dies ist ein entscheidendes Schlagwort in Kolumbien. Wo sie vorhanden ist, beginnt das Land meist zu erblühen, wo nicht, bleibt man besser fern. In den meisten infrastrukturell (über mehr als eine bloße Stichstraße) angebundenen Regionen kann man sich frei und relativ sicher bewegen, ohne zwischen Kampffronten von Militär, Guerilla-Dissidenten und Narco-Banditen (bacrims) zu geraten. Wer nicht genau weiß, wie es um bestimmte Gebiete (insbesondere in Rand- und Grenzzonen) aktuell bestellt ist, fragt Einheimische – oder im Zweifel in der Alcaldía. Die Situation kann sich – auch in Zeiten des postconflicto – rasch ändern. Mehr dazu im Kapitel „Der bewaffnete Konflikt: Akteure – Alltag – Friedensprozess“ ab Seite 134.

Patriotismus/Denkmäler: Kolumbianer sind generell sehr stolz auf ihre Unabhängigkeitshelden und Gründerväter. Auf den meisten zentralen Dorfplätzen finden sich Statuen von Simón Bolívar & Co., mal klassisch wie auf der Plaza Bolívar in Bogotá, mal modernistisch gewagt wie der Bolívar Condor in Manizales, mal winzig klein wie die Reiterstatue von Puerto Escondido. Es gibt pompöse Erinnerungstempel (so die Quinta San Pedro Alejandrino in Santa Marta), himmelstürmerische Monumente (z. B. auf dem Pantano de Vargas) und patriotische „Wallfahrtsorte“ (etwa Villa del Rosario, Puente de Boyacá und Bomboná mit der Piedra de Bolívar). Dorthin pilgern an langen Wochenenden Familien mit Kind und Kegel, erschauern in Ehrfurcht und fühlen sich eins mit sich und ihren compatriotas (Landsleuten). Eine Erinnerungskultur, die für manch historisch verantwortungsbewussten und selbstreflektierten Mitteleuropäer undifferenziert oder gar etwas anrüchig wirken mag, ist für die Mehrheit der Kolumbianer selbstverständlich und ausschließlich positiv belegt. Ausländische Kritik wirkt hier fehl am Platze, Respekt steht gut zu Gesicht. Mehr zum Thema im Kapitel „Image und Identität: nationale Symbole, Regionalismus, Lokalpatriotismus“ ab Seite 78.

Reisezeit: Kolumbien ist das ganze Jahr über gut zu bereisen. Es regnet allerdings ganzjährig ziemlich oft. Etwas weniger Niederschlag gibt es von Dezember bis März und im Juli/August, dann sind Berge besser zu besteigen, Flüsse weniger sedimenthaltig und daher besser zum Baden geeignet und die Straßen (gerade im Karibiktiefland) weniger von Überflutungen bedroht – wobei auch hier Ausnahmen die Regel bestätigen, wie die zerstörerischen Überschwemmungen der südwestlichen Stadt Mocoa Anfang April 2017 zeigten. Relevanter als jahreszeitliche Temperaturschwankungen, die es fast gar nicht gibt, sind Unterschiede je nach Höhenlage. Die Geografie mit Gipfeln von 5000 und mehr Metern Höhe eröffnet ein klimatisches Spektrum, das von alpiner Rauheit über gemäßigtes Frühlingswetter bis zu feuchtschwüler Stickigkeit in den Niederungen reicht, was für Reisende bekleidungs- und ausrüstungstechnisch herausfordernd sein kann.

Smaragde: Es gibt zwei Wege, Smaragde zu kaufen: Abenteurer fahren direkt in die Abbaugebiete um Muzo (risikobehaftet). Alle anderen wenden sich an – seriöse! – Händler in der Hauptstadt. Wichtig: auf den Bauch hören. Das Vertrauen in die eigene Urteilskraft, das ist, was am meisten zählt. Die Preise für Smaragde lassen sich viel weniger an objektiven Kriterien ausmachen als z. B. bei Diamanten (wo es im wesentlichen auf „die 4 Cs“ ankommt: carat, colour, clarity, cut, außerdem auf Form und Zertifikat), sondern entwickeln sich eher wie bei einem Gemälde aufgrund subjektiver, ja emotionaler Einschätzung. Selbstverständlich hat man Anhaltspunkte: Qualität (Risse, Einschlüsse), Schönheit (Farbe), Transparenz (Klarheit) und Feuer (Glanz). Die hochwertigsten Exemplare nennen die Experten bezeichnenderweise „Öltropfen“. Wer ganz auf Smaragde verzichtet, tut bestimmt nichts Schlechtes: Minenaktivitäten haben in Kolumbien für viel Umweltzerstörung und Blutvergießen gesorgt. Da geht es auch ohne.

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Indigene Souvenirs werden auch in der Großstadt angeboten

Souvenirs: Reisemitbringsel sind in Kolumbien kein Nepp. In dem Maße, wie der Tourismus zunimmt, mag sich dies zwar irgendwann ändern, vorerst aber dominieren authentische, sehr hochwertige Produkte – seien dies hölzerne Tiermasken vom Karneval in Barranquilla, Keramikgeschirr aus La Chamba, Strohhüte aus Tuchín, Hängematten der Wayúu oder Webmuster (molas) der Kuna. Von Smaragden war bereits eben die Rede. Wesentlich preiswerter ist guter regionaler (Öko-)Kaffee, z. B. aus dem Hause Juan Valdez.

Statussymbole: Viele Kolumbianer eifern der westlichen Konsumwelt nach und haben ähnliche Wünsche wie Menschen in Europa – vielleicht noch einen Tick materieller als hierzulande (was manchmal etwas schockierend sein kann). Hinzu gesellen sich indes einige Besonderheiten: etwa die gelungene Schönheits-OP oder die Finca mit eigenem Buckelvieh. Am wichtigsten aber sind Familie und soziale Zusammenkünfte – und wer Teil dieser wird, schätzt das und nimmt sich gebührend Zeit und Muße dafür.

