Religionspädagogik in Anforderungssituationen - Tanja Gojny - E-Book

Religionspädagogik in Anforderungssituationen E-Book

Tanja Gojny

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Entlang von Anforderungssituationen im Berufsfeld von zukünftigen Religionslehrkräften wird ein fundierter Überblick über die Kernfragen der Religionspädagogik geboten, wie u.a.: "Was kommt da wohl auf mich zu?" – Oder: Was müssen Lehrkräfte im Religionsunterricht heute können? Überblickschaubilder, Arbeitsaufgaben und Literaturangaben ermöglichen eine vertiefte Beschäftigung. Das Studienbuch unterstützt Studierende dabei, fachdidaktische Grundlagen zu erwerben und sich auf Prüfungen vorzubereiten – und erfahrene Religionslehrkräfte gewinnen Einblicke in aktuelle Diskurse und Forschungsergebnisse.

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Seitenzahl: 530

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Tanja Gojny/Hartmut Lenhard/Mirjam Zimmermann

Religionspädagogikin Anforderungssituationen

Fachdidaktische Grundlagen für Studium und Beruf

Vandenhoeck & Ruprecht

PD Dr. Tanja Gojny lehrt Religionspädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Dr. Hartmut Lenhard leitete bis 2012 das Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Paderborn. Er ist Autor vielfältiger religionspädagogischer Literatur.

Prof. Dr. Mirjam Zimmermann lehrt Religionspädagogik an der Universität Siegen.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de

Mit 46 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Hartmut Lenhard

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 5797

ISBN 978-3-8463-5797-2

Inhalt

Zur Einführung

Kapitel 1: Religionspädagogik – worum geht’s da eigentlich? – Wissenschaftstheoretische Verortung und begriffliche Klärungen

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Zur wissenschaftstheoretischen Verortung von Religionspädagogik und Religionsdidaktik

3 Grundmodi religiösen Lernens: Sozialisation, Erziehung und Bildung

4 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 2: Brauchen wir heute noch Religionsunterricht? – Begründungslinien religiöser Bildung

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Die rechtliche Begründung

3 Die anthropologische Begründung

4 Die kulturgeschichtlich-religionskulturelle Begründung

5 Die gesellschaftlich-ideologiekritische Begründung

6 Die bildungstheoretische Begründung

7 Die theologische Begründung

8 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 3: Wie wird der Religions- bzw. Werteunterricht der Zukunft aussehen? – Rechtliche Aspekte und Organisationsformen des Religionsunterrichts heute

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Organisationsformen des Religionsunterrichts in Europa

3 Rechtliche Grundlagen des Religionsunterrichts in Deutschland

4 Organisationsformen des Religionsunterrichts in Deutschland

5 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 4: Was müssen Lehrkräfte im Religionsunterricht heute wissen und können? – Lehrerprofessionalität in religionspädagogischer Perspektive

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Zum Stand der Forschung

3 Modelle der Lehrerprofessionalität

4 Professionalität in religionspädagogischer Perspektive

5 Vom Wissen zum Können

Kapitel 5: Wie kann man Schülerinnen und Schüler besser wahrnehmen? – Perspektiven aus Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung

Anforderungssituation

1 Einführung

2 (Entwicklungs-)Psychologische Zugänge

3 Sozialwissenschaftliche Zugänge über verfügbare Studien

4 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 6: Warum braucht der Religionsunterricht didaktische Theorien? – Wegmarken religionsdidaktischer Konzeptionen, Ansätze und Perspektiven

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Konzeptionen, Ansätze, Perspektiven – was damit gemeint ist

3 Konzeptionen in Kurzskizzen

4 Neuere Ansätze und Perspektiven

5 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 7: Wie geht Religionsunterricht? – Dimensionen und didaktische Strukturen religiösen Lernens

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Didaktik – worum geht es da eigentlich?

3 Unterrichtsstrukturen in traditionellen religionspädagogischen Konzeptionen

4 Bildungstheoretisch orientierte Religionsdidaktik

5 Unterrichtsstrukturen in aktuellen Ansätzen und Perspektiven

6 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 8: Hauptsache ganzheitlich, abwechslungsreich und handlungsorientiert? – Methoden- und Medienfragen

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Methoden im Religionsunterricht

3 Medien im Religionsunterricht

4 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 9: Was ist guter Religionsunterricht? – Qualitätskriterien religiösen Lernens

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Warum die Frage nach „gutem Religionsunterricht“ notwendig ist

3 Warum es „den“ guten (Religions-)Unterricht nicht gibt – und nicht geben kann.

4 Was empirische Unterrichtsforschung für „guten“ Unterricht austrägt

5 Empirische Unterrichtsforschung und Fachdidaktik – ein spannungsreiches Verhältnis

6 Guter Religionsunterricht – fachdidaktisch betrachtet

7 Was den Religionsunterricht ausmacht

8 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 10: Einfach die Bibel ins Leben holen!? – Herausforderung Bibeldidaktik

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Schülerinnen und Schüler und die Bibel – empirische Erkenntnisse

3 Hermeneutik und Bibeldidaktik

4 (Biblische) Erzählung und Identität

5 Konzepte der Bibeldidaktik

6 Methodische Zugänge

7 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 11: Was glaubst denn du? – Systematisch-theologische Lernbereiche als Dialog über Glauben und Leben

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Das Bekenntnis des Glaubens und der tiefe Graben der Geschichte

3 Fremde theologische Sprachwelt

4 Didaktische Ansätze und die Praxis

5 Die Frage nach Gott als Beispiel religionsdidaktischer Herausforderungen

6 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 12: Werte vermitteln? – Ethischer und anthropologischer Lernbereich

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Das Christliche christlicher Ethik und Anthropologie

3 Ethische Bildung im Religionsunterricht

4 Empirische Aspekte

5 Didaktische Zugänge und methodische Überlegungen

6 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 13: Kreuzzüge, Hexenverfolgungen, Holocaust! – War das alles? – Die kirchengeschichtliche Dimension religiösen Lernens

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Die Lernenden: Wissen, Lebenswelten und Geschichtsbilder

3 Die Sache – was Kirchengeschichte im Religionsunterricht leisten kann

4 Brücken bauen: Kirchengeschichte im Religionsunterricht praktisch

5 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 14: „Anderen“ Religionen begegnen? – Interreligiöses Lernen

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Begriffliche Differenzierungen

3 Didaktische Grundüberlegungen

4 Empirische Einsichten

5 Zugänge und Methoden

6 Darstellung „anderer“ Religionen in Medien und Unterricht

7 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 15: Wie kann ich allen Schülerinnen und Schülern gerecht werden? – Herausforderung Inklusion

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Zum Stand der Inklusion in Deutschland

3 Theologische Herausforderungen

4 Religionspädagogische und -didaktische Herausforderungen

5 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 16: (Wie) kommen konfessionslose Kinder und Jugendliche in den Blick? – Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Zum Begriff

3 Versuch einer Annäherung an die Gruppe der Konfessionslosen an der Schule

4 Herausforderungen und mögliche Ziele religiöser Bildung von Konfessionslosen

5 Gestaltung von angemessenen Lernangeboten für Konfessionslose

6 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 17: Methodisches Update oder Transformation der Ziele? – Religionsunterricht im Kontext von Digitalisierung

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Religiöse Bildung im Kontext des digitalen Wandels

3 Digitaler Religionsunterricht

4 Zusammenfassung (Schaubild)

Kapitel 18: Christliche Gottesdienste in einer religiös und weltanschaulich pluralen Schule? – Religion im Schulleben

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Religiöses Schulleben in der säkularen Schule: rechtlicher Rahmen

3 Religion im Schulleben – vielfältige Erscheinungsformen

4 Begründungsperspektiven für Angebote religiösen Schullebens

5 Im Fokus: religiöse Feierpraxis im Kontext Schule und Angebote von Schulseelsorge

6 Zusammenfassung (Übersichtstabelle)

Kapitel 19: Wie komme ich an ein (Forschungs-)Thema für meine (Abschluss-)Arbeit? – Annäherungen an inhaltliche und methodische Fragen religionspädagogischer Forschung

Anforderungssituation

1 Einführung

2 Inhaltsbereiche für Forschungsthemen

3 Schritte der Themenbearbeitung

4 Zusammenfassung (Schaubild)

Zur Einführung

Ein Sportler beim Bouldern an der Kletterwand – als Cover für eine Religionsdidaktik? Vielleicht hat dieses Bild Sie angesprochen und Sie blättern nun neugierig in diesem Buch oder schauen sich im Internet eine Leseprobe an. Vielleicht fühlen Sie sich an die eigene „Kletterwand“ erinnert, an der Tag für Tag neue Herausforderungen auf Sie warten, sei es im Studium, als Referendarin oder Referendar im Vorbereitungsdienst und als Lehrkraft im Beruf. Was brauchen Sie, um diese Anforderungen bewältigen zu können? Welches Wissen, welches Können, welche Motivation?

Zur Bedeutung von Anforderungssituationen für die Religionsdidaktik

Wir haben den beruflichen „Ernstfall“ als Ausgangspunkt für diese religionsdidaktische Darstellung gewählt. Wir sind davon überzeugt, dass theoretisches Wissen im Studium von vornherein auf das spätere Berufsfeld bezogen sein muss und umgekehrt berufliche Erfahrungen an wissenschaftlichen Erkenntnissen geprüft und evaluiert werden sollten. Deshalb beschreiten wir den ungewohnten Weg, von Anforderungssituationen aus zentrale Themen der religionspädagogischen Fachdidaktik zu entwickeln und immer wieder auf praktische Problemstellungen zu rekurrieren. Sie als Studierende werden den „Kletterwänden“ des Berufs umso besser gewachsen sein, wenn Sie bereits im Studium gelernt haben, mit solchen Anforderungssituationen konstruktiv und wissensbasiert umzugehen.

Das grundlegende Gutachten „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ (Klieme, 2003) leitete mit der Metastruktur der Kompetenzorientierung eine Umsteuerung des gesamten Bildungswesens ein. Seitdem hat der Begriff Anforderungssituation in der Allgemeinen Didaktik und in einer Reihe von Fachdidaktiken Fuß gefasst. Kompetenzen, so lautete die These des Gutachtens, seien kognitive Dispositionen, die Personen befähigen, „bestimmte Arten von Problemen erfolgreich zu lösen, also konkrete Anforderungssituationen eines bestimmten Typs zu bewältigen“ (Klieme, 2003, 72). Damit Kompetenzen überhaupt ausgebildet werden können, ist domänenspezifisches Wissen und Können erforderlich, das in und für Handlungssituationen erworben wird und – verallgemeinert und systematisiert – neue Herausforderungen zu bewältigen hilft. Diese Bestimmungen, die auf den pädagogischen Psychologen Franz E. Weinert zurückgehen, wurden nicht nur in der Religionspädagogik rezipiert, interpretiert und als „didaktisches Schlüsselprinzip“ kompetenzorientierten Religionsunterrichts (Obst, 2015, 243; Lenhard, 2017, 6) ausgewiesen.

