Religion und Bildung – Ressourcen im Alter? -  - E-Book

Religion und Bildung – Ressourcen im Alter? E-Book

0,0

Beschreibung

Wie können Religion und Bildung aus medizinischer, theologischer, psychologischer, psychotherapeutischer und bildungstheoretischer Sicht als Ressourcen im Alter beschrieben wer-den? All diesen Perspektiven ist gemeinsam, dass sie, durchaus mit unterschiedlicher Betonung, Alter(n) im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit betrachten. Zugleich haben die sog. Best Ager einen umfassenden Bildungsanspruch und, auch wenn sich dies durch die Vervielfältigung der Lebensstile zukünftig ausdifferenzieren wird, eine im Ver-gleich zu anderen Altersgruppen enge Bindung an Kirche oder Religion. Die Zuschreibung "Best Ager" konstruktiv-kritisch in den Blick nehmend, hat sich eine interdisziplinäre Jenaer Tagung mit der Frage auseinandergesetzt, wie Religion und Bildung für Gesundheitsbewusstsein, Lebensqualität und Engagement im Alter förderlich sein können. [Religion and Education – Resources For the Old Age? Between the Claim to Self-Determinaton and the Realisation of the Unavailability of Life] How can religion and education be described as resources for the old age from a medical, theological, psychological, psychotherapeutic and education-theoretical perspective? All these perspectives have in common that they consider old age between the poles of autonomy and unavailability. At the same time the so called Best Agers have extensive claims to education and, in comparison with other age groups, close ties to church and religion. An interdisciplinary conference in Jena has addressed the question how religion and education can be conducive to health awareness, quality of life and engagement in the old age.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 346

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



STUDIEN ZUR RELIGIÖSEN BILDUNG (STRB)

Herausgegeben von

Michael Wermke und Thomas Heller

Band11

Miriam Beier | Holger Gabriel Hans-Martin Rieger | Michael Wermke (Hrsg.)

RELIGION UND BILDUNG – RESSOURCEN IM ALTER?

ZWISCHEN DEM ANSPRUCH AUF SELBSTBESTIMMUNG UND DER EINSICHT IN DIE UNVERFÜGBARKEIT DES LEBENS

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverbild: Jan-Peter Kasper, Jena

Satz: Christina Koch, Jena/​Stotternheim

ISBN 978-3-374-04513-6

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Miriam Beier/Hans-Martin Rieger

TEIL I: ERKUNDUNGEN ZUR WAHRNEHMUNG DES ALTER(N)S IN MEDIZIN UND THEOLOGIE

Bewegung, Leistungsfähigkeit und Aktivität des Menschen. Gestaltungsmöglichkeiten und Grenzen aus physiologischer, sportmedizinischer und gesundheitsförderlicher Perspektive

Holger Gabriel

Alter(n) würdig ausgestalten! Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit am Beispiel »Hiob«

Ralph Kunz

TEIL II: ERKUNDUNGEN ZU RELIGION IM ALTER IN EMPIRIE UND PRAXIS

Die Seniorinnen und Senioren sind nicht mehr die alten! Religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter

Tobias Kläden

Religion als Deutungssystem für das Alter?

Martina Kumlehn

Orientierung und Sinn durch altersgerechte Liturgien

Marcell Saß

Diesseits von Sterben und Tod. Das Thema Alter(n) im Religionsunterricht und seine Bedeutung für den Ausbau eines inklusiven Religionsunterrichts

Ilona Nord

TEIL III: BILDUNG ALS RESSOURCE? PERSPEKTIVEN AUS SOZIALPSYCHOLOGIE UND PSYCHOTHERAPIE

Bildung und Resilienz. Psychosoziale Protektivfaktoren bei körperlichen Erkrankungen?

Bernhard Strauß

Weisheit und (philosophische) Bildung im Alter

Eckart Ruschmann

TEIL IV: RELIGION UND BILDUNG – RESSOURCEN IM ALTER?

Gesundheitsförderung und Altersbildung aus praktisch-theologischer Sicht

Christian Mulia

(Alters-)Depressionen mit Hilfe religiöser Bildung bewältigen

Daniel Hell

Kontingenz mit Hilfe religiöser Bildung bewältigen am Beispiel von Schulleiterinnen und Schulleitern

Theo van der Zee

Bildung als uneingelöstes Versprechen. Vom Altern und den Chancen der Verwirklichung

Ralf Evers

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie Herausgeberin und Herausgeber

Weitere Bücher

Fußnoten

EINLEITUNG

Miriam Beier/​Hans-Martin Rieger

In wenigen Jahren entwickelte sich das Forschungsfeld »Alter(n)« durch die praktischen Herausforderungen des demographischen Wandels vom Randzum Topthema. Die damit einhergehende wissenschaftliche Diskussion führte auch zu einer intensiven Beschäftigung mit der Thematik »Bildung im Alter« und zur Etablierung der Fachrichtung Geragogik. Der vorliegende Band knüpft mit einem breit gefächerten interdisziplinären Interesse an diese Entwicklung an, allerdings mit zwei entscheidenden Fokussierungen: Er stellt Bildung in den Kontext von Gesundheit bzw. der Gesundheitsförderung (gesundheitsbezogene Bildung) und er fragt in diesem Kontext kritisch nach religiöser Bildung als Ressource. Der gemeinsame Schnittpunkt der Betrachtungen wird im Phänomen des Alter(n)s gesucht. Denn dieses stellt vor die Herausforderung, dem Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit immer wieder neu gerecht zu werden. Damit ist aber auch schon die zentrale Herausforderung für gesundheitsbezogene Bildung im Blick, die sich für eine interdisziplinäre Herangehensweise geradezu anbietet.

Vor diesem Hintergrund trafen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Medizin, Theologie, Psychologie, Psychotherapie und Bildungstheorie im April 2015 in Jena zu einer internationalen, im Rahmen der »Jenaer Symposien zur Religiösen Bildung« des Zentrums für Religionspädagogische Bildungsforschung (ZRB) stattfindenden Tagung zum Thema »Religion und Bildung als Ressource«. Wenn sich diese Wissenschaften auf das genannte Thema einlassen, tun sie dies zunächst im Verstehenshorizont der eigenen Disziplin. Positionalität soll nicht unterlaufen werden. Zugleich führt das interdisziplinäre Gespräch dazu, eigene Positionen kritisch zu reflektieren und weiterführende Impulse zu gewinnen. So ist beispielsweise die Medizin gefordert, ein leistungsbezogenes pathogenetisches Verständnis von Krankheit zu hinterfragen. Die Theologie steht vor der Herausforderung, die positiven Bildungsspielräume des Alterns zu erkunden und mit einem biblisch begründeten Heilungsauftrag zu verbinden. Psychologie und Psychotherapie sind wiederum aufgefordert, ihr in der Vergangenheit nicht unbelastetes Verhältnis zur Religion zu klären. In den Erziehungswissenschaften ist das Paradigma des »Lebenslangen Lernens« damit konfrontiert, dass Unverfügbarkeiten, wie sie sich etwa in einer Krankheit einstellen, nicht als Lerngelegenheiten, sondern als Übel erfahren werden.