Trinkgeld: Die meisten Lokale addieren 10 % zum Rechnungsbetrag, die man auch bezahlt – es sei denn, man ist unzufrieden mit dem Service (dann muss man es nicht tun). Dienstleister jeglicher Art, die engagiert und ehrlich gearbeitet haben, kann man mit einem wertschätzenden Trinkgeld sehr glücklich machen. Viele von ihnen verfügen über unregelmäßiges Einkommen, haben hungrige Mäuler zu stopfen und stürzen sich jeden Tag aufs Neue in den Daseinskampf.

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Chivas, einst die wichtigsten Transportmittel auf dem Lande, dienen heute meist als Partybusse

Vegetarier: Auf den ersten Blick haben sie es nicht leicht, denn die meisten klassischen Restaurants und Garstuben sind auf Fleisch- oder Fischliebhaber eingestellt. Lediglich in größeren Städten etablieren sich vegetarische Lokale. Auf den zweiten Blick stellt man aber fest, dass in Kolumbien viele kulinarische Schätze zu heben sind, ohne dass unseren Freunden aus dem Tierreich ein Haar, eine Feder oder eine Schuppe gekrümmt werden muss. Die klimatische Vielfalt lässt eine riesige Palette an pflanzlichen Produkten gedeihen. Allein schon die Auswahl an Früchten ist derart groß, dass sie weltweit ihresgleichen sucht. Sich vegetarisch zu ernähren, ist allerdings nur für Selbstversorger richtig einfach, die das Angebot auf den Märkten intensiv nutzen und selbst kochen. Mehr zum Thema im Kapitel „Esskultur und Restaurantszene“ ab Seite 190.

Verkehrsmittel: Es gibt sie in großer Zahl und in fantasievoller Auswahl, und man gelangt mit ihnen (fast) überall hin, auch in sehr abgelegene Gebiete. Die Provinzhauptstädte verfügen in der Regel über einen modernen, gut organisierten terminal (Busbahnhof), von dem sternförmig Gefährte in die meisten Landkreise der Provinz ausschwärmen. Überdies bestehen Verbindungen in die Hauptstädte der Nachbarprovinzen – und nach Bogotá sowieso. Fernbusse können futuristisch wie Raumschiffe und nachts so kalt wie das Weltall sein (Jacke und Schal in den Fahrgastraum nehmen!). Busse im Nahverkehr können daherkommen wie abgehalftertes Kriegsgerät, stinkend, rostig und überhitzt. Chivas (traditionelle Lkw-Busse mit Holzaufsatz) und Jeeps quälen sich unbefestigte Wege entlang. Sie sind unbequem und eng und in ihnen zählt nur, das Ziel irgendwie zu erreichen. Taxis sind eine recht günstige Alternative. In den meisten Städten fahren sie mit Taxameter, in einigen Städten gibt es Festpreise. Bei Überlandfahrten sollte man den Preis zuvor aushandeln. Motorradtaxis (oft inoffiziell) steuern abgelegene ländliche Ziele an, die für Autos aufgrund des Straßenzustands unerreichbar bleiben.

Wandern: Bis vor wenigen Jahren war Kolumbien kein Wanderland, die unübersichtliche Sicherheitslage ließ es schlicht nicht zu. Man blieb in der Stadt oder zog sich dorthin zurück. Im bäuerlichen, sehr einsamen, oft von Vertreibung geprägten Umland hielten sich Guerillakämpfer und Paramilitärs auf und verbreiteten eine Atmosphäre der Angst. Das hat sich inzwischen in vielen Regionen zum Glück geändert. Die Kolumbianer entdecken ihre einzigartige, grandiose Natur und gewinnen an ökologischem Bewusstsein. Entsprechende Infrastruktur steckt indes noch in ihren Kinderschuhen, Wege sind nicht markiert und meist schwer zu finden. Vernünftige Ausrüstung (Einheimische schwören auf Gummistiefel), Kenntnisse über Höhenkrankheit und die Gefahr von Dehydration darf man bei Wanderlustigen sicher voraussetzen. In sehr abgelegenen Landkreisen wendet man sich gegebenenfalls an die Alcaldía, wo hilfsbereite (und unterbeschäftigte) Mitarbeiter bei der Vermittlung von ortskundigen (Berg-)Führern helfen und vor etwaigen Landminen warnen. Im Laden kauft man geeigneten Proviant (auch für den Führer), z. B. panela, galletas und Sardinen. In touristischeren Gebieten wie in Minca oder nahe San Gil und Barichara kommt man ohne Führer zurecht. In Großstädten schließt man sich am Sonntagmorgen der sportlichen Lokalbevölkerung an, die (ansonsten einsame und von Räubern frequentierte) Kreuzhügel hochjoggt oder -pilgert.

Zeitverständnis: Zeit ist relativ (das gilt in Kolumbien vielleicht noch mehr als anderswo) und Geduld eine Tugend – ebenso wie die stete Bereitschaft, Gelegenheiten ganz schnell und zupackend beim Schopfe zu ergreifen. Raum und Notwendigkeit für Improvisationskünste sind im alltäglichen Kampf mit einkalkuliert. Mal dauert alles sehr lange, mal geht es sehr schnell. Man wartet und hetzt im Wechsel, um möglichst gut durchs Leben und an seine Ziele zu kommen. Übertriebene Pünktlichkeit nimmt an Wichtigkeit ab, je weiter man vom Hochland hinabsteigt ins tropische Tiefland und je mehr man sich von den urbanen Zentren entfernt.

Geografische Vielfalt, geschichtliche Wurzeln

Kolumbien – Land der Extreme

Wer unbefangen und offenen Auges durch Kolumbien reist, ahnt schnell, wie sehr die Gegenwart von der Geografie und Geschichte des Landes geprägt ist und von Kräften gelenkt wird, die die Macht des einzelnen Menschen übersteigen.

Ob Wüste oder Gletscher, Urwald oder Hochgebirge, Flussdeltas oder Ackerland ohne Ende. Dazu gleich zwei Meere und obenauf drei steile Andenketten. Eine derart abwechslungsreiche Umwelt ist für den flüchtigen Reisenden aus dem moderaten Mitteleuropa kaum zu fassen.

Kolumbien, dieses Land im Nordwesten Südamerikas, spiegelt die ökologische Vielfalt eines ganzen Kontinents wider.