Auch in Forschungen der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ – und hier mit besonderem Nachdruck – wurde der Begriff Anforderungssituation im Blick auf die dringliche Aufgabe einer „Verzahnung von Theorie und Praxis im Lehramtsstudium“ aufgenommen. Beispielsweise führen Alexander Kauertz und Regina Schleicher in ihrem Aufsatz „Modularisierte Schulpraxiseinbindung – Schulische Anforderungssituationen als Elemente universitärer Lehre“ dazu aus:

„Mit der Integration von schulischen Anforderungssituationen in das Studium inner- und außerhalb von Praxisphasen wird versucht, angehende Lehrkräfte angemessen vorzubereiten. Bei einer schulischen Anforderungssituation handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem professionellen Alltag einer Lehrkraft, der einer zeitlich abgrenzbaren Aufgabe entspricht. Die Praxis der Lehrkraft ist hier von Theorie durchdrungen […]. Der in der Praxis stattfindende Prozess wird in der Anforderungssituation mit einer theoretischen Erwartung an die Reaktion einer Lehrkraft kombiniert. Lehramtsstudierende können auf diese Weise die ‚Vermittlung‘ von Theorie und Praxis […] selbst vollziehen, und ihr individueller Bildungsprozess wird vorangetrieben.“ (BMBF, 2019, 82)

Inzwischen wird auch durch religionspädagogische Projekte an Hochschulen erprobt, wie das Lehramtsstudium durch die Integration schulischer Anforderungssituationen stärker auf das spätere Berufsfeld ausgerichtet und eine berufliche Handlungsfähigkeit als Religionslehrkraft angebahnt werden kann. Dabei können reale oder realitätsnahe Anforderungssituationen in besonderer Weise religionspädagogische Theorien auf den Prüfstand stellen und ihre Relevanz aufweisen. Eine solche professionelle Handlungsfähigkeit entwickelt sich

– auf der Grundlage reichhaltigen, miteinander vernetzten wissenschaftlichen Wissens,

– in der kritischen Bearbeitung der eigenen Überzeugungen, subjektiven Theorien, Motivationen und Werthaltungen sowie

– durch die reflexive Auseinandersetzung mit konkreten Herausforderungen, Rollenerwartungen und Erfahrungen in Schule und Unterricht.

Kompetenzen im Lehrerberuf werden im Laufe des Studiums, des Vorbereitungsdienstes und der Berufseingangsphasen langfristig angelegt, ausgebaut, elaboriert und evaluiert. Zusammengefasst gilt für die berufliche Handlungsfähigkeit von Religionslehrkräften Theologisch-religionspädagogische Kompetenz als Leitziel.

„Theologisch-religionspädagogische Kompetenz meint dabei die Gesamtheit der beruflich notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Bereitschaft und berufsethischen Einstellungen, über die ein Religionslehrer bzw. eine -lehrerin verfügen muss und die es ihnen ermöglicht, mit der Komplexität von beruflichen Handlungssituationen konstruktiv umzugehen, d. h. religionspädagogisch handlungsfähig zu sein.“ (EKD, 2008, 16)

Für wen das Buch gedacht ist

Diese Erkenntnisse zur Bedeutung schulischer Anforderungssituationen für die Entwicklung fachbezogener Kompetenzen liegen der Konzeption des Buches zugrunde. Es richtet sich daher in erster Linie an Studierende des Faches Evangelische Theologie/Religionspädagogik, die sich einen Überblick über wesentliche Bereiche der Religionspädagogik und Religionsdidaktik verschaffen möchten oder ihre Kenntnisse reaktivieren und vertiefen wollen. Außerdem erhalten Religionslehrkräfte einen Einblick in den aktuellen Stand des religionspädagogischen Diskurses und können ihre eigene Praxis an empirischen Erkenntnissen und theoretischen Ansätzen überprüfen und verbessern.

Was Sie von diesem Buch erwarten können und was nicht

Der Schwerpunkt der ausgewählten Themen liegt auf der Religionsdidaktik. Eine Reihe von Kapiteln geht über den engeren Bereich der Didaktik hinaus und spricht allgemeinere Probleme der Religionspädagogik an. Deshalb wurden beide Begriffe in den Titel des Buches aufgenommen:

Religionspädagogik in Anforderungssituationen – Fachdidaktische Grundlagen für Studium und Beruf.

Dabei erheben wir nicht den Anspruch, alle Bereiche der Religionspädagogik sowie der Religionsdidaktik umfassend abdecken zu können. Dies wäre ein gigantisches Unternehmen, das nur in Kooperation vieler spezialisierter Verfasserinnen und Verfasser zu leisten ist – so wie es etwa das „Handbuch Religionsdidaktik“ (Stuttgart 2021) oder das „Studienbuch Religionsdidaktik“ (Bad Heilbrunn 2021) beanspruchen könnte. Das vorliegende Buch fällt nicht nur durch seine inhaltliche Begrenzung, sondern vor allem durch seine auf das Praxisfeld fokussierte Darstellung in ein anderes Genre. Es konzentriert sich auf die Themen, die – abgesehen davon, dass sie häufig Gegenstand von Prüfungen sind – nach unseren erfahrungsgestützten Einschätzungen für künftige und aktuelle Religionslehrkräfte eine besondere Herausforderung darstellen.

Herausforderungen im Fachunterricht können nur dann bestanden werden, wenn Lehrkräfte über die drei konstitutiven professionellen Kompetenzfacetten verfügen: über Fachwissen, allgemeines pädagogisches Wissen und fachdidaktischesWissen. Dabei ist das Fachwissen

„eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für qualitätsvollen Unterricht und Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler […]. Fachwissen ist die Grundlage, auf der fachdidaktische Beweglichkeit entstehen kann“ (Baumert/Kunter, 2006, 496).

Allgemeines pädagogisches Wissen gehört ebenso wie fachdidaktisches Wissen zum Kern der professionellen Kompetenz von Lehrkräften, wobei letzterem eine Schlüsselrolle für erfolgreiches Unterrichten zukommt (ebd., 485). Den Zusammenhang von pädagogischem und fachdidaktischem Wissen entfalten eine Reihe von Kapiteln in diesem Buch.

Allerdings ist auch klar, dass es ein langer Weg vom Wissen zum Können ist. Gewusst ist nicht gekonnt. Gerade deshalb sollte dieses wissenschaftliche Wissen nicht kontextlos präsentiert und erworben werden, sondern bereits im Studium auf Anwendungszusammenhänge bezogen werden. Auch wenn das Studium nur selektive Einblicke in Praxiskontexte bietet, bereitet eine reflektierte Antizipation beruflicher Handlungssituationen die konkreten Lern- und Bewährungsherausforderungen der Praxis vor. Sie bietet keine Gewähr dafür, dass professionelles Können entsteht, aber sie erleichtert von vornherein die Inanspruchnahme erworbenen Wissens bei der Bewältigung praktischen Handelns.

Die in diesem Buch vorgestellten Anforderungssituationen eröffnen nicht in jedem Fall das gesamte Themenfeld eines Kapitels, sondern schlagen meist nur eine Schneise in das aufgeworfene Problem, von der aus weitere Wege beschritten werden können. Dadurch, dass die im Text platzierten Arbeitsanregungen den Lesefluss unterbrechen, motivieren sie dazu, über das Gelesene nachzudenken und es immer wieder auf Anforderungssituationen aus der Praxis zu beziehen, die oft auch über die im Einstieg geschilderte engere Konstellation hinausreichen. Selbstverständlich können diese Aufgaben auch erst am Ende der Lektüre des gesamten Kapitels mit Gewinn allein oder auch in einem Tandem oder Team bearbeitet werden.

Bewusst wurden die einzelnen Kapitel so konzipiert, dass sie auch einzeln und in beliebiger Reihenfolge zu Rate gezogen werden können. Dies macht kleinere Redundanzen und Wiederholungen in den Texten unumgänglich, wenn nicht mit aufwändigen Verweissystemen gearbeitet werden soll, die das Lesevergnügen deutlich einschränken und die Leserinnen und Leser ständig zum Hin- und Herblättern nötigen.

Bei der Darstellung einzelner Ansätze und Positionen stellt sich immer wieder die Frage, ob diese nicht jeweils diskutiert und bewertet werden sollten. Der Schritt von der darstellenden und einordnenden Analyse hin zur Bewertung unterläuft allerdings eine zentrale Kompetenz, die alle Religionslehrkräfte unausweichlich ausbilden müssen: die theologisch-religionspädagogische Urteilsfähigkeit. Wir trauen es allen Leserinnen und Lesern zu, dass sie selbst einschätzen können, ob eine Konzeption, ein Ansatz oder eine Position sich im Schulalltag bewähren wird. Deshalb haben wir uns bemüht, eher zurückhaltend zu kommentieren und zu bewerten.

Evangelische und katholische Religionsdidaktikerinnen und -didaktiker arbeiten seit Langem intensiv zusammen. Auch wenn an markanten Punkten immer noch konfessionelle Aktzentuierungen wahrnehmbar sind, lässt sich doch ein deutlicher cantus firmus vernehmen, der auf die aktuellen und künftigen Herausforderungen des Religionsunterrichts unisono zu antworten versucht. Wir haben daher darauf verzichtet, ausdrücklich jeweils evangelische und katholische Positionen gegenüberzustellen, sondern setzen einen Schwerpunkt auf die unserem konfessionellen Standpunkt entsprechende Perspektive. Obgleich das Buch angesichts der Verortung von uns Autorinnen und Autor in der evangelischen Religionspädagogik nicht für sich in Anspruch nehmen kann, dezidiert ökumenisch angelegt zu sein, werden an vielen Stellen katholische Autorinnen und Autoren als Referenz beigezogen.

Wie das Buch aufgebaut ist

Das erste Kapitel über zentrale Begriffe verdankt sich der Beobachtung, dass etliche Studierende Schwierigkeiten haben, sich mit der religionspädagogischen Fachsprache vertraut zu machen. Daher klärt diese Darstellung zunächst begriffliche Voraussetzungen, die für das Verständnis der folgenden Kapitel essenziell sind.

