Reise um den Mond - Jules Verne - E-Book

Reise um den Mond E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

In der Fortsetzung des ersten Teils »Von der Erde zum Mond« erfahren wir, wie Michel Ardan, Präsident Barbicane und Kapitän Nicholl die Reise zum Mond erleben. Sie müssen im All mehrere lebensgefährliche Situationen meistern – unter Anderem ausgelöst durch einen Asteroiden, der ihre Flugbahn verändert. Die in die Kapsel eindringende Kälte und der zur Neige gehende Sauerstoff werden zu einem lebensbedrohlichen Problem – bis zum Schluss ist nicht klar, ob sie es noch rechtzeitig auf die Erde zurückschaffen werden … Neben der unterhaltsamen und ironisch-witzigen Erzählweise ist immer wieder erstaunlich und äußerst interessant, wie detailliert Jules Verne seine Protagonisten über die damals bekannten und vermuteten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Weltall, den Planeten und der Physik allgemein referieren lässt.

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Jules Verne

Reise um den Mond

ISBN/EAN: 9783958706613

1. Auflage

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam Angepasst.

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2020

www.nexx-verlag.de

Vorwort und Rückblick

Im Laufe des Jahres 186.. wurde die ganze Welt durch ein wissenschaftliches Unternehmen, das in den Annalen der Wissenschaft ohnegleichen war, in außerordentliche Bewegung versetzt. Die Mitglieder des Gun Clubs, eines Vereins von Artilleristen, welcher nach dem amerikanischen Krieg sich zu Baltimore bildete, hatten die Idee, sich durch Zusendung einer Kugel mit dem Mond in Verbindung zu setzen. Ihr Präsident Barbicane, der die Unternehmung angeregt hatte, ergriff, nachdem er die Astronomen des Observatoriums zu Cambridge zurate gezogen hatte, alle Maßnahmen, die für den glücklichen Erfolg des von der Mehrzahl sachverständiger Männer für ausführbar erklärten Vorhabens erforderlich waren. Nachdem durch eine öffentliche Subvention etwa dreißig Millionen aufgebracht waren, begann er seine riesenhaften Arbeiten.

Gemäß eines von den Mitgliedern des Observatoriums erteilten Gutachtens musste die Kanone, die das Projektil abschießen sollte, um auf den Mond im Zenit zielen zu können, in einer Landschaft zwischen 0 und 28 Grad nördlicher oder südlicher Breite aufgestellt werden, und man musste der Kugel eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Sekunde geben. Wurde diese am 1. Dezember dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden vor elf Uhr abends abgeschossen, musste sie vier Tage danach, am 5. Dezember um zwölf Uhr nachts, gerade zu dem Zeitpunkt auf dem Mond eintreffen, wo er der Erde am nächsten stand, in einer Entfernung nämlich von sechsundachtzigtausendvierhundertzehn französischen Meilen.

Die bedeutendsten Mitglieder des Gun Clubs, der Präsident Barbicane, Major Elphiston, Sekretär J.T. Maston und andere Gelehrte hielten einige Sitzungen, worin die Form und das Material der Kugel, die Art und Einrichtung der Kanone, die Beschaffenheit und die Menge des Pulvers besprochen wurden. Man beschloss:

1. Das Geschoss solle eine Hohlkugel aus Aluminium sein mit einem Durchmesser von einhundertacht Zoll, zwölf Zoll dicken Wänden und neunzehntausendzweihundertfünfzig Pfund schwer

2. Das Geschütz solle eine Kapsel aus Gusseisen sein, neunhundert Fuß lang, und unmittelbar in den Erdboden zu gießen

3. Zur Ladung sollten vierhunderttausend Pfund Schießbaumwolle verwendet werden, welche sechs Milliarden Liter Gas unter dem Projektil entwickelten, dessen Treibkraft leicht bis zum Nachtgestirn reichen würde

Als diese Fragen gelöst waren, wählte der Präsident Barbicane mithilfe des Ingenieurs Murchison eine Stelle in Florida, unter 27°7' nördlicher Breite und 5°7' westlicher Länge, wo nach merkwürdigen Arbeiten das Gießen der Kapsel vorgenommen wurde und vollständig gelang.

So standen die Dinge, als ein Ereignis dazwischenkam, wodurch das Interesse an der großen Unternehmung hundertfach vergrößert wurde.

Ein Pariser Phantast, geistreicher und kühner Künstler, begehrte und erbot sich, in eine Kugel eingeschlossen, die Reise zum Mond zu machen, um über den Trabanten der Erde Forschungen anzustellen. Michel Ardan hieß dieser unerschrockene Abenteurer. Bei seiner Ankunft in Amerika wurde er mit Enthusiasmus aufgenommen, hielt Meetings, wurde im Triumph auf den Schultern getragen, versöhnte den Präsidenten Barbicane mit seinem Todfeind, dem Kapitän Nicholl, und überredete beide, die Reise in dem Projektil mitzumachen.

Der Vorschlag wurde angenommen, die Form der Kugel abgeändert. Das Projektil wurde zylinder-kegelförmig. Dieser Luftwaggon wurde, um die Gewalt des Gegenstoßes bei der Abfahrt abzuschwächen, mit einer starken Vorrichtung versehen; dann mit Lebensmitteln für ein Jahr, Wasser für einige Monate, und Gas für einige Tage. Ein automatischer Apparat bereitete und lieferte die zum Atmen für die drei Reisenden erforderliche Luft. Zu gleicher Zeit ließ der Gun Club auf einem der höchsten Gipfel des Felsengebirges ein Riesenteleskop bauen, um es möglich zu machen, das Projektil während seiner Fahrt durch den Weltraum zu beobachten. Alles war fertig und bereit.