Klima und geografische Besonderheiten

In Kolumbien gibt es keine temperaturbedingten Jahreszeiten. Hier kennt man nur Regen- und Trockenperioden. Die auch invierno (Winter) genannte Regenzeit umfasst April bis November; den extremsten Niederschlägen begegnet man gewöhnlich im Mai/Juni sowie im Oktober/November. Die als verano (Sommer) bezeichnete Trockenzeit hingegen geht von Dezember bis März; eine zweite, etwas kürzere und regenärmere Periode kann es im Juli und August geben. Doch sicher ist auch das nicht.

Denn diese Faustregel ist ihrerseits abhängig von zwei weltweiten Klimaströmen, El Niño („Der Junge“) und La Niña („Das Mädchen“). Beide Großwetterlagen erfassen das Land in aller Regelmäßigkeit und können die Regenperioden erheblich ausdehnen oder intensivieren.

Bedingt wird der Regenreichtum von der Nähe zum Äquator. Manche Regionen wie das am Pazifik und Atlantik gelegene Chocó gehören mit bis zu 12.000 mm im Jahr zu den weltweit niederschlagreichsten Regionen. Mindestens ein täglicher heftiger Regenguss, aufgrund des tropischen Klimas meist am Nachmittag, ist in vielen Landesteilen völlig normal, man sitzt ihn aus und geht dann wieder seiner Wege. Tropenbesucher erfreuen sich der größten Regentropfen, die sie je erleben werden. Ausnahmen bestätigen nur die Regel: Im Nordosten des Landes, im Grenzgebiet zu Venezuela, liegt die durch die Passatwinde bedingte in die Karibik hineinragende Guajira-Wüste, in der in manchen Jahren weniger als 300 mm Niederschlag gemessen werden. Aufgrund der äußerst variablen Geografie machen nur lokale Wettervorhersagen wirklich Sinn.

Im Gegensatz zum Niederschlag schwanken die örtlichen Temperaturen dagegen übers Jahr gemessen kaum. Sie werden fast ausschließlich von der Lage und Tageszeit bestimmt. An den Küsten kann man sich auf oftmals schwüle 25 bis 30 Grad Celsius einstellen, im Hochland Bogotás (2600 m) immer noch auf durchschnittlich etwa 15–17 Grad, die nachts aber schon mal auf 6 bis 9 Grad sinken.

Extrainfo 1(s. S. 10): Spektakuläre spanischsprachige Naturreportage über das zweitartenreichste Land der Erde

Grundsätzlich unterscheidet man fünf verschiedene Zonen: Die „tierra caliente“ (wörtl. „heißes Land“) umfasst alles von der Meereshöhe bis 1000 m und damit, bei tropischen Temperaturen über 24 Grad, mehr als 60 % des Landes. Die subtropischen Mittellagen zwischen 1000 und 2000 m über dem Meeresspiegel machen ein Zehntel des Landes aus, mit Temperaturen zwischen 17 und 24 Grad Celsius. Sie werden auch gerne als „Kaffeeklima“ („clima cafetero“) bezeichnet. Das kalte Land („tierra fría“), darunter die Sabana rund um die Hauptstadt oder Städte wie Pasto (Nariño) oder Tunja (Boyacá), liegt zwischen 2000 und 3000 m ü. M. und wird vom kühleren andinischen Gebirgsklima geprägt. Auf den „páramo“ genannten Höhenlagen der Hochtundra über 3000 m – sie machen immerhin noch zwei Prozent der Gesamtfläche aus – liegen die Temperaturen tagsüber gemeinhin unter 12 Grad mit Chancen auf Nachtfrost. Bei 4200 Metern liegt die Baumgrenze, darüber – ab etwa 4900 Höhenmetern – „nieve eterna“, der ewige Schnee, etwa in den spektakulären Gletschergebieten der Sierra Nevada del Güicán y Cocuy.

Als angenehm empfinden viele Europäer die wärmeren, aber eben noch nicht heißen Mittellagen. Hier befinden sich die Kaffeezone (eje cafetero) oder Städte wie Bucaramanga oder Medellín, die „Stadt des ewigen Frühlings“. Da das Hochland rund um Bogotá als eher kühl gilt – eine Reizmischung aus Spätfrühling oder Frühherbst – treibt es die Bogotanos, die es sich leisten können, an Wochenenden in die zwei Stunden entfernten, niedriger gelegenen Lagen der tierra caliente. Die karibische Küste mit den Touristenzentren Cartagena und Santa Marta zieht ihre Gäste trotz der oft feuchten Schwüle und Temperaturen über 28 Grad in ihren Bann, zumal in den regenärmeren Wochen ab Dezember.

Neben den extremen Klimabedingungen prägte eine außergewöhnliche Geografie die Besiedlungsgeschichte des Landes. Drei Kordilleren, die das Land mit steilen Hängen und Gipfeln bis über 5000 m von Süden nach Norden durchziehen, formieren die Andenregion. Dort erlaubte die räumliche Nähe verschiedenster Klimazonen den ganzjährigen Anbau und Handel vielfältiger Agrarprodukte und beschleunigte die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung. Nicht zufällig befinden sich in den für europäische Verhältnisse hohen Lagen zwischen 1600 und 2800 m ü. M. viele wichtige Städte.

Im Dreieck zwischen Bogotá, Medellín und Cali spielt sich der überwiegende Teil der wirtschaftlichen Entwicklung ab, entwickelte sich über die Jahrhunderte eine produktive Landwirtschaft rund um Kartoffeln, Maniok (yuca), Gemüsebananen (plátanos) und den Fruchtanbau. In dem Gebiet um die westlich gelegenen und etwas kleineren Mittelstädte Armenia, Manizales und Pereira entfaltete die Kaffeekultur im 20. Jahrhundert ihre Blüte. Dazu kamen Bodenschätze wie Gold und Kohle in der Zentralkordillere von Antioquia oder Salz wie etwa in Zipaquirá nördlich der Hauptstadt.