Die in den Kapiteln 2 und 3 dargestellten Themen – der rechtliche Rahmen und die Organisationsformen des Religionsunterrichts – werden in ihrem Gewicht häufig unterschätzt. In keinem anderen Fach spielen diese Rahmenbedingungen eine derart große Rolle wie im Religionsunterricht, tangieren sie doch unmittelbar nahezu alle unterrichtlichen Prozesse und Inhalte sowie die handelnden Personen.

Letztere werden in den Kapiteln 4 und 5 ausführlich dargestellt. Dabei geht es bei den Religionslehrkräften vornehmlich um die Frage, worin professionelle Handlungsfähigkeit besteht und wie sie entwickelt werden kann. Im Blick auf die Schülerinnen und Schüler werden anhand entwicklungspsychologischer und sozialpsychologischer Ergebnisse die Herausforderungen beschrieben, die sich Lehrkräften heute bei der Wahrnehmung der Lernenden stellen.

Das engere Handlungsfeld des Religionsunterrichts beschreiten die Kapitel 6 bis 9. Wir sind davon überzeugt, dass es dem Religionsunterricht nicht guttut, wenn er ohne historischen Tiefenblick, d. h. ohne Kenntnis auch älterer theoretischer Konzeptionen, betrieben wird. Vielmehr zeigt dieser Blick, dass der Religionsunterricht immer schon in gesellschaftliche, politische, kulturelle und pädagogische Kontexte eingebunden war (6) und die Religionspädagogik darauf mit unterschiedlichen – teilweise auch heute noch aufschlussreichen – didaktischen Strukturen und Szenarien (7) reagiert hat. Die wichtige Frage, ob der Religionsunterricht besondere Methoden ausgebildet hat oder sich mit dem allgemein verfügbaren Handwerkskasten der Didaktik begnügt, erörtert das Kapitel 8, während Kapitel 9 dem brisanten Problem nachgeht, was die Qualität des Religionsunterrichts ausmacht.

Auf der inhaltlichen Ebene des Religionsunterrichts werden biblische (10), systematisch-theologische (11), anthropologisch-ethische (12), kirchengeschichtliche (13) und interreligiöse (14) Lernbereiche religionsdidaktisch entfaltet. Allerdings können hier nur grundlegende Orientierungen angeboten werden, während inhaltliche Einzelthemen den spezialisierten Darstellungen vorbehalten bleiben.

Den aktuellen Herausforderungen widmen sich die vier Kapitel 15–18. Hier werden Chancen und Probleme der Inklusion (15), des religiösen Lernens angesichts von Konfessionslosigkeit (16), der Digitalisierung (17) und des religiösen Schullebens (18) erörtert.

Das Kapitel 19 befasst sich mit dem für viele Studierende brennenden Problem, wie sie selbst an religionsdidaktischer Forschung partizipieren können.

… und nun im Einzelnen

Die einzelnen Kapitel werden durch die Schilderung einer Anforderungssituation eingeleitet, die eine Fragehaltung zum Thema herstellt und die Bedeutung des Gegenstandes im Kontext der Tätigkeit als (angehende) Lehrperson verdeutlicht. Dabei liegen zum Teil reale, wenn auch verfremdete und anonymisierte Situationen zugrunde, andere haben einen eher fiktiven und doch realitätsnahen und didaktisch zugespitzten Charakter. Auf diese Anforderungssituationen greifen einzelne Reflexionsimpulse in den Kapiteln immer wieder zurück.

Anschließend werden die Themen auf dem gegenwärtigen Stand religionspädagogischer Wissenschaft so dargestellt, dass sie einen knappen, fundierten Überblick vermitteln. Besonders komplexe Themen werden ausführlicher behandelt. Eine grafische Zusammenfassung hält wesentliche Gesichtspunkte der Darstellung fest.

„Anregungen zur Weiterarbeit“ nehmen z. T. die Anforderungssituationen wieder auf und dienen der Wiederholung der Inhalte, der kritischen Reflexion einzelner Aspekte und dem vertieften Weiterdenken. Ausgewählte Literaturangaben zu jedem Kapitel ermöglichen vertiefendes Arbeiten. Dabei werden empfohlene Grundlagenwerke fett hervorgehoben.

Ein Buch geht auf die Reise

Von der Idee bis zur Publikation war es ein weiter Weg. Auf diesem Weg haben uns kritisch begleitet, vor Sackgassen und Irrwegen gewarnt, Wegweiser durch strittiges Gelände aufgestellt und uns ermutigt, die eingeschlagene Richtung zu verfolgen: Bärbel Husmann, Annike Reiß, Eva Spiegelhalter, Konstantin Lindner, Thomas Naumann, Ulrich Riegel und Manfred L. Pirner. Das gesamte Typoskript hat Benedict Totsche akribisch durchgesehen. Aus studentischer Perspektive haben uns Noemi Bockstaller, Eva Lamm und Alissa Dully wertvolle Rückmeldungen gegeben. Ohne die vielen Hinweise, Anregungen und konstruktiven Korrekturen, die wir bekommen haben, wäre der Weg bis zum Erscheinen des Buches noch viel weiter und wahrscheinlich holpriger und beschwerlicher gewesen. Wir bedanken uns herzlich für die kollegiale Unterstützung. Unser Dank gilt auch der Lektorin des Vandenhoeck & Ruprecht Verlages, Frau Elisabeth Schreiber-Quanz, die die Entstehung des Buches von Anfang an engagiert gefördert und geduldig verfolgt hat.

Wir erhoffen uns Leserinnen und Leser, die dieses Buch neugierig, aufgeschlossen und kritisch zur Hand zu nehmen und mit Gewinn für ihr Studium, ihr Examen und ihre künftige oder aktuelle Berufstätigkeit nutzen.

Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und würden uns über Rückmeldungen freuen.

Tanja Gojny

Hartmut Lenhard

Mirjam Zimmermann

Erlangen, Nordhorn, Mainz im Frühjahr 2022

Literatur

Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike, Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006) 4, 469–520.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Qualitätsförderung Schule (Hg.), Verzahnung von Theorie und Praxis im Lehramtsstudium. Erkenntnisse aus Projekten der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“, Berlin 2019 (online unter: https://bit.ly/3EO0SQw, abgerufen am 11.11.2021).

EKD; Kirchenamt der EKD (Hg.), Theologisch-Religionspädagogische Kompetenz. Professionelle Kompetenzen und Standards für die Religionslehrerausbildung. Empfehlungen der Gemischten Kommission zur Reform des Theologiestudiums. EKD-Texte 96, Hannover 2008 (online unter: https://www.ekd.de/ekdtext_96.htm, abgerufen am 11.11.2021).

Klieme, Eckhard et al., Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, hg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn 2003 (online unter: https://bit.ly/3n4OIMN, abgerufen am 11.11.2021).

Kropač, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Kohlhammer Studienbücher Theologie 25, Stuttgart 2021.

Lenhard, Hartmut, Art. Anforderungssituationen (2017), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de (https://doi.org/10.23768/wirelex.Anforderungssituationen.100242, PDF vom 16.09.2020).

Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 4. Aufl. 2015.

Stögbauer-Elsner, Eva/Lindner, Konstantin/Porzelt, Burkard (Hg.), Studienbuch Religionsdidaktik, Bad Heilbrunn 2021.

Kapitel 1: Religionspädagogik – worum geht’s da eigentlich? – Wissenschaftstheoretische Verortung und begriffliche Klärungen

Anforderungssituation

In Leas altem Gymnasium gibt es für die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe einmal im Jahr „Tage der beruflichen Orientierung“. Für die nächste Veranstaltung wird sie angefragt, ob sie nicht interessierten Abiturientinnen und Abiturienten vielleicht auch eines ihrer Fächer im Lehramtsstudium vorstellen könnte. Für die naturwissenschaftlichen, die sprachlichen und die musischen Fächer habe schon jemand zugesagt – insofern sei es optimal, wenn sie ihr Fach „Evangelische Theologie/Religionspädagogik“ präsentieren könnte. Damit sie weiß, worauf es ankommt, lässt ihr der Oberstufenbetreuer auch gleich einige Leitfragen zukommen, an denen sie sich orientieren kann.

Wie die anderen Studierenden, die über eines ihrer jeweiligen Studienfächer informieren, soll sie insbesondere darauf eingehen, was eigentlich im Zentrum „ihres“ Studienfaches steht und wie sich in dieser Disziplin Fachwissenschaften und Fachdidaktik zueinander verhalten. Zumindest knapp soll es auch um Forschungsmethoden gehen, damit deutlich wird, dass in der Religionspädagogik die gleichen hohen wissenschaftlichen Standards gelten wie in anderen Wissenschaften. Zudem wird sie gebeten, darüber zu informieren, ob sich das Religionspädagogik-Studium grundsätzlich von anderen Studienfächern unterscheidet, für welche Lehrämter ein entsprechendes Studium vorbereitet und wo man evangelische Theologie bzw. Religionspädagogik studieren kann.

Lea sagt gerne zu, obwohl sie merkt, dass sie sich noch ein wenig informieren muss. Denn auch sonst wird sie häufig gefragt, was sie da eigentlich genau studiere – und ob sie dann am Ende eine halbe Pfarrerin sei.

ANotieren Sie, wie Sie diese Fragen spontan beantworten würden. Ergänzen Sie in einem zweiten Schritt weitere Aspekte, die Lea bei der Vorstellung des Studienganges Religionspädagogik außerdem noch berücksichtigen sollte. Durch welche Argumente könnte sie für ein solches Studium motivieren?

1Einführung

Wer evangelische oder katholische Religionslehre für das Lehramt studiert, wird einerseits schnell merken, dass es viele Analogien zwischen den unterschiedlichen Fachdidaktiken gibt. Andererseits zeigen sich doch bald auch einige Besonderheiten hinsichtlich des Studiums, das auf die Erteilung von Religionsunterricht vorbereitet. Um das Studienfach Evangelische Theologie/Religionspädagogik bzw. Religionsdidaktik– wie in der eingangs skizzierten Szene erforderlich – wissenschaftstheoretisch angemessen verorten und vorstellen zu können, ist es notwendig, diese beiden Begriffe sorgfältig voneinander abgrenzen zu können und sich über deren inhaltliche Implikationen Rechenschaft zu geben (→ Kap. 1.2). Zudem ist es unerlässlich, einen ersten Einblick in die Spezifika der Grundmodi religiösen Lernens und Lehrens – Sozialisation, Erziehung und Bildung – zu gewinnen, um die Gegenstandsbereiche der Wissenschaft der Religionspädagogik bzw. der Religionsdidaktik erfassen zu können (→ Kap. 1.3).