Religion und Bildung lassen sich dabei aus medizinischer, theologischer, psychologischer, psychotherapeutischer und bildungstheoretischer Sicht als Ressourcen für das Nachdenken und den Umgang mit Alter(n) beschreiben. Und alle diese Perspektiven stehen vor der Herausforderung, Alter(n) im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit zu reflektieren. Bei allen auch sich neu einstellenden Gestaltungsspielräumen, d.h. einschließlich aller wirksamen Prävention und teilhabegerechten Gestaltung der sozialen und räumlichen Umgebung, nimmt mit zunehmendem Alter die Wahrnehmung des Unverfügbaren zu und will verarbeitet werden. Man kann darin eine Grundvoraussetzung der Zufriedenheit im Alter sehen. Die auf der Tagung gehaltenen, in dieser Publikation dokumentierten Beiträge nähern sich dieser Themenstellung in unterschiedlicher Weise:

Holger Gabriel führt aus medizinisch-biologischer Sicht in die Betrachtung sensomotorischer Bewegung und körperlicher Leistungsfähigkeit ein. Tritt man unter diesem Blickwinkel an das Altern heran, ergeben sich ethisch zu reflektierende Zielbildungen: Gesundheitsförderung hat sich auf die Optimierung von Bewegungsressourcen und auf den Erhalt einer allgemeinen Leistungsfähigkeit oberhalb der Selbstversorgungsgrenze auszurichten. Sie hat aber auch den Umgang mit Begrenzungen und den Umgang mit weniger werdenden Ressourcen zu ihrer Aufgabe zu machen. Man könnte daher sagen, Gesundheitsförderung initiiert Bildungsprozesse, die zwei Strukturmomente enthalten: Die Anerkennung von Grenzen von Bewegung, Leistung und Aktivität – und zugleich die Wahrnehmung und Bewertung relativer Gestaltungsmöglichkeiten. Zu diesen Gestaltungsmöglichkeiten gehört dann auch ein aktives ›Sein-Lassen‹, das dem Leben bis zum Tod eine Sinnhaftigkeit unterstellt. Gabriel nimmt zuletzt deshalb die Frage nach einer unverfügbaren, jenseitigen ›futura forma‹ in den Blick. Das Ressourcenverständnis würde durch eine solche Erweiterung um die Dimension des Unverfügbaren und Jenseitigen an lebenspraktischer Relevanz durchaus gewinnen – ganz abgesehen davon, dass es auch Grundsätzen christlicher Ethik entspräche.

Ralph Kunz wendet sich in seiner theologischen Perspektive der Hioberzählung zu, weil in ihr die Spannung von Selbstbestimmung und Unverfügbarkeit in exemplarischer Weise vertieft erscheint. Von hier aus kann das Motiv der frommen Ergebung und das Konzept der Selbstbestimmung kritisch reflektiert werden. Das steht in Übereinstimmung mit gegenwärtigen Versuchen, Selbstbestimmungskonzepte um die Dimension des Passivischen und Nicht-gewollten anzureichern. Allerdings bestehe der Unterschied der christlichen Bejahung zur stoischen Bejahung des Unverfügbaren, das mache die Hioberzählung deutlich, darin, dass Gott »Ja« zum klagenden Menschen sagt. Damit kommt es aber zu einer Transformation des ganzen Spannungsfelds: »Das Unverfügbare bleibt unverfügbar, aber wo Es war, soll Du werden.« Dieses Du erfordert eine personale Dezentrierung, die als Kennzeichen der religiösen Perspektive angesehen werden kann. Sie ermöglicht zugleich allerdings die Transzendierung der Dichotomie von Gestaltung und Akzeptanz, von Widerstand und Ergebung.

Tobias Kläden gewährt Einblick in ein bereits dokumentiertes Forschungsprojekt zur religiösen Entwicklung im höheren Erwachsenenalter. Gegenüber einlinigen strukturgenetischen Ansätzen wurde dabei ein Ansatz der Lebensspannen-Entwicklung zugrunde gelegt, der die Multidirektionalität und Kontextualität religiöser Entwicklung abbilden kann. Sieben Gestalttypen von Religiosität wurden anhand retrospektiver Interviews untersucht. Es zeigten sich auffällige Wechsel der religiösen Gestalt im höheren Erwachsenenalter, so dass man von einer Plastizität der Religiosität reden könne. Allerdings ist dabei die kognitive Dimension mehr betroffen als die praktisch-verhaltensorientierte, die sich kontinuierlicher durchhält. Betrachtet man die Frage nach religiöser Entwicklung als Voraussetzung und als Inhalt der Frage nach religiöser Bildung, dann ergebe sich als Aufgabe für religiöse Bildung, die Asynchronien zwischen Glaubensvorstellungen und Lebenswirklichkeit zu bearbeiten. Außerdem vollziehe sich Bildung im achtsamen Miteinander der Generationen, viel weniger durch die Separierung von Altersgruppen.

Martina Kumlehn akzentuiert christliche Religion als Ressource von Sinnstiftungsprozessen im Alter und konturiert eine kirchlich-religiöse Praxis, die es sich zur Aufgabe macht, die individuelle Deutung der Lebensgeschichte (wieder) mit existenzieller und religiöser Metaphorik ins Gespräch zu bringen. Dies erscheint jedoch ungleich schwierig, »wenn [eine] hermeneutische Erschließung der tradierten Bilder und Vorstellungen ausbleibt und von daher deren Relevanz für gegenwärtige Lebensentwürfe nicht mehr ersichtlich wird.« Die Frage nach Religion als Ressource wird dabei kritisch durchleuchtet: Religion wird in Rekurs auf das sog. Kohärenzgefühl bei Antonovsky als Ordnungs- und Motivationsmittel beschrieben, aber auch als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren näher bestimmt. In Religion ist so »unhintergehbar das Bewusstsein eingestiftet, dass sich das Transzendente grundsätzlich der eigenen Verfügung entzieht. Gott kann demnach keine Ressource sein. Lediglich eine religiöse Praxis, die sich kommunikativ zu diesem imaginären Gegenüber verhält, kann sich unter Umständen als eine solche Ressource erweisen.« Für die kirchlich-religiöse Praxis regt der Beitrag an, die Verknüpfung von Sinnfrage, Religion und Alter über die Verarbeitung der eigenen Endlichkeit und der Verdichtung der Dimension des Verlustes, auch auf andere Aspekte des Geschöpfseins im Alter zu richten.

Marcell Saß arbeitet in seinem Beitrag Grundlagen und mögliche Praxis altersgerechter Liturgien insbesondere für das sog. vierte Lebensalter heraus. Mit spitzer Feder umreißt Marcell Saß die unzureichende Differenzierung des Konstrukts Alter im kirchlichen Kontext und eröffnet weiterführende Angebotselemente und -formen. Produktiv hinterfragt er die traditionelle Rede von Kirche als »gewachsene, organisatorische Gestalt von Form von Parochien«. Gegenüber den verbalen Formen kirchlichen Handelns werden im Anschluss an Christian Grethlein die Modi »Gemeinschaftliches Feiern« und »Helfen zum Leben«, ebenso wie Überlegungen zur Leiblichkeit in der Religionspädagogik herangezogen. Mit Nachdruck plädiert der Autor für eine Revision der üblichen Gottesdienstpraxis, sodass Gottesdienste mit alten, pflegebedürftigen Menschen nicht Sonderfälle bleiben, sondern »parochiale Ernstfälle« werden.

Ilona Nord geht in ihrem Beitrag der Frage nach, wie das Thema »Alter(n)« im Religionsunterricht und bei Schulkindern vorkommt und hebt die Differenz zwischen den oft eindimensionalen Bildern in Lehrplänen und Schulbüchern und den vielseitigen Alter(n)sbildern bei Schülerinnen und Schülern hervor. Zugleich verweist Ilona Nord darauf, dass das Thema Alter(n) im Religionsunterricht einen besonderen Stellenwert hat und setzt sich für eine Neuorientierung unter den Vorzeichen einer inklusiven Religionspädagogik ein, ohne aus dem Blick zu verlieren, dass Theologie und Religionspädagogik nicht einer Inklusion der unbegrenzten Lebensmöglichkeiten das Wort reden dürfen. Sie können sich jedoch auch nicht auf die Aspekte verengen, die das Thema »Altern(n)« automatisch mit sich führt, also Sterben, Tod und Abschied, sondern sollten sich auch der gesellschaftlich wichtigen Frage der Zukunft einer alternden Gesellschaft zuwenden.

Bernhard Strauß fragt vor dem Hintergrund von Studien, die einen Zusammenhang von Bildung und körperlicher wie psychischer Gesundheit und damit auch einen Zusammenhang von Bildung und Lebenserwartung belegen, nach möglichen psychologischen Protektivfaktoren, die die Beziehung von sozialem Status, Bildung und Gesundheit verändern können. Er greift dazu auf das Konzept der Resilienz zurück. Innerhalb dieses Konzepts wird der zwischenmenschlichen Beziehung und der sozialen Unterstützung ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Das führt zu der wichtigen Frage, ob und inwiefern Resilienz der Förderung und Bildung offensteht. Am Beispiel des Präventionsprojekts ›VorteilJena‹ demonstriert Strauß, dass Gesundheitsverhalten nur beschränkt über direkte Bildungsangebote beeinflusst werden kann (diese werden von jenen vorwiegend angenommen, die sich ohnehin bereits gesundheitsbewusst zeigen). Entscheidend ist die Generierung von Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstwert, Selbstwirksamkeit und Identifikation, die selbst wiederum von sozialer Teilhabe abhängen. So gesehen müsse aus gesundheitspsychologischer Perspektive gesundheitsbezogene Bildung vorrangig Identitätsbildung sein.

