Renda 3 - Paul Martín - E-Book

Renda 3 E-Book

Paul Martin

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Beschreibung

Eine Geschichte wird erzählt und doch ist es Geschichte, an Hand derer sich die Handlung entwickelt. Berichtet wird in einer braunen Zeit über den Niedergang einer noch aufrechten ostpreußischen Familie auf der kurischen Nehrung. Der jüngste Sohn Johannes hat homosexuelle Neigungen, welche die Familie toleriert aber trotzdem besorgt ist. Drei Männern wird Jons, der nicht weiß, was er will, in der Zeit bis 1944 begegnen. Einem Fischerjungen, der nicht weiß, wer er ist. Einem Grafen, der nicht weiß was er machen soll und Einem Chauffeur, der trotz des Wissens, was er machte, noch lebt. Die Versuche von Johannes sich einem von den dreien zu nähern sind halbherzig und wankelmütig. Es entwickelt sich ein gefährliches Spiel für alle vier und nach und nach müssen sie den Preis dafür bezahlen, denn es ist Krieg und Krieg nimmt nun mal keine Rücksicht auf Gefühle.

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Seitenzahl: 448

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Inhalt

Vorwort

Abschnitt – Unruhige Zeiten

Kapitel – Nach Hause

Kapitel – Zugestiegen

Kapitel – Kerzenschein

Kapitel – Ausritt am Morgen

Kapitel – Vorbereitungen

Kapitel – Am Pregel

Kapitel – Graf von Schöneck

Kapitel – In der Bibliothek

Kapitel – Studentische Zeiten

Kapitel – Weihnachten ‘36

Kapitel – Pillkoppen

Kapitel – Georg

Abschnitt – Sommerträume

Kapitel – Auf dem Petschberg

Kapitel – Toni

Kapitel – Liebe und Wehe

Kapitel – In der Rendantur

Kapitel – Erkenntnisse

Kapitel – Warten

Kapitel – Enttäuschungen

Kapitel – Erbarmen

Kapitel – Der 50. Geburtstag

Kapitel – Noch einmal Pillkoppen

Kapitel – Sturm über der See

Kapitel – Verlust und neue Zuversicht

Abschnitt – Kriegszeiten

Kapitel – Ludwig

Kapitel – Ein Brief

Kapitel – Südwärts

Kapitel – Berliner Bilder

Kapitel – Auf der Nehrung

Kapitel – Schlechte Nachrichten

Kapitel – Luftangriffe

Kapitel – Wiedersehen

Kapitel – Aufbruch

Kapitel – Renda

Kapitel – Königsberg

Kapitel – Die Hand

Kapitel – Tobias

Kapitel – Winterwelt

Epilog

Musikliste

Zum Autor:

Leseproben:

Vorwort

Renda 3 ist eigentlich ein Prequel zu Renda 1 und Renda 2.

In Renda 3 schreibe ich über eine Zeit, in der Homosexualität nicht nur strafbar war, sondern ganz explizit verfolgt wurde.

Wussten Sie übrigens, dass § 175 StGB erst nach der Wiedervereinigung 1994 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben wurde?

Die Story ist fiktiv und resultiert aus meinen Träumen daraus erfolgten Rückführungsversuchen sowie Geschichten meines Vaters aus dem Zweiten Weltkrieg, soweit er darüber sprechen wollte.

Leider keine Fiktion ist die Geschichte, an der sich die Handlung entlang hangelt.

Königsberg heißt heute Kaliningrad und Rossitten nennt man jetzt Rybatschi. Kunzen gab es auch, allerdings stand damals dort kein Gutshaus, sondern war ein versandeter Ort.

Die Namen und Personen sind im Wesentlichen fiktiv erschaffen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Die Person Hitler war nicht fiktiv, allerdings seine Gefolgsleute, die ich beschreibe. Ich bin aber sicher, dass es diese Verbrecher unter anderem Namen genauso gab.

Fiktion sind auch nicht die Briefe, die Jons aus Italien schreibt. Es sind Originalfeldpostbriefe aus dem Nachlass meines Vaters, der tatsächlich für die SS in Forte dei Marmi als Partisanenjäger stationiert war. Ich erfuhr erst vor Kurzem davon.

Die Mitteilungen der Wehrmacht im Teil III dieses Buches fand ich im Nachlass meines Vaters und habe sie lediglich namentlich angepasst.

Fiktiv ist auch nicht Olga, die meinen Vater im Lazarett täglich begleitete und ihn 1949 nach vielen Jahren im Krankenhaus und einigermaßen am Leben, meinem Großvater in München übergab. Ohne Olga würde es mich nicht geben. Olga blieb bis zu ihrem Tod auf La Palma eine enge Freundin, auch von mir.

Ebenfalls nicht fiktiv ist die Person Hermanns und die von Martha Renzow. Es sind in Renda 1 die Eltern von Robert.

Dieses Buch nutzt Gefühle, die aus Musik entstehen. Ich empfehle, sich die beschriebene Musik beim Lesen anzuhören. Eine Musikliste dazu finden sie im Anhang.

Die Musik, insbesondere die Schlager dieser Zeit, spiegelt die Oberflächlichkeit wider, in der die Deutschen damals blind für jedes realistische Denken jemanden nach liefen und es auch nach dem Krieg noch taten und leider immer noch tun.

Es lohnt sich immer zu kämpfen, für Toleranz, Menschlichkeit und Freiheit und dabei auch aus Fehlern zu lernen, auch wenn es vielleicht einige Leben dauert.

Paul Martín

I. Abschnitt – Unruhige Zeiten

1. Kapitel – Nach Hause

Die Dampflokomotive der Baureihe 01 fuhr schnaufend und dampfend in den schlesischen Bahnhof ein. Diese Lokomotive wurde erst seit Beginn der Olympiade 36 für den D1 durch den Korridor nach Ostpreußen eingesetzt und erzeugte Begeisterungsstürme bei den Reisenden auf dem Perron. Mit Einsatz dieser leistungsstarken Lokomotive trat die Regierung dem Vorwurf entgegen, dass der Führer den Transitverkehr nach Königsberg vernachlässigte.

Der Bahnsteig war gut mit Reisenden gefüllt, sowie von Besuchern mit Bahnsteigkarten, die zum Verabschieden ihrer Gäste kamen und ihre Taschentücher bereithielten. Großes Stimmengewirr hielt sich in der Halle des Bahnhofes mit dem gläsernen Tonnengewölbe. Am Bahnsteig standen der neunzehnjährige Johannes von Ammen zusammen mit seiner Tante Mathilde von Gerstäcker, geborene zu Kunzen und Schwester seiner Mutter Gerlinde, sowie einem heruntergekommenen älteren Gepäckträger, der bereitwillig darauf wartete, die Gepäckstücke in die erste Klasse zu verfrachten. Natürlich fuhren die von Ammens immer erster Klasse. Etwas anderes wäre unter ihrem Niveau und nicht schicklich gewesen.

Der Dampf der bremsenden, einfahrenden Lokomotive kroch über den Bahnsteig und Tante Mathilde wich kurz zurück, um ihren Rocksaum vor Schmutz zu schützen.

Johannes von Ammen, genannt Jons, liebte die Einfahrten der Lokomotiven und sog den Dampf in seine Lungen ein, als wären es die schönsten Düfte, die er je gerochen hatte. Er erkannte sofort die 2’C1 – Achsfolge dieses riesigen Dampfrosses. Dampflokomotiven waren für ihn das Sinnbild der Freiheit. Er hatte damit die Möglichkeit überall hinzureisen. Und nicht nur mit dem Kurenkahn über das Haff oder mit der Kutsche von Rossitten auf der kurischen Nehrung, seiner Heimat, nach Königsberg.

Diese einfahrende Lokomotive und die dahinter gekoppelten Waggons des D1-Schnellzuges waren der perfekte Abschluss von bewegenden Tagen, in denen er im Olympiastadion auf dem Reichssportfeld ausgerechnet an dem Tag sitzen durfte, an dem Jesse Owens seine vierte Goldmedaille im 100 Meter Lauf in fantastischen 10,2 Sekunden gewann. Für Jons war insgeheim klar, hier zählte nicht schwarz oder weiß, sondern nur langsam oder schnell und das war dieser schwarze Kerl aus Amerika, schnell, sehr schnell. Doch mit solchen Gedanken mussten Bürger in diesen Jahren vorsichtig sein. Sie durften diese nicht aussprechen und tunlichst für sich behalten.