2Zur wissenschaftstheoretischen Verortung vonReligionspädagogikundReligionsdidaktik

Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Begriffe Religionspädagogik und Religionsdidaktik voneinander abgegrenzt, bevor der Bezug der Religionspädagogik bzw. -didaktik zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen geklärt und auf das Verhältnis von Theorie und Praxis innerhalb der Religionspädagogik eingegangen wird.

2.1Religionspädagogik

Die Religionspädagogik kann als ein (untergeordneter) Teilbereich der Praktischen Theologie verstanden werden. Die Disziplin der Praktischen Theologie befasst sich einerseits mit kirchlichen Handlungsfeldern (wie z. B. Predigt, Seelsorge und Diakonie), nimmt andererseits aber auch religiöse Phänomene der Gegenwart – auch jenseits des kirchlich verfassten Christentums – wahr (wie z. B. die sogenannte „Medienreligion“) und deutet diese. Die Religionspädagogik kann aber auch als (gleichberechtigtes) Fach neben der Praktischen Theologie verstanden werden. Von den ca. 50 Professuren für evangelische Religionspädagogik sind ein Teil als „Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik“ an Theologischen Fakultäten bzw. Fachbereichen ausgewiesen, andere als „Religionspädagogik/Fachdidaktik“ neben der „Praktischen Theologie“ oder es wird – gerade an Instituten – ausschließlich Religionspädagogik/Fachdidaktik angeboten.

Die Religionspädagogik befasst sich mit allen Praxisvollzügen, bei denen die religiöse Dimension von Entwicklung, Sozialisation, Lernen und Bildung eine Rolle spielt (Schröder, 2021; Domsgen, 2019; Schweitzer, 2015/2021). Sie hat also grundsätzlich nicht nur die Schule als Lebensphase und Lernort im Blick, sondern den gesamten Lebenslauf und die unterschiedlichen Lernorte, an denen religiöse Lernprozesse stattfinden, wie z. B. die Familie, Peer-Gruppen, Ortsgemeinden sowie religiöse Veranstaltungen wie Kirchentage. Dabei nimmt die Religionspädagogik nicht nur intentionale Bildungsvollzüge an sogenannten Orten formaler Bildung in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, die zu anerkannten Abschlüssen und Qualifikationen führen, wahr (z. B. schulischer Religionsunterricht). Darüber hinaus setzt sie sich auch mit Orten non-formaler Bildung neben den Hauptsystemen allgemeiner und beruflicher Bildung (z. B. kirchliche Erwachsenenbildung, offene Jugendarbeit) auseinander. Und nicht zuletzt befasst sie sich mit der Bildungsdimension der kirchlichen Handlungsfelder, bei denen Bildung nicht im Mittelpunkt steht, sondern eher „nebenbei“ geschieht wie z. B. bei Gottesdiensten. Hier wird von Orten informeller Bildung gesprochen.

Wie der Begriff bereits nahelegt, ist für die Religionspädagogik neben der Theologie die Pädagogik als Bezugswissenschaft konstitutiv. Friedrich Schweitzer resümiert in seiner Darstellung „Von der Katechetik zur Religionspädagogik als Wissenschaft“, dass letztere gleich dreimal „erfunden“ wurde:

– zunächst der Sache nach bereits von Friedrich Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dessen wichtigen pädagogischen Schriften, in denen religiöse Erziehung sowohl pädagogisch wie theologisch begründet wurde,

– dann dem Begriff nach Anfang des 20. Jahrhunderts, als der – u. a. auch Aufgeschlossenheit für moderne Kultur und Wissenschaft signalisierende – Begriff Religionspädagogik gebräuchlich wurde und zunehmend den Begriff Katechetik ablöste,

– sowie ein drittes Mal durch Karl Ernst Nipkow in den 1960er-Jahren (Schweitzer, 2008, 15 f.).

Karl Ernst Nipkow betonte, dass sich die Religionspädagogik stärker als bislang gegenüber den Erziehungswissenschaften (sowie den in diesem Kontext etablierten empirischen Zugangsweisen) hin öffnen solle, die zunehmend die geistesgeschichtliche Pädagogik ablösten. Besondere Bedeutung gewann darüber hinaus vor allem das von ihm formulierte „konvergenztheoretische Orientierungsmodell“. Demnach ist „Religionspädagogik […] doppelt zu verantworten, von beiden geschichtlichen Bewegungen her, theologisch und gesellschaftspolitisch-pädagogisch“ (Nipkow, 1975, 173 f.). Dass Nipkow bei seiner wissenschaftlichen Verortung der Religionspädagogik an der Theologie als Bezugsdisziplin festhielt und nicht den Bezug auf einen allgemeinen religionsphilosophischen oder religionswissenschaftlichen Religionsbegriff favorisierte, war wegweisend für die Disziplin.

Der Begriff Religionspädagogik, der ursprünglich dem evangelischen Kontext entstammt, wird seit einiger Zeit auch im katholischen und orthodoxen Bereich verwendet – sowie inzwischen auch im Hinblick auf eine jüdische und islamische Religionspädagogik.

Ein Blick über den deutschen Wissenschaftskontext hinaus schärft die Wahrnehmung dafür, dass die primäre Verortung der Religionspädagogik in der Theologie keineswegs selbstverständlich ist. Daneben begegnen als weitere Grundtypen ein Selbstverständnis als pädagogische Disziplin – z. B. in England (Schröder, 2021b, 615 f.) – oder als kultur- bzw. religionswissenschaftliche Disziplin – z. B. in Frankreich (ebd., 594 f.).

2.2Religionsdidaktik

Einen wichtigen Teilbereich der Religionspädagogik bildet die Religionsdidaktik. Nach einem weiten Begriffsverständnis nimmt diese grundsätzliche Fragen des religiösen Lehrens und Lernens unabhängig vom Lernort in den Blick (Schröder/Grethlein, 2001, 151). Meist wird der Begriff der Religionsdidaktik aber in einem engeren Verständnis verwendet und auf die Erforschung und die Praxis „religiöser Lehr- und Lernprozesse im Religionsunterricht“ bezogen (Heger, 2021, 526).

Der religionsdidaktische Diskurs ist geprägt durch eine Vielfalt unterschiedlicher Ansätze und Perspektiven (Überblick bei Grümme/Pirner, 2022; Grümme/Lenhard/Pirner, 2012) sowie unterschiedlicher Bestimmungen dessen, worum es im Religionsunterricht zentral gehen soll. Die Bandbreite reicht von der Bestimmung des „Propriums“ dieses Faches als „Befähigung zum Christsein“ – und damit u. a. zum „Beten und Gesegnet-Werden“ – bei Christian Grethlein (Grethlein, 2005, 267, 276) bis hin zu dessen Bestimmung als Eröffnung des religiösen Weltzugangs als eines eigenen Modus der Welterschließung durch eine Didaktik des Wechsels religiöser Rede und Rede über Religion bei Bernhard Dressler (Dressler, 2012).

Gegenüber einem (Miss-)Verständnis von Didaktik, das diese auf methodische Fragen reduziert (wie unterrichte ich?), ist zu betonen: Didaktik fragt viel grundsätzlicher nach den Zielen von Unterricht – bzw. den zu erreichenden Kompetenzen –, nach sinnvollen Inhalten und Lerngegenständen, nach dem rechten Zeitpunkt für das Lernen, nach den jeweiligen Lernvoraussetzungen (z. B. bezüglich der Entwicklungspsychologie und soziologischer Erkenntnisse), nach den Kontextbedingungen (z. B. nach der gegenwärtigen Bedeutung von Religion in der Gesellschaft) sowie nach möglichen Lernarrangements und Unterrichtsmustern. Und erst in diesem Gesamtzusammenhang wird dann auch die Frage nach konkreten geeigneten Medien und Methoden gestellt (→ Kap. 8.2).

Gelegentlich wird der Begriff Religionsdidaktik auch ausschließlich auf den Lernort Schule bezogen und der Gemeindepädagogik (Bubmann, 2019; Adam/Lachmann, 2008) gegenübergestellt. Letztere kann nach Bubmann verstanden werden „als die pädagogische Praxis und Theorie christlicher Lebenskunst in den verschiedenen Formen christlicher Gemeinde als Teilbereich der theologisch verantworteten Bildungsarbeit und -theorie“ (Bubmann, 2004, 108). Da es auch bisweilen gemeindliche Unterrichtsangebote gibt – wie z. B. Formen eines konventionellen Präparanden- und Konfirmandenunterrichts oder auch sogenannte „Glaubenskurse“ für Erwachsene – beziehen sich Religionsdidaktik und Gemeindepädagogik z. T. auf dieselben Praxisformen und können beide als Teilbereiche der Religionspädagogik verstanden werden.

Während Lehrstühle in Deutschland, an denen angehende evangelische Religionslehrkräfte studieren, lange Zeit fast ausschließlich als religionspädagogische Professuren ausgewiesen waren, wird zunehmend bei der Benennung religionspädagogischer Lehrstühle und Professuren auch ein expliziter Bezug zur Religionsdidaktik hergestellt. Signalisiert wird damit u. a. eine Orientierung an den zunehmend selbstbewusster auftretenden Fachdidaktiken anderer Disziplinen sowie an den Versuchen, stärker das Gemeinsame der unterschiedlichen Fachdidaktiken herauszuarbeiten und aus dem Austausch untereinander auch Impulse für die eigene Fachkultur zu gewinnen.

BRecherchieren Sie die genaue Bezeichnung und die institutionelle Anbindung des religionspädagogischen bzw. religionsdidaktischen Lehrstuhls, der an Ihrer Universität für die Ausbildung von Religionslehrkräften zuständig ist – und vergleichen Sie diese ggf. auch mit anderen Universitäten im In- und Ausland. Erläutern Sie, welche Rückschlüsse sich jeweils auf das wissenschaftliche Selbstverständnis der betreffenden Forschungs- und Lehreinheit ziehen lassen.