Eckhart Ruschmann lotet im Sinne der Frage einer philosophischen Beratung das Potential der Weisheit für die Bildung im Alter aus. Weisheit als erfahrungsbezogenes Umgangswissen ist dabei von anderen Wissensformen, die im Zentrum der gegenwärtigen Wissenskultur stehen, zu unterscheiden. Sie zeichnet sich durch ›Akzeptanz von und Umgang mit Unsicherheit‹ aus und besitzt daher erhöhte Relevanz für das Alter(n). Analog zu Prozessen posttraumatischer Reifung spielen dabei lebenstragende Sinnressourcen – als besondere Form erfahrungssedimentierten Wissens und als Erschließungsform von Transzendierungsprozessen – eine große Rolle. Ruschmann plädiert deshalb für eine sinn- und ressourcenorientierte Bildung, die Lern- und Reifeprozesse zu fördern in der Lage ist und die dazu befähigt, mit existentiellen Gegebenheiten wie Endlichkeit, Krankheit und traumatischen Erfahrungen so umzugehen, dass lebenstragender Sinn auch in Grenzsituationen erhalten bleibt bzw. sogar vertieft und gefestigt wird.

Christian Mulia fragt vor dem Hintergrund kirchlicher Altenbildung nach dem Potential religiöser Bildung für die Gesundheitsförderung. Er unterscheidet vier Dimensionen der Bildung: eine Wahrnehmungs- und Deutungsdimension, eine Handlungsdimension, eine Beurteilungsdimension und eine Sozialdimension. Religiöse Bildung im Alter ist darum sowohl subjektorientiert als auch teilhabeorientiert auf die gesundheitliche Herausforderung des Alter(n)s zu beziehen. Einerseits kann man diese im Phänomen der Körperwerdung bündeln und philosophisch-anthropologisch von einer Radikalisierung der menschlichen Grundsituation, theologisch-anthropologisch von einer Verdichtung der geschöpflichen Grundsituation vor Gott sprechen. Andererseits muss der Pluralisierung des Alter(n)s und den damit einhergehenden Alltagsorientierungen durch eine polyperspektivische und milieusensible Altenbildung Rechnung getragen werden. Insbesondere freiwilliges Engagement im Alter bietet Chancen, je eigene Möglichkeitsräume zu entdecken – und zwar so, dass Ressourcen und Wohlbefinden durch soziale Vernetzung und Teilhabe gefördert werden. Mulia plädiert für eine milieusensible Gesundheitsbildung, die die Mehrdimensionalität von Gesundheit und dementsprechend unterschiedliche Ziele vor Augen hat: etwa die Befähigung zur Inanspruchnahme notwendiger Therapie- und Präventionsmaßnahmen, die Einbindung in soziale Netze (Stichwort: »Caring communities«), Lebens- und Sinndeutung durch Biographiearbeit.

Daniel Hell stellt von seinem Fachgebiet, der Psychiatrie und Psychotherapie, ausgehend die Herausforderung der Depression ins Zentrum und widmet sich in diesem Kontext der Frage nach religiöser Bildung. Religiöse Bildung hat einerseits eine rekonstruktive Funktion, um die weltanschaulich-kulturelle Gebundenheit auch des modernen Depressionsverständnisses thematisieren zu können. Andererseits ermöglicht sie es, die protektive Seite von Religiosität auch im Rahmen aktueller Modelle bzw. im Rahmen einer modernen Depressionsbehandlung abschätzen zu können. Bei fortgeschrittenen depressiven Entwicklungen bzw. schweren Depressionen kommen die Grenzen religiöser Ressourcen in den Blick, während beim Umgang mit deprimierenden Erfahrungen religiösem Coping eine entlastende Funktion zuerkannt werden muss. Um die Suche nach Sinn adäquat begleiten zu können, gehört für Hell ein Mindestmaß an religiöser Bildung zu den Professionalisierungsstandards guter Psychotherapie.

Theo van der Zee wiederum nimmt die persönliche Kontingenzverarbeitung von älteren Schulleiterinnen und Schulleitern konfessionell-gebundener Schulen in den Blick. Mit teilstrukturierten Interviews hat Theo van der Zee erhoben, welche situationswirksamen, existenziellen und religiösen Dimensionen kontingente Ereignisse haben und wie sie sich auf die Handlungsfähigkeit von Schulleitungen auswirken können. Die Ergebnisse der Befragung veranschaulichen, dass Schulleitungen sich dann als beruflich handlungssicherer erleben, wenn sie kontingente Ereignisse für ihre Persönlichkeitsentwicklung nutzen können, bspw. davon erzählen können. Religiöse Bildung kann dabei »Menschen Wege aufzeigen, mit dem Unkontrollierbaren und Unverfügbaren umzugehen«.

Ralf Evers grenzt Bildung zunächst vom Begriff der Ressource ab. Vielmehr wird Bildung als »die Verständigung des Menschen mit den Möglichkeiten seines Lebens« eingeordnet. Das führt den Autor unmittelbar zu einer Relektüre des Verhältnisses von Religion und Bildung vor dem Hintergrund des Ressourcenbegriffs. »Wo Religion ins Spiel kommt, ist das ein Ausdruck für die Perspektive von Bildung und wenn sie ins Spiel kommt, ein Indiz für die Qualität des Bildungsgeschehens.« Religion hält hier gerade nicht den Raum für das Unverfügbare frei. »Ganz im Gegenteil ist festzustellen, dass Religion die Personen und ihre Bildung nicht entlastet, sondern belastet, weil sie auf der Wirklichkeit und Wirksamkeit von Heil und Heilung besteht – indem sie ihr Fehlen zum Gegenstand macht.« Diese Einsicht scheint sich auf Grund der Gebrochenheit der Selbstwerdung im Alter zu radikalisieren. »Die Vorstellungen eines erfolgreichen Alterns betrügen, wenn sie mit der Erwartung eines Alters einhergehen, in dem ein Mensch zum vollständigen und alle Erfahrungen und Hoffnungen integrierenden Abschluss seines Lebens komm[t.]« Im Durchgang durch verschiedene Ansätze (u.a. Capability Approach) belegt Ralf Evers, »dass die Verfügbarkeit von Ressourcen alleine noch nicht ausreicht für das Werden und Altern von Menschen. Was nötig ist, ist die Bildung des Subjekts [gegenüber einer] Tyrannei des Gelingen[s.] Endlichkeit und Sinn, Negativität und Erfüllung sind mit der Idee der Menschlichkeit zu verschränken.« Mit Nachdruck plädiert Ralf Evers dafür, das Werden im Alter nicht zugunsten eines Gewordenseins aufzugeben.

Gerade weil sich die Beiträge mit unterschiedlichen Zugängen und von unterschiedlichen Positionen aus dem Thema ›Religion und Bildung als Ressourcen im Alter‹ nähern, fallen Übereinstimmungen, aber auch offene Fragen besonders ins Auge. So bietet sich die Möglichkeit, die Herausforderung religiöser Bildung im Problemkontext des Alter(n)s noch einmal anders wahrnehmen und reflektieren zu können. Man wird vermuten dürfen, dass dabei auch einige Grundbedingungen, aber auch einige Grundfragen ans Licht kommen. In diesem Sinn umreißen wir thetisch einen Ausblick:

Gesundheitsbezogene religiöse Bildung im Alter ist Selbstbildung. Darin konvergieren viele Beiträge. Gesundheitsbezogene Bildung schließt wohl auch Verfügungswissen ein, entscheidend wird – wenn man den Wissensbegriff vorerst beibehalten will – lebensdienliches Orientierungswissen. Die Verfügbarkeit von Ressourcen allein ist keine hinreichende Bedingung für gesundes Alter(n); notwendig ist vor allem die Befähigung des älteren Menschen zur selbstbestimmten Reflexion über das Verhältnis von Werden und Geworden-sein. Sie ist notwendig nicht nur im Blick auf den Umgang mit (begrenzten) Ressourcen, sie ist notwendig zum Umgang mit den Unverfügbarkeiten und mit den Grenzen des Lebens.