Jons war hochgewachsen und reichte bis kurz vor die 1,80 Meter heran. Er hoffte inständig noch auf einige Millimeter mehr, um seinen Vater mit dessen genau 1,80 Meter zu überragen. Sein vier Jahre älterer Bruder Heribert war nur 1,78 Meter groß, was oft zu verbalen Rangeleien zwischen den beiden Brüdern führte. Jons blondes Haar, seine strahlenden blauen Augen, die er als einziges Kind von seiner Mutter erbte, waren in dieser Zeit ein großes Pfund und halfen ihm bei manchen Gegebenheiten zum Vorteil in dieser von arischen und rassischen Vorurteilen geprägten Gesellschaft. Zwar war er nicht so breitschultrig, sondern eher schmal, aber durch seine Ausritte auf seiner Lieblingsstute Blinka vom heimischen Gehöft hatte er sich einige Muskulatur erarbeitet. Leider hatten Jons und seine Tante als Anstandsdame nur für einen Tag Eintrittskarten für das neue Olympiastadion erhalten.

Ansonsten verbrachte Jons oft Stunden in den eigens eingerichteten Fernsehstuben, um die Wettkämpfe dort zu verfolgen. Das war was Neues, was Revolutionäres, im Stadion kämpften die Athleten und gleichzeitig konnte er es woanders in einem Zimmer sehen. Jons fieberte dem Tag entgegen auch solch einen Apparat zu besitzen, um am Leben in der Welt teilzunehmen. Er hatte sich erklären lassen, dass diese Erfindung das Bild elektronisch zerlegt und mittels einer Braun‘schen Röhre wieder zusammen setzt. Und zwar mit sage und schreibe 375 Zeilen pro Bild, vor einem Jahr waren es noch weniger als halb so viele gewesen.

Ein wahnsinniger Fortschritt, für den natürlich das Deutsche Reich mit seinen Übertragungen von diesen Spielen führend in der Welt war. Ohne den Führer wäre das nicht möglich gewesen, dachte Jons und doch war ihm nicht wohl bei diesem Gedanken. Er wusste aber nicht, warum.

Nachdem der Gepäckträger die Koffer im Erste-Klasse-Abteil verstaut hatte, machten Tante Mathilde und Jons es sich gemütlich. Zuvor hatte Tantchen den armen Mann angemessen belohnt und ihm ein üppiges Trinkgeld gegeben.

„Nicht alle Leute haben es so gut wie wir“, meinte sie mit einem entschuldigenden Achselzucken zu Jons. „Merk dir das für die Zukunft, mein Junge.“

„Ja, Tante Mathilde“, antworte Jons gehorsam seiner Tante und schaute auf den Bahnsteig, den er aus dem Waggonfenster in einer völlig anderen Perspektive wahrnahm.

Es war die erste längere Reise für Jons gewesen, ein Geschenk seiner Eltern zum erfolgreichen Abschluss der Oberprima und dem Beenden der einjährigen Wehrpflicht. Er hatte Glück. Erst ab 24.8.1936 plante die Regierung die Wehrpflicht auf zwei Jahre zu verlängern.

Sicher hatte er auf der Hinfahrt nach Berlin schon einiges gesehen, trotzdem war er bei der Ankunft in Berlin überwältigt von der Größe und den vielen Leuten in der Stadt und auf dem Bahnhof. Als er ankam, hielt er nach seiner Tante Ausschau und nahm nicht alles so wahr wie jetzt.

Seine Tante, Mathilde von Gerstäcker, war 40 Jahre alt, und doch schon Witwe, dem großen Krieg geschuldet. Es hielt sie jedoch nicht davon ab, weder einsam noch allein vor sich hin zu jammern. Die wilden Zwanzigerjahre waren zwar mit dem Fackelzug von 1933 mit einem Schlag beendet gewesen, was aber nicht hieß, dass sich Tantchen wie eine graue Maus verhielt.

Schließlich stellte sie jemanden dar. Arisch rein, von adliger Herkunft, fühlte sie sich als Mitglied einer Gesellschaftsebene, in der jeder etwas darzustellen hatte. So trug sie heute ein gewagtes Hosenkleid mit Kragen und vorwitziger Brusttasche aus orangefarbenem, sehr fein gewebtem Baumwollstoff, dazu trug sie einen passenden Gürtel mit großer Schnalle, welcher ihre tadellose Figur gut betonte. Ein kurzes, gestricktes Sportjäckchen in Weiß mit in sich gemusterten Karos schützte ihre Schultern. Ihre Schneiderin hatte betont, dass es sich bei diesem Kleid um ein Modell nach Elsa Schiaparellis, der angesagtesten Modezeichnerin aus Paris, handeln würde. Sie rauchte begreiflicherweise die Zigaretten ausschließlich mit Spitze. Weiße, lange Handschuhe garantierten, dass sie kein Staub oder irgendwelche anderen schlimmen Sachen an sie herankam. Ein modischer Hut ebenfalls in orange mit einer hellen Schleife, schützte ihr blondes hochgestecktes Haar und unterstützte ihre auffallende Erscheinung.

Jons konnte nach langer Zeit des Wehrdienstes endlich seine Uniform ablegen und nunmehr seinen Freizeitanzug tragen.

So saßen die beiden also in ihrem Abteil, welches Tante Mathilde extra für die Rückfahrt reserviert hatte. Es gab nur drei davon in diesem Zug. Alle anderen Waggons waren Salonwagen, zwar mit Polsterung für die erste Klasse und einem Tischchen, allerdings bevorzugte Tante Mathilde es nicht, mit anderen Reisenden in Kontakt zu treten, um langweilige Gespräche über das Wetter oder Schlagzeilen der Zeitung zu diskutieren. Dem Zug angegliedert waren an diesem Tag Kurswagen nach Danzig, Insterburg und Riga.

Jons war aufgeregt. Die Erlebnisse während der Olympiade hatten ihn sehr aufgewühlt, und nun stand die Rückfahrt zurück nach Hause an. Was hatte er nicht alles seinen Geschwistern zu berichten. Zudem begann Anfang Oktober das erste Semester seines Studiums der Landwirtschaft. Was für ein aufregendes Jahr. Sein Vater hatte nach langen Diskussionen erlaubt, sich dort zum Wintersemester 36/37 zu immatrikulieren. Aufgrund guter gesellschaftlicher Kontakte zum Kurator der Universität, Herrn Friedrich Hoffmann, war dies kein Problem gewesen. Friedrich Hoffman konnte die Familie auch dahingehend beruhigen, dass die von ihm sogenannte radikale NS-Clique sich zurzeit noch einer erdrückenden Mehrheit von wissenschaftsorientierten Akademikern gegenübersah. Friedrich Hoffman wusste, dass er sich gegenüber seinem Freund Heinrich von Ammen dieser Worte bedienen durfte. Von Ammen hatte es stets geschafft, trotz aller „Ermutigungen“ nicht in die NSDAP einzutreten. Stets erfand er einen Grund, dem nicht nachzukommen. Früher war er Sympathisant der Sozialdemokraten gewesen. Insgeheim sympathisierte er immer noch mit ihnen und war sich der Gefahr, die daraus erwuchs, stets im Klaren.

So wurde den Kindern der Familie, Heribert, dem 24-jährigen ältesten Sohn und Generalleutnant bei der 10. Panzerdivision der Wehrmacht in Regensburg, sowie Gerda, der 22-jährigen Schwester, und ihm, stets klargemacht, dass es eine Wahrheit für die Familie gab und eine andere Wahrheit, wenn sie sich außerhalb der Familie aufhielten. Doch Heribert war dem derzeitigen Regime eher zugetan, war Mitglied in der Partei und zum Glück sehr selten auf Heimaturlaub. Jons hatte striktes Verbot, über seine Erfahrung und Ansichten bei der Reichssicherung mit Heribert zu sprechen. Der Mutter Gerlinde war Heribert fremd geworden und Jons war für Heribert immer der Kleine gewesen, der noch auf der Nehrung buddelte und mit seiner Schwester und dem Kindermädchen Sandburgen baute. Gerda, die Schwester, hatte vor einem Jahr geheiratet. Warum es ausgerechnet der fast einen Kopf kleinere Erwin von Knöppelsdorf sein musste, verstand keiner auf Kunzen.

Während Johannes auf den Bahnsteig schaute und versuchte, nicht an seinen Bruder zu denken, ging es endlich los und das Abfahrtsignal des Schaffners ertönte. „Weg von der Bahnsteigkante!“

Es schien, als wenn die Lokomotive mit ihrer Pfeife darauf antwortete. Jons beugte sich aus dem Abteilfenster und schaute mit großen Augen nach vorne zur Lokomotive fünf Waggons voraus. Es war 9.04 Uhr. Letzte Türen wurden geschlossen und dampfend und rauchend setzte sich die schwere Lokomotive pünktlich in Bewegung. Erst kam Dampf unter den Rädern hervor, dann stieß die Lok Dampf aus ihrem Schornstein, dunkel und stoßend. Immer schneller wurde dieses Geräusch und schneller wurde daraufhin auch die Lok.