2.3Bezug der Religionspädagogik zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen

Die Religionspädagogik ist einerseits auf die anderen theologischen Disziplinen verwiesen: die Bibelwissenschaften Altes und Neues Testament, die Kirchengeschichte, die Systematische Theologie bzw. Dogmatik sowie die Ethik. Für das Selbstverständnis der Religionspädagogik ist es dabei aber zentral, dass sie sich nicht als „Vermittlungsdisziplin“ oder „Anwendungswissenschaft“ versteht, die in erster Linie die Forschungsergebnisse der „Fachdisziplinen“ in elementarisierter Form für unterschiedliche Bildungsangebote aufbereitet. Vielmehr bearbeitet sie die eigenständige Aufgabe, die Bedingungen und die Praxis religiösen Lernens in einem komplexen Feld subjektiver Lebenswelten, gesellschaftlicher Herausforderungen, christlicher Tradition und Praxis in Aufnahme und Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen anderer Disziplinen zu reflektieren. Sie leistet in diesem Zusammenhang eigene Forschungsbeiträge – etwa durch historische, empirische oder theoriegeleitete Untersuchungen –, die die Forschung auch in anderen theologischen Disziplinen bereichern können (→ Kap. 19.2).

Über die Theologie hinaus ist die wissenschaftliche Religionspädagogik u. a. im Dialog mit Disziplinen wie den Religionswissenschaften, der Philosophie, der Psychologie, der Soziologie, den Kommunikationswissenschaften und der Kulturforschung. In jüngster Zeit suchen Religionspädagogik bzw. Religionsdidaktik ferner insbesondere engeren Anschluss an die (empirisch orientierten) Bildungswissenschaften sowie an weitere Fachdidaktiken.

Die Geschichte religionspädagogischer Konzeptionen (→ Kap. 6) zeigt, dass sich die Religionspädagogik – je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – immer wieder einzelnen theologischen (z. B. exegetische Wissenschaften, Systematische Theologie) wie außertheologischen Nachbardisziplinen (z. B. Soziologie, Philosophie) besonders intensiv zuwandte, während sie andere – zumindest eine Zeit lang – eher weniger beachtete. Die aktuelle Verortung der Religionspädagogik innerhalb der Wissenschaftslandschaft spiegelt daher ihr jeweiliges Selbstverständnis.

2.4Zum Verhältnis von Theorie und Praxis

Für alle genannten Disziplinen – Religionsdidaktik, Gemeindepädagogik, Religionspädagogik und Praktische Theologie – ist der Bezug zur Praxis konstitutiv. Gleichzeitig gilt für diese: Als Theorie der Praxis sind sie von dieser deutlich zu unterscheiden. Für die Religionspädagogik hat Michael Domsgen das komplexe Theorie-Praxis-Verhältnis in dieser Wissenschaft wie folgt beschrieben:

„Religionspädagogik ist ein theoriegeleitetes Praxisfach, insofern sie als wissenschaftliche Reflexion auf eine herausfordernde Praxis Bezug nimmt (Wahrnehmung), sie interpretiert (Deutung) und mit dieser Theorie diese Praxis anleiten und verbessern will (Handlungsorientierung).“ (Domsgen, 2019, 21)

Dabei ist der Bezug zwischen Theorie und Praxis im Bereich der Religionspädagogik nicht so zu verstehen, dass aus der theoretischen Diskussion normativ Kriterien für eine gute Praxis deduziert werden. Vielmehr ergeben sich auch aus den jeweiligen Praxisvollzügen Anforderungen an eine gute Theorie. Dies wird allerdings längst noch nicht immer eingelöst. Die Praxis müsste z. T. noch viel genauer wahrgenommen werden – und die wahrgenommenen Herausforderungen müssten zu einer deutlich kritischeren Selbstreflexion der Religionspädagogik führen.

3Grundmodi religiösen Lernens:Sozialisation, ErziehungundBildung

Der Gegenstandsbereich der Religionspädagogik und -didaktik bringt es mit sich, dass sich sowohl die dort erarbeiteten Theorien als auch die empirischen Erkenntnisse spezifischer Grundbegriffe bedienen, mit denen sich Vollzüge im pädagogischen Bereich beschreiben lassen. Hierzu gehören u. a. die Begriffe Sozialisation, Erziehung und Bildung, die im Laufe ihrer jeweiligen Begriffsgeschichte immer wieder mit neuen Akzentsetzungen und Bedeutungsnuancen verwendet wurden und noch werden. Diese Begriffe werden in der gegenwärtigen Religionspädagogik aus der Allgemeinen Pädagogik rezipiert und auf den Bereich religiösen Lernens übertragen – und zugleich wird dabei auch der Blick auf die religiösen Aspekte gelenkt, die mit der Geschichte sowohl der Begriffe Sozialisation, Erziehung und Bildung als auch des jeweils damit Gemeinten verbunden sind.

Sozialisation: Während in früheren Sozialisationstheorien deutlich zwischen den Einflussfaktoren Anlage und Umwelt unterschieden – und davon ausgegangen wurde, dass insbesondere Letztere die zentrale Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung zukam, wird seit einiger Zeit das Ineinandergreifen genetisch bedingter und umweltbedingter Aspekte betont: Sozialisation wird gegenwärtig verstanden als „ein Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen“ (Hurrelmann et al., 2008, 25). Vor diesem Hintergrund kann unter religiöser Sozialisation der Prozess verstanden werden, „durch den in Wechselwirkung zwischen Individuum einerseits und religiösen Bezugspersonen, Religionsgemeinschaften und Religion (in) der Gesellschaft andererseits (unbeabsichtigt) religiöse Deutungs- und Handlungsdispositionen auf persönlicher ebenso wie auf kollektiver Ebene entstehen“ (Schröder, 2021b, 70). Zentrale Agenten religiöser Sozialisation stellen die Familie, die Kirchengemeinde, die Schule sowie die Medien dar. Ergebnisse unterschiedlicher empirischer Studien zeigen, dass die religiöse Sozialisation entscheidend mitgeprägt wird durch das (zugeschriebene) Geschlecht, die Milieu- sowie die Religionszugehörigkeit (Riegel, 2018, 8–12).

Erziehung: Dieser pädagogische Begriff, der sich auf absichtsvolles Einwirken auf Menschen bezieht, hat seine Wurzeln in der Aufklärung. Er ist in diesem Kontext verbunden mit dem Ideal einer Erziehung, die Menschen dazu befähigt, die Gesellschaft nach vernünftigen Regeln zu gestalten. Dem Erziehungsbegriff ist eine hierarchische Struktur insofern inhärent, als Erziehung als abschließbarer Prozess gedacht wird und voraussetzt, dass das Erziehungsverhältnis vom Erziehenden zum „Zögling“ letztlich auf eine Überwindung dieses Gefälles zielt. Im schulischen Bereich tritt die Erziehungsaufgabe der Lehrkräfte nicht additiv zu ihrem Kerngeschäft des Unterrichtens hinzu. Vielmehr hat der Unterricht selbst eine erzieherische Wirkung –

„zu allererst durch die kognitiven Herausforderungen ihres Bildungsprogramms, durch den Wechsel zwischen explorativen Lern- und Problemlösungsphasen und leistungsthematischen Situationen, in denen verbindliche Gütemaßstäbe durchgesetzt werden, durch intellektuelle Verunsicherung und reflexive Distanz, aber auch durch das Insistieren auf Erklären und Begründen und das Beharren auf Genauigkeit und Durcharbeiten ebenso wie durch systematisches Üben […]“, zum anderen „durch die Sicherung der sozialen Voraussetzungen und die soziale Gestalt des Unterrichts selbst – also durch die Durchsetzung von Pünktlichkeit und Regeltreue, geordnete Unterrichtsführung oder den Wechsel von methodischen Großformen, didaktischen Handlungsmustern und Sozialformen […]“ (Baumert/Kunter, 2006, 473 f.).

Hinzu tritt die erzieherische Funktion des Schullebens sowie der gesamten Schulorganisation,

„da auch sie Umgangsformen und Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Verantwortung definieren“, und „Aufmerksamkeit, Anstrengung, Geduld und Ausdauer, Leistungsmotivation, Zielorientierung, Belohnungsaufschub und Selbstregulation, aber auch Emotionskontrolle und soziale Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Aushandlung von Interessen, Übernahme von Verantwortung, Kooperation oder konstruktive Konfliktbewältigung“ thematisch werden lassen (ebd., 474). Bildung: Noch wichtiger als der Erziehungsbegriff ist für die gegenwärtige Religionspädagogik der Begriff der Bildung (Schröder, 2021a). Dieser kann wie der Subjektbegriff als Schlüsselbegriff der Religionspädagogik sowie als „regulativer Begriff “ gelten, d. h., dass er als Prüfkriterium für die Sachgemäßheit einer religionspädagogischen Theorie und eines entsprechenden Handelns verwendet werden kann: So lässt sich z. B. hinsichtlich einer Religionsstunde fragen: Wurden hier lediglich Informationen vermittelt, die für die Gegenwart und/oder Zukunft der Schülerinnen und Schüler kaum relevant sind? Oder wurde die wertvolle Unterrichtszeit tatsächlich dafür genutzt, den Heranwachsenden ein Lernangebot zu machen, das ihnen hilft, sich im Hinblick auf den religiösen Weltzugang grundlegend zu orientieren?

Der Bildungsbegriff ist aus religionspädagogischer Perspektive schon deshalb interessant, weil er im theologischen Denken verwurzelt ist: Er geht auf den christlichen Mystiker Meister Eckart zurück, der die Bildung des Menschen als ein Entfachen des in jedem Menschen innewohnenden „göttlichen Funkens“ verstand. Bildung geschieht also nicht autonom, sondern in Bezug zu Gott, von ihm her und auf ihn hin. Die ebenfalls mit dem Bildungsbegriff verbundenen Prinzipien der Vernunft, der Emanzipation und der Mündigkeit sind diesem erst später seit der Aufklärung zugewachsen.

Die nächste wichtige Station der Begriffsgeschichte ist mit dem Gelehrten und Bildungspolitiker Wilhelm von Humboldt verbunden. Auf ihn wird auch heute noch immer gern verwiesen, wenn um eine schulische Bildung gerungen wird, die nicht in erster Linie dazu dient, Schülerinnen und Schüler für die Anforderungen des Arbeitsmarktes fit zu machen, und damit (ökonomischen) Zwecken untergeordnet wird. Mit Humboldt wird dann eine Bildung profiliert, die zuerst der Entfaltung der Fähigkeiten und Talente dient, die in einem Menschen angelegt sind.

Ebenfalls eingegangen in das gegenwärtige Verständnis von Bildung sind Bemühungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik um eine Bildungstheorie. Insbesondere Wolfgang Klafkis Überlegungen zur kategorialen Bildung wurden in der Religionspädagogik rezipiert und bis heute in der eher katholisch geprägten Korrelationsdidaktik und in der eher evangelisch akzentuierten Elementarisierungsdidaktik weiterentwickelt (→ Kap. 7.4).