Am 30. November, zur bestimmten Stunde, fand inmitten einer unzähligen Zuschauermenge die Abfahrt statt, und zum ersten Mal sah man drei menschliche Wesen den Erdball verlassen und in den weiten Weltraum emporsteigen, fast vollständig überzeugt, dass sie am Ziel ihrer Reise anlangen würden. Diese kühnen Reisenden, Michel Ardan, der Präsident Barbicane und der Kapitän Nicholl, sollten ihre Überfahrt in siebenundneunzig Stunden dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden vollenden. Folglich konnte ihre Ankunft auf der Oberfläche der Mondscheibe erst am 5. Dezember um zwölf Uhr nachts erfolgen, gerade in dem Moment, da Vollmond eintrat, und nicht am vierten, wie einige Journale fälschlich berichteten.

Doch es begab sich ein unerwartetes Ereignis: die von der Kapsel hervorgerufene Erschütterung bewirkte unverzüglich eine Trübung der Atmosphäre durch Anhäufung einer enormen Menge von Dünsten. Diese Erscheinung rief eine allgemeine Entrüstung hervor, denn der Mond war einige Nächte hindurch den Augen seiner Beobachter verhüllt. J.T. Maston, der würdige und tapfere Freund der drei Reisenden, eilte zum Felsengebirge, um dem ehrenwerten Direktor des Observatoriums zu Cambridge, J. Belfast, Gesellschaft zu leisten, der zu Longs Peak, wo das Riesenteleskop, das den Mond bis auf zwei Meilen nahe rückte, errichtet worden war, die Fahrt seiner kühnen Freunde beobachten wollte.

Die in der Atmosphäre angehäuften Wolken hinderten während des 5., 6., 7., 8., 9. und 10. Dezember jede Beobachtung. Man glaubte schon, dieselbe bis zum 3. Januar des folgenden Jahres vertagen zu müssen, weil der am 11. Dezember in sein letztes Viertel tretende Mond dann nur einen stets abnehmenden Teil seiner Scheibe zeigte, welche nicht ausreichte, um die Spur des Projektils zu verfolgen.

Doch endlich vertrieb zur allgemeinen Befriedigung ein starker Sturm in der Nacht vom 11. zum 12. Dezember alle Wolken aus der Atmosphäre, und der zur Hälfte erleuchtete Mond trat auf dem dunkeln Hintergrund des Himmels klar hervor.

In derselben Nacht traf ein Telegramm ein, welches die Herren Belfast und Maston von der Station Longs Peak an das Büro des Observatoriums zu Cambridge gesendet hatten.

Und was enthielt dies Telegramm?

Es berichtete, am 11. Dezember um acht Uhr siebenundvierzig Minuten abends sei das von der Kapsel zu Stone's-Hill entsendete Projektil von den Herren Belfast und. Maston wahrgenommen worden. – Dasselbe sei, aus unbekanntem Grund von seiner Bahn abweichend, nicht an sein Ziel gelangt, aber doch nahe genug gekommen, um von der Anziehungskraft des Mondes festgehalten zu werden – seine gerade Richtung sei in eine Kreisbewegung übergegangen, und so sei es zu einem Trabanten geworden, der in elliptischer Bahn den Mond umkreise.

Das Telegramm fügte bei, die Elemente dieses neuen Gestirns hätten noch nicht berechnet werden können – und in der Tat sind auch drei Beobachtungen des Gestirns in drei verschiedenen Stellungen desselben nötig, um seine Elemente zu bestimmen. Dann fügte es weiter an, die Entfernung des Projektils von der Mondoberfläche »könne« auf etwa zweitausendachthundertdreiunddreißig Meilen veranschlagt werden, d.h. viertausendfünfhundert Lieues.

Dasselbe schloss mit der doppelten Annahme: Entweder werde die Anziehungskraft des Mondes zuletzt überwiegen und die Reisenden würden an ihrem Ziel anlangen; oder das Projektil werde, unveränderlich in seiner Bahn festgehalten, seinen Kreislauf um den Mond herum bis ans Ende der Jahrhunderte fortzusetzen haben.

Wie würde es dann den Reisenden ergehen? Zwar hatten sie Lebensmittel für einige Zeit. Aber angenommen, ihr verwegenes Unternehmen gelänge, wie kämen sie dann zurück? Wäre dies je möglich? Könnte man Nachricht von ihnen empfangen? Diese Fragen, welche die gelehrtesten Federn der Zeit in Bewegung setzten, beschäftigten das Publikum mit Leidenschaft.

Ich muss hier eine Bemerkung machen, welche allzu eilige Beobachter beherzigen sollten. Wenn ein Gelehrter dem Publikum eine rein spekulative Entdeckung ankündigt, kann er nicht vorsichtig genug sein. Einen Kometen, Planeten oder Trabanten zu entdecken, ist keines Menschen Schuldigkeit, und wenn man sich in so einem Fall irrt, verdient man die Spöttereien der Menge, welchen man sich aussetzt. Deshalb ist es besser, abzuwarten, und dies hätte auch der ungeduldige J.T. Maston tun sollen, bevor er das Telegramm in die Welt hinausschleuderte, welches sich – ihm zufolge – über diese Unternehmung so entschieden aussprach.