Viele zurückgebliebene winkten mit den Taschentüchern und auf den vorbeihuschenden Gesichtern glaubte Jons manches Tränchen zu erkennen. Zunächst kam es Jons so vor, als wenn diese zurückgebliebenen auf einem dieser neumodischen Fahrbändern stünden, wie er sie in Berlin in einigen Untergrundbahnhöfen gesehen hatte. Doch als auch das Bahnhofsgebäude aus dem Blickfeld geriet, merkte er, dass der Zug sich bewegte und nicht der Bahnsteig.

„Mach das Fenster zu, es zieht“, meinte Tante Mathilde und Jons gehorchte artig, sagte: „Ja, Tante“, und kuschelte sich in sein Erste-Klasse Polster. Um 11.57 Uhr würde der Zug in Schneidemühl halten, meinte der Schaffner, danach würden polnische Kollegen die Fahrt im Korridor übernehmen. Konitz wäre der einzige Ort, in dem polnische Staatsbürger zusteigen durften. Jons hatte in der Zeitung in Berlin gelesen, dass ausstehende deutsche Zahlungen für den Transitverkehr dazu führten, dass Polen ab dem 7. Februar fast alle Transitleistungen beendet hatte. Der D1 und der D2 waren zusammen mit zwei weiteren Zugpaaren davon ausgenommen, da sie internationale Kurswagen führten und Polen internationale Verwicklungen zu vermeiden suchte. Erst in Elbing erreichte der Zug wieder deutsches Reichsgebiet. Die Fahrten durch den Korridor waren lästig, aber die Verplombung der Waggons stellte sicher, dass polnische Staatsangehörige von den Deutschen getrennt wurden. Konitz würden sie um 13.01 Uhr und Elbing um 14.08 Uhr erreichen.

Tante Mathilde seufzte tief und entschlossen auf, als sie den Namen Konitz hörte. Die Mutter ihres Patenkindes war dort der Liebe wegen hingezogen und der junge Antas, der seinen leiblichen Vater im Krieg früh verlor, musste seine geliebte Großmutter in Nidden verlassen und seiner Mutter notgedrungen folgen. Antas sehnte sich zurück nach Nidden, wenige Kilometer von der jetzigen Reichsgrenze entfernt, welches nach dem großen Krieg nun auf litauischem Gebiet lag. Die Großmutter wohne seitdem in Rossitten bei ihrem Sohn, dem Onkel von Antas, einem Kunstmaler, erklärte sie Jons, der sie verwundert anschaute.

„Es ist kein Zufall, Jons, dass ich heute mitkomme“, bedeutete sie mit einem merkwürdigen Augenaufschlag. „Es wird jemand in Konitz zusteigen, und, falls dich jemand fragt, möchte ich, dass du denjenigen als Cousin aus Schneidemühl identifizierst, der dich nach Rossitten begleitet. Und stell bitte keine weiteren Fragen. Ich möchte auch nicht, dass du irgendetwas davon weiter erzählst. Kann ich mich auf dich verlassen?“

„Ja, natürlich, Tante.“

2. Kapitel – Zugestiegen

Einige Minuten später wurde der Zug langsamer und Jons wusste, dass sie sich der Stadt Konitz näherten. Hier stand der Lok- und Personalwechsel zur polnischen Staatsbahn an. Erst in Elbing würde deutsches Personal zusteigen und die Polen ablösen. In Konitz verschloss und verplombte die polnische Polizei die Waggons für die deutschen Transitreisenden nach Ostpreußen.

Ob hier ein Zustieg überhaupt möglich wäre, fragte sich Jons, der aufgeregt war. Hier würde er jemanden kennenlernen, von dem er keinem berichten durfte. Er war sich unsicher über die nun folgenden Umstände, aber Tante Mathildes Wort galt. Der Zug hielt, aber leider lagen die Fenster des Abteils auf der anderen Seite, sodass Jons nicht auf den Bahnsteig blicken konnte.

„Öffne das Fenster, Jons und schau hinaus. Was siehst du?“, befahl sie energisch.

Jons stellte sich auf, zog das Schiebefenster herunter und schaute hinaus, wie befohlen. Er sah auf Gleise, Güterzugwaggons, doch halt, da bewegte sich etwas zwischen den Waggons.

„Da hinten steht ein junger Mann zwischen den Güterwagen.“

„Winke ihm und wenn er dann unten am Fenster steht, hilf ihm hoch und ziehe ihn ins Abteil, bevor der Schaffner etwas merkt.“

In diesem Moment funktionierte Jons nur noch. Er sah dem jungen Mann zu, der sein Winken bemerkte, auf ihn zu rannte und sich mit Jons Hilfe am Fenster hochzog. Ein eleganter Schwung und dieser Junge stand im Abteil und strahlte Tante Mathilde mit einem Feldblumenstrauß in der Hand an.

„Guten Tag, Tante Mathilde, dank für alles, hab dir einen Bund Sandstrohblumen mitgebracht.“

Jons atmete tief ein, dieser junge Mann mit dem wilden ungezügelt wachsenden, dunkelbraunen Haarschopf roch nach Kiefernwäldern, nach Sandstrohblumen und er erzeugte einen Schauder auf Jons Haut. Dieser junge Mann hatte eine derart auffällige Ausstrahlung, dass Jons ihn völlig regungslos anstarrte.

„Oh mein Junge, ich bin so froh, dich gesund hier zu haben. Danke für die Blumen, die mir bestimmt helfen. Ich werde mir morgen gleich einen Tee davon zubereiten lassen. Aber ziehe schnell diese Sachen an, bevor der Schaffner kommt.“

Mit diesen Worten griff sie in ihre Reisetasche und holte tatsächlich eine Uniform der Hitlerjugend heraus.

„Das ist mein Patenkind Antas, genannt Toni und es wäre erfreulich, wenn du den Mund wieder zumachen könntest, sonst kommen die Fliegen rein“, stellte ihn Tante Mathilde Jons vor. „Toni, das ist Johannes, genannt Jons, der Sohn meiner Schwester Gerlinde. Wir haben zusammen der Olympiade in Berlin zugesehen. Er ist ein halbes Jahr jünger als du.“

Doch Jons und Toni schauten sich nur an, ohne ein Wort zu sagen, sodass Tante Mathilde eingreifen musste und die beiden aufforderte, sich die Hand zu geben.

Jons war wie elektrisiert, er bebte innerlich und seine Körpermitte zeigte eindeutige Regungen. Es kostete seine ganze Willenskraft sich von diesem sympathischen jungen Mann abzuwenden, zu tief war die Erkenntnis für ihn, dass er diesen völlig unbekannten Jungen nie mehr vergessen würde, auch wenn sie sich hier im Zug das letzte Mal sehen würden. Zögernd gab er Antas die Hand und merkte, dass es dem anderen ebenso ging. Für beide verschwand das Abteil im Nebel. Weiß waberte dieser um die beiden herum. Nur ganz kurz spürte Jons das Zittern in der Hand, nur kurz war da ein Verlangen bei beiden, sich zu küssen. In diesem Moment wusste er, dass auch der andere so fühlte, wie er. Und vor allem Jons ahnte, dass dieses Treffen noch Folgen haben würde.

Doch schnell holte sie die Wirklichkeit ein, denn im Hintergrund waren die Schritte des polnischen Schaffners zu hören. Eilig hatte Antas die Uniform einfach über seine Kleidung gezogen und setzte sich neben Tante Mathilde, die Beine übereinander geschlagen. Der polnische Schaffner war überrascht, dass sich plötzlich drei Personen im Abteil befanden, wo doch nur zwei gemeldet waren. Doch der Anblick der Uniform und das herrische Auftreten der Dame ließen ihn kopfschüttelnd weitergehen.

Von Konitz bis Dirschau benötigte der Zug etwas mehr als eine Stunde, in der keiner der Anwesenden in diesem Abteil etwas sagte und alle ziemlich angespannt waren, denn die Polen waren restriktiv, wenn einer das Transitabkommen unterlaufen würde, denn polnische Zusteigende benötigten ein Visum.