Bei der Entfaltung christlicher Perspektiven auf Bildung spielen als theologische Referenzpunkte insbesondere folgende Aspekte eine herausgehobene Rolle:

„[…] die schöpfungsgegebene Gottesebenbildlichkeit des Menschen – die nach christlicher Sicht seine Würde begründet –, der Rechtfertigungsglaube – der die leistungsunabhängige Wertschätzung des Menschen akzentuiert –, die sündhafte Gebrochenheit des Menschen – die allem Bildungsidealismus entgegensteht – und die gemeinschaftsbezogene Verantwortungsfähigkeit des Menschen, die gegen überzogenen Individualismus in Anschlag gebracht wird“ (Pirner, 2021, 50).

4Zusammenfassung (Schaubild)

Abb. 1: Religionspädagogik – begriffliche Klärungen

Anregungen zur Weiterarbeit

1.Überarbeiten Sie Ihren ersten Entwurf für die Vorstellung des Studienfaches „Evangelische Religionspädagogik“ (vgl. die Anforderungssituation zu Beginn dieses Kapitels bzw. Aufgabe A).

2.Sehen Sie die Inhaltsverzeichnisse unterschiedlicher grundlegender Darstellungen der Religionspädagogik sowie der Religionsdidaktik ein und vergleichen Sie die jeweiligen Strukturierungen sowie inhaltliche Akzentsetzungen und legen Sie sich als Überblick eine Mindmap an.

3.Vergegenwärtigen Sie sich die semantischen Unterschiede der erläuterten Grundbegriffe, indem Sie, bezogen auf Ihre Person, zwischen Aspekten religiöser Sozialisation, religiöser Erziehung und religiöser Bildung in Vergangenheit und Gegenwart differenzieren, aber auch Verbindungen und Überschneidungen aufzeigen.

4.Im Laufe Ihres Studiums begegnet Ihnen eine Reihe religionspädagogischer bzw. -didaktischer Fachbegriffe, mit denen Sie noch nicht hinreichend vertraut sind. Es empfiehlt sich, diese nachzuschlagen (z. B. in dem von Mirjam Zimmermann und Heike Lindner herausgegebenen „Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon“ (WiReLex) im Internet oder im „Taschenlexikon Religionsdidaktik“ von Hans Mendl). Vielleicht legen Sie sogar ein kleines „Vokabelheft“ o. Ä. an, in dem Sie knapp die Bedeutung dieser Begriffe notieren.

Literatur

Adam, Gottfried/Lachmann, Rainer (Hg.), Neues gemeindepädagogisches Kompendium, Arbeiten zur Religionspädagogik 40, Göttingen 2008.

Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike, Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 9 (2006) 4, 469–520.

Bubmann, Peter et al. (Hg.), Gemeindepädagogik, Berlin/Boston 2., überarb. u. erw. Aufl. 2019.

Bubmann, Peter, Gemeindepädagogik als Anstiftung zur Lebenskunst, in: Pastoraltheologie 93 (2004), 99–114.

Domsgen, Michael, Religionspädagogik, Lehrwerk Evangelische Theologie 8, Leipzig 2019.

Dressler, Bernhard, „Religiös reden“ und „über Religion reden“ lernen – Religionsdidaktik als Didaktik des Perspektivwechsels, in: Grümme, Bernhard/Lenhard, Hartmut/Pirner, Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012, 68–78.

Grethlein, Christian, Fachdidaktik Religion. Evangelischer Religionsunterricht in Studium und Praxis, Göttingen 2015.

Grümme, Bernhard/Lenhard, Hartmut/Pirner, Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 2012.

Grümme, Bernhard/Pirner Manfred L. (Hg.), Religionsunterricht neu denken 2.0, Stuttgart 2022.

Heger, Johannes, Religionsdidaktik als Wissenschaft, in: Kropač, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 526–536.

Hurrelmann, Klaus/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine (Hg.), Handbuch Sozialisationsforschung, Weinheim/Basel 7. Aufl. 2008.

Mendl, Hans, Taschenlexikon Religionsdidaktik, München 2019.

Nipkow, Karl E., Grundfragen der Religionspädagogik 1: Gesellschaftliche Herausforderungen und theoretische Ausgangspunkte, Gütersloh 1975.

Pirner, Manfred L., Religiöse Bildung in der Schule und der aktuelle Bildungsdiskurs, in: Kropač, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 44–50.

Riegel, Ulrich, Art. Sozialisation (religiöse) (2018), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de (https://doi.org/10.23768/wirelex.Sozialisation_religise.200373, PDF vom 20.09.2018).

Schröder, Bernd (Hg.), Bildung, Tübingen 2021 (zit. 2021a).

Schröder, Bernd, Religionspädagogik, Neue theologische Grundrisse, Tübingen 2., überarb. u. erg. Aufl. 2021 (zit. 2021b).

Schröder, Bernd/Grethlein, Christian, Religionspädagogik, in: Marhold, Wolfgang/Schröder, Bernd (Hg.), Evangelische Theologie studieren, Münster 2001, 143–154.

Schweitzer, Friedrich, Art. Religionspädagogik (2015/2021), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de (https://doi.org/10.23768/wirelex.Religionspdagogik_.100099, PDF vom 03.02.2021).

Schweitzer, Friedrich, Von der Katechetik zur Religionspädagogik als Wissenschaft, in: Schweitzer, Friedrich/Elsenbast, Volker/Scheilke, Christoph Th. (Hg.), Religionspädagogik und Zeitgeschichte im Spiegel der Rezeption von Karl Ernst Nipkow, Gütersloh 2008, 15–27.

Zimmermann, Mirjam/Lindner, Heike (Hg.), Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet, 2015 ff., www.wirelex.de.

Kapitel 2: Brauchen wir heute noch Religionsunterricht? – Begründungslinien religiöser Bildung

Anforderungssituation

April 2020, das Coronavirus hat sich in Deutschland ausgebreitet, die Schulen schließen. Auch Lehrerkonferenzen finden nur noch virtuell statt. Dabei wird vielerorts engagiert überlegt, wie der Unterricht am besten digital organisiert werden kann und welche Fächer dabei berücksichtigt werden sollen. Insbesondere geht es häufig um die Frage, ob über die Hauptfächer hinaus Fächer wie Physik, Chemie oder Biologie, aber auch Geschichte bzw. Gemeinschaftskunde unbedingt bedient werden müssen oder vielleicht für einige Wochen oder Monate entfallen können. In einer solchen Diskussion ergreift der Religionslehrer Frank Breiter das Wort und merkt an, dass es angesichts der Krise und der Belastungen, unter denen die Kinder und Jugendlichen aufgrund des Lockdowns zu leiden haben, unbedingt nötig sei, Religionsunterricht anzubieten. Sein Plädoyer verebbt, ohne dass er viel Unterstützung von anderen Kolleginnen und Kollegen erhält.

Während des Shutdowns, in dem ausschließlich online unterrichtet wird, findet an dieser Schule überhaupt kein Religionsunterricht statt, es werden auch keine Aufgaben eingestellt, um das Fach inhaltlich zu berücksichtigen. Ein Kollege fragt Herrn Breiter zu Beginn des nächsten Schuljahres etwas süffisant, warum man denn Religionsunterricht überhaupt noch brauche, er habe doch niemandem gefehlt, oder habe etwa eine Schülerin, ein Schüler oder ein Elternteil danach gefragt?

1Einführung

Viele Studierende, aber auch Lehrkräfte sehen sich immer wieder mit kritischen Anfragen konfrontiert, die es nötig machen, das Fach Religion in der Schule zu rechtfertigen: „Wieso willst du denn Religion unterrichten, das Fach wird es sowieso nicht mehr lange geben?“ „Warum brauchen wir überhaupt noch Religionsunterricht, wenn doch fast niemand mehr in die Kirche geht?“ „Was kann man denn im Religionsunterricht lernen, was man im Ethikunterricht nicht genauso lernen könnte?“

Auch angesichts der zunehmenden Bedeutung von Themen wie z. B. „Digitalisierung“ oder „Wirtschaft und Finanzen“ finden sich immer wieder Vorschläge, das Fach Religion als für die Bildung entbehrlich zu ersetzen durch Fächer, die eben diese aktuellen, gesellschaftlich relevanten Themen bearbeiten würden.

Wer das Fach Religion unterrichten möchte, steht also immer wieder unter Rechtfertigungsdruck und muss deshalb vorbereitet sein, Zielvorstellungen und Begründungszusammenhänge von „Religion in der Schule“ parat zu haben und im schulischen und außerschulischen Diskurs vertreten zu können. An dieser Stelle sollen deshalb verschiedene Begründungen aus rechtlicher, anthropologischer, kulturgeschichtlicher und bildungstheoretischer Sicht ausgeführt werden.

2Die rechtliche Begründung

Der Religionsunterricht wird in Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) als einziges Schulfach überhaupt grundgesetzlich verankert. Da der Art. 7 Abs. 3 GG in engem Zusammenhang mit Art. 4 gelesen werden muss, in dem das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit und damit auch Religionsausübung festgeschrieben ist, stehen beide hier (gekürzt) im Originaltext:

„Artikel 4

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. […]“

„Artikel 7

(1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.

(2) Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.

(3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen. […]“

Der Art. 7 Abs. 3 GG wurde weitgehend aus dem Art. 149 der Weimarer Reichsverfassung übernommen und so auch in einigen Landesverfassungen aufgenommen, wie z. B. in der von Hessen (Fassung vom 1. Dezember 1946, Art. 57):

„(1) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach. Der Lehrer ist im Religionsunterricht unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechts an die Lehren und die Ordnungen seiner Kirche oder Religionsgemeinschaft gebunden.“

Er fand z. B. auch Aufnahme in die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1950, Art. 14:

„(1) Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach an allen Schulen, mit Ausnahme der Weltanschauungsschulen (bekenntnisfreien Schulen). Für die religiöse Unterweisung bedarf der Lehrer der Bevollmächtigung durch die Kirche oder durch die Religionsgemeinschaft. Kein Lehrer darf gezwungen werden, Religionsunterricht zu erteilen.

(2) Lehrpläne und Lehrbücher für den Religionsunterricht sind im Einvernehmen mit der Kirche oder Religionsgemeinschaft zu bestimmen.

(3) Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes haben die Kirchen oder die Religionsgemeinschaften das Recht, nach einem mit der Unterrichtsverwaltung vereinbarten Verfahren sich durch Einsichtnahme zu vergewissern, dass der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit ihren Lehren und Anforderungen erteilt wird.