In der Tat enthielt jenes Telegramm einen doppelten Irrtum, wie sich's später herausstellte:

1. Falsche Beobachtung in Beziehung auf die Entfernung des Projektils von der Oberfläche des Mondes, denn am 11. Dezember konnte man es unmöglich wahrnehmen, und was J.T. Maston sah oder zu sehen glaubte, konnte nicht die Kugel der Kapsel sein.

2. Falsche theoretische Ansicht über das Los des Projektils; denn indem man dasselbe zu einem Trabanten des Mondes macht, setzt man sich mit den Gesetzen vernunftmäßiger Mechanik in Widerspruch.

Nur die Annahme der Beobachter zu Longs Peak konnte sich verwirklichen, dass die Reisenden sich – falls sie noch lebten –bemühten, mit Benützung der Anziehungskraft des Mondes auf die Oberfläche desselben zu gelangen.

Diese so einsichtsvollen, wie kühnen Männer hatten nun aber den erschrecklichen Gegenstoß bei der Abfahrt bestanden, und ihre Reise in dem Projektil-Waggon soll hier mit all' ihren merkwürdigen und dramatischen Erlebnissen erzählt werden. Diese Erzählung wird manche Täuschungen und Vermutungen zunichtemachen; dagegen wird sie von der möglichen Lösung einer solchen Aufgabe einen richtigen Begriff geben, und den wissenschaftlichen Instinkt Barbicane's, die industriellen Hilfsmittel und Kenntnisse Nicholl's und die humoristische Kühnheit Michel Ardan's anschaulich machen.

Ferner wird sie darlegen, dass ihr würdiger Freund, J.T. Maston, seine Zeit verlor, als er auf dem Riesenteleskop den Mond auf seiner Bahn durch die Sternenräume fortwährend beobachtete.

1. Von zehn Uhr zwanzig bis zehn Uhr vierzig abends

Schlag zehn Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren zahlreichen Freunden auf der Erde. Die beiden Hunde, welche das Hundegeschlecht in die Mondlande einführen und verbreiten sollten, befanden sich bereits im Projektil. Die drei Reisenden näherten sich der Mündung des enormen Laufs, und ein schwebender Kran brachte sie bis zur konischen Spitze der Kugel.

Hier traten sie durch eine zu diesem Behuf angebrachte Öffnung in den Aluminium-Waggon ein. Als die Taue des Krans aus der Röhre herausgezogen waren, wurde augenblicklich das letzte Gerüst von der Mündung der Kapsel entfernt.

Sowie Nicholl sich mit seinen Gefährten im Projektil befand, schloss er sorgfältig die Öffnung mit einer starken Platte, welche von Innen durch Stellschrauben befestigt wurde. Andere, fest angepasste Platten bedeckten die Linsengläser der Ausgucklöcher. Die Reisenden befanden sich im tiefsten Dunkel in ihrem metallenen Gefängnis hermetisch eingeschlossen.

»Und nun, meine lieben Kameraden«, sagte Michel Ardan, »tun wir, als wären wir hier zu Hause. Ich führe die Verwaltung des Inneren, ein Fach, worin ich sehr stark bin. Wir müssen's uns in unserer neuen Wohnung so bequem wie möglich machen. Vor Allem, suchen wir ein wenig Luft zu bekommen! Was Teufel! Für Maulwürfe ist das Gas nicht erfunden worden!«

Bei diesen Worten ergriff der sorglose Geselle ein Zündhölzchen, rieb's an der Sohle seines Stiefels und zündete damit die Flamme an dem Hahn des Behälters, welcher das höchst zusammengepresste Gas enthielt, das zur Erleuchtung und Erwärmung der Kugel auf sechs Tage und sechs Nächte, hundertvierundvierzig Stunden, ausreichen konnte.

Das also erleuchtete Projektil zeigte sich als wie ein komfortabel eingerichtetes Zimmer mit ausgefütterten Wänden, runden Divans daran, und wie in einem Dom gewölbter Decke.

Die darin enthaltenen Gegenstände, Waffen, Instrumente, Geräte, waren an der Polsterfütterung wohl befestigt, so dass sie den Stoß bei der Abfahrt wohl aushalten konnten. Es waren alle nur ersinnbaren Vorkehrungen getroffen, um ein so tollkühnes Unternehmen glücklich auszuführen.

Michel Ardan untersuchte Alles und erklärte seine volle Zufriedenheit mit der Einrichtung.

»Es ist ein Gefängnis«, sagte er, »aber ein Reisegefängnis mit der Erlaubnis durch's Fenster zu sehen; ich wäre imstande, mich auf hundert Jahre einzumieten! Du lächelst, Barbicane? Hast Du dabei einen Hintergedanken? Meinst Du, dies Gefängnis könne unser Grab sein? Grab, meinetwegen, aber ich möchte es nicht mit dem Mohamed's tauschen, welches ohne Reisezweck in dem Weltraum fährt.«

Während Michel Ardan also sprach, trafen Barbicane und Nicholl ihre letzten Vorbereitungen.

Nicholl's Chronometer zeigte zehn Uhr zwanzig Minuten abends, als die drei Reisenden definitiv in ihr Geschoss eingeschlossen wurden. Der Chronometer war fast auf ein Zehntel einer Sekunde nach dem des Ingenieurs Murchison gerichtet. Barbicane befragte ihn.