Nach Dirschau folgte noch das Stück nach Elbing. Der Lokwechsel in Elbing dauerte zum Glück nicht lange, sodass der Zug sich bald wieder in Bewegung setzte. Der deutsche Schaffner zeigte gegenüber Antas in dessen Uniform den Hitlergruß, der den dreien noch auf der ganzen sich anschließenden Fahrt nach Königsberg im Magen lag. Die Uniform war das erste, was sich Antas auf einer Toilette im neuen Hauptbahnhof von Königsberg vom Leib riss und diese zusammen mit der Reisetasche Tante Mathilde übergab. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Natürlich nicht die Tante, sondern diese Uniform, die er nicht mochte, trotz der angenehmen Begleitumstände. Der Chauffeur des Gutes zu Kunzen holte sie vom Bahnhof ab. Als alle im Automobil saßen, fing Antas an, wieder seine Sprache wiederzufinden. Langsam und bedächtig begann er über die letzte Zeit bei seiner Mutter und dem ungeliebten Stiefvater zu berichten, doch Tante Mathilde gebot ihm zu schweigen.

Sicherlich wäre auch eine Fahrt mit der Cranzer Bahn und dem Dampfer nach Rossitten möglich gewesen, allerdings war die Fahrt im gutseigenen Benz wesentlich bequemer und angemessener. Der üppig dimensionierte Fahrgastraum mit zwei sich gegenüber befindlichen Sitzbänken war mit einer Scheibe vom Fahrzeugführer getrennt. Die Sitzbänke waren aufwendig in blauen bequemen Sofasitzen mit passendem Flockvelours gestaltet. Für die Koffer gab es noch keinen eigenen Raum, das Reisegepäck fand in einem luxuriösen Lederkoffer über der hinteren Chromstoßstange Platz. Chauffeur Georg, 41 Jahre alt, nicht ganz 190 Zentimeter groß, hatte eine bullige Figur mit dicken muskelbepackten Oberarmen und einen kurz geschorenen Schädel. An seiner Dienstuniform prangte das Abzeichen der Nazis, welches ihn als Parteimitglied auszeichnete. Jons wurde immer unwohl, wenn er dieses Abzeichen wahrnahm. Es erinnerte ihn immer an diesen kleinen Österreicher, der mit seiner keifenden Stimme versuchte, die Leute in seinen Bann zu ziehen.

Jons war Georg stets verbunden gewesen, er kannte ihn seit seiner Geburt. Georg hatte ihn Reiten gelehrt, hatte ihn aufgefangen, wenn er von seinem Pferd herunterrutschte. Georg war immer da gewesen. Er hatte ihn das erste Mal, nachdem er das Abzeichen sah, nach dem Grund gefragt und das Vater darüber nicht erfreut wäre. Doch Georg hatte nur geantwortet, „Mach dir mal keenen Kopp nich, der gnädige Herr weiß Bescheid.“ Und dann sagte er etwas, was Jons beunruhigte: „Es wird eine Zeit kommen, da wirst du froh sein, dass ich dieses Abzeichen trage, glaub mir.“ Er hatte damals nicht gedacht, dass dies geschehen könnte und es trotzdem umsonst war.

Aber zurück zu unserer Reisegesellschaft. Vom Bahnhof aus ging es durch die Langgasse, über den Pregel und am Schloss vorbei. Dann fuhr der Wagen weiter Richtung Cranz. Nachdem sie das Meer und die Nehrung erreichten, ging es auf schmaler Straße voran. Kiefern und Erlenwälder, welche die Dünen schützten, flogen am Fenster vorbei und es ging weiter Richtung Rossitten. Kurz vor Rossitten, noch vor dem Mövenbruch, einem kleinen See, kamen sie zur Gabelung Richtung Kunzen. Hier waren Buchenwälder vorrangig und manches Mal konnte ein Wanderer hier den ein oder anderen Elch erblicken.

Links vor der Straße nach Kunzen führte die nunmehr unbefestigte Straße weiter nach Rossitten.

Dort hielt Georg nach Aufforderung an und die drei Reisenden stiegen aus. Jons hatte in der ganzen Zeit stumm neben seiner Tante im Fond gesessen und vermied ein Gespräch mit dem gut aussehenden jungen Mann gegenüber. Er dachte darüber nach, wie er es vermied, seine Schwärmerei für sich zu behalten. Auch Antas saß still auf der gegenüberliegenden Sitzbank. Das Rauschen der Reifen überstimmte sein Herzklopfen. Zum Glück tat der Fahrtwind ein Übriges. Er staunte durch das Fenster auf die vorbeihuschenden Bäume. Ab und zu blitzte das Meer auf und Mathilde sah, wie Antas diesen Anblick vermisst hatte.

Jons konnte dem Blick von Antas nur schwer begegnen, Antas merkte dies und er merkte auch seine eigene Erregung. Er versuchte überall hinzuschauen, nur nicht in das Gesicht seines Gegenübers, sonst war es um seine Haltung geschehen.

Mathilde jedoch genoss dieses Spiel. Sie hatte es sich fast gedacht und gerade deswegen hatte sie aber auch etwas Angst um die beiden jungen Männer.

Antas war klar, dass der Junge aus dem reichen Hause für ihn als Vierteljude unerreichbar war. Er war traurig, dass er seine nicht rein arische Herkunft in diesen Zeiten verbergen musste. Aber es war auf jeden Fall gesünder.

Ein kurzer Abschied, eine wehmütige Umarmung mit Tante Mathilde, ein kurzer Handschlag mit Jons. Dann war er hinter den Heckenrosen, welche die Zufahrt zum Gut einzäunten, verschwunden und Tante Mathilde und Jons stiegen wieder in den Wagen um auf das Gutshaus zuzufahren. Antas drehte sich nicht mehr um und wanderte weiter alleine nach Rossitten zu seinem Onkel und seiner Großmutter.

Vor dem Gutshaus duftete eine weite Blumenwiese. Ein großzügig angelegter Park mit vielen Buchen beeindruckte so manchen Ankömmling und im Hintergrund schimmerte das Wasser des Haffs. Über eine breite Zufahrt erreichten sie das Haus nach ungefähr 800 Metern.

Jons war wieder Zuhause. Der Aufenthalt in Berlin war aufregend gewesen, aber die Stadt war ihm zu laut, zu braun, zu unruhig und vor allem zu gefährlich für Leute wie ihn und seine Familie.

Mutter und Vater standen auf der Freitreppe des Gutshauses und umarmten die beiden Ankömmlinge, nach dem Georg den Wagen in die Garage fuhr.

„Alles gut gegangen?“, fragte Heinrich von Ammen seine Schwägerin und diese nickte nur. Gerlinde umarmte ihre Schwester unter Wiedersehenstränen. Danach gingen sie ins Haus. Das Gepäck stand noch vor der Tür und wartete darauf, dass Hannchen, die Dienstmagd, die Koffer und Taschen in die Zimmer brachte. Von der Reisetasche mit der Uniform trennte sich Tante Mathilde jedoch nicht und nahm sie ohne weiteren Kommentar mit ins Haus.

3. Kapitel – Kerzenschein

Das abendliche Mahl war beendet und die verbleibende Dienerschaft war beim Abräumen. Der Vater zog sich mit Mathilde ins Rauchzimmer zurück, sein älterer Bruder Heribert war mit seinem Bataillon in Regensburg stationiert und hatte erst nächste Woche Heimaturlaub. Seine Schwester Gerda war mit ihrem Mann Erwin auf Urlaub in Breslau bei dessen Eltern. Jons hatte bei Tisch seinen Eltern bereitwillig Auskunft über das Erlebte in Berlin gegeben. Über die Rückfahrt hatte er nur kurz berichtet, um nicht zu lügen. Tante Mathilde hatte die Berichterstattung übernommen, ohne jedoch den Mitreisenden Antas zu erwähnen.

Seine Mutter begab sich in den Salon und wendete sich beim Licht der Kerzen einem Buch zu, welches sie tagsüber nicht hervorholen konnte und das in einem Geheimfach des Bücherregals auf Ausgang wartete.

Es hieß „Der Zauberberg“ von Thomas Mann. Einem mittlerweile verbotenen Schriftsteller.

Die von Ammens waren äußerst liberal eingestellt, fast schon sozialistisch. Gerade dies machte sie verwundbar in der Gesinnung der derzeitigen Regierung, die alles daran tat, um diese Kreise auszumerzen. So musste die Familie ihre Einstellung geheim halten, was immer schwieriger wurde. Viele Dienstboten mussten gehen, vor denen sie sich nicht sicher glaubten. Manche waren darüber zornig, weil sie den Grund der Entlassung vermuteten. Die Entlassungen begründeten sie jedoch damit, dass die Kinder aushäusig lebten und sie deswegen weniger Personal benötigten. Es blieben Wanda, die Zofe von Gerlinde, sowie Minna, die Köchin mit ihrer Hilfe Welda und Greta zum aufwarten. Die Stubenmädchen Anna und Gertruda, beabsichtigten sie auch bald zu entlassen. Das frühere Kindermädchen Berta war nun Mamsell, gehörte schon fast zur Familie und aß auch unüblicherweise mit der Familie zu Abend.