Religiöse Bildung hat daher einen indirekten Bezug zur Gesundheit. Sie trifft sich darin mit einer Gesundheitsförderung, die zur Erkenntnis gelangt ist, dass Präventionsprogramme, die sich auf konkretes Gesundheitsverhalten richten, nur in bestimmten Milieus erfolgreich sind. In den Vordergrund tritt stattdessen die Förderung von resilienzstärkenden Persönlichkeitseigenschaften. Interessant ist, dass gerade in diesem Zusammenhang die Abhängigkeit von sozialer Teilhabe wichtig wird. – Für religiöse Bildung kann als Herausforderung festgehalten werden, dass sie, subjekt- als auch teilhabeorientiert, eine gesundheitliche Umgangsfähigkeit zum Ziel hat, welche von der Fixierung auf die Gesundheit und der übertriebenen Sorge um sie auch loskommt, sie gleichsam überschreitet. Was man Gesundheitstranszendenz nennen könnte, verdankt sich der Einsicht, dass das Ziel Gesundheit gerade über den Umweg anderer Ziele erreicht wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich Religion und Bildung als bedeutende Faktoren für freiwilliges bzw. ehrenamtliches Engagement nachweisen lassen.

Religiöse Bildung kann in gewissem Sinn als Ressource aufgefasst werden, wenn den gesundheitlichen Herausforderungen des Alterns in seinen allgemeinen und in seinen pluralen Formen Rechnung getragen wird: Die allgemeine Herausforderung ergibt sich aus der zunehmenden Bedeutung des Körpers und der zunehmenden Bedeutung von Angewiesenheits- und Begrenzungserfahrungen. Erforderlich werden daher Verhaltensweisen, die zwei Strukturmomente in sich schließen: die Anerkennung von Begrenzungen und Unverfügbarkeiten – die Wahrnehmung von Gestaltungsmöglichkeiten. Die plurale Herausforderung ergibt sich aus den unterschiedlichen Milieus und den damit einhergehenden unterschiedlichen Alltagsorientierungen älterer Menschen, aber auch aus der Mehrdimensionalität des Ziels Gesundheit selbst. Auch die verschiedenen Grade der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung von Glaubensvorstellungen und Lebenswirklichkeit wären hier zu nennen.

Nach wie vor zentral bleibt die Frage, inwiefern religiöse Bildung im Alter(n) im Rahmen des Weisheitsparadigmas zu diskutieren und zu konzeptualisieren ist. Mit ihm lassen sich die Besonderheiten von lebenserfahrungsbezogenen Wissensformen, die auf Umgangsfähigkeit, Anpassungs- und Kompensationsfähigkeit abheben, festhalten. Stellt man religiöse Bildung in den Zusammenhang eines solchen Weisheitsparadigmas, werden methodische Fragen aufgeworfen. Wie ermöglicht es religiöse Bildung, lebenstragende Konzepte zu erkunden und auszudrücken? Wie kann es dazu kommen, dass einerseits Gestaltungsspielräume entdeckt, andererseits der Umgang mit Unkontrollierbarkeiten und Unverfügbarkeiten, mit passiven und begrenzenden Faktoren des Lebens gelernt werden können?

Theologische Positionen können hieran anknüpfen. Ihnen ist es durch den Schöpfungsgedanken aufgegeben, dass die moderne Konzentration auf die Selbstbestimmung des Menschen die Wahrnehmung des Passivischen und Pathischen, die Wahrnehmung von Widerfahrnis und Kontingenz nicht verdeckt. Religiöse Bildung in christlicher Verantwortung kennt wohl ein Neuwerden im Alter (

EKD-Orientierungshilfe

»Im Alter neu werden«, 2009), sie kennt aber auch die Würde des Gegebenen. In der Didaktik einer alter(n)ssensiblen Biographiearbeit mögen solche Sachverhalte im Gewand von Narrationen erscheinen und bearbeitet werden. Dabei kann es letztlich nicht darum gehen, sinnhafte Deutungen zu generieren, um aus der Dialektik von Verfügbarem und Unverfügbarem, von Widerstand und Ergebung herauszukommen. Es geht im Letzten vielmehr darum, im ›Es‹ des Widerfahrenen ein ›Du‹ zu finden. Denn die Würde des Menschen besteht darin, Gottes geschöpfliches ›Du‹ zu bleiben, und zwar auch dann, wenn die Anerkennung von Widerfahrnissen und Grenzen und die Wahrnehmung von Gestaltungsmöglichkeiten nicht gelingt. Offene Fragen beziehen sich darauf, inwiefern solches von (substantiell-inhaltlichen) Glaubensformen abhängig ist bzw. inwiefern solches auch auf leibliche Übermittlungsformen (Rituale, Berührung etc.) übertragen werden kann.

Die Herausgeberin und die Herausgeber danken herzlich allen Mitwirkenden, insbesondere Wilhelm Georg Lindner, der das Manuskript Korrektur gelesen hat, und Christina Koch, die beim Satz der Publikation wertvolle Arbeit geleistet hat. Die Tagung sowie der vorliegende Tagungsband wurden mit Mitteln der Ernst-Abbe-Stiftung Jena und des Lehrstuhls für Sportmedizin und Gesundheitsförderung der Friedrich-Schiller-Universität Jena finanziert.

TEIL I: ERKUNDUNGEN ZUR WAHRNEHMUNG DES ALTER(N)S IN MEDIZIN UND THEOLOGIE 

BEWEGUNG, LEISTUNGSFÄHIGKEIT UND AKTIVITÄT DES MENSCHEN

GRENZEN UND GESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN AUS PHYSIOLOGISCHER, SPORTMEDIZINISCHER UND GESUNDHEITSFÖRDERLICHER PERSPEKTIVE

Holger Gabriel

1 EINFÜHRUNG 

Aus biologischer Sicht ist Bewegung eine lebensnotwendige Fähigkeit. Bewegung ermöglicht die körperliche Leistungsfähigkeit, welche wiederum im Mindestmaß erforderlich ist, um körperlich aktiv sein zu können. Sowohl die körperliche Leistungsfähigkeit als auch die körperliche Aktivität sind räumlich, zeitlich und in ihrem Ausmaß begrenzt. Innerhalb dynamischer Grenzen sind sie lebenslang gestaltbar. Die Fähigkeit zur Bewegung als einer körperlichen Funktion ermöglicht Lebensgestaltung. Von der Funktionsfähigkeit ist die Umgangsfähigkeit zu unterscheiden. Die Umgangsfähigkeit ermöglicht den angemessenen Umgang mit Bewegung durch Einsicht und Anerkennung der Grenzen der Bewegung als körperliche Funktion. Sie befähigt zu Entscheidungen zur Gestaltung und Selbstbeschränkung, um auf vielfältige Art den Fortgang des Lebens und seine Gestaltung anhand von Zielen, Aufgaben und Anforderungen zu sichern. Die Unfähigkeit zur Bewegung ist unterhalb vorgegebener Grenzen mit dem biologischen Leben nicht vereinbar. Daher können die Fähigkeiten zur Bewegung und der Umgang mit Bewegung als essentielle Ressourcen des menschlichen Lebens bezeichnet werden.

2 RESSOURCEN

Menschen benötigen zur Bewältigung ihrer Lebensaufgaben Ressourcen. Unter Ressourcen wird die Gesamtheit aller Mittel, Fähigkeiten und Kompetenzen verstanden, die prinzipiell für die Bewältigung von Lebensaufgaben, die Erreichung von Zielen oder den Umgang mit Verlusten und Defiziten eingesetzt werden können.1

Aus der 1. Person-Perspektive wahrgenommene Ressourcen und Metawissen über die eigenen Möglichkeiten zur Lebensbewältigung werden als subjektive Ressourcen bezeichnet. Von Beobachtern zugeschriebene, d.h. aus einer objektiven (3. Person-)Perspektive beobachtbare Ressourcen, werden als objektive Ressourcen bezeichnet. Sowohl subjektive als auch objektive Ressourcen sind intrapersonal,2 interpersonal bzw. relational3 und extrapersonal4 lokalisierbar.