»Meine Freunde«, sagte er, »es ist zehn Uhr zwanzig Minuten. In siebenundzwanzig Minuten wird Murchison mit dem elektrischen Funken den Draht berühren, welcher mit der Ladung der Kapsel in Verbindung ist. In dem Moment werden wir dann unseren Erdball verlassen. Siebenundzwanzig Minuten also haben wir noch auf der Erde zu bleiben.«

– Sechsundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden, erwiderte der exakte Nicholl.

– Ei nun! rief Michel Ardan im besten Humor, in sechsundzwanzig Minuten lässt sich noch viel fertig bringen! Man kann da noch die wichtigsten politischen und sittlichen Fragen besprechen, und sogar lösen! Sechsundzwanzig wohl verwendete Minuten sind mehr wert, als sechsundzwanzig untätig verlebte Jahre. Etliche Sekunden eines Pascal oder Newton sind kostbarer, als das ganze Leben einer rohen Masse von Dummköpfen ...

– Und was folgerst Du daraus, ewiger Schwätzer? fragte der Präsident Barbicane.

– Ich folgere, dass wir noch sechsundzwanzig Minuten haben, erwiderte Ardan.

– Nur noch vierundzwanzig, sagte Nicholl.

– Vierundzwanzig, wenn Du's so genau nimmst, mein wackerer Kapitän, erwiderte Ardan, vierundzwanzig Minuten, binnen welchen man gründlich ...

– Michel, sagte Barbicane, auf unserer Fahrt werden wir reichlich Zeit haben, die schwierigsten Fragen gründlich zu erörtern. Befassen wir uns jetzt mit dem Abflug.

– Sind wir nicht bereit?

– Allerdings. Doch sind noch einige Vorkehrungen zu treffen, um die Gewalt des ersten Stoßes möglichst abzuschwächen!

– Haben wir nicht die Wasserschichten in den zerbrechlichen Verschlägen unter uns, deren Spannkraft uns hinlänglich schützen wird?

– Das hoffe ich, Michel, erwiderte sanft Barbicane, aber ganz sicher bin ich dessen doch nicht!

– Ah! Possen! rief Michel Ardan. Er hofft! ... Ist der Sache nicht sicher! ... Und dies klägliche Geständnis erst in dem Moment, da wir bereits eingepackt sind! Da möcht' ich auf und davon!

– Und wie? erwiderte Barbicane.

– In der Tat, sagte Michel Ardan, das ist schwer. Wir sind im Zug und vor Ablauf von vierundzwanzig Minuten wird der Konduktor pfeifen ...

– Zwanzig Minuten, sagte Nicholl.

Einige Minuten blickten sich die Reisenden einander an. Darauf prüften sie die mitgenommenen Gegenstände.

»Alles ist richtig an seiner Stelle«, sagte Barbicane. »Jetzt handelt sich's zu bestimmen, wie wir am besten Platz nehmen, um den Stoß bei der Abfahrt auszuhalten. Es ist dabei nicht einerlei, in welcher Stellung oder Lage man sich befindet, und man muss soviel wie möglich verhüten, dass das Blut zu stark nach dem Kopf dringt.«

– Richtig, sagte Nicholl.

– Dann, erwiderte Michel Ardan, um die Regel durch das Beispiel zu erklären, legen wir uns, den Kopf unten und die Füße oben, wie die Clowns im Zirkus!

– Nein, sagte Barbicane, aber auf die Seite müssen wir uns legen. So widerstehen wir am besten dem Stoß. Merken Sie wohl, im Moment der Abfahrt ist's fast einerlei, ob wir drinnen oder davor sind.

– Wenn nur »fast« einerlei, will ich's zufrieden sein, erwiderte Michel Ardan.

– Stimmen Sie mir bei, Nicholl? fragte Barbicane.

– Ganz und gar, erwiderte der Kapitän. Noch dreizehn Minuten und eine halbe.

– Der Nicholl ist kein Mensch, rief Michel, sondern ein Chronometer ...

Aber seine Gefährten hörten ihn schon nicht mehr an, und machten ihre letzten Vorkehrungen mit einer Kaltblütigkeit ohnegleichen. Sie machten's, wie zwei methodische Reisende, die, wenn sie in einen Waggon eingestiegen sind, es sich so bequem wie möglich zu machen versuchen. Man fragt sich wahrhaftig, aus welchem Stoff die Herzen dieser Amerikaner gemacht sind, denen im Angesicht der erschrecklichsten Gefahr der Puls nicht rascher schlägt!

Man hatte drei dicke und solide gepolsterte Lagerstätten in dem Projektil hergerichtet. Nicholl und Barbicane brachten sie auf die Mitte der Scheibe, welche den beweglichen Fußboden bildete; auf diesen sollten sich die drei Reisenden einige Augenblicke vor der Abfahrt hinstrecken.

Währenddessen verhielt sich Ardan, der sich nicht ruhig halten konnte, in seinem engen Gefängnis, wie ein Stück Rotwild im Käfig, plauderte mit seinen Freunden, schwatzte mit seinen Hunden, Diana und Trabant, denen er seit Kurzem diese bezeichnenden Namen gegeben hatte.

»He! Diana! He! Trabant!« rief er sie an. »Ihr werdet den Mondhunden die guten Sitten der Erdhunde zu zeigen haben! Ihr werdet dem Hundegeschlecht Ehre machen! Potz! Blitz! Ihr sollt euch mit Monddoggen paaren, dass ich, kommen wir zurück, eine Mischrasse mitbringe, die Furore machen wird!«

– Wenn's dort Hunde gibt, sagte Barbicane.