Georg, der treue Chauffeur und Stallmeister blieb trotz oder gerade wegen seiner Parteizugehörigkeit weiter im Haus von Ammen. Er stand in der Schuld des Vaters und des Großvaters, den mit vielen Orden behängtem Offizier im großen Krieg von 1914-1918 gebliebenen General Johannes von Ammen. Der junge Heinrich von Ammen hatte den damals zwanzigjährigen Spund vor einer Inhaftierung wegen Unzucht bewahrt und ihm nach seiner Heirat mit Gerlinde zu Kunzen eine neue gesicherte Heimat gegeben. Georg beteuerte stets dem Vater gegenüber, treu bis in den Tod sich für ihn aufzuopfern. Georg hatte noch einen Burschen, den Stalljungen Felix. Dieser war ein wenig debil, machte aber seine Arbeit gut und war loyal.

Die von Ammens lebten einen Lebensstil, der nicht in das faschistische Deutsche Reich passte. Wenn der älteste Sohn Heribert sich für den Heimaturlaub anmeldete, hastete Mutter deshalb stundenlang durch alle Zimmer, um Verräterisches wegzuräumen, denn Heribert war ein glühender Verehrer des Führers seit dessen Machtergreifung geworden.

Jons hatte sich nach dem Abendessen ins Musikzimmer begeben und sorgsam die Kerzen angezündet. Danach setzte er sich an den Kreutzbachflügel, den die Eltern vor Kurzem anschafften, und dehnte seine Finger. Aus dem Stapel Noten, der neben dem Flügel auf einem kleinen Hocker lag, zog er das Album für die Jugend von Tschaikowsky heraus, schlug es auf und stellte es auf den Notenständer. Langsam setzte Jons am Flügel seine Finger auf die Elfenbeintastatur und begann mit viel Gefühl das Morgengebet anzustimmen, welches er so liebte. Es war so traurig, so wie er sich jetzt auch gerade fühlte.

Eins und zwei und te, zählte er in Gedanken mit, so wie es ihm sein alter Lehrer Grünbaum beigebracht hatte. Leider kam er nicht mehr. Seine Mutter berichtete, dass die Gestapo den alten Mann mit seiner Frau eines Morgens aus seinem Haus in Rossitten abholten. Seitdem sahen die Nachbarn die beiden nicht mehr. Viele flüsterten darüber, doch keiner wusste Genaues, aber das Ungenaue überstieg schon die Vorstellung jedes Einzelnen, sodass es kaum jemand auszusprechen vermochte.

Er hatte ihn jedenfalls geschätzt, den alten Mann mit den wallenden langen weißen Haaren, die er immer nach hinten gekämmt hatte. Er sah gar nicht jüdisch aus, wie die Regierung es immer vorgab.

Wieso hatte die Gestapo ihn abgeholt, wo kam er hin, lebte er noch? Er fehlte ihm.

Mit einem Mal spürte er den Luftzug der aufgehenden Tür und roch das Parfüm seiner Mutter. „Hallo Mama, ich bin froh, wieder zu Hause zu sein. Berlin war anstrengend“, sprach er und spielte langsam weiter.

„Das Morgengebet am Abend, geht es dir gut mein Junge?“, fragte sie, ging auf Jons zu und legte ihm ihren Arm auf seine Schulter.

„Ja, natürlich Mama. Wieso fragst du?“

„Ich sehe dich bewegt, fast schwermütig. Was ist los?“

„So spannend und faszinierend wie die Olympiade war, aber die Stadt erschrak mich. Überall diese Fahnen mit dem Hakenkreuz. Die Maßnahmen gegen die Juden, die Parolen. Das war ein anderes Berlin als beim letzten Mal vor drei Jahren.“

„Das ist alles? Ich hörte, Ihr hattet einen zusätzlichen Passagier im Abteil?“. Mutter Gerlinde ahnte, dass ihre Schwester etwas eingefädelt hatte, aber erwartete, dass ihr Sohn ihr es direkt sagte.

„Was hat dir Tante Mathilde erzählt?“

„Genug, um zu wissen, dass du ihn sehr nett fandest, ich kenne ihn, es ist Antas, der Neffe des Kunstmalers im Dorf. Er war schon mal hier, um beim Verladen von Bildern zur Reinigung zu helfen.“

Jons hörte auf zu spielen und drehte sich erschrocken zu seiner Mutter.

„Also stimmt es, ich hatte es mir gedacht.“

Gerlinde von Ammen, Geborene zu Kunzen schien besorgt. „Ich weiß über deine Gefühle zu, nun ja…du weißt ja. Ich möchte es hier nicht laut aussprechen, denn die Wände und Türen haben oftmals Ohren, wie du sicher vermutest. Es wird stetig schwerer, gerade auf der Gesindeebene, jemanden zu vertrauen. Denunziation ist heutzutage in Mode gekommen. Es wäre erfreulich, wenn du zumindest nach außen hin einer jungen Dame den Hof machen würdest."

Sie sah besorgt zur Tür und flüsterte: „Ich verurteile dich dafür nicht, denn deine Gefühle sind etwas ganz Normales, aber mein Sohn, bitte, nicht in dieser Zeit. Vielleicht kommt wieder einmal eine Zeit, in der, na du weißt schon. Aber wir leben jetzt in einer anderen Zeit als noch vor zehn Jahren. Bitte versuche dich zu kontrollieren. Du verstehst es hoffentlich…“

„Ja, Mama, ich verstehe es. Ich werde mich entsprechend verhalten.“

„Das erwartete ich zu hören. Dein Vater wird von diesem Gespräch nichts erfahren. Ich verspreche es dir.“

„Danke Mama, das weiß ich zu schätzen.“ Jons seufzte und wendete sich wieder seinen Klaviernoten zu. Allerdings waren auf seiner Stirn einige Sorgenfalten zu entdecken, die im Kerzenschein Schatten bildeten.

Die Mutter dagegen drehte sich um und ging zur Tür. In der Tür drehte sie sich noch einmal zu ihrem Sohn um und schloss diese dann hinter ihr. Als sie über den Flur in den Salon schritt, hörte sie aus dem Musikzimmer die Noten des letzten Liedes aus diesem Album der Jugend und sie wusste in diesem Moment, das ihre Worte umsonst waren. Jons würde nie einer „Dummen Gans“, wie er die Mädchen aus seinem Umkreis bezeichnete, den Hof machen. Hoffentlich kam deswegen kein Leid über ihn.

In der Zwischenzeit hatte Jons das Album bis zum letzten Lied „In der Kirche“ durchgeblättert. Als er zu spielen anfing, liefen ihm die Tränen die Wange hinunter und er sah das schöne Gesicht von Antas vor sich und er träumte, dass sich der andere zu ihm hinab beugte und ihn leidenschaftlich küsste.

*****

In der Zwischenzeit war Antas in Rossitten angekommen. Er war nicht die Straße entlanggewandert, sondern vor den Teichen, die dem Mövenbruch vorgelagert waren, abgebogen. Er hatte den kürzeren Sandweg übers Moor nach Rossitten genommen und seinen Rucksack mit den wenigen Habseligkeiten geschultert.

Seine Großmutter flüchtete damals von der Heimat in Nidden ins südlicher gelegene Rossitten. Das war 1923, nach dem die Franzosen das besetzte Memelland an Litauen übergaben. Sie konnte fließend litauisch sprechen, sie konnte auch russisch, aber ihre Muttersprache war deutsch und sie beabsichtigte weiter im Deutschen Reich zu leben. So verließen sie und der zweitgeborene Sohn Carl das heimatliche Dorf und zogen zwei Dörfer weiter südlich. Joris, der erstgeborene, war im großen Krieg geblieben und ihre Schwiegertochter zog Jahre später zu ihrem neuen Mann und mit ihrem einzigen Enkel Antas in den polnischen Korridor. Sie liebte Antas sehr, war es doch das einzige, was von ihrem Sohn blieb. Sie erhielt Briefe von ihm, sicherlich, aber sie konnte sie nicht beantworten, denn sie konnte als frühere Bäuerin nicht lesen und schreiben. Die Briefe las Sohn Carl ihr vor und manchmal hatte sie den Eindruck, dass er beim Vorlesen etwas verschwieg, um sie nicht zu beunruhigen.