Von der grundsätzlichen Verfügbarkeit ist die für die einzelne Person in der konkreten Lebenssituation tatsächliche Verfügbarkeit der Ressourcen in Art, Umfang und Dauer zu unterscheiden. Die Wirksamkeit der konkret vorhandenen und verfügbaren Ressourcen ist abhängig von ihrer tatsächlichen Nutzung, dem Grad der Einübung und dem Einfluss förderlicher bzw. hinderlicher Faktoren. Zudem sind Ressourcen auf vorgegebene interne und externe Wirksamkeitsfaktoren wie beispielsweise biologische, kulturelle, soziale Genetik sowie Umweltfaktoren angewiesen. Religiöse Ressourcen sind Ressourcen im Kontext von Religion.5 Bezogen auf den Erhalt und die Förderung von Gesundheit kann zwischen personal-psychischen,6 körperlich-konstitutionellen,7 sozial-interpersonellen,8 sozio-kulturellen,9 religiösen und materiellen10 Ressourcen unterschieden werden. Ressourcen unterliegen im Alternsgang einem Wandel und sind durch Gewinne und Verluste geprägt.

3 BEWEGUNG 

3.1 DEFINITION 

Als Bewegung im physikalischen Sinne versteht man die Änderung des Ortes eines Beobachtungsobjektes mit der Zeit. Wenn aus einer Beobachtungsperspektive heraus sich ein Mensch von Ort zu Ort in einer bestimmten Zeit bewegt, spricht man von einer biologischen Bewegung des Menschen i.S. des gesamten Organismus in seiner biologischen Einheit. Bewegungen sind je nach Untersuchungsmethode auch an oder in Teilen des menschlichen Organismus beobachtbar. Aus der biologischen Perspektive ist Bewegung ein essentieller Bestandteil des menschlichen Lebens.

3.2 EBENEN DER BEWEGUNG

Menschliche Bewegungen finden auf allen mit naturwissenschaftlichen Methoden beobachtbaren Ebenen statt (Abb.1). Sie sind abhängig von biologischen Strukturen und deren physikalischen sowie biochemischen Funktionen. Strukturen und Funktionen unterliegen lebenslang einem steten Wandel. Dadurch können Bewegungen zwar wiederholt werden, folgen biologischen Gesetzmäßigkeiten, sehen einander ähnlich und haben mitunter identische Wirkungen, sind jedoch niemals identisch. Eine zentrale Voraussetzung für biologische Bewegungen ist die Energiebereitstellung. Ob auf (sub-)atomarer, molekularer, mikroskopischer oder makroskopischer Ebene, biologische Bewegungen benötigen Masse und Energie.

3.3 SENSORIK UND MOTORIK

Bewegung kommt ohne Wahrnehmung nicht aus. Bewegung wird damit sowohl durch aktive, als auch passive Komponenten bestimmt. Auf der makroskopischen Ebene wird hier von Sensorik bzw. Sensomotorik gesprochen, auf mikroskopischer und molekularer Ebenen von Rezeption, Signalempfang oder zur Beschreibung der aktiven und passiven Komponenten von Signal- oder Informationsübertragung. Bewegung ermöglicht Zeichen, Verhalten und Handlung. Letztere wiederum ist wechselseitig und dynamisch mit den komplexen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Organismus verbunden. Handlung und Wahrnehmung geht mit sich wandelnder Adaptation des Organismus einher, beispielsweise neuronaler, genetischer, metabolischer und inflammatorisch-immunologischer Prozesse.

Abb.1: Beispiele biologischer Bewegungen durch den Menschen als biologischer Organismus oder im Organismus als physikalische, physiologische oder biochemische Bewegungen einzelner Bestandteile des Organismus

Aus biochemischer Sicht sind sowohl Sensorik als auch Motorik des Menschen auf sogenannte energiereiche Phosphate angewiesen, die im Stoffwechsel entstehen und dem Bewegungssystem, also in erster Linie der Zusammenarbeit von zentralem und peripherem Nervensystem sowie Skelettmuskulatur, bereit gestellt werden. Nervensystem und Skelettmuskulatur sind strukturell und funktionell eng verbunden mit allen Organen und Organsystemen des menschlichen Organismus.

Zentrale Aufgaben der neuromuskulären Bewegungen sind das Aufrichten und Aufstehen entgegen sowie das Hinsetzen und Hinlegen mit der Schwerkraft, die Fortbewegung, die Ermöglichung von grob- oder feinmotorischer muskulärer Arbeit und Leistung (Arbeit pro Zeiteinheit), das Hören, Sprechen und Schreiben, das Kauen und Schlucken, das Verdauen und Ausscheiden, das Ein- und Ausatmen, die Herz- und Gefäßtätigkeit u.a.m.

Die motorische Komponente der neuromuskulären Bewegungen geht unabdingbar und im engen zeitlichen Zusammenhang mit der sensorischen Komponente, der Wahrnehmung, einher. Die sensorische Komponente von Bewegungen beinhaltet die Wahrnehmung von:

der Lage des Körpers im Raum,

der Bewegung in Art, Dauer, Schwierigkeitsgrad, Kraft, Beschleunigung und zeitlicher Abfolge,

dem Verhältnis zur Umwelt,

dem Verhältnis zu Bewegungserfahrungen der Vergangenheit,

Vergleichen zu normativen Vorstellung über Bewegungsausführungen,

den Beobachtungen und der Verarbeitung der inneren Wirkungen durch eigenes Erfahren, Erleben und Verhalten, und

der Beobachtung und Verarbeitung äußerer Wirkungen auf die Umwelt und das soziale Leben.

Daher ist es angemessen, die beobachtbaren Bewegungen von Menschen als Sensomotorik zu bezeichnen, welche dann neben der Motorik auch die Sensorik einschließt und damit insbesondere auch Kognitionen und Emotionen.

Die Schmerzwahrnehmung nimmt für Bewegungen insofern eine besondere Rolle ein, da Schmerzen Bewegungen initiieren können, beispielsweise um eine Gliedmaße oder den Menschen als Ganzes aus einem Schädigungsbereich oder einer schädigenden Körperposition zu bringen. Schmerzen können jedoch ebenso Bewegungen verhindern, um beispielsweise bei Verletzungen wie einem Knochenbruch größeren Schaden zu vermeiden. Darüber hinaus verursachen Bewegungen Schmerzen, welche wiederum abhängig von Art, Dauer, Umfang, Schwierigkeits- und Schädigungsgrad der Bewegung sind. Im Verlaufe des Lebens wird die Beanspruchbarkeit des Halte-, Bewegungs- und Stützsystem geringer. Beispiele dafür sind die Verminderung der Knochengrundsubstanz in den Knochen, die Abnahme der Knorpelstruktur in den Gelenken und die Brüchigkeit der Bandscheiben der Wirbelsäule. Dadurch werden die Beanspruchung und die potentielle Schädigung des Halte-, Bewegungs- und Stützsystems mit fortschreitendem Alternsgang größer.

3.4 BEWEGUNG UND ALTERN

Während die erste Lebenszeit des Menschen durch das erstmalige Erlernen solcher Bewegungen gekennzeichnet ist und somit zunächst einen gewissen Grad der Selbstversorgung und Teilhabe an der sozialen Umwelt ermöglicht, ist die weitere Entwicklung entscheidend davon abhängig, welche Bewegungsaufgaben entweder durch die Umwelt an den Menschen herangetragen werden oder welche Bewegungsaufgaben er sich selbst stellt. Solche Aufgaben können innerhalb vorgegebener, absoluter biologischer Leistungsgrenzen erstaunliche Ausmaße erreichen und erhebliche Wirkungen erzielen. Das Einüben von Bewegungen geht mit Adaptationen einher, die sowohl innerhalb des biologischen Organismus, beispielsweise durch neuromuskuläre Adaptation nachweisbar sind, als auch außerhalb des Organismus, beispielsweise durch einen geschrieben Text, die Wirkung des gesprochenen Wortes auf Bezugspersonen oder das geschaffene Kunstwerk, sichtbar werden.