– Es gibt sie dort, versicherte Michel Ardan, wie es dort Pferde, Kühe, Esel, Hühner gibt. Ich wette darauf, dass wir Hühner dort antreffen.

– Hundert Dollars, dass wir keine treffen, sagte Nicholl.

– Angenommen, lieber Kapitän, erwiderte Ardan mit einem Händedruck. Aber Du hast ja schon drei Wetten an unseren Präsidenten verloren, weil die nötigen Geldmittel aufgebracht wurden, weil der Guss gelungen ist, und weil die Kapsel ohne Unfall geladen wurde – das macht sechstausend Dollars.

– Ja, erwiderte Nicholl. Zehn Uhr siebenunddreißig Minuten und sechs Sekunden.

– Wohl gemerkt, Kapitän. Nun, ehe eine Viertelstunde vorüber ist, wirst Du noch neuntausend Dollars an den Präsidenten zu zahlen haben, viertausend, weil die Kapsel nicht zerspringen wird, und fünftausend, weil die Kugel höher als sechs Meilen in die Lüfte dringen wird.

– Ich habe die Dollars bei mir, erwiderte Nicholl, und klopfte auf seine Tasche, ich wünsche nur, dass es zum Zahlen kommt.

– Nicholl, ich sehe, dass Du ein Mann der Ordnung bist, was mir nie gelingen wollte, aber schließlich, Du hast da eine Reihe Wetten gemacht, wobei Du Dich sehr im Nachteil befindest, erlaube mir diese Bemerkung.

– Und weshalb? fragte Nicholl.

– Weil, wenn Du die erste gewinnst, im Fall nämlich, dass die Kapsel zerspringt – und die Kugel mit – Barbicane nicht mehr in der Lage sein wird, Dich bezahlen zu können.

– Mein Einsatz befindet sich auf der Bank von Baltimore, erwiderte einfach Barbicane, dass er, wo nicht an Nicholl, seinen Erben ausgezahlt werden kann.

– Was für praktische Leute! rief Michel Ardan. Positive Geister! Ich bewundere Euch umso mehr, als ich Euch nicht begreife.

– Zehn Uhr zweiundvierzig, sagte Nicholl.

– Noch über fünf Minuten! erwiderte Barbicane.

– Ja! Fünf kurze Minuten! entgegnete Michel Ardan. Und wir sind eingeschlossen in einem Geschoss innerhalb einer neunhundert Fuß langen Kanone! Und unter diesem Geschoss befinden sich viermalhunderttausend Pfund Schießbaumwolle, die eine Wirkung von sechzehnhunderttausend Pfund gewöhnlichen Pulvers haben! Und Freund Murchison, den Chronometer in der Hand, das Auge unverwandt auf dem Zeiger, den Finger auf dem elektrischen Apparat, zählt die Sekunden, im Begriff uns in die Räume der Planetenwelt zu schleudern! ...

– Genug, Michel, genug! sagte Barbicane mit ernstem Ton. Machen wir uns bereit. Nur noch einige Augenblicke haben wir bis zum letzten. Einen Handschlag, meine Freunde!

– Ja! rief Michel Ardan, mit etwas mehr Rührung, als er kundgeben wollte. Die drei kühnen Genossen umarmten sich.

»Gott behüte uns!« sagte der fromme Barbicane.

Michel Ardan und Nicholl streckten sich auf die Polster auf der Mitte des Bodens.

»Zehn Uhr siebenundvierzig«, murmelte der Kapitän. Noch zwanzig Sekunden! Barbicane löschte rasch die Gasflamme und legte sich neben seine Kameraden.

Nur die Sekundenschläge des Chronometers unterbrachen die tiefste Stille.

Mit einem Mal ein entsetzlicher Stoß, und das Projektil, von sechs Milliarden Liter Gas getrieben, flog empor in den Weltraum.

2. Die erste halbe Stunde

Was war erfolgt? Welche Wirkung hatte diese fürchterliche Erschütterung gehabt? Hatte das Genie der Hersteller des Projektils ein glückliches Resultat erzielt? Wurde der Stoß durch die Sprungfedern, Zapfen, Wasserkissen, zerbrechlichen Verschläge abgeschwächt? War man der erschrecklichen Kraft jener Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Meter, welche in einer Sekunde durch ganz Paris oder New York fahren konnte, Meister geworden? Diese Fragen drängten sich offenbar den tausend Zeugen jener erschütternden Szene auf. Über dem Gedanken an die Reisenden vergaß man den Zweck der Reise! Und wenn einer von ihnen – J.T. Maston z.B. – hätte einen Blick in das Projektil werfen können, was würde er gesehen haben?

Nichts damals, denn es war völlig dunkel drinnen. Aber seine zylinder-konischen Wände hatten trefflich Widerstand geleistet. Kein Riss, keine Biegung, keine Entstellung. Das erstaunenswerte Projektil hatte unter der ungeheuren Hitze der Pulververbrennung nicht gelitten, war nicht, wie man zu befürchten schien, zu einem Aluminiumregen zerschmolzen.

Im Innern wenig Unordnung, im Ganzen genommen. Einige Gegenstände waren an die Decke geschleudert worden; aber die wichtigsten schienen nicht von dem Stoß gelitten zu haben. Die Befestigungsriemen waren unverletzt. Auf der beweglichen Scheibe, die nach Zertrümmerung der Scheidewände und dem Entweichen des Wassers bis zum Boden herabgesunken war, lagen drei Körper regungslos.