Carl war Landschaftsmaler mit bescheidenem Erfolg. Er malte recht gut und die Farben stellte er sich aus Naturelementen und Leinöl selbst her. Es reichte dennoch hinten und vorne nicht, obwohl er noch dem Fischer half, am frühen Morgen den Fang zum Markt zu bringen. Außerdem restaurierte er alte Bilder und reinigte sie. Eine Frau hatte er nicht. Ihm reiche seine Mutter, sagte er immer, aber Meta Josuweit, geborene Prusseit sagte dann immer, der ist nur feig.

Sie wohnten in einem alten Holzhaus mit Strohdach, welches mit dem getrockneten Schilf vom Haff ständig zu erneuern war. Das Haus hatte rot gestrichene Fensterläden, an denen die Farbe langsam abblätterte. Am Dache waren bunte Windbretter befestigt und aus dem Schornstein kräuselte sich der Rauch von der Kochstelle. Als Antas in der Ferne auf Rossitten zuschritt und den Rauch sah, wie er aus dem Schornstein wellte, wusste er, dass er nun zuhause war. Da, wo er hingehörte. An das Haus in Nidden, in dem seine Familie früher wohnte, konnte er sich nur wenig erinnern. Er war gerade sieben Jahre alt, als die Familie wegmachte. So war Rossitten seine Heimat geworden, aus der seine Mutter ihn 1934 heraus riss. Sie entfernte ihn aus der gewohnten Umgebung. Allerdings wurde es schlimmer als vorher, denn der polnische Stiefvater verdrosch ihn regelmäßig, wenn er nicht folgte.

Zwei Jahre hielt er es aus, nichts konnte er dem Stiefvater recht machen. Seine Mutter ertrank mittlerweile ihre Sorgen im schwarzgebrannten Schnaps. Irgendwann kam ein Brief von seiner Patentante Mathilde zu Kunzen, die lange nach seinem Verbleib gesucht hatte und schnell schmiedete diese den Plan, ihn zurückzuholen.

Baroness Mathilde zu Kunzen hatte damals im Frühsommer 1915 die hochschwangere Käthe, welche als Tagelöhnerin auf dem Gut arbeitete, in den Wehen gefunden und sie mit der Kutsche, die sie eigenhändig steuerte, sofort ins Krankenhaus nach Cranz verbracht. Sie übernahm die Patenschaft für das vaterlose Kind, sicher auch in Kenntnis seiner Herkunft, und sie sorgte für Schulbesuch und Kleidung in den ersten Jahren. Nie wieder hatte sie solche mütterlichen Gefühle gehabt, denn ihre Ehe mit dem Offizier von Gerstäcker, der wie Antas Vater im Krieg blieb, war kinderlos geblieben.

Als Antas das heimatliche Haus erreichte, blieb er zunächst stehen um den Anblick, der sich nicht wesentlich verändert hatte, auf sich wirken zu lassen. Seine Großmutter saß draußen auf der Bank vor dem Haus und schälte Kartoffeln für das kärgliche Abendbrot.

„Mein Jungchen“, rief sie, als sie hochblickte und ihren Enkel vor sich stehen sah, „ach Jotte nee, mein Jungchen, wo warst nur solang?“

Die Tränen flossen über ihre runzligen Wangen. Erschüttert darüber zu sehen, wie alt seine Großmutter geworden war, umarmte und herzte er sie, als ließen sie sich nie mehr los.

Einige Zeit später kam auch Onkel Carl dazu, später lag er nach langem Gerede und Erzählen auf dem Dachboden in seinem alten Zimmer auf einem Sack voller Stroh, mit der von Mäusen angefressenen Decke zugedeckt, aber für ihn war es, als wenn er im besten Hotel von Königsberg liegen würde. Er war nicht sehr gläubig, aber trotzdem kniete er sich jedoch vor das Kreuz, welches neben dem Fenster hing und dankte für seine glückliche Heimkehr.

Bevor er einschlief, dachte er noch an den Jungen im Zugabteil und später im Auto. Noch nie war er so berührt gewesen von jemanden, noch nie hatte er so einen Schmerz empfunden, als sie sich verabschiedeten, und so stellte er eine Kerze in sein Fenster in der Hoffnung, dass der andere sie sehen würde. Auch ihm sagten Mädchen nicht zu, die sich ständig über die anderen lustig machten und schnatterten.

4. Kapitel – Ausritt am Morgen

Am nächsten Morgen nach dem ausgiebigen Frühstück war Jons erster Weg zu seiner Stute Blinka, ein Geschenk seines Vaters zur Konfirmation. Er trat aus dem schlichten Eingangsportal heraus und schaute in den blauen, nur wenig bewölkten Himmel hinauf. Es war ein wunderbarer Tag zum Ausreiten, noch früh, so um die acht Uhr und es war noch überraschend ruhig im Haus. Über dem Eingangsportal lag das Zimmer von Tante Mathilde. Vom Balkon aus hatte sie einen herrlichen Blick über den Park vor dem Haus und über die halbrunde Vorfahrt für die Kutschen und Automobile. Jons wendete sich nach rechts und hatte schon den Seitenflügel erreicht, da rief ihm Tante Mathilde lautstark vom Balkon zu, dass er bitte warten möge, sie würde so gerne mit ausreiten.

Jons seufzte, warum konnte er nichts alleine machen? Manchmal hatte er das Gefühl, dass er ständig unter Kontrolle war. Dennoch drehte er sich artig um und ging zum Eingang zurück. Tante Mathilde stand schon in engen Reithosen, Stiefeln, gestricktem Pullover und Kappe vor der Tür. Mit dem Haar unter der Kappe verborgen, sah sie aus wie ein Mann.

„Ich weiß, dass ich nicht gerade damenhaft herüberkomme“, sprach sie den verdutzten Neffen an. „Aber ich finde Kleider und den Damensattel einfach scheußlich. Oder bin ich dir zu despektierlich? Lässt du mich schnell noch eine Zigarette rauchen? Dein Vater schaut mich immer so erschüttert an, wenn ich im Haus rauche. Bin nun nicht so etepetete, wie deine Mutter, war ich noch nie.“

„Alles gut, Tante“, erwiderte Jons schmunzelnd. „Nur, ich habe eine Bitte, darf ich nach der Anstandsrunde noch weiter alleine reiten. Muss den Kopf freibekommen.“

„Dir spukt noch Antas im Kopf herum, mein Junge, nicht wahr?“ Tante Mathilde war stets direkt und hatte die Stimme gesenkt. „Hab doch gestern gemerkt, dass ihr beide nicht voneinander loskommt. Darf ich dir einen Rat geben?“

„Ja natürlich, Tante Mathilde.“

„Lasst euch nicht erwischen von den Leuten, die derzeit denken, die Macht zu haben und alles kontrollieren zu wollen. Das geht nicht gut aus.“

„Mama sagte etwas Ähnliches.“

„Was habe ich doch für eine kluge Schwester. Ihr habt noch euer Leben vor euch, wirft es nicht so einfach weg, denn das wäre die Folge. Hofft auf bessere Zeiten, sie werden kommen und ich hoffe bald.“

„Danke, für den Rat, Tante.“

„Na dann reite los, mein Junge, lass dir vom Wind den Kopf frei blasen. Ich denke, zum Reiten ist es mir zu warm heute, wie ich gerade feststelle. Ich werde mir den Garten ansehen, was sich dort verändert hat. Vielleicht treffe ich dort auf meinen Schwager, hab sowieso einiges mit ihm abzuklären.“

Damit drehte sie sich um und ging wieder ins Haus hinein.

Jons schaute ihr lange verwundert hinterher und dachte über ihre Worte nach. Sicherlich würde er Antas gerne näherkommen, aber er wusste nicht wie und schon gar nicht wo. Zudem würde er Ende September nach Königsberg zur Großmutter mütterlicherseits ziehen, um das Studium zu beginnen. Großmutter weilte nur in den Monaten Mai bis September auf Kunzen. Diesmal würde sie mit ihm zusammen ins Stadthaus der Familie zurückkehren. Zurzeit kurte Großmutter für vier Wochen in Rauschen und würde in einer Woche nach Kunzen zurückkehren.

Sicherlich war Rauschen nicht so mondän wie Cranz, aber das störte Großmutter nicht besonders. Wichtig war für sie, dass sie leicht den Strand erreichen konnte, weit weg vom Trubel im Ortsinneren. Dafür war die Drahtseilbahn von der Kurpromenade hinunter zum Strand ideal. Sie konnte in einem der Strandkörbe die frische Seebrise atmen, um die Lungen zu befreien. Hinzu kam die reine Waldluft, die den Ort erfüllte.

Als Jons am Stall ankam, hatte Georg bereits seine Blinka gesattelt und führte sie aus der Box heraus ihm zu, als er den jungen Herrn erblickte.