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Land der Extreme: Cabo de la Vela an der Nordspitze des Kontinents

Ähnlich produktiv entwickelte sich andernorts nur noch der Norden des Landes, der sich mit seinem Zugang zum Karibikraum seit jeher als Handelsregion anbot. Über Küstenstädte wie Riohacha, Santa Marta und etwas später Barranquilla oder die weiter im Landesinneren gelegenen Städte wie Mompox kamen die Handelsgüter legal oder illegal ins Land. Cartagena ist bis heute, nach dem Pazifikhafen Buenaventura, der wichtigste meergebundene Umschlagplatz für Importe und Schmuggelgut. In den letzten Jahrzehnten wurde die landläufig betriebene Viehzucht durch das Erstarken der Paramilitärs, die viel fruchtbares Ackerland in Weideland verwandelten, ausgebaut.

Klima und eine vielfältige Landschaft sind das eine. Um den Alltag der Menschen zu begreifen, hilft es zugleich, die politischen und sozialen Bedingungen zu verstehen, die das Denken, Handeln und Fühlen der Kolumbianer über Jahrhunderte geformt haben. Drei Phänomene stechen dabei besonders ins Auge: Erstens, die ungeheuren regionalen Unterschiede. Zweitens, eine weithin noch immer unterentwickelte Wirtschaft, begleitet von sozialer Ungleichheit. Und drittens, ein relativ schwacher Staat, der trotz institutioneller Kontinuitäten nie Herr der Konflikte geworden ist, die bis heute innerhalb seines Territoriums ausgefochten werden.

Extrainfo 2(s. S. 10): Spanischsprachiges Video über die Besteigung eines spektakulären Berges in Antioquia

Geografische Vielfalt: fünf Regionen – starke Unterschiede

Aus wie vielen Regionen sich das heutige Kolumbien zusammensetzt, kann keiner so genau sagen. Allzu sehr vermischen sich historische und kulturelle Identitäten, politische Verwaltungseinheiten, ökonomische Zusammenhänge sowie sprachlich oder ethnisch bestimmte Zusammengehörigkeiten. Man tritt aber keinem Lokalpatrioten zu nahe, wenn man fünf regionale Großräume verortet: das andinische Kernland, die Pazifikregion im Westen, das Einzugsgebiet des Amazonas im Süden, die östlichen auf den Orinoko zulaufenden Tiefebenen (Llanos Orientales) und schließlich die karibische Atlantikküste im Norden.

Kernland zwischen Anden und Karibik

Das wirtschaftlich vergleichsweise entwickelte, von staatlichen Institutionen durchdrungene Kernland setzt sich aus der Andenregion und der Karibikküste zusammen. Es sind jene Gebiete, in denen die indigene Bevölkerung lange und stark vertreten war und die später von den Spaniern am frühesten und gründlichsten „kolonisiert“ wurden. Die anderen Landesteile im Westen (Pacífico), im Osten (Llanos) und Süden (Amazonas) sind diesem Landeskern gegenüber flächenmäßig zwar überlegen, doch politisch seit jeher marginalisiert, sozial stigmatisiert und ökonomisch wenig entwickelt. Mitteleuropäern erscheint auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig, dass der Zentralstaat und seine Institutionen in weiten Teilen des Landes nie kontinuierlich präsent waren. Dafür aber bildete sich ein Land heraus, in dem die Regionen über Folklore und Dialekte hinaus ausgeprägte Besonderheiten aufweisen.

Auf der wirtschaftlich entwickelten Achse zwischen den Anden und der Karibik sitzt auch die Nationalregierung (Bogotá), 70 % des Bruttoinlandsprodukts werden in dieser Region erzeugt. Das kulturelle und wirtschaftliche Band ist der mächtige Río Magdalena, der das Land von Süden nach Norden durchzieht und bei Barranquilla ins Karibische Meer mündet.

Der pazifische Westen

Im Westen des Landes, von Ecuador hoch bis Panama, erstreckt sich die von Afrokolumbianern geprägte, historisch wie ökonomisch stets randständige Region des Pazifiks. Die Industrie interessiert sich allenfalls für das Gold und Platin oder für nachwachsende Rohstoffe wie Palmöl und Holz, die wie der Kaffee aus dem südlicher gelegenen Großhafen Buenaventura in die Welt geschickt werden.

Der Tourismus ist trotz weithin unberührter Strände erst im Aufbau. Die chronische ökonomische Unterentwicklung liegt auch an selbst für kolumbianische Verhältnisse außergewöhnlichen klimatischen Bedingungen. Die Pazifikküste gehört zu den niederschlagsreichsten Gebieten der Welt, der dichte, artenreiche Regenwald hemmt dort jede größere Infrastrukturplanung. Selbst die Panamericana, jener panamerikanische Highway von Alaska bis Patagonien, setzt hier für ein paar hundert Kilometer aus. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit der Guerilla und anderen bewaffneten Gruppen zementierte das bis heute anhaltende Schattendasein des Landstrichs. Mit dem Friedensschluss mit den FARC ist die Situation noch unübersichtlicher geworden.

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Nationalpark: der Páramo am Fuße des Vulkans Puracé

Amazonasregion

Die im Süden gelegene Fluss- und Regenwaldlandschaft des Amazonas, welche die europäische Fantasie schon immer angeregt hat, erschien bis vor Kurzem kaum auf den geistigen Bildschirmen der Landesbewohner. 1938 wurde der Zugang zu dem Wasserweg per Krieg gegen Peru gesichert, seither dient der mythische Fluss als noch immer sehr durchlässige grüne Grenze zu Ecuador, Peru und Brasilien. Als Motor für die Entwicklung Kolumbiens spielte er bislang eine untergeordnete Rolle. Leticia wird heute als Touristenzentrum ausgebaut, man bemüht sich um ein ökologisch vertretbares Besuchergeschäft. Doch die Infrastruktur bleibt prekär: Ausgebaute Straßen sind rar, die meisten Orte sind nur per Boot oder (Wasser-)Flugzeug zu erreichen, Anreisen aus den Dörfern in die Kleinstädte dauern oft Tage. Weite Gebiete sind trotz der Vitalität zahlreicher, zahlenmäßig eher kleiner Indianerpopulationen unbevölkert. Für Anthropologen, Biologen und Schmuggler ist der Dschungel ein Geschenk.

Der bewaffnete Konflikt drang in den 1980er-Jahren immer weiter in die bevölkerungsreichen Regionen Putumayo und Caquetá vor, in den späten 1990er-Jahren wurde der Guerilla dort die berüchtigte Selbstverwaltungszone (zona de despeje) eingerichtet. Inwieweit das nach dem Friedensschluss mit den FARC entstandene Machtvakuum gefüllt wird, bleibt ungewiss.