Waren Barbicane, Nicholl und Michel Ardan noch bei Leben? War das Projektil etwas mehr, als ein metallener Sarg, der drei Leichen in den Weltraum trug? ...

Einige Minuten nach der Abfahrt fing einer der Körper an, sich zu regen; seine Arme bewegten sich, sein Kopf richtete sich auf, und es gelang ihm, auf die Knie zu kommen. Es war Michel Ardan. Er betastete sich, stieß ein lautes »He!« aus, dann sprach er:

»Michel Ardan unversehrt. Sehen wir die Anderen!«

Der mutige Franzose wollte aufstehen; aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sein Kopf wankte, das stark eingedrungene Blut machte ihn blind, er war wie betrunken.

»Brr!« machte er. »Das hat auf mich gewirkt, wie zwei Flaschen Cortona, nur dass dieser wohl angenehmer zu trinken ist!«

Darauf strich er mehrmals mit der Hand seine Stirn, rieb sich die Schläfen, und rief mit fester Stimme:

»Nicholl! Barbicane!«

Er wartete ängstlich. Keine Antwort. Nicht ein Atemzug, welcher kundgab, dass seinen Kameraden das Herz noch schlug. Er rief abermals. Dieselbe Stille.

»Teufel! Sie verhalten sich, als seien sie von einem fünften Stock herab auf den Kopf gefallen! Bah!« fuhr er mit der unverwüstlichen Zuversicht, die sich durch nichts stören ließ, fort, »wenn ein Franzose sich auf die Knie zu richten vermochte, so sollten zwei Amerikaner keinen Anstand nehmen, sich wieder auf die Beine zu helfen. Aber vor Allem, klären wir die Sache auf.«

Ardan fühlte, wie ihm das Leben wieder zuströmte. Sein Blut wurde ruhiger und kam wieder in den gewöhnten Umlauf. Wiederholte Anstrengungen brachten ihn ins Gleichgewicht. Es gelang ihm aufzustehen, er zog ein Streichhölzchen aus der Tasche, rieb den Phosphor, dass er zündete, näherte sich dem Gashahn und machte Licht. Der Behälter hatte nicht gelitten, kein Gas war entwichen. Das hätte schon der Geruch angezeigt, und dann hätte Michel Ardan es nicht wagen dürfen, in dem mit Gas angefüllten Raum eine Flamme anzuzünden. Denn es wäre dann eine Explosion entstanden, welche vielleicht vollendet hätte, was die Erschütterung begann.

Sobald die Gasflamme leuchtete, bog sich Ardan über die Körper seiner Gefährten, welche wie leblose Massen übereinander lagen, Nicholl oben, Barbicane unten.

Ardan hob den Kapitän auf, stützte ihn gegen einen Divan und rieb ihn kräftig. Dieses mit Verstand geübte Kneten brachte Nicholl wieder zum Bewusstsein; er schlug die Augen auf, bekam sogleich seine Kaltblütigkeit wieder und fasste Ardan's Hand. Dann, umherblickend, fragte er:

»Und Barbicane?«

– Er kommt auch an die Reihe, erwiderte Michel Ardan. Mit Dir fing ich an, weil Du oben lagst. Jetzt machen wir uns an Barbicane.

Hierauf hoben Ardan und Nicholl den Präsidenten des Gun Clubs auf und legten ihn auf den Divan. Barbicane schien mehr als seine Genossen gelitten zu haben. Er hatte geblutet, aber Nicholl beruhigte sich, als er sich überzeugte, dass dieser Blutverlust nur von einer leichten Verwundung an der Schulter herrührte. Bloß eine Schramme, die er sorgfältig zusammendrückte.

Doch dauerte es geraume Zeit, bis Barbicane wieder zu sich kam, worüber seine beiden Freunde, die ihn unablässig rieben, in Schrecken gerieten.

»Er atmet jedoch«, sagte Nicholl, das lauschende Ohr an der Brust des Verwundeten.

– »Ja, versetzte Ardan, er atmet, wie ein Mensch, der diese Tätigkeit täglich zu üben gewohnt war. Reiben, kneten wir, Nicholl, kräftig!«

Und die beiden improvisierten Ärzte machten es so gut, dass Barbicane wieder zum Gebrauch seiner Sinne kam. Er schlug die Augen auf, richtete sich empor, ergriff die Hand seiner Freunde, und sein erstes Wort war:

»Nicholl, sind wir in Bewegung?«

Nicholl und Barbicane sahen sich einander an. Ums Projektil hatten sie sich noch nicht bekümmert. Ihre erste Sorge galt den Reisenden, nicht dem Waggon.

»Wirklich, sind wir in Bewegung?« wiederholte Michel Ardan.

– Oder befinden wir uns ruhig auf dem Boden Florida's? fragte Nicholl.

– Oder auf dem Grund des mexikanischen Golfs? fügte Michel Ardan bei.

– Das wäre …! rief der Präsident Barbicane.

Und diese doppelte Vermutung, welche seine Gegner aufstellten, wirkte unmittelbar, ihn wieder zu völligem Bewusstsein zu bringen.