„Dachte mir schon, dass der junge Herr heute gleich ausreiten will. Wohin solls gehen? Nach Rossitten?“ Georg schleckte sich mit der Zunge auffällig über die Lippen. Jons konnte in seiner Unbekümmertheit die Geste nicht deuten, aber es war unmissverständlich, dass Georg genau wusste, wie Jons insgeheim fühlte, und dass es zwischen den beiden Jungen mehr als geknistert hatte. Auch er selbst hatte die Augen nicht von diesem Antas lassen gekonnt und musste sich arg zurückhalten, um beim Aussteigen nicht einfach mal durch dieses wuschige und sicher über lange Zeit ungeschnittene Haar zu streichen. Im Gegensatz zu Jons hatte Georg in seinen Jugendjahren seine Gefühle in vielen Hinterzimmern von einschlägigen Lokalen und Bars in Berlin ausgelebt. Auch in Königsberg war einiges los, immer heimlich, aber vor zehn Jahren noch wie selbstverständlich toleriert. Er hatte alles erlebt, was er dachte, erleben zu wollen. Er konnte sich zurücknehmen und von den Gefühlen aus dieser Zeit zehren. Der junge Herr wurde seiner Ansicht nach in einer falschen Zeit mit diesen Gefühlen konfrontiert und er nahm sich vor, Johannes vor allem Unbill zu schützen. Zu groß war die Zuneigung, die er zu diesem jungen Kerl, dem jüngsten Spross der von Ammens, fühlte. Zu groß war die Verehrung für den Vater und Großvater.

Ohne die beiden hatte Georgs Leben keine Zukunft mehr, nach dem er mit Jungs rumgealbert hatte und natürlich erwischt wurde. Deswegen war der Kleine, wie er ihn insgeheim nannte, tabu für diesen bulligen Kerl. In seinem Herzen war Georg ganz sanft und versuchte seinen Jons zu beschützen. Und er fand Gefallen daran, auch ihn insgeheim mal zu umarmen und zu herzen.

Zuerst begrüßte Jons seine Stute und holte einen Apfel aus seiner Tasche, den sie voller Begierde aufknabberte. Mit den Nüstern rieb sie sich an Jons Joppe und scharrte mit dem linken Vorderhuf, als wenn sie sagen mochte: „Nun los doch, ich stehe hier schon lange genug auf der Koppel.“

Außer Blinka, der braunen Trakehner Stute gab es noch vier weitere Pferde, zwei Trakehner Hengste und zwei Fuchsstuten. Früher gab es mehr Pferde auf dem Gestüt. Aber durch den Versailler Vertrag wurde Truppenreduzierung angeordnet und das spätere Auftauchen der Automobile war dann das Aus für die Pferdezucht. Heribert hatte Vater mehrmals gebeten, zu überdenken die Zucht zu reduzieren, war allerdings nicht der Meinung, wie so viele andere, sich dem Reitsport zuzuwenden und Pferde dafür zu züchten. Heribert war Verfechter einer Ideologie, welche die Grenzen des Deutschen Reiches nicht als unveränderbar hielt. Die Ausweitung der Grenzen für neuen deutschen Lebensraum bedeutete auch die Notwendigkeit von Pferden für das Militär.

Doch Heinrich von Ammen duldete keine fremden Leute auf seinem Hof, aber er vertraute auch seinem Sohn Heribert nicht, der sich nach der Machtergreifung Hitlers vor über drei Jahren in Berlin den neuen Herren angeschlossen hatte, wie er es nannte. Heinrich von Ammen verurteilte dies aufs Schärfste, doch der älteste Sohn war nicht umzustimmen.

Johannes ahnte nichts davon und hatte heute nur den Gedanken, mit seiner Lieblingsstute Blinka auszureiten. Blinka hatte ein kupferfarbenes Fell mit hellem Langhaar. Die Hufe waren dunkel, die Augen braun wie bittere Schokolade. Er beschloss, über die Bruchberge an den Strand zu reiten, durch die Gischt zu preschen, dass das Wasser dort aufpeitschen würde. Er hatte vor, sich vom Wind den Kopf frei blasen zu lassen. Er versuchte diese fürchterlichen Gefühle aus dem Kopf zu bekommen, diese Gefühle, dass Antas ihn in den Arm nahm und berührt. Das Weitere mochte er sich nicht vorstellen. Aber es sehnte sich alles danach und davor hatte er Angst.

Der Erdboden war trocken und der Duft, der hinter dem Strand liegenden Felder, vermischte sich mit der Ausdünstung des Pferdeschweißes. Oft hielt er inne, um den Sommer mit dem Geruch des frisch gemähten Grases wahrzunehmen. Am Strand angekommen trieb er Blinka im Galopp durch die sich herankräuselnden Wellen. Er drückte seine Schenkel an den Leib der Stute und er hob die Arme und streckte sie weit heraus, um den Sturmwind zu spüren. Irgendwann brachte er Blinka zum Stehen, die Stute schnaubte, denn sie genoss es, so durch die Gischt zu eilen. Es machte ihr Spaß, so ungezügelt zu galoppieren, doch Jons stieg ab, warf sich in den Sand und fing bitterlich an zu weinen. Es war misslungen. Er konnte den anderen nicht vergessen. Zu tief waren die Gefühle gewesen, die ihn erreichten, als er Antas das erste Mal sah.

*****

Antas half an diesem Tag seiner Großmutter im Garten. Es war notwendig, das Gemüse zu ernten und einzumachen, um für den Winter Vorrat zu haben. Sie grubberten Kartoffeln aus und brachten sie in die Kellermiete des Hauses. Meta Josuweit war glücklich, ihren Enkel wieder zu haben. Das alles fiel ihr schon so schwer und Sohn Carl war meistens keine große Hilfe. Abends setzte sie sich in ihren alten Sessel und verrichtete Näharbeiten für das Gut Kunzen. Die Zeiten waren schwer. Das Gut musste um seinen Erhalt kämpfen, die Einnahmen aus dem Verkauf von Pferden an die Wehrmacht stagnierte, sicherlich auch durch die Einstellung der Familie. Zudem war am Personal zu sparen. So gab die Herrschaft die Flickarbeiten an alte Leute aus Rossitten, die sich freuten, Arbeit zu haben, und einige Groschen hinzuverdienen konnten.

Das Reich war in weiter Ferne. Nur wenige Waren stellten die Fabriken und Landwirte in Ostpreußen direkt her. Sämtliche anderen Waren, welche die Geschäfte zum Verkauf anboten, transportierte die Regierung für teures Geld durch den polnischen Korridor. Für die wenigen Gesellschaften, welche einige Gutsherren noch veranstalteten, wurden neue Kleider immer seltener bestellt. Die Kleidung für alle Tage besserten die Bürger stattdessen aus, wendeten sie oder nähten sie um.

Noch gab es nicht für alle genug Arbeit, schon gar nicht hier auf der Insel Ostpreußen, wie manche sie nannten. So waren die Leute froh, wenn die feinen Herrschaften etwas ins Dorf zu den armen Menschen brachten und sie damit unterstützten. Meta hoffte, dass im nächsten Jahr ihr Enkel als Schnitter oder Schweizer Arbeit finden konnte, umso die kleine Familie besser zu unterstützen. Vielleicht hatte er auch die einzigartige Möglichkeit seine Affinität für Bücher auszunutzen und eine Stelle in einer Bibliothek oder gar an der Universität in Königsberg zu erhalten. Aber was er auch machen würde, sie war stolz auf ihren Enkel und glücklich, dass er heimgekehrt war. Zu lange war er bei ihrer Tochter, die sich diesem Polen an den Hals geworfen hatte, zu schlechte Nachrichten bekam sie, die auch ihr Sohn Carl nicht verschweigen konnte. Meta hatte den gleichen Geburtsnamen wie die Baronin Herta. Wer weiß vielleicht waren sie sogar verwandt. Meta hatte es zumindest behauptet, als sie einen Brief an Mathilde schreiben ließ.

*****

Als Jons von seinem Ausritt zurückkehrte, zog es ihn über die Vogelwiese Richtung Schwarzer-Berg-Bucht auf der anderen Nehrungsseite am Haff. Blinka hatte ihre Hufe von alleine dorthin gesetzt, als wenn sie genau wusste, was ihr Herr dort am liebsten finden mochte. Den anderen Jungen, den mit den dunkelbraunen Wuschelhaaren, Antas.