Region Orinoquía

Die Region Orinoquía, landläufig bekannt als Llanos Orientales, ist hingegen geprägt von den Weiten der Pampa und der Viehzucht. Der Orinoko, Südamerikas drittgrößter Fluss und zugleich die natürliche Grenze zu Venezuela, gehört zu den undurchdringlichsten und ökologisch wertvollsten Einzugsgebieten. Nirgendwo soll die untergehende Abendsonne größer und dunkelroter sein als zu den Füßen der östlichen Andenkordillere. Im 20. Jahrhundert wurde in den Bundesländern Casanare und Arauca Erdöl entdeckt, in jüngster Zeit hat das Agrobusiness die Holz- und Palmölproduktion forciert. Trotz der damit einhergehenden Steuern und scheinbar unvermeidlichen Schmiergelder blieben weite Teile der Tiefebenen im Osten des Landes nur schwach bevölkert, wenig entwickelt und darob als Einzugs- und Rückzugsgebiet der Guerilla, ihrer paramilitärischen Pendants und Nachfolgeverbände bis heute attraktiv.

Küstenregion Atlantik

Die Küstenregion des Atlantiks vereint eine dem Meer, dem Handel und der Viehzucht zugewandte Identität. Nirgendwo ist das soziale und ethnische Gefälle zwischen den Städten und dem Umland auffälliger. Das koloniale Cartagena, im 17. Jahrhundert größer als New York, blieb bis heute ein umtriebiger Umschlagplatz: Containerhafen, Spekulationsobjekt und Touristenperle. Doch in den Vororten lebt ein Großteil der Bevölkerung von der Hand in den Mund. Die vorkoloniale Präsenz indigener Kulturen wie der Tayrona ist längst dahin oder in die Hochebenen der Sierra Nevada verdrängt. Einen ungleich stärkeren Einfluss auf die Küstenkultur üben heute Immigrantengruppen aus dem Nahen Osten, zumal die libanesischen Einwanderer, aus. Das lässt sich an der lokalen Küche, dem Import-Export-Handel, den Besitzverhältnissen großer Viehranches und den politischen Eliten in Städten wie Barranquilla oder Santa Marta ablesen. Bis vor einigen Jahren waren die Paramilitärs hier besonders gut organisiert. Aus der karibisch geprägten Gegend stammt auch die cuna del vallenato, die populärste Art der Volksmusik des Landes, der kolumbianischste aller Rhythmen (Cumbia) sowie eine selbst für hiesige Breitengrade ausgeprägte Kultur des machismo.

Extrainfo 3(s. S. 10): Arte-Reportage über die Karibikküste, einen eselreitenden Bibliothekar und eine Keksverkäuferin aus Palenque de San Basilio

Historische Spurensuche: frühe Besiedlung, Kolonialzeit und Revolution

Auch wenn in den (vergleichsweise wenigen) europäischen Reiseberichten immer wieder betont wird, wie dünn besiedelt dieser Landstrich im Nordwesten des südamerikanischen Kontinents sei, wie weit verteilt die städtischen Siedlungen und wie schwach die Verbindung zwischen diesen, so fanden die europäischen Eroberer mitnichten ein leeres Land vor. Im Gegenteil: Wie in anderen Teilen der Andenwelt, hatte die indianische Bevölkerung auch auf dem Territorium des späteren „Kolumbien“ eine komplexe Umwelt bewohnbar gemacht und an manchen Orten erstaunliche Hochkulturen entwickelt, als die conquistadores zunächst die Karibikküste entdeckten und zu Beginn des 16. Jahrhunderts mit Gewalt in ihr Leben traten.

Indigene Hochkulturen vor 1500

Schon lange vor Ankunft der Spanier firmierte Kolumbien als Bindeglied zwischen Süd- und Mittelamerika. Die Pazifikküste, der Magdalenenstrom und das Tal des Río Cauca erlaubten den Handel, Siedlungsbewegungen und wechselseitige Kulturkontakte. An Kolumbiens bekanntester, in den Bergen am Oberlauf des Río Magdalena gelegener archäologischer Ausgrabungsstätte San Agustín kann man diesen produktiven Austausch zwischen den präkolumbischen Kulturen gut ablesen (300 v. Chr.).

Die Sprachfamilien der Chibcha, der Kariben und der Arawak dominierten den linguistischen Flickenteppich, der sich in Kolumbiens zerklüfteter Landschaft kreuz und quer verteilt hatte. Die Chibcha waren kulturell mit Zentralamerika verbunden, besiedelten vor allem (aber nicht ausschließlich) Hochlandregionen wie die Sierra Nevada im Norden, die östliche Kordillere (um das heutige Bogotá) und den Süden der Zentralkordillere.

Von allen indigenen Völkern Kolumbiens waren die Muisca das größte und bekannteste. Sie beherrschten weite Teile der östlichen Hochebenen in Boyacá und Cundinamarca, in der weiteren Umgebung der heutigen Hauptstadt Bogotá.

Eine andere mit den Muisca verwandte Hochkultur hatte sich bei Ankunft der europäischen Eroberer an den Füßen der Sierra Nevada, nordöstlich des heutigen Santa Marta, entwickelt: Die Tayrona bauten auf Stein und verbanden ihre Siedlungen und ihre jeweiligen Landwirtschaften über verschiedene Klimazonen hinweg. Dank der steilen Sierra waren die Tayrona weniger anfällig für die blutigen Raubzüge der Spanier und die kaum weniger gefährlichen Krankheiten, die sie einschleppten, wie Malaria oder Gelbfieber. Heute erinnern die Dörfer der Kogui in den Hängen der Sierra Nevada an diese frühe Blütezeit; den eindringlichsten Eindruck bekommt man in der Ciudad Perdida, einer 1976 aufgefundenen und Archäologen als „Buritaca 200“ bekannten Ausgrabungsstätte im Hochland, die nur über einen dreitägigen Fußmarsch durch die Nebelwälder zu erreichen ist.