(4) Die Befreiung vom Religionsunterricht ist abhängig von einer schriftlichen Willenserklärung der Erziehungsberechtigten oder des religionsmündigen Schülers.“

Art. 7 Abs. 3 GG ist als Konsequenz der in Art. 4 zugesicherten Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu interpretieren. Dadurch wird jedem Lernenden die „positive Religionsausübung durch Teilnahme am Religionsunterricht“ (Adam/Lachmann, 1997, 133) garantiert. Das Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit wird zusätzlich dadurch abgesichert, dass der Religionsunterricht den Status eines ordentlichen Lehrfachs erhält und damit gleichberechtigt mit allen anderen Fächern ist. Der Religionsunterricht kann daher nicht einfach per Gesetz oder Rechtsverordnung abgeschafft oder eingeschränkt werden. Eine Veränderung seines Status bedarf der grundgesetzändernden Mehrheit von zwei Drittel der Abgeordneten des Deutschen Bundestages.

Deutlich wird der Religionsunterricht als sogenannte „res mixta“ ausgewiesen. „Res mixta“ bedeutet, dass der Religionsunterricht durch Staat und Kirche gemeinsam verantwortet wird. Das zeigt sich z. B. darin, dass der Staat Räume zur Verfügung stellt, die Lehrkräfte bezahlt, Lehrpläne formal prüft und die Ausbildung von Religionslehrkräften an Hochschulen und Studienseminaren garantiert. Damit werden die organisatorischen Bedingungen des Faches erfüllt. Die Kirche dagegen ist für die Inhalte zuständig. Dies ist im Grundgesetz grundgelegt in der Passage, dass „der Religionsunterricht […] in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird. Ausdruck dieser zentralen Festlegung ist, dass die Kirchen die Inhalte durch Lehrpläne bestimmen, Religionsschulbücher genehmigen, die Besetzung von Professuren, die Religionslehrkräfte ausbilden, mitverantworten sowie die Lehrerlaubnis („Vocatio“ bzw. für katholische Religionslehrkräfte die „Missio“) erteilen. Diese Beteiligung von Kirche und Staat gewährleistet die gebotene staatliche Neutralität in Sachen Religion. Das Verhältnis von Staat und Kirche ist aber nicht wie in Frankreich als strikt getrennt oder laizistisch zu beschreiben, sondern beruht auf einer spezifischen Partnerschaft, die jeweils Freiheit und Grenzen der beiden Partner ausbalanciert.

Die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist allerdings nicht nur positiv wahrzunehmen. Sie kann in gleichem Umfang und mit gleichem Recht auch negativ in Anspruch genommen werden, also so, dass Religion, Glaube und Kirche abgelehnt werden. Die garantierte Religionsfreiheit verbürgt daher auch die Möglichkeit, dass Eltern ihre Kinder bzw. diese sich ab 14 Jahren selbst vom Religionsunterricht abmelden können und dass keine Lehrkraft, auch keine Religionslehrerin und kein Religionslehrer, verpflichtet werden darf, Religion zu erteilen, selbst wenn eigentlich für das zweite Fach kein Bedarf an der Schule besteht.

Diese juristische Verfasstheit des Religionsunterrichts war zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes stark auf die Erteilung von evangelischem bzw. katholischem Religionsunterricht ausgerichtet. Heute haben alle Religionsgemeinschaften, die als solche anerkannt sind, die Möglichkeit, ihren eigenen Religionsunterricht einzurichten, wenn es genug Schülerinnen und Schüler gibt, die dieser Gemeinschaft angehören.

Ob dieses historisch gewachsene Instrument der Unterstützung der Religionsfreiheit heute in einer pluralen, multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft noch zeitgemäß ist, wird von unterschiedlichen Seiten her infrage gestellt. Reformen hängen entscheidend davon ab, wie die Religionsgemeinschaften, d. h. in diesem Fall die Kirchen, die Bestimmung interpretieren, dass der Religionsunterricht in „Übereinstimmung“ mit ihren Grundsätzen zu erteilen ist. Inzwischen werden auch neue Organisationsformen von Religionsunterricht erprobt (→ Kap. 3), die alle Lernenden – egal welcher Konfessions- oder Religionszugehörigkeit – berücksichtigen, auch religionsdistante oder religions- bzw. konfessionsfreie Kinder und Jugendliche. Ein solcher Unterricht für alle, z. B. im Klassenverband, wird sich aber eher auf die Behandlung des Phänomens Religion beschränken müssen, also ein Unterricht über Religion sein und Religion(en) vor allem aus der Außenperspektive behandeln. Die Binnenperspektive der Religionsgemeinschaften, wie sie im Grundgesetz intendiert wird, kann dort nur bedingt abgebildet werden, weil dazu (über die Lernenden hinaus) jeweils authentische Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Religionen und Konfessionen als Lehrkräfte präsent sein müssten.

AEigentlich reicht das juristische Argument, um die Durchführung von Religionsunterricht auch während einer Pandemie sicherzustellen. Welche Argumente könnten trotzdem gegen seine Durchführung vorgebracht werden?

3Die anthropologische Begründung

Wie der evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer in seinem vielgelesenen Buch „Das Recht des Kindes auf Religion“ umfangreich begründet hat, haben Kinder einen Anspruch auf Religion bzw. religiöse Bildung (Schweitzer, 2019) und profitieren umfassend von religiöser Erziehung und Bildung, weil jeder Mensch in irgendeiner Weise religiös bzw. spirituell veranlagt und bedürftig sei. Wenn ihnen eine solche Bildung vorenthalten werde, käme es zu einem „religiösen ‚Kasper Hauser‘-Syndrom“ (ebd., 76 u. ö.). Schweitzer nennt verschiedene Perspektiven, wie Kinder in ihrer Entwicklung und Identitätsfindung von religiöser Erziehung profitieren. Diese Perspektiven können nicht alle (umfänglich) durch den Religionsunterricht eingeholt werden, zeigen aber die Spannbreite anthropologischer Argumente für den Religionsunterricht bzw. für religiöse Bildung. Erstens unterstütze religiöse Erziehung die kindliche Vertrauensbildung, die über das Vertrauen zu Vater und Mutter und zu Personen im Nahfeld hinausgehe:

Eine „Erziehung, die sich selbst aus dem Vertrauen auf Gott speist und die das Kind mit dem Glauben an einen vertrauenswürdigen Gott bekannt macht, kann die kindliche Vertrauensbildung offenbar in wesentlichen Hinsichten unterstützen. Sie verweist auf eine Grundlage für das Vertrauen, die auch dann tragfähig bleibt, wenn sich beispielsweise die Menschen um einen herum als wenig vertrauenswürdig erweisen“ (ebd., 20).

Damit hängt zweitens eng die wissenschaftliche Beobachtung zusammen, dass religiöse Erziehung die Resilienz (Widerstandskraft, mit Krisen fertig zu werden) fördern kann. Der Glaube als religiöse Überzeugung kann zu den Schutzfaktoren für Kinder und Jugendliche gehören, denn er ermöglicht das Gefühl, dass das Leben Sinn und Bedeutung hat, und bewirkt so ein Vertrauen darauf, dass das eigene Leben sinnvoll ist, auch wenn es momentan vielleicht durch (materielle) Entbehrungen, Not oder Schmerzen bestimmt wird. Während dieser Zusammenhang bei Erwachsenen gut erforscht ist, fehlen noch grundlegende Forschungen zu Kindern und Jugendlichen, selbst wenn die Ergebnisse in Bezug auf das „Diathese-Stress-Modell“ bei Erwachsenen wohl übertragbar sind (Klein/Streib, 2013, 67). Das Modell beschreibt, wie Menschen auf eine bestimmte Weise auf Belastungen reagieren. Unter Diathese versteht man die Anfälligkeit (Disposition) für eine bestimmte Krankheit. Sind die Stressoren zu groß, kommt es zum Ausbruch einer Krankheit. Allerdings können Schutzfaktoren die Resilienz stärken und vor dem Ausbruch bewahren. Man unterscheidet in diesem Modell unterschiedliche Stressoren: Anforderungen im Alltag wie z. B. kritische Lebensereignisse, Prädispositionen wie z. B. individuelle Anlagen etwa zu psychischen Krankheiten oder Umwelteinflüsse, gesundheitliche Ressourcen, die sich in individueller (Selbstwert, Werthaltungen) oder sozialer Ausprägung (religiöse Gemeinschaft, deren Gottesvorstellung) zeigen. Das Bewältigungsverhalten wird nun durch a) ein eventuell auch religiös motiviertes Gesundheitsverhalten und durch b) religiöse Bewältigungsstrategien (wie z. B. Gebet, Entlastungen des eigenen Handelns etwa durch Erfahrungen mit biblischen Texten oder die existenzielle Gewissheit des Angenommenseins ohne Leistung) (mit-)bestimmt (ebd., 70).

BStellen Sie in einem knappen Schaubild das „Diathese-Stress-Modell“ dar und erläutern Sie für Lehrkräfte seine Funktionen in der Situation einer Pandemie: Wie kann der Religionsunterricht das Bewältigungsverhalten positiv beeinflussen?

Natürlich gibt es aber auch Formen von negativem religiösen Coping (Bewältigungsstrategie), und aus theologischer Sicht ist eine solche resilienzfördernde

„Religiosität nicht deshalb wünschenswert, weil sie das Potential hat, zu einer besseren psychischen und körperlichen Gesundheit beizutragen. Sie ist es deswegen, weil sie zu einer Grundhaltung verhilft, sich in Gesundheit wie auch in Krankheit in seiner Beziehung zu Gott und Menschen als heil zu erfahren“ (ebd., 100).

Die in diesem Modell zentrale Sinndimension greift Schweitzer ebenfalls auf und formuliert, ausgehend von der religionspädagogischen Beschäftigung mit biblischen Texten wie z. B. der Schöpfungserzählung oder den Vätergeschichten, als These: „Religiöse Erziehung ermöglicht Sinnerfahrungen“ (Schweitzer, 2019, 22). In diesen Geschichten werde deutlich, dass menschliches Leben in der Sicht des Glaubens kein Zufall sei, dass jeder Mensch deshalb gewollt und geliebt werde und Sinn nicht erst von Erfolg abhänge. So könne religiöse Erziehung (damit) auch zu Ich-Stärke verhelfen. Die Einsicht der unbedingten Annahme durch Gott ohne Berücksichtigung der Leistung/Werke, die theologisch in der lutherischen Theologie („sola gratia“) stark gemacht wurde, sei eine Ermutigung für Kinder und Jugendliche, besonders auch dann, wenn Leistung eben nicht den Erwartungen entsprechend erbracht werden könne und menschliche Anerkennung ausbleibe.