Nachdem Jons Rossitten erreichte, machten zwar die Dorfleute Platz für den hohen Herren, einige Kinder kamen betteln, doch das ermutigte Jons eher nicht dazu, zu weit ins Dorf reinzureiten. So durchquerte er den Ort auf der nordwestlichen Seite, um an der Nordseite des Mövenbruchs nach Kunzen zurück zu kehren. Die letzten Störche klapperten fröhlich vor sich hin, besonders, wenn einer von ihnen einen delikaten Frosch im Schnabel hatte.

Jons liebte den Sommer hier an der Nehrung. Sein Suchen nach dem Jungen aber blieb erfolglos, denn genau in dem Moment, als Jons den Weg durch Rossitten nahm, begab sich Antas mit den Kiepen voll Kartoffeln in den Keller des Hauses. So sah Jons nur die ältere Frau und ihren Sohn Carl, der vor einer Staffelei saß und malte.

Die alte Frau starrte Jons lange Zeit hinterher. Sie wusste, dass es Johannes von Ammen war, der junge Herr, der Antas geholfen hatte, in den Zug aus dem Reich zu gelangen. Antas hatte von ihm erzählt, sie merkte, wie er für ihn schwärmte und sie bekam Angst vor der Zukunft der beiden.

5. Kapitel – Vorbereitungen

Großmutter Herta, Baronin zu Kunzen, geborene von Prusseit war mittlerweile zurück von der Kur. Georg hatte sie mit dem Automobil aus Rauschen abgeholt und nun stand sie im Foyer des Gutshauses.

Ihre Töchtern Gerlinde und Mathilde herzten und küssten sie voller Freude. Vater Heinrichs Familie lebte in Südschleswig und so war die Schwiegermutter auch für ihn wichtig, denn er hatte als zweitältester nicht das Gut seiner Eltern geerbt, sondern musste eine Gutstochter heiraten, um weiterhin die Chance zu haben, in herrschaftlichen Kreisen zu verkehren. Mamsell Berta hatte der Küche aufgetragen, Großmutters Leibgericht, Brathähnchen, Kartoffeln und Blumenkohl mit der unvergleichlichen Soße der Köchin Minna zuzubereiten.

Als der Gong zum Essen ertönte, hatte sich Großmutter entsprechend umgezogen und alle saßen bei Tisch. Greta servierte die Blumenkohlsuppe die Minna aus den Strünken zubereitet hatte. Kurz nachdem Gerda die Suppe abräumte, erhob Herta Baronin zu Kunzen das Wort.

„Liebe Familie, schön euch alle hier am Tisch zu sehen. Die letzten Wochen meines Aufenthaltes hier auf dem Gut brechen an. Danach werde ich nach Königsberg zurückkehren und sehen, was mein Personal vom Besteck noch übrig ließ“.

Alle lachten verlegen.

„Ich möchte euch nicht verschweigen, dass ich einen netten, jungen Herrn in Rauschen wiedersehen durfte, der mir dazu etwas einsam erschien. Es handelt sich um Ludwig Graf von Schöneck. Du wirst ihn sicher aus den Erzählungen deines Vaters kennen, Gerlinde und ich denke, er war auch schon einige Male hier zu Besuch. Die polnische Regierung zwang ihn vor Kurzem zur Übergabe des Gutes auf Schöneck an den polnischen Staat, weil er es herunter gewirtschaftet hatte. Er wohnte dort allein mit wenigem Personal, was er nach dem Tod seiner Eltern kaum selbst bezahlen konnte. Er wird mit mir nach Königsberg ziehen. Das Stadthaus dort ist groß genug und er wird mich als Gesellschafter unterhalten. Außerdem ist er ein hervorragender Pianist und wird dir Jons, in der Zeit deines Semesteraufenthaltes, weiter Klavierunterricht geben, da Herr Grünbaum leider nicht mehr zur Verfügung steht.

Graf von Schöneck wird in einer Woche Rauschen verlassen, dann endet seine Atemwegskur. Einen Tag später wird er bei mir eintreffen. Ich beabsichtige daher, dieses Mal etwas früher abzureisen. Er soll wissen, dass ich mich über seine Anwesenheit erfreue, und möchte ihm ein entsprechendes Willkommen vermitteln.“

„Vater war mit dem Vater des Grafen von Schöneck zusammen im Krieg. Ich erinnere mich, dass sie Kameraden waren. Er war zu Kinderzeiten auch einige Male hier und hatte Heribert das Reiten beigebracht.“ Gerlinde von Ammen kräuselte die Stirn. „Ludwig war immer ein unsteter Junge, kein Wunder, dass er das Gut nicht bewirtschaften konnte. Meines Wissens strebte er immer nach den Künsten. Es ist sehr freundlich von dir, Mama, dass du dich nach dem Tod seines Vaters ihm annimmst“, und weiter: „Warum ist er nicht verheiratet? Was ist mit seiner Mutter geschehen? Ich finde es erschreckend und bedrohlich, dass diese Polen ihm seine Heimat nahmen.“

„Die Mutter von Ludwig war leidend und hatte einige Zeit nach dem Tod des Ehegatten den Ausweg im See des Anwesens gesucht.“

Kurz zuckten die Mundwinkel der alten Dame und es hörte sich etwas herablassend an, wie sie formulierte, dass sich die Gräfin selbst das Leben nahm. Die Nachfrage nach einer Gattin beantwortete sie zum Leidwesen ihrer Tochter nicht.

„Wann wird eigentlich Heribert Heimaturlaub bekommen und wann kommt meine Gerda zurück? Ich vermisse meine Enkelkinder“, fragte Großmutter weiter. „Meine liebe Mathilde ist ja leider nicht so familiär. Ich möchte mich von den beiden natürlich verabschieden, denn ich denke nicht, dass sie mich im Winter besuchen kommen wollen.“ Mathilde räusperte sich vernehmlich, sie war nicht sehr erfreut über diesen Gedanken.

„Heribert wird am kommenden Mittwoch zurückerwartet“, antwortete ihr Sohn Heinrich. „Heute früh traf ein Feldpostbrief ein. Gerda und Erwin kehren am Wochenende aus Breslau zurück. Gerlinde, mein Liebling, kläre das bitte mit der Mamsell, dass alle Zimmer hergerichtet werden.

„Natürlich Heinrich“, Gerlinde nickte beflissen.

„Mathilde, meine Tochter, was gibt es Neues aus der Reichshauptstadt zu berichten. Welche gesellschaftlichen Ereignisse sind es wert, dass ich davon hören möchte. Früher wurden auf Kunzen manche Gesellschaften veranstaltet. Das waren noch Zeiten. Ein Jammer, ich hätte so gerne mal wieder interessante Personen aus unserem Kreis wiedergetroffen.“ Es war offensichtlich, dass Großmutter das Thema wechseln und der weiteren Diskussion, um Grafen von Schöneck ein Ende bereiten wollte. Jons fragte sich, warum. Mathilde hatte Mühe, etwas von gesellschaftlichen Ereignissen zu berichten, denn sie machte sich nichts daraus. Sie führte einen kleinen Jour fix, zu dem einige Bekannte zum Tee kamen, um über Literatur und Künste zu plaudern. Offensichtlich reichten diese Geschichten Großmutter, denn sie zog sich bald darauf auf ihr Zimmer zurück. Ein kleines Likörchen nahm sie noch im Esszimmer.

Jons verschwand nach dem Abendessen ins Musikzimmer und setzte sich an den Flügel. In Königsberg gab es nur ein einfaches Klavier, zwar eines namhaften Herstellers, aber Jons liebte den Anblick des offenen Flügels, wenn der Klang wie Wellen durch den Raum rauschte und die Luft zum Schwingen brachte.

"Ich werde diesen Flügel vermissen", dachte er in diesem Moment.

Diesmal holte er seine alten Noten eines Kinderalbums von Béla Bartók heraus. Es hatte den fast unaussprechlichen Titel <Gyermekeknek>, beinhaltete aber hübsche, einfach gesetzte Stücke. Jons hatte erst mit 15 Jahren angefangen, Klavier zu spielen, viel zu spät für diese schlanken Hände, wie Herr Grünbaum immer betonte. Drei Jahre hatte er bei ihm Unterricht und obwohl er fleißig übte, schafften seine Hände vielleicht noch ein vivace, aber ein presto oder sogar prestissimo verwehrte die ungeübte Muskulatur. Er vermisste den alten Mann.

In diesem Moment kam sein Vater in das Musikzimmer. „Bartók, wie hübsch“ sagte er leise. „Du spielst sehr gefällig und geschmeidig, Johannes. Aber wenn Heribert zurückkommt, solltest du diese Noten nicht offen herum liegen lassen.“

„Verbietet die Regierung jetzt auch schon, Bartók zu spielen?“ Jons wurde unruhig und fühlte sich irgendwie ertappt.