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Präkolumbische Steinskulpturen in San Agustín

Die Kariben hingegen lebten bevorzugt im flachen Land, unter anderem an der Nordküste, im Magdalena-Tal und im unteren Cauca-Tal. An der Karibik hat man frühe Zeugnisse der Sesshaftigkeit entdeckt, die sich auf 2000 bis 3000 v. Chr. datieren lassen. Die Karibenkultur lebte von dem, was Meer und Flüsse hergaben, sowie yuca-basierter Landwirtschaft. Seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung machte ein produktiver Maisanbau, der von Zentralamerika heruntergewandert war, klimaunabhängigen Nahrungsspeicher und somit Bevölkerungswachstum möglich.

Mit dem Handel einher gingen neue Formen politischer Kontrolle und eine Hierarchisierung vormals eher egalitärer Gemeinschaften. Eine neue Kaste von Priestern entwickelte spezielle Klimaexpertise, die Regen- und Pflanzzyklen aufeinander abstimmen sollte. Mit fortschreitender Arbeitsorganisation und der Weiterentwicklung der Infrastruktur, etwa dem Bau von Stau- und Bewässerungssystemen, wuchs die soziale Komplexität dieser Volksgruppen, so etwa im Gebiet der großen Flussunterläufe wie dem Sinú südlich von Cartagena.

Abenteuerlich: die ersten Stadtgründungen

Stadtgründungen waren seit jeher das Mittel der Neuankömmlinge, ihren Machtanspruch zu befestigen. An der Verteilung der Städte lässt sich zugleich die Besiedlungsgeschichte ablesen: eine Kolonisation, die von den Küsten der Karibik und des Pazifiks über die Deltas und Täler der großen Flüsse wie den Río Magdalena und Río Cauca ins Landesinnere vordrang.

Das 1525 von Rodrigo de Bastidas gegründete Santa Marta war die erste dauerhafte Stadtgründung im heutigen Kolumbien – nach dem längst verschwundenen „Santa María la Antigua del Darién“ (1510) und nach Coro (heute Venezuela) die dritte überhaupt auf dem gesamten Kontinent. Es folgten 1533 Cartagena und drei Jahre später Popayán und Santiago de Cali. Die spätere Hauptstadt Bogotá wurde am 6. August 1538 von Gonzalo Jiménez de Quesada am Fuße der Berge, im heutigen Stadtteil Teusaquillo, gegründet.

Manche der frühen Kolonialstädte wie Honda (Tolima, 1560), Ibagué (Tolima, 1550) oder das UNESCO-Weltkulturerbe Mompós (1537 als Santa Cruz de Mompox gegründet) hatten ihre Blütezeit und haben heute an Bedeutung eingebüßt. Andere, heute weitaus bedeutendere Städte wie Medellín (Antioquia, 1616), Bucaramanga (Santander, 1622) oder Cúcuta (Norte Santander, 1722) entwickelten sich erst später. Die großen zeitlichen wie räumlichen Distanzen bezeugen, wie wenig entwickelt weite Teile des Landesgebiets lange Zeit blieben.

So manche Stadtlegung berief sich auf nichts anderes als die abenteuerlichen Umtriebe ihrer Gründer. Die meisten gerne „Eroberer“ genannten Abenteurer kamen aus Europas Armenhäusern und nicht wenige direkt aus den Gefängnissen oder Umständen, die eine Flucht vorteilhaft scheinen ließen.

Der Spanier Sebastián de Belalcázar etwa zog von Santo Domingo nach Ecuador, um Francisco Pizarro bei seinem Feldzug gegen die Inkas zu helfen. 1534 gründete er dort, auf den Ruinen der bis dahin nördlichsten aller Inkastädte, San Francisco de Quito (heute Hauptstadt des Nachbarlandes). Der Ruf des Goldes lockte ihn weiter nach Norden in das Gebiet des heutigen Kolumbien, wo er 1537 mit 100 Mann 3000 Indígenas besiegte und La Asunción de Popayán und Concepción de Pasto gründete.

Auf der Suche nach Reichtümern und Ruhm zog Belalcázar von dort das Cauca-Tal hinunter, überquerte den Río Magdalena und erreichte 1539 eine Hochebene, auf der er niemanden anzutreffen vermutete. Zu seiner Überraschung hatte sein Landsmann Jiménez de Quesada einige Monate zuvor schon dort, wo Zipa-Indios ihre Heiligtümer hatten, Santa Fé de Bogotá aus der Taufe gehoben.

Auch die Deutschen hatten in dieser kolonialen Gründerzeit ihre Hände im Spiel. Das Augsburger Bankhaus der Welser finanzierte die Wahl Karls V. und unterstützte die spanische Krone bei der Vorbereitung ihrer kolonialen Abenteuer. Dafür erhielten die Banker weitgehende „privilegios“, Gebietszusagen in der gerade von den Europäern entdeckten „neuen Welt“. Einer ihrer Emissäre, der deutsche Vizegouverneur von Venezuela Nikolaus Federmann (geb. 1501 in Ulm, gest. 1542 in Valladolid), unternahm von Coro („Neu-Augsburg“) aus mehrere Expeditionen auf der Suche nach dem sagenhaften El Dorado.

Nach seiner ersten „entrada“ ins Einzugsbecken des Orinoko kehrte Federmann 1531 nach Europa zurück. Auf seiner zweiten Expedition 1536/1539 gründete er an der Mündung des La-Hacha-Flusses die Siedlung Nuestra Señora de las Nieves, das heutige Riohacha, das seiner noch 500 Jahre später mit einer Statue an der Strandpromenade gedenkt. Überdies fand er einen Andenpass, der ihm Zugang zur Hochebene von Bogotá verschaffen sollte. Doch wie sein Abenteurerkollege Belalcázar musste er feststellen, dass ihm Jiménez de Quesada zuvorgekommen war.

Der erste Gründungsakt und offizielle Geburtstag von Bogotá am 6. August 1538 wurde aus Formgründen zunächst annulliert. Die beiden kurz darauf eintreffenden Kollegen Federmann und Belalcázar sahen sich deshalb dazu berufen, am 2. Februar 1539 einen zweiten Gründungsakt zu organisieren. Zur Klärung des rechtmäßigen Anspruchs reisten die drei Abenteurer zurück nach Madrid vor das Schiedsgericht des Consejo de Indias. Dort entschied man nach einigen Diskussionen und Intrigen zugunsten von Jiménez de Quesada. Federmann prozessierte unterdessen mit seinem Arbeitgeber um die heimgebrachte Kriegsbeute und starb kurz darauf, nachdem er auf alle Besitztitel auf der Hochebene um Bogotá verzichtet hatte.