Wie dem auch sein mochte, man konnte über die Lage, worin sich das Geschoss befand, sich noch nicht bestimmt aussprechen. Seine scheinbare Unbeweglichkeit, der Mangel an Verbindung mit der Außenwelt, gestatteten nicht, die Frage zu beantworten. Vielleicht war das Projektil auf seiner Fahrt durch den Raum begriffen? Vielleicht war es auch nach kurzem Flug wieder auf die Erde gefallen, oder auch in den mexikanischen Golf, was bei der geringen Breite von Florida leicht möglich war.

Der Fall war ernst, das Problem interessant. Es musste baldmöglichst gelöst werden. Barbicane, dem bei seiner Aufregung die moralische Energie seine physische Schwäche überwinden half, stand auf und horchte. Außen tiefe Stille. Aber das dichte Futter musste alle Geräusche vonseiten der Erde unvernehmbar machen. Doch ein Umstand fiel Barbicane auf. Die Temperatur innerhalb des Projektils war außerordentlich hoch. Der Präsident zog ein Thermometer aus seiner Scheide und befragte das Instrument; es zeigte fünfundvierzig Grad.

»Ja!« rief er aus, »ja! wir sind in Bewegung! Diese erstickende Hitze, welche durch die Wände des Projektils eindringt, kommt von seiner Reibung in den Schichten der Atmosphäre. Sie wird bald abnehmen, weil wir schon in den luftleeren Raum übergehen, und nachdem wir fast erstickt wären, werden wir starke Kälte zu empfinden haben.«

– Wie? fragte Michel Ardan, nach Deiner Ansicht, Barbicane, befänden wir uns schon über der Grenze der Erdatmosphäre?

– Ohne Zweifel, Michel. Höre nur. Es ist jetzt zehn Uhr fünfundfünfzig. Seit etwa acht Minuten sind wir unterwegs. Wäre nun unsere anfängliche Geschwindigkeit nicht durch die Reibung vermindert worden, wären wir schon binnen sechs Sekunden über die sechzehn Lieues hinausgekommen, soweit sich die Atmosphäre um den Erdball herum erstreckt.

– Ganz richtig, erwiderte Nicholl, aber wie hoch schlagen Sie diese Verminderung der Geschwindigkeit durch die Reibung an?

– Zu einem Drittel, Nicholl, versetzte Barbicane. Das ist beträchtlich, aber meiner Rechnung nach beträgt sie soviel. Hätten wir nun Anfangs eine Geschwindigkeit von zwölftausend Meter gehabt, so wäre dieselbe beim Verlassen der Atmosphäre auf siebentausenddreihundertzweiunddreißig Meter vermindert worden. Wie dem auch sei, wir haben bereits diesen Raum durchschritten und ...

– Und dann hat Freund Nicholl seine beiden Wetten verloren; viertausend Dollars, weil die Kapsel nicht zersprungen ist; fünftausend, weil das Projektil über sechs Meilen emporgekommen ist. Also, Nicholl, leiste Deine Verbindlichkeit.

– Stellen wir zuerst die Tatsache fest, dann soll die Bezahlung nicht fehlen. Leicht möglich, dass Barbicane's Folgerungen richtig sind, und dass ich meine neuntausend Dollars verloren habe. Aber es kommt mir noch eine andere Vermutung, ein Fall, wodurch die Wette zunichte gemacht würde.

– Welche? fragte lebhaft Barbicane.

– Es wäre möglich, dass wir – weil aus irgendeinem Grund das Feuer nicht zum Pulver gelangte – gar nicht losgeflogen sind.

– Wahrhaftig, Kapitän, rief Michel Ardan, das ist eine Hypothese, die begreiflich ist! Sie ist nicht ernstlich gemeint! Sind wir nicht alle von dem Stoß fast zu Tode erschüttert worden? Hab' ich Dich nicht wieder ins Leben zurückgerufen? Blutet nicht noch die Schulter des Präsidenten vom Gegenstoß?

– Einverstanden, Michel, wiederholte Nicholl, aber nur eine Frage.

– Die wäre?

– Hast Du etwas von dem Knall gehört, der doch gewiss ganz entsetzlich stark war?

– Nein, erwiderte Ardan sehr betroffen, ich habe wirklich nichts davon gehört.

– Und Sie, Barbicane?

– Ich auch nicht.

– Nun denn? sagte Nicholl.

– In der Tat! murmelte der Präsident, warum haben wir keinen Knall gehört?

Die drei Freunde sahen sich einander etwas verlegen an. Die Erscheinung war ihnen unerklärlich. Doch war das Projektil abgeschossen worden, und folglich musste ein Knall stattgefunden haben.

»Überzeugen wir uns zuerst, wo wir uns befinden«, sagte Barbicane, »und lassen wir die Lukendeckel hinab.«

Diese höchst einfache Verrichtung wurde sogleich bei der Luke rechts vorgenommen. An den außen angebrachten Platten befanden sich Bolzen, welche durch die Wand dringend, innen vermittelst Mutterschrauben festgehalten wurden. Diese entfernte man mit einem englischen Schlüssel, die Bolzen wurden hinausgestoßen, und die Löcher, wodurch sie gegangen, durch Schließklappen, die mit Kautschuk gefüttert waren, verstopft. Nun senkte sich die Außenplatte an einem Scharnier, wie bei einem Lukendeckel eines Kriegsschiffs hinab, und das Linsenglas an der Mündung der Luke kam zum Vorschein. Eine ganz gleiche Ausguckluke befand sich auf der entgegengesetzten Seite in der Wand des Projektils, eine andere an der Spitze desselben, und eine vierte in der Mitte seines Bodens. So konnte man also in vier entgegengesetzten Richtungen Beobachtungen anstellen, am Firmament durch die Seitenluken und direkt nach der Erde oder dem Mond hin durch die untere und obere.