Im späteren Lebensalter werden Verluste neben dem Erhalt und den immer noch möglichen (Wieder-)Gewinnen von Bewegungen deutlicher sichtbar. Letztlich ist der endgültige Verlust aller biologischen Bewegungen genetisch vorprogrammiert. In letzter Konsequenz ist Bewegung teilweise oder gänzlich dem selbstbestimmten Zugriff des Menschen entzogenen. Dieser Verlust an Bewegungsmöglichkeit ist häufig, jedoch nicht immer spür- und sichtbar. Sichtbarer sind häufig die Verluste der Wirkung von fehlenden Bewegungen, indem zuvor selbstverständliche und eingeübte Bewegungsabläufe wie gehen, greifen, sprechen, kauen, schlucken, atmen, verdauen und ausscheiden eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich sind. Häufig ist Menschen im Rahmen des Verlustes ihrer Bewegungsmöglichkeiten die Bewertungsmöglichkeit gemäß ihrer Haltungen und Werte noch relativ lange möglich, wobei sich auch diese als dynamisch erweisen.

Die Bewegungen des Menschen haben einen zeitlichen Anfang und ein zeitliches Ende. Sie sind angewiesen auf eine vita minima, d.h. ein minimales Ausmaß an biologischen Strukturen und Funktionen, die zum Überleben erforderlich sind. Bewegungen sind zudem durch absolute obere Leistungsgrenzen gekennzeichnet, die nicht überschritten werden können. Gründe hierfür sind in der Biomechanik, Kinematik, Physiologie und Biochemie der Bewegungsvoraussetzungen begründet. Innerhalb der unteren und oberen Leistungsgrenzen sind Bewegungen lebenslang gestaltbar. Unter Gestaltung wird hierbei die Gestaltung des Umfangs der Bewegungen, ihrer Adaptation im Sinne der Zunahme, jedoch ebenso des Verlustes, verstanden. Zudem ist es möglich, soweit kognitive Leistungen vollbracht werden können, sich – wie bereits erwähnt – zu den Bewegungen zu verhalten, den Umgang mit Bewegungen zu bewerten und dazu eine Haltung einzunehmen.

3.5 MEDIZINISCHE ASPEKTE UND GESUNDHEITSFÖRDERUNG

Aus medizinischer Perspektive ist die einschränkungs- und schmerzfreie Bewegung Ziel präventiver, therapeutischer und rehabilitativer Bemühungen. Der teilweise Verlust der Bewegungsfähigkeit schränkt die Lebensfähigkeit ein, der vollständige Verlust der Bewegungsfähigkeit einzelner Organe oder des Gesamtorganismus sind mit dem Leben nicht vereinbar. Bewegung, Lebensqualität und Lebensdauer sind untrennbar miteinander verbunden.

Aus Sicht der Gesundheitsförderung werden die Bewegungsfähigkeit an sich, die vielfältige Gestaltbarkeit von Bewegungen und die Fähigkeit zum Umgang mit Bewegungen als Gesundheitsressourcen erkannt und genutzt. Ziel der gesundheitsförderlichen Bemühungen ist die lebenslange und menschenangemessene Optimierung aller mit Bewegungen zusammenhängenden Ressourcen. Damit ist Optimierung nicht zwangsläufig mit Maximierung gleichzusetzen. Die menschenangemessene Optimierung der Bewegungsressourcen schließt den teilweisen, drohenden und tatsächlichen lebensbeendenden Verlust der Bewegungsfähigkeit mit ein. Im Konkreten bedeutet dies, dass die Aufgabe des im Sterben zwangsläufigen Abgebens letztendlich aller Fähigkeiten zur Bewegung nicht nur Teil medizinischer Bemühungen, sondern auch jener der Gesundheitsförderung sind. Es ist in letzter Konsequenz das Ablassen von allen Bemühungen der Bewegungsförderung und -erhaltung. Dies betrifft sowohl den sterbenden Menschen als auch die den Sterbeprozess begleitenden Personen. Im Charakter mag es sich dabei um einen mehr aktiven Prozess handeln, der sich in einem »Sein-Lassen«, der freiwilligen Ab- oder Rückgabe von verloren gehenden Körperfunktionen äußert. Es mag aber auch ein aktiver Prozess des Widerstands im Sinne des »sich im widersetzenden Kampf Abringen-Lassens« der mit Bewegung einhergehenden Fähigkeiten und Ressourcen sein. Ebenso mag das »Sein-Lassen« eher passiv als »Geschehen-Lassen« seinen letzten Lebenslauf hin auf den Tod nehmen.

Medizinische und gesundheitsförderliche Intentionen, Planungen, Handlungen und Bewertungen schließen im Zusammenhang mit Bewegung alle Phasen und Prozesse von der Eizelle und des Spermiums bis zum vollständigen und endgültigen Eintreten des Todes des aus der Befruchtung der Eizelle mit dem Spermium entstandenen menschlichen Lebens mit ein.

Wenn im Folgenden von Bewegung gesprochen wird, sind sensomotorische Bewegungen gemeint. Falls physiologische, biochemische, molekulare oder atomare Prozesse beschrieben werden, wird dies explizit benannt. Bewegungen ermöglichen körperliche Aktivität und Leistungsfähigkeit. Beide unterliegen einer lebenslangen Veränderung.

4 KÖRPERLICHE LEISTUNGSFÄHIGKEIT11

4.1 RESSOURCE UND ERMÖGLICHUNGSGUT

Körperliche Leistung ist subjektiv erfahrbar, objektiv beobachtbar und Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation. Sie ist von Interesse für Einzelpersonen, Personengruppen, Systeme und Gesellschaften. Die Fähigkeit zur Erbringung körperlicher Leistungen ist begrenzt gestaltbar, fragil und angewiesen auf interne und externe Ressourcen. Körperliche Leistungsfähigkeit ist Teil der biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung des Menschen. Sie ist einerseits einer biologisch-genetisch vorgegebenen und andererseits einer begrenzt durch Verhalten und Verhältnisse beeinflussbaren Wandlung vom Lebensanfang bis zum Lebensende unterzogen.12

Körperliche Leistungsfähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung der aktiven individuellen Lebensgestaltung. Ohne spürbare Einschränkung wird quasi unbemerkt und »wie selbstverständlich« auf sie zurückgegriffen. Nicht selten wird diese »Selbstverständlichkeit zur körperlichen Leistung« mit Vitalität, Wohlbefinden und Gesundheit gleichgesetzt.13 Körperliche Leistungsfähigkeit kommt in der subjektiven Wahrnehmung häufig erst dann zum Ausdruck, wenn sie eine Leistung bewirkt und ein Produkt sichtbar wird. Dies wird beispielsweise deutlich im Berufsleben, im Sport, in der Kunst und der Musik. Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit sind beispielsweise durch Alternsprozesse, Krankheit, Unfälle, aber auch durch freiwillige oder erzwungene Einschränkung der körperlichen Aktivität bedingt. Häufig ist sie durch subjektiv spürbare Symptome (subjektive und objektive Befunde) zu bemerken. Einschränkungen und Symptome geben Anlass, den Umgang mit der körperlichen Leistungsfähigkeit anzupassen.

4.2 DEFINITIONEN UND DETERMINANTEN 

Die Beschreibung der körperlichen Leistungsfähigkeit erfordert für die quantitative Einordnung den Bezug zu Referenzpunkten oder -bereichen. Referenzbereiche orientieren sich an empirischen Untersuchungen und an den bekannten physiologischen Minima bzw. Maxima.14 Die in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffe »Steigerungen« und »Einschränkungen« sind Konventionen und vordergründig beschreibender Natur. Sie können jedoch implizit und explizit normative Bedeutung beinhalten oder im Handlungsprozess einer Gesundheitssprechstunde normativ wirksam werden. Die Gestaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit findet vor dem Hintergrund individueller Lebensziele und im soziokulturellen Bezugsrahmen statt.

Die Sportmedizin greift bei der Definition der körperlichen Leistungsfähigkeit auf die physikalischen Definitionen von Arbeit und Leistung zurück, um damit die Grundlage für eine sportmedizinische Leistungsdiagnostik zu legen.