Durch religiöse Bildung werden Kinder und Jugendliche darüber hinaus bei ihren religiösen Fragen abgeholt, die genuin im Menschen angelegt sind. Wie die Religionspsychologie zeigt, entwickeln Kinder Gottesbilder und Vorstellungen vom Woher und Wohin (→ Kap. 11.5). Sie fragen von sich aus danach, wie Gott in die Welt eingreift oder wie und warum man sich (sozial) verhalten soll. Dabei ist zu beobachten, dass sich diese Fragen angesichts der religiösen Pluralität zunehmend individualisieren. Sie lösen sich aber nicht auf und verschwinden nicht in der breiten Fläche, weil der Mensch als Mensch auf Transzendenzoffenheit hin angelegt ist und so der Sinn des Lebens und das Verhältnis von Gott und Welt in unterschiedlichen Lebensphasen eine (zentrale) Rolle spielen. Konfessioneller Religionsunterricht kann diese Wahrheitsfragen nicht nur im Modus der Komparation wie in religionskundlichen Organisationsformen aufgreifen, sondern deren existenzielle Bedeutsamkeit thematisieren.

4Die kulturgeschichtlich-religionskulturelle Begründung

Noch bestimmen große Kirchen das Stadtbild Europas und nur wenige sind umgewidmet in Restaurants, Hotels oder Bürogebäude. Betritt man eine Kirche und will ihre Bilder- und Symbolwelt entschlüsseln, braucht es das entsprechende Grundwissen: Welche biblischen Geschichten sind in den Kirchenfenstern dargestellt, welche auf den Kreuzwegstationen? Welche Farben verweisen liturgisch auf welche Kirchenjahresfeste? Auch beim Gang ins Museum ist die Fähigkeit zur Entschlüsselung christlicher Ikonografie Bedingung, um viele Kunstwerke früherer Epochen, aber auch moderne Kunst, Literatur und Filme zu verstehen.

Deshalb ist es Aufgabe des Religionsunterrichts, junge Menschen mit diesen Überlieferungen vertraut zu machen, die unsere kulturelle Situation geprägt haben. Weil heutige „Schülerinnen und Schüler […] auf Religion immer weniger in deren angestammten Gebieten als vielmehr in einer vielgestaltigen Religionskultur“ (Kropač, 2021, 40) treffen, muss die Begründung sich von einer „kulturgeschichtlichen“ zu einer „religionskulturellen“ ändern. So gehe es nicht mehr nur um das Verständnis geschichtlicher Artefakte, sondern besonders auch um Gegenwartskultur, für deren Deutung Grundwissen benötigt wird (so auch Gärtner, 2015): Wo finden sich religiöse Aspekte und Funktionen des Religiösen in der digitalen Welt, wo und wie wird Religion digital gelebt, wo führt die Digitalisierung zu ethischen Problemen etc. (Zimmermann, 2021)? Viele Kern- bzw. Schulcurricula für die Sekundarstufen I und II für das Fach evangelische Religion verweisen in diesem Kontext auf „religiös geprägte Ausdrucksformen in der Gegenwartskultur“ (EKD, 2010, 16).

CÜberlegen Sie sich eine Situation in einem Elterngespräch, in dem Sie dieses dritte Argument besonders in die Begründung zur Teilnahme am Religionsunterricht einbringen würden. Welche Eltern bzw. Typen von Kolleginnen und Kollegen lassen sich auf dieses Argument vielleicht besonders ansprechen?

5Die gesellschaftlich-ideologiekritische Begründung

Nach Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019), Staats- und Verfassungsrechtler und Religionsphilosoph, lebt der „freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde, 1991, 112). Er bezieht sich in diesem berühmten Diktum darauf, dass der moderne Staat sich seit der Aufklärung („Amerikanische Unabhängigkeitserklärung“, 1776; „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“, 1789) den Menschenrechten, insbesondere der Idee der Freiheit, verschrieben hat und sich darauf gründet. Damit diese Freiheitsrechte realisiert und in Anspruch genommen werden, braucht die freiheitliche Ordnung Menschen, die sich diesen Rechten verpflichtet fühlen und für sie aktiv eintreten. Böckenförde sah die Basis eines solchen Ethos in den christlichen Quellen der Kultur, also auch und vor allem in der Religionsfreiheit. Aber der Staat kann diese Freiheit seinerseits nicht mit autoritären Zwangsmitteln garantieren. Er kann nur die gesellschaftlichen Kräfte fördern und unterstützen, die sich für seine freiheitlich demokratische Verfasstheit engagieren.

Religiöse Bildung schärft in diesem Sinne „potentiell den Blick auf das Gemeinwohl und die Gottebenbildlichkeit aller Menschen“ (EKD, 2020, 25). Die evangelische Kirche in Deutschland verweist hier auf die Feindesliebe, auf biblische Forderungen im Blick auf Migrations- und Fluchtprobleme und das Eintreten für die Anderen. Religiöse Bildung erinnere an Schuld, kultiviere Erinnerung, reflektiere eigene Fehlerhaftigkeit und zeige Formen christlicher Tradition auf, mit Schuld und Vergebung umzugehen. „Das Wesen religiöser Bildung beinhaltet also die Befähigung zur Selbstkritik und Selbstbegrenzung – aus dem Glauben an Gott, aus Gründen der Vernunft und gerade auch gegenüber der eigenen Wahrheitserkenntnis“ (ebd.). So kann religiöse Bildung Schutz gegen Ideologie sein, weil sie mündige Urteilsfähigkeit fördert und so einen Beitrag zur Demokratiefähigkeit leistet.

Weil es auch die Aufgabe von Theologie ist, die Problembereiche und Schattenseiten bestehender Verhältnisse aufzudecken, ist religiöse Bildung darum bemüht, Menschen so auszurüsten, dass sie ideologiekritisch z. B. die Diskriminierung von Menschen anprangern, Strukturen sozialer Benachteiligung identifizieren und Machbarkeitswahn und naiven Fortschrittsglauben aufdecken können (Kropač, 2021, 41 f.). Kirchliche Bildungsarbeit bietet so die Möglichkeit und den Erprobungsraum,

„sich selbst zu finden, ohne dabei andere abwerten zu müssen. Sie ermöglicht Identität in ökumenischer Verbundenheit jenseits nationaler Zugehörigkeiten, kultureller Geschlossenheit und rassistischer oder paternalistischer Abwertung“ (EKD, 2020, 26).

Obwohl die Anzahl von Menschen mit stark individualistisch geprägter Religiosität zunimmt, teilen – besonders weltweit gesehen – noch viele Menschen ihren Glauben und leben ihn in religiösen Gemeinschaften aus, um miteinander über ihren Glauben zu sprechen, ihn zu diskutieren und gemeinsam (Jahresfeste) zu leben und zu feiern. Ist das Kind oder der bzw. die Jugendliche Teil dieser Gemeinschaft, kann diese Teilhabe, wie oben gezeigt, gleichsam als gesundheitliche Ressource gesehen werden.

Ergänzt werden kann dieser Argumentationsgang durch eine situativ-pragmatische Begründung (Adam/Lachmann, 2006, 123): Wenn Kinder und Jugendliche in der Schule Orientierung und Lebenshilfe in der gegenwärtigen Welt erhalten sollen, geht es unabhängig von deren christlicher Einstellung darum, dass sie auch für Kontaktsituationen mit dem Christentum, wie z. B. anlässlich der Teilnahme an kirchlichen Feiern und Kasualien (wie z. B. Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen), beim Begehen großer Feste wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten, bei der Begegnung mit Gläubigen aller Weltreligionen u. a. m. ausgestattet werden.

DIn welchen Bereichen profitiert der Staat von religiöser Bildung? Führen Sie über die Demokratiebildung hinaus weitere Bereiche aus, die vielleicht gerade in Situationen einer Pandemie bedeutsam sind.

6Die bildungstheoretische Begründung

In der Diskussion um Bildungsstandards hat konzeptbildend der deutsche Bildungsforscher Jürgen Baumert unterschiedliche Weltzugänge benannt, die in Korrelation zu den schulischen Fächern bzw. Fächergruppen stehen. Er differenziert zwischen „kognitiv-instrumenteller Modellierung der Welt“, „ästhetisch-expressiver Begegnung und Gestaltung“, „normativ-evaluativer Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft“ und „Problemen konstitutiver Rationalität“ (Baumert, 2002, 106–108, 113). Unter den letztgenannten Weltzugang fallen Philosophie und Religion. Beide Fächer befassen sich mit „Fragen des Ultimaten – also Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu des menschlichen Lebens“ (Baumert, 2002, 107). Diese Modi bzw. Rationalitätsformen der Weltbegegnung haben je ihre eigene Logik und eröffnen so ihren je eigenen Horizont des Weltverstehens. Hierbei kann keiner durch einen der anderen ersetzt werden, weil sie erst zusammen das Orientierungswissen moderner Allgemeinbildung ergeben. Deshalb kann der Anspruch einer allgemeinen Bildung nur dann eingelöst werden, wenn die Lernenden mit allen Modi der Weltbegegnung vertraut gemacht werden, auch mit dem der konstitutiven Rationalität durch religiöse Bildung.

EOrdnen Sie die Modi der Weltbegegnung nach Jürgen Baumert den Schulfächern zu und erläutern Sie deren Beitrag für das Weltverständnis der Schülerinnen und Schüler.

7Die theologische Begründung

Nur wenige Kirchenmitglieder werden noch ernsthaft behaupten, dass die christliche Botschaft sowohl für alle Menschen heilsnotwendig sei, als auch, dass nur in genau dieser Kirche, die für den Religionsunterricht verantwortlich ist, dieses Heil zu finden wäre (vgl. z. B. diese Position der katholischen Kirche vor dem II. Vatikanischen Konzil 1962–1965). Heute müssen eher rechtfertigende Begründungen gesucht werden, warum ausgerechnet konfessioneller Religionsunterricht die sechs skizzierten Begründungsansätze am angemessensten berücksichtigt und nicht eher eine religionswissenschaftlich ausgerichtete Organisationsform (→ Kap. 3).

Auch das letztgenannte theologische Argument, dass es, um die Weitergabe des Glaubens zu gewährleisten, unbedingt Religionsunterricht geben müsse, wurde Mitte der 1950er-Jahre noch herangezogen, würde aber heute so nicht mehr formuliert werden. Ein missionarischer Antrieb des Religionsunterrichts ist heute gesellschaftlich und auch aus der Sicht der Mehrheit der Religionslehrkräfte nicht mehr tragfähig (Zimmermann, 2020); der missionarische ist durch einen diakonischen Impuls zu ersetzen (Kropač, 2021, 42).