Die Welser indes stellten bald ihre Unternehmungen ein und überließen den Spaniern die weitere Eroberung des Kontinents. Deutsche Migranten sollten im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch einmal nicht unwesentlich zur Landesentwicklung beitragen. Doch aus dem Geschäft der Stadtgründungen hielten sie sich fortan heraus. Die Stadtbilder Kolumbiens sind deshalb, wenn nicht längst von der Planlosigkeit des 20. Jahrhunderts überformt, ausschließlich an ihren spanischen Vorbildern orientiert.

Auch die dritte Sprachgruppe der Arawaks hielt sich an das Flachland und siedelte in den Llanos, im Amazonasbecken und in der Guajira-Wüste im Norden.

Die Schätzungen gehen zum Teil weit auseinander, doch beziffert man die Bevölkerungszahl der kolumbianischen Ureinwohner zum Zeitpunkt der einsetzenden Kolonisierung auf etwa drei bis vier Millionen. Etwa eine Million davon im heutigen Antioquia, eine weitere Million im Hochland von Bogotá.

Ob Chibcha, Kariben oder Arawak, der Hinweis auf die präkolumbischen Hochkulturen ist wichtig, denn er widerlegt die üble Nachrede der conquistadores von den primitiven Kulturen, die man vor Ort vorgefunden hätte. Andererseits sollte man die Errungenschaften der Tayrona und Zenú weder verallgemeinern noch verklären. Ein guter Teil der indigenen Stämme und Völker lebte in einfachen Verhältnissen, die den europäischen Kolonisten in ihrer Zeit zu Recht sehr exotisch erscheinen mussten. Und bei allem Handel untereinander lebten die meisten Stämme bereits vor Ankunft der Europäer in einem Zustand andauernder Kriege.

In den Konflikten untereinander ging es meist darum, das eigene Territorium zu erweitern, Bevölkerungsdruck auszugleichen oder ganz einfach um die archaische Art und Weise, Herrschaft auch nach innen auszuüben. Der die Europäer besonders aufschreckende Brauch des Kannibalismus, das Einverleiben besiegter Gegner, war immer auch politische Magie, eine erfolgreiche Schlacht immer auch eine symbolische Bestätigung des jeweiligen Führers.

Die europäischen Eroberer

Händler, Abenteurer und Migranten auf der Suche nach Arbeit gehörten zu den Vorläufern derer, die später das Gebiet des heutigen Kolumbiens besiedelten und den indígenas streitig machten. Was die europäischen Königshäuser auf ihren frühen Streifzügen durch die Karibik zunächst interessierte, war die legendäre Handelsroute nach Indien. Schon bald trieb die Herrscher, die sie finanzierenden Mächte und die von ihr angestellten Abenteurer eine mindestens ebenbürtige Gier nach Reichtum: El Dorado, das sagenhafte Gold, das es in den Anden zuhauf geben sollte.

Und tatsächlich, das an der Küste im Tausch gegen Fisch, Salz, Textilien oder Sklaven gehandelte Edelmetall stammte vornehmlich aus Antioquia. Die Ureinwohner siebten es entweder aus den Flüssen wie dem Río Cauca oder schlugen es wie in Buritaca aus Minen.

Die Gier nach dem schnellen Geld gepaart mit einer brutalen Rücksichtslosigkeit gehörten von Anfang an zur Handschrift der spanischen Herrschaft. Von geschätzten drei bis vier Millionen einheimischen Indios zu Beginn der Kolonialisierung überlebte zahlenmäßig nur ein Drittel die Kriege, den Alltag unter der Krone und die Krankheiten, die die Siedler aus der alten Welt einschleppten.

Es sollte über ein Jahrhundert dauern, bis die Spanier sich durchgesetzt und das Territorium eingehegt hatten, über das eine gemeinsame Sprache, eine politische Führung und ein Gott walten sollten. Die innere regionale Zersplitterung hat sich bis heute gehalten, mit den Spaniern entstand zumindest die Ahnung eines zentral verwalteten Staates. Kein Rassismus, so wie er alle großen Kolonialreiche durchtränkte, konnte den Austausch der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im spanischen Vizekönigreich Neugranada stoppen. Das Mestizentum, die Vermischung der europäischen und indigenen Bevölkerung, blieb eine demografische Kraft, die sich nicht aufhalten ließ.

Die Kolonien machen sich unabhängig

Die Unabhängigkeitsbewegung, die durch die Revolutionen in den USA (1776) und Frankreich (1789) an politischer Schlagkraft gewonnen hatte, erreichte bald auch den südlichen Kontinent Amerikas – und damit Neugranada.

Die Kräfte, die die Separation von der spanischen Krone betrieben, waren zunächst ähnliche wie in den anderen Kolonialreichen. Um 1800 herum waren die meisten hellhäutigen Siedler in den Kolonien geborene Kreolen. Ihre Bindung an die Iberische Halbinsel hatte über die Zeit spürbar abgenommen, die Herkunft der Vorfahren war ihnen weniger wichtig als die neue Heimat. Zum Bestreben nach größerer Eigenständigkeit kamen wirtschaftliche und politische Interessen. Steuern, Zölle und Handelsinteressen wurden nämlich von Madrid aus festgelegt. Die absolute Monarchie ließ nur bedingt Raum für eigenständige politische Repräsentanz. Den meisten rebellischen Kolonisten ging es um mehr Autonomie und keineswegs um eine völlige Loslösung vom Mutterland. In der schnell niedergeschlagenen Rebellion der Comuneros (1781) – Kolumbiens Antwort auf die Boston Tea Party von 1773 – formierte sich die Unruhe, die von Antonio Nariño (er übersetzte die französische Deklaration der Menschenrechte ins Spanische) und den Seinen weiter fermentiert wurde.