Aus biologisch-physikalischer Perspektive ist körperliche Leistung die in einer Zeiteinheit erbrachte muskuläre Körperarbeit.15 Körperliche Leistungsfähigkeit ist die Summe aller für die Erbringung der körperlichen Leistung notwendigen und aktuell zur Verfügung stehenden Determinanten. Aus der Perspektive der biochemischen Energiebereitstellung ist körperliche Leistung die in einer Zeiteinheit aerob und/​oder anaerob bereitgestellte Energie durch energiereiche Phosphate, um neuromuskuläre Körperarbeit zu erbringen.

Die Determinanten der Leistungsfähigkeit sind aus physiologischer Sicht die biologische Struktur und ihre Funktionsfähigkeit (primäre Determinanten) und betreffen die Ebene des Gesamtorganismus und die Subebenen der Strukturen, Systeme und Regelkreise. Die beiden primären Determinanten sind wesentlich durch sekundäre Determinanten beeinflusst: (biologische) Alternsprozesse, Gesundheit, Krankheit, Lebensstile, Nährstoffzufuhr, Bewegung, Übung und Training, Genetik (Genotyp, Epigenetik), Umweltfaktoren (physikalisch, chemisch, ökologisch, sozioökonomisch), Sensomotorik und Perzeption und Psyche (sekundäre Determinanten).

Über die enge biologisch-physikalische Definition der körperlichen Leistungsfähigkeit hinaus fordert praktische Tätigkeit eine weitergehende Begriffsbestimmung ein, um handlungsfähig zu sein. Demnach entspricht körperliche Leistung dem durch Körperarbeit und Energieverbrauch (Bewegung, Übung, Training, Sport) geschaffenen und am Handlungsziel gemessenen Wert mit einem messbaren und einem Mindestniveau versehenen Ergebnis. Leistung in diesem Sinne wird als Leistungsfähigkeit bezeichnet und ist abhängig von biologischen, psychischen und sozialen Ressourcen, äußeren Belastungen und innerer Beanspruchung sowie der Leistungsbereitschaft. Sie kann willentlich und unwillentlich erbracht werden.

4.3 QUANTIFIZIERUNG 

Sportmedizinische Leistungsdiagnostik beschreibt aus der objektiven Perspektive und mithilfe medizinisch-naturwissenschaftlicher Messverfahren die körperliche Leistungsfähigkeit in den motorischen Grundbeanspruchungsformen Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination (Abb.2).

Abb 2: Dargestellt sind die fünf motorischen Hauptbeanspruchungsformen Koordination, Flexibilität, Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer16 und ihre physischen Wirkungen im Verhältnis zur sportmedizinisch-sportwissenschaftlichen Einordnung von Bewegung in die Verhaltensklassifikation als Übung, Training und Sport. Geschlossene Kreise: übergeordnete Beanspruchung; offene Kreise: untergeordnete Beanspruchung; MET: Metabolisches Äquivalent als Maß für die Beanspruchung des Energiestoffwechsels.

Allgemeine und spezifische Labortests untersuchen Schwerpunkte der Leistungsfähigkeit in den motorischen Grundbeanspruchungsformen. Sowohl im Labor als auch unter Trainings-, Wettkampf- und Alltagsbedingungen wird Leistungsdiagnostik zur Erfassung der praxisrelevanten Leistungsfähigkeit mit dem Ziel einer Bewegungs-, Übungs- oder Trainingssteuerung vorgenommen. Die leistungsdiagnostischen Verfahren sind in Modifikationen auf gesunde und kranke Menschen jeglicher Leistungsfähigkeit anwendbar.

Das bedeutendste leistungsdiagnostische Verfahren in der Sportmedizin ist die Spiroergometrie, häufig in Kombination mit der so genannten Laktat- Leistungsdiagnostik. Zentrales Maß der Leistungsbeurteilung ist die Bestimmung der Leistungsfähigkeit an bestimmten Punkten der Energiebereitstellung. Hierzu werden die Ventilation, der Atemgasaustausch, die Herzfrequenzregulation und die Laktatkonzentration im Blut herangezogen. Hinzu können subjektive Angaben der untersuchten Personen und des Arztes kommen. Die häufigsten leistungsdiagnostischen Verfahren sind die Fahrrad- und Laufbandergometrie im Rahmen eines Belastungs-EKGs (Elektrokardiogramm).

Anhand leistungsdiagnostischer Verfahren lassen sich einerseits die aktuelle Leistungsfähigkeit und andererseits die möglichen Leistungsgrenzen (Minimum, Maximum) zugehörig zu Kovariablen wie beispielsweise dem Alter, dem Geschlecht und dem Gesundheits-/​Krankheitszustand bestimmen. Dabei lassen sich generelle (zum Beispiel allgemeine Fitness) und partielle Aussagen (Organsystem-, Organ-, Zellebene) zur Leistungsfähigkeit treffen. Die leistungsdiagnostischen Verfahren umfassen in der Sportmedizin alle motorischen Grundbeanspruchungsformen. Sie werden in vielfältiger und spezifischer Weise in Sportarten und alltagsrelevanten Belastungen angewendet.

Die aus den leistungsdiagnostischen Untersuchungen generierten statistischen Referenzbereiche erhalten in der sportmedizinischen Praxis eine wichtige orientierende Bedeutung. Leistungsbeurteilungen basieren auf quantitativen Maßen. Dabei kommen direkte physikalische Größen (z.B. Höhe, Weite, Zeiten, Geschwindigkeiten), biologische Surrogatparameter (z.B. Herzfrequenzen, Stoffwechselparameter) und subjektive Bewertungen anhand von Rangfolgen und Skalenwerten durch Dritte zum Einsatz. Die Leistungsdiagnostik ist ein essentieller Bestandteil der sportmedizinischen Gesundheitssprechstunde.

4.4 GRENZEN

Die körperliche Leistungsfähigkeit ist absolut begrenzt und in diesem begrenzten Rahmen gestaltbar. Sowohl die derzeit bekannten absoluten Grenzen als auch die Mittel zur Gestaltung sind entsprechend des technischen Fortschritts zunehmend gestaltbarer. Als Mindestvoraussetzung für eine minimale Funktions- und damit auch Leistungsfähigkeit des Organismus im Sinne einer vita minima ist beispielsweise eine Sauerstoffaufnahme in den menschlichen Organismus von ca. 3,5ml pro Minute und pro Kilogramm Körpergewicht erforderlich.17 In der Leistungsphysiologie wird dieser Wert mit 1 MET (Metabolic equivalent of task) bezeichnet. Die höchsten Werte für eine Sauerstoffaufnahme als physiologische Voraussetzung für höchste körperliche Leistungen im Ausdauerbereich und im Sinne einer vita maxima liegen bei ca. 90ml Sauerstoffaufnahme pro Minute und pro Kilogramm Körpergewicht und damit bei dem etwa 25-fachen Wert (25 MET).18 Für ein eigenständiges Leben ohne fremde Hilfe werden für Menschen im 9. Lebensjahrzehnt 4–5 MET benötigt.19 Liegt die maximale Sauerstoffaufnahme geringer als 2–3 MET, ist das Risiko für die Entstehung einer koronaren Herzkrankheit deutlich erhöht.20 Die Gesamtsterblichkeit sinkt um 13–15% pro MET, das durch Steigerung der Ausdauerleistungsfähigkeit erzielt wird (Abb.3).21

Sowohl die untere als auch die obere Grenze der Sauerstoffaufnahme lassen sich durch technische Maßnahmen (z.B. genetische, physikalische, chemische Manipulationen oder Änderung der Umweltbedingungen) signifikant beeinflussen. Im unteren Grenzbereich menschlicher Funktions- und Leistungsfähigkeit liegt das Interesse insbesondere in der Intensivmedizin und dem Überleben unter extremen Bedingungen (z.B. Überlebenstraining, Notsituationen, militärische oder geheimdienstliche Einsätze, ›Rekordversuche‹), im oberen Grenzbereich vorzugsweise im Spitzensport und Arbeitsfeldern mit Anspruch an physische Spitzenleistungen (z.B. Raumfahrt, Militär, Showgeschäft, Spezialformen der Lebensrettung, Maßnahmen des ›Anti-Aging‹ im höheren und höchsten Lebensalter). Die Übertragbarkeit auf lebenspraktische Bereiche, in denen Kraft, Schnelligkeit, Flexibilität und Koordination eine dominante Rolle spielen, ist gegeben.