Barbicane und seine Genossen waren unverzüglich an die geöffnete Luke gestürzt. Kein Lichtstrahl zeigte sich, das Projektil war von tiefem Dunkel umfangen. Dem ungeachtet rief der Präsident Barbicane aus:

»Nein, meine Freunde, wir sind nicht wieder auf die Erde gefallen! Wir sind nicht in den Meeresgrund des mexikanischen Golfs versunken! Ja! wir fahren aufwärts im Weltraum! Sehen Sie da die in der Nacht schimmernden Sterne und diese undurchdringliche Dunkelheit zwischen uns und der Erde!«

»Hurra! Hurra!« riefen zugleich Michel Ardan und Nicholl. In der Tat bewies diese dichte Finsternis, dass das Projektil sich von der Erde entfernt hatte. Denn die damalige helle Beleuchtung des Erdbodens durch den Mondschein wäre den Reisenden sichtbar gewesen, wenn sie sich noch im Bereich seiner Oberfläche befunden hätten. Diese Dunkelheit lieferte auch den Beweis, dass das Projektil bereits über die Grenze der atmosphärischen Luftschicht gelangt war, denn das in derselben verbreitete zerstreute Licht hätte auf seine Metallwände eine Rückstrahlung ausgeübt, welche ebenfalls mangelte. Dieses Licht hätte die Linse des Gucklochs bestrahlt, und dieses Glas war unbeleuchtet. Es war also gar kein Zweifel mehr, dass die Reisenden sich von der Erde entfernt hatten.

»Ich habe verloren«, sagte Nicholl.

– Und ich gratuliere dazu! erwiderte Ardan.

– Hier meine neuntausend Dollars, sagte der Kapitän, und zog einen Pack Papierdollars aus seiner Tasche.

– Wollen Sie eine Quittung? fragte Barbicane bei der Übergabe.

– Wenn Sie so freundlich sein wollen, erwiderte Nicholl. So ist's der Regel gemäß.

Und ernst, phlegmatisch, als befände er sich bei seiner Kasse, zog der Präsident Barbicane sein Notizbuch, riss ein weißes Blatt heraus, schrieb darauf eine regelrechte Quittung mit Datum und Unterschrift, und überreichte sie dem Kapitän, der sie sorgfältig in seiner Brieftasche aufhob.

Michel Ardan zog seine Mütze ab, und verneigte sich, ohne ein Wort zu seinen Kameraden zu reden. Soviel Förmlichkeit unter solchen Umständen – dafür hatte er keine Worte. Nie war ihm etwas so »Amerikanisches« vorgekommen.

Als Barbicane und Nicholl das Geschäft beendet hatten, begaben sie sich wieder vor das Fenster und betrachteten die Sternbilder. Auf dem dunkeln Hintergrund des Himmels hoben sich die Sterne sehr lebhaft ab. Aber von dieser Seite konnte man den Mond nicht wahrnehmen, weil er in der Richtung von Osten nach Westen allmählich zum Zenit emporstieg. Seine Abwesenheit veranlasste Ardan zu einer Bemerkung.

»Und der Mond?« sagte er. »Sollte er zufällig unser Rendezvous verfehlen?«

– Beruhige Dich, versetzte Barbicane. Unser künftiger Wohnball ist auf seinem Posten, aber auf dieser Seite können wir ihn nicht sehen. Öffnen wir das andere Seitenfenster.

Im Augenblick, als Barbicane eben im Begriff war, das Fenster zu verlassen, um die Gucklöcher der entgegengesetzten Seite von ihrem Deckel zu befreien, wurde seine Aufmerksamkeit durch die Annäherung eines glänzenden Gegenstandes angezogen. Es war eine enorme Scheibe, deren kolossale Verhältnisse sich nicht schätzen ließen. Seine der Erde zugekehrte Seite war lebhaft beleuchtet. Man hätte es einen kleinen Mond nennen können, der das Licht des großen zurückstrahlte. Es bewegte sich mit erstaunlicher Schnelligkeit voran, und schien um die Erde eine Bahn zu beschreiben, welche die Linie des Projektils durchschnitt. Zu der Bewegung um die Erde kam eine Achsenbewegung um sich selbst. Es verhielt sich also wie alle im Raum sich selbst überlassene Himmelskörper.

»Was ist das?« rief Michel Ardan. »Noch ein Projektil?«

Barbicane erwiderte nichts. Die Erscheinung dieses enormen Körpers überraschte und beunruhigte ihn. Es war ein Zusammenstoß möglich, der schlimme Folgen haben konnte, sei es, dass das Projektil aus seiner Fahrt gedrängt oder zur Erde hinabgestoßen, oder durch überwältigende Anziehungskraft desselben unwiderstehlich mit fortgerissen würde.

Der Präsident Barbicane begriff augenblicklich die Folgen dieser drei Fälle, welche auf die eine oder andere Art das Unternehmen zum Scheitern bringen würden. Seine Gefährten blickten stumm in den Raum hinaus. Der Gegenstand nahm, sowie er näher kam, erstaunlich an Größe zu, und durch eine optische Täuschung schien das Projektil ihm geradezu entgegen zu fahren.

»Herr Gott!« rief Michel Ardan, »es wird gleich ein Zusammenstoß eintreten.«