Möglich wurde die Ablösung Neugranadas erst durch die Krise im spanischen Königshaus selbst, die sich infolge der französischen Revolution und den nachfolgenden Napoleonischen Kriegen beschleunigte. In Europas Metropolen ging es um die Existenz der Königshäuser, da blieben für die Kontrolle der Kolonien verständlicherweise weniger Ressourcen.

Die Ablösung vollzog sich nicht auf einmal, sondern in Schritten. In einer ersten Patria Boba (1810–1816) genannten Phase erlangten einzelne Regionen Selbstständigkeit, die sich als „Vereinigte Provinzen Neugranada“ zusammenschlossen. Die spanische Krone nahm den Machtverlust nicht hin und eroberte ab 1815 schnell die Kontrolle zurück; die zersplittert aufgestellten lokalen Militäreinheiten waren noch zu desorganisiert. Die Reconquista währte allerdings nicht lange. Nach einer kurzen, heftigen Schreckensherrschaft, in der Errungenschaften der Patria Boba rückgängig gemacht wurden, trat der Sohn einer wohlhabenden Familie mit Kakaoplantagen von Venezuela aus auf die historische Bühne.

Bis dato war Simón Bolívar als militärischer Führer kaum aufgefallen. Doch nun, binnen weniger Monate, gelang ihm mithilfe von Francisco de Paula Santander und dessen Guerillatruppen von den Llanos aus der Durchmarsch auf Bogotá. Jedem Kolumbianer wird zur Schlacht von Pantano de Vargas vom 25. Juli 1819 der Bolívar zugeschriebene Schlachtruf einfallen: „Hauptmann Rondón, ergeben Sie sich dem Heimatland!“ Keine zwei Wochen später, nach einer weiteren entscheidenden Schlacht bei der am Weg nach Bogotá gelegenen Brücke Puente de Boyacá, stand Bolívars Einzug in die Hauptstadt kein Hindernis mehr entgegen.

Glück, Unglück und Mythos des Simón Bolívar

In der Geschichte Südamerikas gibt es nur wenige Figuren, auf die sich alle politischen Lager gleichzeitig berufen. Der Befreier Simón Bolívar („El Libertador“), viel besungener und analysierter Revolutionsheld, ist einer von ihnen.

Bei aller Lebensleistung, die hinter dem überparteilichen Ruf steht, ein solcher von allen Parteien getragener Mythos macht misstrauisch. Seine Schriften haben Bolívar von jeher in eine politisch eher rechte, wenngleich republikanische Ecke gestellt. Als Zentralist kämpfte er gegen den Föderalismus und als Sklavenhalter war er nicht der sozialen Umwälzung verdächtig. Zwar berief er sich auf den britischen Liberalismus mit seiner Gewaltenteilung und bürgerlichen Freiheiten – sein erster Verfassungsvorschlag sah eine an das Parlament in London angelehnte gesetzgebende Versammlung vor – doch sein Verfassungsentwurf gründete auf politischen Ideen, die schon in ihrer Zeit nicht als durchweg demokratisch galten: Präsidentschaft auf Lebenszeit, vererbbares Anrecht auf Senatssitze, ein die Exekutive kontrollierendes Sittengericht (Poder Moral) und das Gesetz der „haberes militares“ welches das Eigentum der an der Revolution beteiligten Militärs schützen sollte.

Bei diesen Überlegungen mag Bolívar die große soziale Unruhe im Blick gehabt haben und sich selbst als überparteilichen Präsidenten Neugranadas. Doch wie viele Caudillos (s. auch den Exkurs „Der Caudillo – Lateinamerikas Beitrag zur politischen Weltgeschichte“) haben sich seither auf einen lebenslänglichen, vom Militär abgesicherten Machtanspruch berufen?

So wundert es nicht, dass Karl Marx, ein bekennender Student der republikanischen und bürgerlichen Revolutionen, Simón Bolívar als reaktionäre und durchschnittliche historische Figur charakterisierte. Wie die meisten seiner Landsleute sei dieser für ausdauernde Projekte wie den Aufbau einer neuen Gesellschaft nicht zu haben. Bolívar sei ein „palurdo, ein Heuchler, ein Schürzenjäger, ein unsteter Trinkgeselle, ein Aristokrat im republikanischen Schafspelz, ein ehrgeiziger Lügner …“ Nur die besonderen Umstände hätten aus der „mediokren und grotesken Gestalt“ Bolívar einen Helden gemacht.

Umso überraschender mutet es an, wenn auch die Linke Simón Bolívar als Adoptivsohn vereinnahmt. Im Nachbarland Venezuela rief der begeisterte Bolívar-Anhänger, einstiger Putschist und späterer Präsident, Hugo Chávez vor Jahren die „bolivarische Revolution“ aus. Als „Befreier“ taugt Bolívar auch den Vorkämpfern der kolumbianischen Linken. Mitte der 1980er-Jahre entführte die urbane Stadtguerilla M-19 in einer spektakulären Aktion das Schwert Simón Bolívars; später schlossen sich die Rebellenverbände zum „Koordinationsrat Simón Bolívar“ zusammen.

Zu Lebzeiten aber war dem „Libertador“ diese Huldigung seiner Mitbürger zum Ende hin nicht mehr vergönnt. Literaturnobelpreisträger García Márquez hat in seinem Roman „Der General in seinem Labyrinth“ Bolívars letzte Tage rekonstruiert. Wie bei vielen Revolutionshelden waren diese gezeichnet von dem Gefühl, ein großes Projekt (Neugranada) in den Sand gesetzt zu haben.

Die anderen Standorte mussten noch peu á peu erobert werden. Bis 1821 waren auch Cartagena und schließlich Pasto, die letzte Bastion der Royalisten im Südwesten, in den Händen der Aufständischen. Obwohl erst jetzt die Kontrolle vollends gesichert war, gilt 1810 als das offizielle Jahr der Revolution, das Kolumbien an jedem 20. Juli, dem Nationalfeiertag, aufs Neue feiert.

Die kolumbianische Revolution wurde, wie überall, mit Blutzoll gezahlt. Verglichen mit ihren nordamerikanischen Pendants oder den Umstürzen in Ecuador war sie noch gewalttätiger und brauchte mehr Zeit, gegenüber Mexiko oder Venezuela aber war sie, dem verstorbenen US-Historiker und Kolumbienkenner David Bushnell