Die Zielstellungen des Erreichens oder Hinausschiebens von oberen oder unteren körperlichen Leistungsgrenzen sind mitentscheidend über die Mittel, die dafür eingesetzt oder entwickelt werden. Sie sind keineswegs auf Sport und Medizin beschränkt. Sie sind Teil der Bemühungen um die Optimierung oder Verbesserung des Menschen. Damit sind sie Teil der ethischen Diskussionen des Enhancements und der wunscherfüllenden Medizin. Die Bewertung sowohl der Zielstellungen als auch der praktischen Ausführung einschließlich der dazu verwendeten Mittel erfordern Wertmaßstäbe. Im Falle des Dopings liegen diese Wertmaßstäbe auf der rechtlichen als auch auf der moralischen Ebene. Für die Sportmedizin als medizinisches Fachgebiet müssen die Normen des Berufsstandes entsprechend des Berufsethos und des Berufsrechts22 eingefordert werden, soweit sie Menschen angemessen sind. Medizinische Prinzipien sind zur Reflexion der praktischen Entscheidungen einer Gesundheitssprechstunde ebenso wichtig wie rechtliche Normen, die die berufsrechtlichen Grundlagen vorgeben und ggf. bei Verstößen zur Sanktionierung führen.23

Abb.3: Darstellung der absoluten unteren und oberen Grenzen der Leistungsfähigkeit, Darstellung von Bewegung, Übung, Training und Sport sowie der absoluten Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit im Alternsgang.24

5 KÖRPERLICHE AKTIVITÄT 

5.1 BEGRIFFE UND DEFINITIONEN

Unter körperlicher Aktivität wird aus sportmedizinischer und sportwissenschaftlicher Sicht diejenige muskuläre Arbeit verstanden, die den Energieverbrauch über den Grundumsatz hinaus anhebt. Der Grundumsatz wird definitionsgemäß mit 1 MET beziffert. Er entspricht bei Männern einem Energieverbrauch, für den eine Sauerstoffaufnahme von ca. 3,5 und bei Frauen ca. 3,15ml/​min/​kg Körpermasse erforderlich ist. Wird mindestens 1/​7 der Skelettmuskelmasse zur Energiebereitstellung herangezogen, spricht man von allgemeiner Muskelarbeit, bei weniger als 1/​7 von lokaler Muskelarbeit. Da körperliche Aktivität an dem Energieverbrauch durch Muskelarbeit gemessen wird, kann es sich sowohl um dynamische als auch statische Formen der Muskelarbeit handeln. Wenn durch körperliche Aktivität Muskelarbeit in einer Zeiteinheit erbracht wird, wird sie als muskuläre (oder körperliche) Leistung definiert. Die Fähigkeit zur Erbringung von muskulärer Leistung wird als Leistungsfähigkeit bezeichnet. Die allgemeine maximale körperliche Leistungsfähigkeit wird häufig auch mit dem Begriff Fitness umschrieben. Im umgekehrten Sinne ist die körperliche Leistungsfähigkeit, und hier aus physiologischer Perspektive die Energiebereitstellung mit der Folge der Muskelkontraktionen, in einem Mindestmaß Voraussetzung dafür, überhaupt körperlich aktiv sein zu können. Je mehr körperliche Leistungsfähigkeit vorhanden ist, desto größer ist das Potential, körperlich aktiv sein zu können. Umgekehrt sind die Art, die Intensität, die Dauer, die Häufigkeit und der Schwierigkeitsgrad der körperlichen Aktivität als Training oder Sport von essentieller Bedeutung für den Anstieg, den Erhalt oder den Abfall von körperlicher Leistungsfähigkeit. Körperliche Aktivität und Leistungsfähigkeit stehen in wechselseitiger Abhängigkeit und unterliegen einem steten Wandel über die gesamte Lebensspanne.

Die dem menschlichen Organismus auferlegten Arbeitsaufgaben oder Leistungsanforderungen werden als »Belastungen« bezeichnet. Solche Belastungen führen je nach Art, Intensität und Dauer zu inneren Beanspruchungen des Organismus. Dabei kommt es zu kurz-, mittel- und/​oder langfristigen Veränderungen des Organismus, die mit dem ausbleiben weiterer Belastungsreize wieder zurückgebildet werden. Langfristig ausbleibende Belastungsreize führen zu bedeutsamen strukturellen Veränderungen der meisten Organsysteme. Die sichtbarsten Veränderungen sind die Abnahme der Muskelmasse, der Muskelkraft und der Muskelausdauer. Die daraus resultierenden Einbußen der Leistungsfähigkeit beeinträchtigen die Teilhabe an den Aktivitäten des alltäglichen Lebens bis hin zum Unterschreiten zunächst der Trainierbarkeitsgrenze und dann der noch niedrigeren Selbstversorgungsgrenze (vgl. Abb.2).

5.2 ZIELE UND WIRKUNGEN

Ein wesentliches präventives Ziel bei älter werdenden und alten Menschen ist der Erhalt der allgemeinen Leistungsfähigkeit oberhalb der Selbstversorgungsgrenze, besser noch der Trainierbarkeitsgrenze. Längere Immobilisationen führen zwangsläufig zu einer Leistungsfähigkeit unterhalb der Selbstversorgungsgrenze. Ob es sich dabei um eine irreversible Unterschreitung handelt, ist von äußeren und inneren Ressourcen, deren angemessener Aktivierungsmöglichkeit und praktischer Anwendung abhängig.

Beispiele für längere Immobilisationen sind Krankheiten und Unfälle mit Bettlägerigkeit, Zwangsimmobilisationen durch Einsperren und Fesseln sowie selbstgewählte Zwangshaltungen. Manche Menschen erreichen zu keinem Lebenszeitpunkt die Selbstversorgungsgrenze aufgrund von biologisch-genetischen Defekten, Erkrankungen oder Schädigungen im Mutterleib, bei der Geburt oder bevor die Selbstversorgungsgrenze bei »normaler« Entwicklung innerhalb der ersten Lebensjahre erreicht ist. Gewaltsames und dauerhaftes Immobilisieren gehört leider auch zu den tragischen Realitäten des Umgang mit Neugeborenen und Kindern im Rahmen von pathologischen und rituellen Zeremonien bzw. Lebensformen erwachsener Menschen, so dass allein aus Gründen der körperlichen Leistungsfähigkeit die Selbstversorgungsgrenze nicht erreicht werden kann (wobei Berichte über Einzelschicksale das tatsächliche Ausmaß im Dunkeln lässt).

Alle Menschen, die jemals eine höhere Leistungsfähigkeit als jene der Selbstversorgungsgrenze erreicht haben, werden diese im Verlauf des Lebens irreversibel wieder unterschreiten. Dies wird spätestens im Verlauf des Sterbeprozesses und damit der letzten Lebensphase der Fall sein, wobei die Dauer sehr unterschiedlich lang sein kann. Es kann sich um die Kürze eines plötzlichen Todesfalls durch Unfall, Gewaltverbrechen oder Krankheit bis hin zur jahrzehntelangen Bettlägerigkeit bei chronischen Krankheiten und posttraumatischen Zuständen handeln. Im Falle der Unterschreitung der Selbstversorgungsgrenze ist die Leistungsfähigkeit so gering, dass willkürliche oder unwillkürliche Bewegungen vollständig oder mit äußerer Hilfe ausgeführt werden können. Mitunter sind auch strukturierte längerfristige Übungsprogramme möglich, wobei jedoch der Mehrbedarf an Energie für Muskelarbeit denjenigen des Grundumsatzes nicht signifikant überschreitet. Daher wird aus rein definitorischen Gründen in diesen Fällen nicht von körperlicher Aktivität gesprochen, sondern von Bewegungen oder Bewegungsabläufen im Rahmen medizinischer oder pflegerischer Handlungen.

5.3 RESSOURCE UND RISIKO